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Die Welt der großen Geister

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Nr. 388

Die Welt der großen Geister

Die Invasion der Krolocs beginnt

von Peter Terrid

Der Flug von Atlantis-Pthor durch die Dimensionen ist erneut unterbrochen wor­den. Der Kontinent, der auf die Schwarze Galaxis zusteuerte, wurde durch den Kor­sallophur-Stau gestoppt. Pthor ist nun umschlossen von Staub und planetarischen Trümmermassen, die von einem gewaltigen kosmischen Desaster zeugen, das sich in ferner Vergangenheit zugetragen hat.

Die Zukunft sieht also nicht gerade rosig aus für Atlan und seine Mitstreiter. Alles, was sie gegenwärtig tun können, ist, die Lage auf Pthor zu stabilisieren und eine ge­wisse Einigkeit unter den verschiedenen Clans, Stämmen und Völkern herbeizufüh­ren.

Die angestrebte Einigkeit der Pthorer ist auch bitter nötig, denn Pthor bekommt es mit den Krolocs zu tun, den Beherrschern des Korsallophur-Staus. Diese spinnen­ähnlichen Wesen haben bereits eine rege Erkundungstätigkeit auf Pthor entfaltet, die auf eine drohende Invasion schließen läßt.

Glücklicherweise findet die Invasion jedoch nicht sofort statt, so daß Atlan, dem neuen König von Pthor, die Zeit bleibt, Nachforschungen nach Balduur und Raza­mon, seinen verschollenen Spähern, anzustellen, von denen er annimmt, daß sie sich in der Gefangenschaft der Krolocs befinden.

Bei seiner Suche innerhalb des Staus gelangt Atlan auch nach Damaukaaner – auf DIE WELT DER GROSSEN GEISTER …

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Die Hautpersonen des Romans:Bulzerdon - Ein Künstler von Damaukaaner.Razamon, Balduur, Pona und Gurankor - Zwei Atlanter und zwei Eripäer im Kampf gegen dieKrolocs.Atlan - Er kommt als Retter in höchster Not.Thalia - Die Odinstochter erwartet die Invasion der Krolocs.

1.

»Komm endlich zum Essen«, forderte Amyra ihren Gatten auf. Bulzerdon aber kümmerte sich nicht um die Bitte seines Weibes. Er war damit beschäftigt, einer Flä­che diverse Punkte aufzusetzen. Die Fläche war eine der Seiten eines stählernen Quaders und starrte von Rost. Mit dem Schweißbren­ner brannte Bulzerdon in diese Fläche Lö­cher, die er danach mit Flußmasse füllte. Unter dem Feuer des Schweißbrenners bil­deten sich dann hübsche Blasen, die ab und zu platzten und so Streukreise schufen.

»Der Brei wird kalt!« schimpfte Amyra, ohne daß sich Bulzerdon in seiner Beschäfti­gung stören ließ. Funken stoben durch das Atelier und brannten Löcher in die Kleider der Kinder.

»Gleich«, murmelte Bulzerdon. Er klemmte die Zungenspitze zwischen die Zähne, um so seine künstlerische Konzentra­tion erhöhen zu können. Ein Teil der Zähne war grünlich verfärbt; Bulzerdon hatte ge­stern gemalt und dabei versehentlich Quaste und Griff des Pinsels verwechselt, als er sich das Instrument seiner Kunst zwischen die Zähne geklemmt hatte.

»Nur noch ein paar Augenblicke, Lieb­ste!« beteuerte Bulzerdon.

Er trat zurück, um sein Werk aus der Fer­ne betrachten zu können. Es sah aus wie ein Stück verrosteten Eisens, auf dem Kinder einen halben Zentner klebriger Kaumasse zum Trocknen abgelegt hatten. Bulzerdon nickte zufrieden. Er war stolz auf das Werk seiner Hände.

»Nur noch die Unterschrift«, murmelte er. Mit schärfster Flamme brannte er seine In­itialen in die linke untere Ecke des Kunst­

werks, dann drehte er den Sauerstoff ab. Schlagartig erlosch die Flamme. Bulzerdon schob die Schutzbrille in die Stirn und wischte sich den Schweiß ab.

»Fertig!« verkündete er stolz. »Und jetzt können wir essen. Kinder, wascht euch die Hände!«

Eine Schar Halbwüchsiger und Kleinkin­der wirbelte durcheinander. Bulzerdon konnte nur noch die Größten mit Namen nennen. Seit er mit seiner Frau die Arbeits­teilung vereinbart hatte – sie setzte Kinder, er Kunstwerke in die Welt – hatte er ein we­nig den Überblick verloren. Ihm wollte aber scheinen, als erreiche Amyra annähernd sei­ne Stückziffern. Die Kinder bauten sich vor ihrem Vater in einer ordentlichen Reihe auf, und nachdem Bulzerdon die Sauberkeit der Hände geprüft hatte, setzte sich die Familie zu Tisch.

»Was soll das eigentlich darstellen?« fragte Amyra, während sie den grüngelben Nährbrei in die Schüsseln verteilte. »Es sieht aus wie Abfall.«

»Es ist Abfall!« verkündete Bulzerdon stolz. »Künstlerischer Abfall. Es soll ein Symbol sein für die Leichtlebigkeit unserer Gesellschaft und eine Anspielung auf die Endlichkeit des Kosmos.«

»Ja, dann«, sagte Amyra und belohnte ihn mit einem zusätzlichen Schöpflöffel einer zartblauen Soße. »Ich bin übrigens schwan­ger.«

»Was für ein Zufall«, freute sich Bulzer­don. »Ein Glück, daß ich mein Kunstwerk gerade jetzt fertig bekommen habe.«

»Was hast du damit vor?« wollte Amyra wissen. Sie verpaßte ihrem Ältesten eine herbe Kopfnuß, weil er unter dem Tisch eine seiner Schwestern trat.

»Ich werde heute noch nach Quersoy rei­

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sen und die Skulptur dort zum Kauf anbie­ten«, verkündete Bulzerdon. Er verrührte eifrig den Brei mit der Soße und studierte das Farbspiel.

Amyra seufzte leise. »Du weißt, daß ich das nicht mag«, sagte

sie vorwurfsvoll. »Dieses Quersoy ist nichts weiter als eine Schwatzbude. Und lasterhaft ist es außerdem.«

Bulzerdon machte ein verwundertes Ge­sicht.

»Für eine Frau, die ich als keusche Jung­frau in die Ehe geführt habe, kennst du dich in der Welt des Lasters erstaunlich gut aus«, sagte er mit leisem Mißtrauen. Amyra stemmte die Hände in die Taille. Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf die Schar ih­rer Kinder.

»Glaubst du, daß ich noch irgend etwas lernen müßte?« fragte sie bissig. Bulzerdon machte eine Geste der Entschuldigung. »Also, wenn du schon nach Quersoy fliegst, dann kannst du mir allerhand mitbringen. Ich habe eine Liste aufgestellt.«

Bulzerdon sackte in seinem Sessel zusam­men. Es war eine Eigenkonstruktion aus durchsichtigen Rohren, Lederstreifen, Me­tallstücken und Wasser, das durch die Rohre lief und im Winter angenehm kühlte, im Sommer hingegen mit einer Heizung wettei­fern konnte. Bulzerdon hatte das Stück we­der als Möbel noch als Kunstwerk verkaufen können, daher benutzte er es selbst.

»Oh weh!« sagte er. Bulzerdon kannte diese Einkaufslisten.

Jedesmal, wenn er ein Kunstwerk in die Stadt schleppte, kehrte er doppelt und drei­fach bepackt wieder zurück. Es war ein mitt­leres Wunder, daß Bulzerdons Gillmader-Wol­ke unter dieser Belastung nicht zusammen­brach.

»Nun, wenn es sein muß«, seufzte Bulzer­don.

Seine Frau händigte ihm den Zettel aus. Entgeistert betrachtete Bulzerdon den Pa­pierpacken.

»Wäre es nicht besser, ein ganzes Waren­haus auf einmal aufzukaufen?« versuchte er

Peter Terrid

zu lästern. »Dann brauchst du nicht so viel zu schreiben. Das hier ist keine Liste, das ist ein kompletter Katalog!«

Die Attacke verpuffte wirkungslos. Amy­ra hatte noch einen Trumpf in der Hinter­hand.

»Eigentlich könntest du ein paar von den Kindern mitnehmen«, schlug sie mit sanfter Heimtücke vor. »Die lieben Kleinen sind lange nicht mehr unter Menschen gewesen.«

Bulzerdon brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, daß er totenbleich geworden war. Das hatte ihm noch gefehlt, mit der ganzen Rasselbande zusammen nach Quersoy flie­gen zu müssen.

»Später«, wehrte der Künstler ab. »Irgendwann einmal, aber nicht ausgerech­net heute. Außerdem habe ich gar nicht ge­nug Transportraum, vor allem auf dem Rückweg.«

Die Kinder maulten ein wenig, wurden aber sehr ruhig, als Bulzerdon ein finsteres Gesicht machte. Nachdem er solcherart sei­ne Kinder aufgeheitert hatte – sie fanden ihn am lustigsten, wenn er vor Wut geradezu schäumte –, verließ er das Haus. Bulzerdons Heim stand auf einer Gillmader-Wolke, wie jedes Heim eines Eripäers auf dem Planeten Damaukaaner. Früher einmal war Bulzerd­ons Heim eine Einfamilien-Reihenwolke ge­wesen, unter Bulzerdons kundigen Händen war eine künstlerische Heimstatt daraus ge­worden. Bulzerdon vertrat die Auffassung, daß künstlerische Betätigung in allererster Linie dafür zu sorgen hatte, Lebewesen von Schablonen, Regeln, Zwängen und Gesetzen zu befreien. Diesem Leitsatz hatte sich Bul­zerdon bedingungslos untergeordnet. Er machte Kunst aus Dingen, die andere auf den Abfall warfen.

Bulzerdons Wolke war in ihrer Art einma­lig auf Damaukaaner, so einmalig wie der Mann, der sie seinen künstlerischen Vorstel­lungen gemäß umgebaut und verwandelt hatte.

So stand beispielsweise Bulzerdons Glei­ter mitnichten einfach auf der Landefläche der Wolke. Das wäre banal gewesen. Statt

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dessen wuchs auf dem Landefeld eine Blu­menkolonie, während der Gleiter nur zu er­reichen war, wenn man durch die Wolke hindurchkletterte. Der Gleiter hing mit offe­nen Sitzschalen unter der Wolke. Es war ein wenig schwierig, das Gefährt zu besteigen, aber dafür konnte Bulzerdon bei jeder Fahrt das Gefühl genießen, in seinen Gedanken und Handlungen frei, unabhängig, selbstbe­stimmt zu sein.

Diesmal hätte es fast eine kleine Panne gegeben. Bulzerdon hatte das Antigravfeld des Gleiters mit dem Empfängerteil seines Kommunikators verbunden. Das Feld wech­selte seine Stärke daher im Rhythmus der Musik, die dort zu hören war. Als Bulzerdon in sein Gefährt steigen wollte, wurde er von einem Tutti-Schlag des Riesenorchesters von Quersoy empfangen, und dieser Auf­prall trieb ihm zunächst einmal die Luft aus den Lungen und ließ ihm – 6 g waren eine ziemliche Belastung – die Augen aus den Höhlen quellen. Halb benommen wäre er beinahe einen Herzschlag später abgestürzt; der Komponist hatte an dieser Stelle sieb­zehn Takte Pause vorgesehen. Wäre das So­loinstrument des Konzerts nicht rechtzeitig erklungen, wäre Bulzerdon wahrscheinlich zweihundert Meter tief abgestürzt.

Bulzerdon beschloß, künftig die rein phy­sische Qualität der Musik etwas weniger in­tensiv zu genießen. Auf diesem Gebiet hatte er schon einmal Schiffbruch erlitten. Als er in einem Fachbuch gelesen hatte, daß die Obertöne der Musik praktisch nur von der Haut unverzerrt wahrgenommen werden konnten, war er für kurze Zeit dazu überge­gangen, Musik nur noch vollkommen unbe­kleidet zu hören. Eine Lungenentzündung und eine Klage wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses hatten ihn von diesem Einfall kuriert.

Bulzerdon startete sein Fahrzeug. Auch für Künstler gab es Grenzen, am Antrieb je­denfalls hatte Bulzerdon nicht herumgewer­kelt. Die Maschinen liefen einwandfrei. Lei­se summend setzte sich das Fahrzeug in Be­wegung.

Bulzerdon drehte das Fahrzeug zunächst einmal in der Luft herum, dann flog er die Unterseite seiner Wolke an. Neben dem Haus setzte er den Gleiter ab, dann machte er sich an die Arbeit, seine Skulptur an Bord des Gleiters zu schaffen. Das Fahrzeug war schon des öfteren als Schwerguttransporter mißbraucht worden und hatte darunter ein wenig gelitten. Dank der Hilfe seiner Kinder gelang es im Verlauf einer Stunde, das Kunstwerk an Bord zu wuchten.

Die Projektoren des Antigravfelds jam­merten und kreischten, als Bulzerdon das Gefährt in Bewegung setzte. Ächzend stieg der Gleiter in die Höhe. Amyra und die Kin­der hielten, wie Bulzerdon im Spiegel sehen konnte, den Atem an, als der Gleiter den Be­reich der Gillmader-Wolke verließ. Zu ihrer und Bulzerdons Erleichterung stürzte das Gefährt nicht ab. Es wackelte zwar bedroh­lich in der Luft und ließ kleine Rauchwolken hinter sich, die ab und zu ihre Farbe änder­ten, aber es glitt durch die Luft, und das war alles, was Bulzerdon wollte.

Er pfiff leise während des Fluges. Unter ihm lagen die Vulkane von Damau­

kaaner. Auf den Gravitationspolstern, die seltsamerweise von diesen Vulkanen ausge­stoßen oder geformt wurden, ruhten die Gill­mader-Wolken. Die genaueren physikali­schen und vor allem hyperphysikalischen Grundlagen der Eripäer-Zivilisation auf Da­maukaaner hatte niemals jemand erforscht. Es genügte den Bewohnern des Planeten, daß es die Vulkane und die Gravitationspol­ster und die Gillmader-Wolken gab. Sie leb­ten auf diesen Wolken, und damit hatte sich die Sache.

»Ha!« machte Bulzerdon, als Irdenar in Sicht kam. Irdenar war – wie auch Bulzer­don – eine Einfamilienwolke. Es gab auf dem Planeten insgesamt siebzehn Großwol­ken, einige hundert Mittel- und Kleinwolken und Tausende von Ein- und Mehrfamilien­wolken unterschiedlichster Größe und Be­schaffenheit.

Bulzerdons »Ha!« entsprach seiner Ein­stellung zu Irdenar. Er verachtete Irdenar

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und seine Bewohner. Der alte Irdenar – es gab einen Alten, vier mittlere und zwei Dut­zend junge männliche Mitglieder dieser Sip­pe – hielt sich für einen Künstler, und diese Anmaßung allein genügte, ihn für Bulzerdon unleidlich zu machen. Schließlich war Bul­zerdon der einzige echte Künstler weit und breit.

Irdenars sogenannte Kunst bestand darin, daß er sich zunächst einmal bis hart an die Grenze zur Vergiftung betrank. Danach sammelte er ein paar Farben, riß einem sei­ner Enkel die Kleider vom Leib und schmierte dessen Körper mit Farben ein. Anschließend prügelte der Alte den Enkel durch, bis ihm der Arm erlahmte. Die Schmiermuster, die der sich windende Kör­per des Enkels auf einer weißen Leinwand hinterließ, bezeichnete Irdenar als Kunst.

»Pah!« machte Bulzerdon. Er hatte einige Auftritte dieses Künstlers

miterleben dürfen, und der Anblick hatte ihm genügt. Irdenar behauptete, der Anblick der solcherart entstandenen Kunstwerke er­rege beim Betrachter dasselbe Gefühl, das auch der am Schöpfungsakt beteiligte Enkel verspürt habe. Dieses Mit-Leid sei der ei­gentliche Sinn seiner Kunst, sagte Irdenar. Er selbst nannte seine Kunst psychosozial­therapeutisch-aggressiv.

Bulzerdon fand das, was der alte Irdenar produzierte, lächerlich und geschmacklos.

Der Gleiter gab ein feines Knistern von sich, und von irgendwoher kam ein Geruch, der an Schmorendes erinnerte. Bulzerdon war über derlei Anfechtungen erhaben.

Sorgfältig vermied er, mit einer der klei­neren Wolken zusammenzustoßen. Die Leu­te, die dort wohnten, mochte er überhaupt nicht. Je größer die Stadt so lautete Bulzerd­ons Maxime, um so größer der dort herr­schende künstlerische Provinzialismus. Was beispielsweise Quersoy betraf, die Großwol­ke, so klaffte dort ein Abgrund, den Bulzer­don in lebenslanger künstlerischer Arbeit nicht hätte füllen können.

Zu seinem Leidwesen mußte er die Groß­wolke ab und zu aufsuchen. Nur dort bekam

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er die Rohprodukte für seine Kunst, nur dort gab es große Kaufhäuser, die alle Waren be­reithielten, deren auch Künstler bedurften.

Ansonsten zeichnete sich Quersoy durch zweierlei aus: Zum einen war es die älteste aller Großwolken und daher auch die größte, zum anderen lebten auf dieser Wolke mehr Übergeschnappte, als Bulzerdon jemals auf einem Haufen gesehen hatte. Das war eine Feststellung von Gewicht, bedachte man, daß Bulzerdon jeden Eripäer, der nicht ent­weder mit ihm verheiratet war oder von ihm abstammte, für zumindest verblödet erachte­te.

»Wirklich«, murmelte Bulzerdon. »Diese Großwolken und ihre Bewohner sind nur zu ertragen, wenn man weiß, daß man bald wieder zu Hause sein wird.«

Er ließ den Gleiter ein wenig steigen, als ihm aus der Kaldera tief unter ihm eine Schwefelwolke entgegenschlug. Mit solchen Mißhelligkeiten mußte jeder rechnen, der ei­ne Reise über Land auf diesem Planeten un­ternahm.

Ab und zu spähte Bulzerdon in die Höhe. Es sah nicht nach Regen aus. Allerdings trie­ben sich am Himmel, in sehr großer Höhe und mit bloßem Auge gerade noch zu erken­nen, eine ganze Reihe von Raumschiffen herum. Bulzerdon war politisch nicht son­derlich gebildet, aber er war genügend gut informiert, um zu wissen, daß die Eripäer von Damaukaaner nicht einmal halb so viele Raumschiffe besaßen, wie er allein in die­sem Augenblick sehen konnte.

»Ph!« machte Bulzerdon und wandte sich dem wesentlich wichtigeren Problem zu, ob er oben an seinem Sessel zwei Löcher boh­ren, den Wasserdruck vergrößern und das Gebilde als Rasenbewässerer verkaufen soll­te.

*

Thalia trommelte nervös mit den Finger­spitzen gegen die Fensterscheibe.

Draußen regnete es, und dem Wetter ent­sprach die Laune der Odinstochter. Verhan­

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gen war noch der mildeste Ausdruck für die Gemütslage der Frau.

Die Dinge auf Pthor – oder Atlantis – la­gen nicht so, wie es Thalia sich gewünscht hatte. Da war beispielsweise die Angelegen­heit mit Kennon und Grizzard, die immer noch nicht geklärt war. Im Gegenteil, alles lief langsam auf einen Höhepunkt zu, von dem niemand sagen konnte, mit welchem Zustand er enden würde.

Da war die Invasion, die gleichsam vor der Haustür stand. Thalia hatte den Leich­nam des Fremden noch in Erinnerung, den sie im Lettro ihres Bruders Heimdall hatte sehen können.

Sie wußte auch noch, daß es dieser spin­nenähnlichen Kreatur beinahe gelungen wä­re, ihren Bruder Heimdall zu besiegen. Und bei allem Zwist und Hader zwischen Odins Tochter und ihren Brüdern hegte Thalia doch Hochachtung für Heimdall, was seine Qualitäten als Kämpfer betraf. Wenn eines dieser Spinnentiere in der Lage war, den Hü­nen Heimdall zu besiegen – zu was war dann eine ganze Invasionsarmee in der La­ge?

Da war Atlan, der neue König von Pthor. Seine Stellung war bei weitem nicht so gefe­stigt, wie Thalia es sich wünschte. Im Ge­genteil, es gab versteckte Feindschaften. Heimdall beispielsweise war Atlan durchaus nicht wohlgesinnt, und das traf auch für die anderen zu, die ihre Parraxynth-Schätze an Atlan hatten abliefern müssen. Noch lange nicht alle bekannten Bruchstücke des Parra­xynths waren im Besitz des neuen Königs von Pthor. Heimdalls Sammlung vor allem fehlte, und sie galt als die mit weitem Ab­stand größte und reichhaltigste. Sie war auf geheimnisvolle Weise abhanden gekommen.

»Ich möchte Grizzard und Kennon se­hen«, erklärte Thalia plötzlich. Ein Dello gab Zeichen, daß er die Worte verstanden hatte, und zog sich eilig zurück.

Als er wiederkehrte, machte er ein Ge­sicht, das vor Wehleidigkeit förmlich zer­floß. Thalia witterte sofort Unheil.

»Wo sind die beiden Männer?« fragte sie

scharf. »Verschwunden, Herrin!« stammelte der

Dello verwirrt. Erst jetzt erkannte Thalia den Dello wieder. Er war beauftragt worden, die beiden Männer zu beaufsichtigen.

»Was heißt verschwunden?« herrschte Thalia den Dello an.

»Ich kann sie nirgends finden«, antworte­te der Gemaßregelte. »Sie sind weg.«

Thalia stampfte mit dem Fuß auf. »Sucht«, fauchte sie. »Sucht nach den bei­

den Männern. Und seht zu, daß ihr sie fin­det.«

Der Dello machte eine Ehrenbezeigung und verließ dann hastig den Raum.

Thalia preßte die Lippen aufeinander. »Das hat mir gerade noch gefehlt«, mur­

melte sie bitter. Sie überlegte, wie sie Atlan beibringen

konnte, daß Kennon und Grizzard ver­schwunden waren – ohne daß sich der König von Pthor deswegen aufregte. Und über­haupt, was war mit den beiden geschehen? Wohin waren sie verschwunden? Was hatten die beiden Männer vor?

Die Odinstochter befiel die düstere Ah­nung, daß sie am Beginn einer Entwicklung stand, die selbst für sie als Zeugin nicht leicht zu ertragen sein würde.

2.

Welt im Sinn der Existenzphilosophie heißt zunächst einmal jener vorgängig er­schlossene, vorpredikative Bedeutsamkeits­zusammenhang, der »als Bereich eines Sinn­geschehens« gedacht werden kann. Dieses Geschehen ermittelt jedoch nicht das volle Wesen der Welt. »Weil sich das eigentliche Weltende der Welt entzieht … stellt sich das Wesentliche der Welt als das Andere neben die Welt als Umwelt oder Bedeutsamkeits­zusammenhang.« Im einzelnen wird unter Welt verstanden: 1. das All des Seienden, das innerhalb der Welt vorhanden sein kann, 2. das. Sein dieses (s.d.) Seienden, das in ge­wissen Gruppierungen auftreten kann, z.B. als die »Welt des Mathematikers« usw.

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(siehe Mikrokosmos), 3. das, worin das Da­sein vor sich geht und lebt, z.B. die öffentli­che Wir-Welt oder die »eigene« und nächste (häusliche) Umwelt, 4. die Weltlichkeit, die an sich (à priori) besteht und zugleich als Modus der verschiedenen »Welten«; sie ist nach Heidegger eine, Seinsart des menschli­chen Daseins, und eine Einsicht in die tran­szentrale Grundverfassung des Daseins »ermöglicht die Überwindung des Bewußt­seinsbegriffs und der ihm mitgegebenen Weltlosigkeit und Isoliertheit des Subjekts.«

(Philosophisches Wörterbuch)

*

Trotz seines erheblichen Alters war Bul­zerdons Gleiter ein recht flottes Gefährt. Er brauchte nicht sehr lange, bis er Quersoy vor sich liegen sah.

Treffender wäre der Ausdruck schweben gewesen. Denn Quersoy schwebte in der Luft, wie im übrigen alle Gillmader-Wol­ken. Auf geheimnisvolle Weise entströmten den Vulkanen des Planeten Damaukaaner Gravitation, und diese Gravitation bildete die Polster, auf denen die Gillmader-Wolken ruhten. Ebenso geheimnisvoll wie der Ur­sprung dieser Polster war die Tatsache, daß alle Wolken – die größten wie die kleinsten – ziemlich präzise zweihundert Meter über dem jeweiligen Krater »ihres« Vulkans schwebten.

Im Fall von Quersoy handelte es sich nicht um einen einzelnen Einzelkrater son­dern um eine gigantische Kaldera von mehr als dreieinhalb Kilometern Durchmesser. Entsprechend großflächig und voluminös war daher auch Quersoy ausgefallen. Selbst­verständlich bildeten sich die Bewohner von Quersoy ungeheuer viel darauf ein, daß ihre Wolke nicht nur die größte des ganzen Pla­neten war, sondern auch als erste von den Eripäern besiedelt worden war.

»Typisch«, murmelte Bulzerdon, als er die Wolke in Flugrichtung förmlich wachsen sah. »Gierhälse stürzten sich immer auf die fettesten Brocken. Wirklich geschmackvolle

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Lebewesen erwählen sich das Seltene, Erle­sene.«

Dem Durchmesser von dreieinhalb Kilo­metern entsprach eine Dicke der Wolke von annähernd einem halben Kilometer. Da dank der kostenlosen Erwärmung der Wolke durch den darunterliegenden Vulkan jeder Raum genutzt werden konnte, ließ sich in diesem Gebilde eine erstaunlich große Zahl von Eripäern unterbringen.

Nach Bulzerdons Ansicht war Quersoy hoffnungslos überfüllt, und so groß die Wol­ke auch sein mochte, kulturell stellte sie den absoluten Tiefpunkt Damaukaaners dar. Die einzige Wolke, die mit diesem Tiefpunkt wetteifern konnte, war Punnary. Passender­weise lag diese Großwolke in der Nähe von Quersoy – die Bewohner konnten sich häu­fig sehen und miteinander streiten. Merk­würdigerweise behaupteten die Quersoy-Leu­te, daß ihre Stadt den Gipfel der Eripäer-Zivilisation darstelle – und darüber stritten sie sich mit den Punnary-Leuten. Einen deutlicheren Beweis, daß Stadtluft notwen­digerweise zur geistigen Barbarei führen mußte, konnte sich Bulzerdon nicht vorstel­len.

Der Gleiter erreichte das Randgebiet der Wolke. Bulzerdon war, er gab sich das nur ungern zu, ein wenig erleichtert, als er festen Boden unter der Schale seines Gleiters wuß­te. Das Kunstwerk, das er auf dem Markt von Quersoy verkaufen wollte, war doch ein wenig gewichtig ausgefallen.

Bulzerdon brauchte etliche Minuten, bis er einen Platz gefunden hatte, an dem er sei­nen Gleiter sicher abstellen konnte. Beim letzten Besuch der Stadt hatte ihm ein Wahnsinniger zehn Kilo zweier Schaum­stoffkomponenten in den Fahrgastraum ge­kippt und das solcherart erzeugte Monstrum aus hartem Schaum mit einem Schwert bear­beitet. Für solche künstlerische Ausdrucks­formen hatte Bulzerdon wenig übrig, auch wenn sie mit der hochtrabenden Formel ei­ner völlig neuen Kunstrichtung auftraten. Vorsichtshalber schloß Bulzerdon beim Parkwächter eine Versicherung ab. Nicht,

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daß er befürchtete, sein Gleiter könne ge­stohlen werden – er wollte nur sichergehen, daß man sein Fahrzeug samt Ladung nicht zu Kunst umfunktionierte.

Bulzerdon beschloß, sich zunächst einmal von der Strapaze der Fahrt zu erholen. Er nahm sich vor, einen kleinen Bummel zu machen, vielleicht ein paar Schnäpse zu trin­ken und dabei das Happening zu beobach­ten, das gerade im Luftraum über diesem Teil Damaukaaners stattfand.

Es war wirklich erstaunlich, welchen Auf­wand gewisse Künstler trieben, um die Auf­merksamkeit des Publikums auf sich zu len­ken. Der Arrangeur des Luftspektakels hatte jedenfalls weder Kosten noch Personal ge­scheut. Bulzerdon sah, wie ein scheibenför­miges Etwas von einem eiförmigen Fahr­zeug abgeschossen wurde und brennend in einen erloschenen Vulkan stürzte.

»Nicht übel«, murmelte Bulzerdon. »Vielleicht ein wenig monoton, aber anson­sten nicht übel. Nur der Krach ist etwas lä­stig.«

Eine ohrenbetäubende Explosion bestätig­te seine Meinung. Knapp vier Häuserblocks entfernt krachte ein defektes Eripäerflug­zeug in einen Häuserblock.

»Krach? Wieso Krach, mein Bester?« Bulzerdon drehte sich herum und sah

einen älteren Mann, der ihn verwundert an­starrte.

»Lieber Freund«, sagte der Alte mit einer Stimme, die nach einem heißgelaufenen Ku­gellager klang. »Das ist kein Krach, das ist neue Musik.«

»Unsinn«, wehrte Bulzerdon ab. »Das ist Lärm, nichts weiter.«

»Sie kennen wohl die neue Theorie des jungen Kakoph nicht, oder?«

»Ich habe noch nie davon gehört«, gab Bulzerdon widerwillig zu. Der Alte faßte ihn am Arm und zog ihn ein Stück die Straße entlang. An einem Bewirtungsstand blieben die beiden stehen.

»Ich lade Sie ein, mein Freund«, sagte der Alte und gab Bulzerdon einen der Schläu­che. Im Hintergrund lief auf einem sechzehn

Quadratmeter großen Bildschirm eine Nach­richtensendung.

»Sehen Sie, der junge Kakoph, ein Genie, wenn Sie mich fragen, er hat die neue Mu­siksoziologie gegründet. Sein Ansatz ist wahrhaft revolutionär. Wohlklang, so erklärt Kakoph, täuscht den Hörer nur über die Wirklichkeit der Welt hinweg. Also fordert er, daß mit der Heilen-Welt-Musik Schluß gemacht wird. Und was das Tollste ist, er fordert nicht nur, daß Komponisten grund­sätzlich taub zu sein haben – er fände es be­grüßenswert, wären sie obendrein auch noch völlig unmusikalisch im herkömmlichen Sinn.«

»Dann ist der dort oben ein erstklassiger Musiker«, erklärte Bulzerdon anerkennend. Ihm gefiel der Krach immer noch nicht, aber da er nunmehr die theoretischen Grundlagen dieser Komposition für Kampfflugzeuge, Bomben und Zivilbevölkerung begriffen hatte, fand er beinahe nichts Unangenehmes mehr daran. Ein Dutzend Kilometer entfernt stieg eine pilzförmige Wolke in den klaren Himmel, und wenig später war das Donnern einer Explosion zu hören.

»Sagen Sie«, erklärte Bulzerdon plötzlich, »kenne ich Sie nicht? Sie sind doch Abo Flecks, der berühmte Dramatiker? Habe ich recht? Sie haben im vorigen Jahr die Glutaminsäure-Medaille für das unverständ­lichste Schauspiel des Jahres verliehen be­kommen.«

»Reizend, daß Sie sich daran erinnern«, freute sich der Alte. »Und was sind Sie, wenn ich fragen darf? Philosoph? Nein, aus­geschlossen. Sie haben saubere Fingernägel. Musiker entfällt ebenfalls …«

»Ich skulpturiere«, erklärte Bulzerdon. »Ach«, meinte der Dramatiker. »Ist das

Skalpieren wieder in Mode?« »Skulpturieren«, verbesserte Bulzerdon. »Wo ist da der Unterschied?« »Skulptur geht tiefer«, murmelte Bulzer­

don. »Sehen Sie nur«, rief Abo. »Sehen Sie, da

geht ein Raumschiff nieder. Erstaunlich. Was wollen andere auf unserer Wolke?«

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Bulzerdon zuckte mit den Schultern. Aus den Augenwinkeln heraus verfolgte er einen jungen Mann mit wehender Kleidung und einem beachtlichen Bauch, der sich mit ei­nem ungeheuer großen Postpaket abschlepp­te.

»Und was ist das für einer?« »Der? Ach, das ist einer von den Ver­

packungskünstlern. Er geht zum Postamt und gibt sich selbst auf. Ein herrlicher Ein­fall, nicht wahr?«

»Beispielhaft«, murmelte Bulzerdon. Er nahm einen Schluck von seinem Ge­

tränk. Es war ein sogenannter Künstlertee, frei von allen künstlichen und natürlichen Stoffen, sehr erfrischend, stellte Bulzerdon fest. Er blickte auf den Marktplatz. Dieser Platz war den zweidimensionalen Malern und den non-dimensionalen Plastikern vor­behalten. Junge und alte Künstler bewegten sich über die Fläche, priesen mit gewaltigem Stimmaufwand ihre Werke an und versuch­ten Käufer zu finden. Ihre Kundschaft be­stand hauptsächlich aus den Bewohnern von Quersoy, die sich in unregelmäßigen Ab­ständen auf einem der sieben Märkte der Stadt einfanden, um sich über den neuesten Stand der neuesten Kunst zu informieren.

Quersoy war eine Stadt der Philosophen. Und der Händler. Von vielen Wolken kamen Besucher, um auf dieser Gillmader-Wolke einkaufen oder sich philosophisch anregen zu lassen.

»Sehen Sie nur!« staunte der alte Drama­tiker. »Fremde! Und das hier!«

Der Alte hatte recht scharfe Augen, stellte Bulzerdon fest. Auf dem Marktplatz erschie­nen tatsächlich Fremde.

Insgesamt waren es vier, zwei Eripäer und zwei … also, wenn sie hergestellt worden waren, handelte es sich um prachtvolle Kunstobjekte. Waren sie hingegen natürli­chen Ursprungs, dann handelte es sich bei den beiden Begleitern der Eripäer um ziem­lich minderwertige Subjekte.

Der größere der beiden Fremden war bei­nahe zwei Meter groß, es fehlten höchstens fünf Zentimeter an dieser Größe. Er war ath-

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letisch gewachsen und offenbar sehr musku­lös, das war sogar durch den Schutzanzug zu sehen. Die Haare dieses Fremden waren sehr hell, hellblau auch die ein wenig weit aus­einanderstehenden Augen. Der Gesichtsaus­druck verriet in erster Linie Härte.

Der andere Fremde war etwas mehr als ei­ne Handspanne kürzer, und er sah wesent­lich hagerer, knochiger aus. Er hatte sowohl dunkle Augen als auch blauschwarzes, mit­tellanges Haar. Seine weiße Haut hatte einen gelblichen Schimmer. Bulzerdon stellte so­fort fest, daß dieser Fremde einen stechend wirkenden Blick hatte. Außerdem schien er verkrüppelt zu sein, er zog sein linkes Bein nach, als hinge ein Gewicht daran.

»Das ist der Eripäer«, staunte der alte Abo. »Tatsächlich, es ist Gurankor. Und die Frau an seiner Seite muß Pona sein.«

Bulzerdon wußte nicht, ob der Alte nur aufschnitt, oder ob er die beiden Eripäer wirklich kannte. Bulzerdon hielt nicht viel von Politik, er sah sich nur selten Nachrich­tensendungen an. Aber er erinnerte sich va­ge, das Gesicht des Eripäers schon einmal gesehen zu haben.

Die Ankömmlinge bauten sich auf dem Markt auf. Ihr Erscheinen hatte den Markt­betrieb völlig zum Erliegen gebracht.

»Bewohner von Quersoy«, begann der Eripäer. Seine Stimme war auf dem gesam­ten Platz zu hören.

Aus der Menge kam ein Kichern. »Ach, du liebe Kunst«, stöhnte Abo

Plecks auf. »So kann man doch hier keine Rede anfangen. Das ist doch ein uraltes Zi­tat.«

»Ich bin gekommen …« »Das merken wir. Komm zur Sache,

Eripäer, und sprich gut.« Bulzerdon hörte nur mit halbem Ohr hin.

Die Rede war schlechterdings fürchterlich. Sie troff von Pathos und falschen Gefühlen, war schlecht formuliert und strotzte von falschen Zitaten.

»Begreift doch endlich, Leute!« schrie der Eripäer und verlor damit vollends an Glaub­würdigkeit. Seine Stimme klang unschön,

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und verleitete niemanden dazu, ihm noch länger zuzuhören.

»Begreift doch, eure Welt wird angegrif­fen! Wenn ihr euch nicht wehrt, wird es eine Katastrophe geben.«

»Für meinen Geschmack hat er sich den Stoff für den Auftritt aus den Fingern geso­gen«, behauptete der alte Dramatiker. »Also, eine Konkurrenz für mich ist er nicht, der Eripäer. Sein Vortrag ist entsetzlich. Und wenn ich mir diesen Text auf der Bühne vor­stelle … einfach grauenvoll. Vielleicht sollte er ein Ballett daraus machen.«

»Ein Ballett?« Ein Passant fühlte sich angesprochen. »Aus diesem Stoff kann man doch kein

Ballett machen«, empörte er sich. »Für eine Komödie mag der Stoff reichen aber niemals für ein Ballett. Dafür sind die angesproche­nen Emotionen viel zu grobschlächtig. Ja, wenn er eine Liebesgeschichte erzählt hätte, dann vielleicht! Aber so … Kann mir je­mand erklären, wie ich beispielsweise eine mörderische Riesenspinne tanzen soll?«

»Daraus kann man auch keine Komödie machen«, wehrte sich der Dramatiker. »Die Sache hört sich überhaupt nicht lustig an.«

»Muß sie das?« fragte einer. »Es ist doch ein albernes Vorurteil, daß Komödien lustig sein sollen. Und was heißt überhaupt lu­stig?«

»Sei es, wie es sei«, erklärte der Dramati­ker feierlich, »jedenfalls erfüllt die Rede des Eripäers nicht einmal die Hälfte der forma­len Kriterien, die man mit Fug und Recht von einer öffentlichen Ansprache erwarten kann. Ich bin bitter enttäuscht.«

»Und außerdem war die Rede alles andere als ausgewogen«, warf der Passant ein. »Ich finde es peinlich, wie der Eripäer die Kro­locs schlechtmacht.«

»Vielleicht«, wagte Bulzerdon einzuwer­fen, »vielleicht sind die Tatsachen nicht aus­gewogen. So etwas wäre denkbar.«

»Ach, Unsinn«, wehrte Plecks ab. »Der Eripäer hat eine schlechte Rede gehalten, damit hat sich der Fall.«

Bulzerdon bemerkte aus den Augenwin­

keln heraus, daß einer der Begleiter des Eripäers auf die Gruppe der Diskutierenden zu kam. Es war der Dunkelhaarige, der ein wenig hinkte. Er machte ein sehr verdrosse­nes Gesicht.

»Was gibt es hier noch zu diskutieren!« mischte sich der Fremde ein, kaum daß er die Gruppe um Abo Plecks erreicht hatte. »Seht ihr nicht, was sich dort oben ab­spielt?«

Er deutete mit der mageren Hand in die Höhe, wo zwei verschiedene Flugkörperar­ten einander umkurvten und beschossen.

»Was besagt das schon?« erregte sich eine junge Frau. »Das kann doch alles nur eine Sinnestäuschung sein. Sollen wir uns wegen einer Sinnestäuschung aufregen oder gar ängstigen?«

»Aber das da oben ist echt!« empörte sich der hagere Fremde. »Das ist Krieg, keine Sinnestäuschung.«

»Kannst du das beweisen, Fremder?« Der Fremde rollte mit den Augen. »Soll ich euch zum Beweis eine Bombe

auf den Kopf werfen lassen?« sagte er ge­reizt.

Der Tonfall mißfiel Bulzerdon sehr. Ab­gesehen davon, daß sich der Fremde nicht einmal vorgestellt hatte, war es mehr als un­gehörig, einen solchen Tonfall anzuschla­gen.

»Auch das kann eine Sinnestäuschung sein«, versetzte die Frau kühl. »Sie können auch eine Sinnestäuschung sein, alles kann eine Sinnestäuschung sein.«

»Aber das ist ja Wahnsinn!« schrie der Fremde. »Über euren Köpfen tobt ein Krieg, und wenn ihr nicht bald handelt, werdet ihr in ein paar Stunden tot sein.«

»Was ist der Tod«, rezitierte Plecks pa­thetisch, »ein langer Schlaf, nicht mehr. Üb­rigens könnte auch der Tod eine Täuschung der Sinne sein.«

»Dieser Ansatz ist interessant«, sagte die junge Frau nachdenklich. Sie stellte das Netz mit Gemüse ab und leckte sich über die Lippen. »Auf der anderen Seite stellt sich natürlich die Frage, ob das Leben dem Tod,

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oder der Tod dem Leben immanent ist, oder ob vielmehr eines des anderen Vorbedin­gung ist.«

Der schwarzhaarige Fremde stöhnte, als sei er schwer verletzt worden. Bulzerdon zog ihn sanft zur Seite, während der Disput zwischen dem Dramatiker und der jungen Frau an Feuer gewann.

»Seid ihr allesamt übergeschnappt?« frag­te der Fremde. »Warum glaubt uns denn kei­ner.«

Bulzerdon breitete die Arme aus. »Vielleicht solltest du erst einmal Sprecht­echnik üben, bevor du eine Ansprache hältst«, schlug er vor. »Ich heiße Bulzerdon und bin Skulpturist.«

»Angenehm«, sagte der Fremde geistes­abwesend. »Razamon, Berserker!«

»Nimm einen Schluck«, bot Bulzerdon an. »Das erfrischt und befeuchtet die Stimm­bänder. Du mußt wirklich noch viel an dir arbeiten, bis du mit diesem Vortrag den nöti­gen Eindruck machst.«

Der Fremde trank. Er machte den Ein­druck, als fühle er sich vom Schicksal ge­schlagen. Der zweite Fremde überquerte den Platz. Um den Eripäer hatte sich unterdes­sen eine Menschentraube angesammelt, die erbittert diskutierte.

»Wir kommen einfach nicht weiter, Raza­mon«, seufzte der Hellhaarige. »Die Bewoh­ner von Quersoy glauben uns einfach nicht.«

»Vielleicht wollen sie sterben, Balduur«, sagte Razamon schulterzuckend. »Ich be­greife diese Wesen nicht.«

Bulzerdon indes begriff, daß die Fremden ganz andere Gedankenstrukturen entwickel­ten, als er sie kannte.

»Damaukaaner ist eine Welt der Künstler, Philosophen, der Denker, Maler, Schauspie­ler!« klärte er die beiden Fremden auf. »Man versteht hier eure Sprache nicht.«

Balduur deutete in den Himmel. Bulzer­don konnte sehen, daß die scheibenförmigen Flugkörper allmählich die Oberhand gewan­nen. Er hatte die Körper nie zuvor gesehen.

»Siehst du diese Scheiben? Das sind An­griffsschiffe der Krolocs. Sie werden Spac-

Peter Terrid

cahs genannt, und im Raum von Damaukaa­ner stehen einige Dutzend Trägerschiffe für diese Spaccahs. Die Krolocs greifen diesen Planeten an, und wenn ihr Damaukaaner nicht endlich aufwacht, dann werden sie eu­re Welt wahrscheinlich kampflos erobern.«

»Und was sollten sie damit?« fragte Bul­zerdon entgeistert. »Erstens einmal leben wir hier, und zweitens, wenn sie an Ausstel­lungen, Vernissagen, Hommagen oder der­gleichen interessiert sind, brauchen sie sich nur an eine Agentur zu wenden, um Karten zu bekommen.«

Der dunkelhaarige Fremde stöhnte auf, als habe er einen Tritt in den Unterleib bekom­men. Sein Gefährte schüttelte verwundert den Kopf.

»Gib es auf, Razamon«, sagte der Hell­haarige. »Sie werden uns erst glauben, wenn die Spaccahs auf diesem Platz landen. Und dann wird es zu spät sein.«

»Versucht es doch einmal auf Punnary«, versuchte Bulzerdon die sichtlich niederge­schlagenen Fremden zu trösten. »Dort ist man nicht ganz so anspruchsvoll wie auf Quersoy – obwohl man auf diesen Großwol­ken nie sehr anspruchsvoll gewesen ist. Vielleicht gefällt eure Show dort.«

Die beiden Fremden ließen die Arme sin­ken und sahen sich kopfschüttelnd an.

»Dies ist keine Show – dies ist einfache, nackte, kalte, unerbittliche Wirklichkeit.«

Bulzerdon lächelte mitleidig. »Ich weiß«, sagte er milde. »Ich hatte

auch so eine Phase. Aber irgendwann sieht man ein, daß auch Kunst relativ ist. Auf ei­ner Welt wie dieser muß man zwangsläufig ein wenig bescheidener werden, wenn man Künstler ist. Ihr werdet es auch noch lernen, glaubt mir. Irgendwann werdet ihr Erfolg haben, dann wird man euch anhören und auch applaudieren. Seht ihr Abo Plecks dort drüben? Er ist unser bedeutendster Dramati­ker. Und er hat mehr als zwanzig Jahre ge­braucht, bis man sein erstes Stück aufgeführt und beklatscht hat.«

Die Fremden reagierten nicht auf den Trost.

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Und in diesem Augenblick schlug die er­ste Bombe auf dem Marktplatz von Quersoy ein.

3.

Wirklichkeit, im Sinn der Metaphysik (im 1. Sinn) das. Sein desjenigen (s.d.) Seien­den, das das Prädikat »wirklich« trägt, als das Wirklichsein eines Seienden. Der Aus­druck Wirklichkeit wurde von Meister Eck­hart geprägt als Übersetzung des lat. actuali­tas (Wirksamkeit). Im Deutschen enthält der Begriff W. einen 2. Sinn: er beinhaltet die wichtige Komponente des Wirkens, wäh­rend W. im Altgriech. und Römischen mit Wahrheit, im Franz. und Engl. mit Realität identisch ist, womit ein 3. Sinn unterschie­den wird. Im Deutschen unterscheidet sich die Wahrheit von der W. dadurch, daß sie an die Evidenz (nicht an das Wirken) gebunden ist, die (s.d.) Realität von der W. dadurch, daß sie auch das Mögliche enthält. W. steht im philos. Sprachgebrauch sowohl im Ge­gensatz zum bloß Scheinbaren als auch zum bloß Möglichen.

(Philosophisches Wörterbuch)

*

Bulzerdon stand erstarrt. Mit einem Schlag wurde ihm klar, daß die

beiden Fremden und die beiden Eripäer in ihrer Begleitung keineswegs gelogen hatten. Im Gegenteil, ihre düsteren Prophezeiungen waren mehr als berechtigt gewesen.

Bulzerdon sah, wie das Haus in die Luft flog. Es war, glücklicher, unverdienter Zu­fall, das städtische Gefängnis. Es stand zur Zeit leer.

In der Menge kam Beifall auf. Noch im­mer hielten einige tausend Bewohner von Quersoy das Ganze für ein besonders auf­wendig inszeniertes Theaterstück. Es waren nur wenige, die begriffen, daß es kein Spiel war, was sie miterlebten.

»Heilige Kunst«, stieß Bulzerdon hervor. »Was haben wir gesagt?« fragte der

Eripäer. »Aber ihr wolltet uns ja nicht glau­ben.«

Bulzerdon schüttelte verwirrt den Kopf. Trümmer prasselten auf die Bevölkerung

herab. Entrüstete Rufe wurden laut. »Die Krolocs haben es geschafft, unsere

Verteidigungsfront an einigen Stellen zu durchbrechen«, rief Pona. »Eines ihrer Ziele ist ganz offenkundig Quersoy.«

»Aber«, stotterte Bulzerdon hilflos. »Was soll das alles? Sind die da oben verrückt ge­worden, mit richtigen Bomben zu werfen? Hier leben doch Menschen.«

Razamon und Balduur sahen sich an, fas­sungslos angesichts von so viel Naivität.

Am Himmel vergrößerte sich die Zahl der scheibenförmigen Fluggeräte. Die eiförmi­gen Luftfahrzeuge wurden von den Scheiben erbarmungslos dezimiert. Zwar gelang es vielen der eripäischen Piloten, sich mit ihren schwer beschädigten Flugzeugen abzusetzen – aber das hieß dennoch, daß die Schlagkraft der Eripäerflotte sich von Minute zu Minute verringerte.

»Unglaublich«, staunte Bulzerdon. Er konnte sehen, daß einige der Scheiben

sich von den Pulks lösten, die sich im Luftraum über Quersoy bekämpften. Offen­bar hielten die Krolocs ihre Übermacht für ausreichend.

»Sie wollen landen«, stellte Razamon fest. Er preßte die schmalen Lippen aufein­ander, bis sie nur noch ein dünner Strich zu sein schienen. »Die Invasion beginnt. Ich vermute, daß sie sich eine Wolke nach der anderen vornehmen werden.«

Bulzerdon sah, wie die Hand des Blonden zur Waffe ging, die in seinem Gürtel stak.

»Wir werden Widerstand leisten«, ver­kündete Balduur.

Bulzerdon brauchte fast eine Minute, bis er das Wort verstand. Er kannte den Aus­druck nicht. In seiner Welt gab es kein Schlachten.

»Aber dabei werden noch mehr Häuser beschädigt oder gar zerstört werden«, gab er zu bedenken.

»Um so besser für die Architekten«, stieß

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der Eripäer hervor. Bulzerdon fand diesen Einwand berech­

tigt, er begriff allerdings nicht ganz, warum die Stimme des Eripäers bei dieser Bemer­kung vor Hohn förmlich troff.

Der Marktplatz leerte sich. Die Bewohner von Quersoy, zogen sich in ihre Behausun­gen zurück.

»Dort hinten«, sagte Pona. Sie deutete die Richtung mit der Hand an. »Dort sind gera­de sieben Spaccahs gelandet.«

Bulzerdon sah in diese Richtung und er­schrak.

»Dort ist die Zentrale von Quersoy«, rief er heftig.

»Was bedeutet das?« fragte Razamon. »Die Wolken«, erklärte Bulzerdon

stockend; der Schreck über diese Ent­deckung hatte ihm buchstäblich die Sprache verschlagen. »Die Gravitationspolster, auf denen die Wolken treiben … sie sind nicht absolut stabil. Sie sind Schwankungen unter­worfen, und darum gibt es in jeder Gillma­der-Wolke Apparaturen, die solche Schwan­kungen ausgleichen. Das ist die Zentrale von Quersoy.«

Balduur wurde bleich. »Und wenn die Krolocs diese Zentrale er­

obern?« Bulzerdon zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, gab er hilflos zu.

»Aber es wird eine Katastrophe werden.« Bulzerdon sah, wie weitere Scheiben vom

Himmel fielen. Zu seiner Erleichterung lan­deten sie in anderen Bezirken der Wolke. Er hätte zwar gerne gesehen, wie die – wie hieß noch das Wort … Angreifer – aussahen, aber er spürte auch, daß ihn der Schock um­werfen würde. Er fühlte schon seinen Herz­schlag schneller werden, als er sah, daß Bal­duur eine Waffe in der Hand hielt. Auch der Eripäer und Pona und der andere Fremde hatten zu ihren Waffen gegriffen.

Bulzerdon begann zu ahnen, daß er am Beginn einer Entwicklung stand, die er kaum begreifen konnte.

»Los, geh voran«, bestimmte der Eripäer. »Zeige uns den Weg zur Zentrale. Vielleicht

Peter Terrid

können wir das Schlimmste verhindern.« »Es wird nicht leicht werden«, warf Raza­

mon ein. Immer wieder ging sein Blick zum Himmel. Ein neues Geschwader Eripäer-Flugzeuge war aufgetaucht und setzte den Kampf fort. Das Geschwader konnte das un­vermeidliche Ende bestenfalls hinauszögern, nicht aber verhindern.

»Mach zu, Bulzerdon!« rief Razamon. Der Bildhauer setzte sich in Bewegung.

Der Marktplatz war völlig leer. Aber in den Fenstern waren zahlreiche Eripäer zu erken­nen, die mit Ferngläsern nach der Luft­schlacht spähten, um sich kein Detail entge­hen zu lassen.

»Fast so gut wie im Video«, hörte Bulzer­don eine Stimme sagen. »Ich vermisse nur die Nahaufnahmen!«

Bulzerdon überquerte den Marktplatz. Sorgfältig gab er dabei acht, daß er nicht auf eine der Pflastermalereien trat, die ein Drit­tel des Marktplatzes bedeckten. Es waren ei­nige beachtenswerte Stücke darunter, bei­spielsweise eine Serie monochromatischer Studien in Schwarz. Die Fremden hingegen trampelten rücksichtslos auf den Kunstwer­ken herum. Es waren Barbaren, stellte Bul­zerdon ein weiteres Mal fest.

Der Kampf in der Luft ging derweilen weiter. Die Kämpfer ließen die Maschinen tiefer sinken, man konnte den Lärm des Kampfes hören – das Heulen der Triebwer­ke, das Zischen der Strahlwaffen und das krachende Geräusch der Entladungen, wenn ein Waffenstrahl auf einen Schutzschirm traf. Es hörte sich nicht sehr gut an, fand Bulzerdon.

Er merkte, daß er sehr schnell außer Atem geriet. Körperliche Arbeit war nicht sein Metier. Immerhin kannte er den Weg zur Zentrale, daher mußten die Barbaren auf ihn Rücksicht nehmen.

»Deckung!« hörte Bulzerdon eine laute Stimme rufen, dann spürte er einen Stoß im Rücken, flog nach vorne, überschlug sich und rutschte auf dem glatten Boden ein Dut­zend Meter weit – flach auf dem Bauch, und alle viere von sich gestreckt. Sofort überkam

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ihn die Scham. Diese Haltung war alles an­dere als vorteilhaft anzusehen.

Als er sich aufrichtete, sah er ein vier Me­ter langes, weißglühendes Stück Stahl an eben der Stelle im Boden stecken, an der er den stoß in den Rücken bekommen hatte. Bulzerdon schluckte.

Mit solchen Dingen hatte er nicht gerech­net. Er mußte nun einsehen, daß es Dinge gab, die selbst das Leben eines hochbedeu­tenden Künstlers frühzeitig beenden konn­ten.

Außerdem wurde ihm klar, daß er dem harten Stoß eines der beiden Barbaren sein Leben verdankte.

Bulzerdon kannte dergleichen nur aus schlechten Video-Filmen. Nur dort wurde auf Damaukaaner geschossen und gekämpft, nur dort spielten sich Handlungen ab, die er bislang für Kinderunterhaltung gehalten hat­te. Er hatte große Mühe, sich selbst begreif­lich zu machen, daß es solche Handlungsab­läufe tatsächlich gab – daß Lebewesen auf andere Lebewesen schossen und ihnen nach dem Leben trachteten.

»Danke«, sagte Bulzerdon. Razamon zuckte mit den Schultern. »Wir müssen wei­ter!« drängte er.

Er half Bulzerdon wieder auf die Beine. Der Eripäer stolperte weiter. Sein Ver­

stand schien in Auflösung begriffen. Alles, was um ihn herum geschah, vollzog sich nach Regeln und Gesetzmäßigkeiten, die er nicht kannte und nicht begriff.

Dieser Razamon hatte ihm das Leben ge­rettet und zuckte dazu nur die Schultern. Keine Pose, keine Ansprache – dieser hage­re Mann ließ einen solchen Augenblick höchster Dramatik ungenutzt verstreichen. Bulzerdon war beileibe kein Dramatiker, aber einen solchen Augenblick hätte er sich niemals entgehen lassen.

Obendrein verdroß ihn, daß die Angreifer ihn in diese sehr unvorteilhafte Rolle hinein­gedrängt hatten. Für eine Demutsrolle fühlte sich Bulzerdon überhaupt nicht geeignet, aber er mußte wohl oder übel mitspielen. Vielleicht würde sich später eine Gelegen­

heit finden, dem Barbaren in wohlgesetzten Worten für die jüngst erfolgte Rettung des Lebens zu danken.

»Wir werden zu spät kommen«, stieß Bal­duur im Laufen hervor. »Es landen immer mehr Spaccahs, und die Bewohner der Stadt kämpfen einfach nicht.«

»Wir sind Künstler, keine Kämpfer!« keuchte Bulzerdon mit letztem Atem. »Kampf ist nicht unsere Sache.«

»Wessen Sache, wenn nicht eure, wird hier ausgefochten?« gab Razamon zurück.

Der Eripäer hob eine Hand. Die Gruppe verlangsamte ihr Tempo und

blieb schließlich stehen. Bulzerdon schob sich vor, bis er an die Ecke des Hauses se­hen konnte, an dem die Gruppe gestoppt hat­te.

Was er sah, verschlug ihm ein weiteres Mal die Sprache.

Vor ihm lag im hellen Licht der Sonne der Platz des Zentrums mit der bekannten Bild­säule, die jetzt zerstört auf dem Boden lag – ein Akt ungeheurer Barbarei. Auf dem Platz stand ein Dutzend jener scheibenförmigen Gebilde, und dazu wimmelte es von unför­migen Gestalten in ausgesprochen unästheti­schen Anzügen. Sie sahen aus, als wären sie für ihre Träger viel zu groß. Was in diesen Krumpelanzügen stak, war von außen nicht zu erkennen. Bulzerdon erinnerte sich aller­dings, daß der Eripäer die Krolocs als spin­nenähnliche Kreaturen bezeichnet hatte.

Bulzerdon mochte Spinnen. Er fand ihre Netze überaus grazil und ästhetisch – vor­ausgesetzt, Spinne und Netz hielten sich, was die Größe anbetraf, in Grenzen. Mit den Kreaturen auf dem Marktplatz wollte Bul­zerdon nichts zu tun haben. Bilderstürmer waren ihm zuwider, gleichgültig in welcher Gestalt sie auftraten.

»Aussichtslos«, sagte er flüsternd. »Sie haben den Eingang schon gefunden und be­setzt. Dort ist kein Durchkommen möglich.«

»Gibt es andere Wege, die zur Zentrale führen?« fragte Razamon. Bulzerdon konnte sehen, daß der Mann vor Erregung förmlich fieberte. Er schien Kämpfe zu mögen. Das

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verletzte oder verkrüppelte Bein, das er nachzog, schien ihn nicht am Laufen zu hin­dern. Er war jedenfalls weit weniger außer Atem als Bulzerdon.

»Alle Wege führen zur Zentrale«, zitierte Bulzerdon prompt.

»Dann zeige uns einen«, gab Pona trocken zurück.

Bulzerdon nickte automatisch. Ganz wohl war ihm nicht bei dieser Akti­

on, aber er war zu eingeschüchtert, um sich entscheiden zu können, wessen Gesellschaft schwerer zu ertragen war – die der Krolocs oder die der beiden Barbaren, deren Tätig­keitsdrang ihm geradezu unheimlich schien.

Er ging einige Schritte weit, bis zu einem Eingang in das Versorgungsnetz der Gillma­der-Wolke. An dieser Stelle führte ein Anti­gravschacht tief in das Innere der Wolke. Ein modriger Geruch schlug den Männern und der Frau entgegen, als sie in den Schacht hinabglitten.

»Wird das Ding nie benutzt?« fragte Raz­amon. Seine Stimme hallte in der langen Röhre und bekam einen gespenstischen Klang.

»Selten«, erklärte Bulzerdon ein wenig unsicher. Daß er unversehens zum Führer der Gruppe aufgestiegen war, behagte ihm nicht. Er kannte sich in Quersoy wenig aus. Möglicherweise lastete man später ihm alle Schuld an, wenn die Aktion fehlschlug – wobei ihn besonders störte, daß er keine Ah­nung hatte, was die beiden Eripäer und die beiden Barbaren überhaupt planten.

Nach einigen hundert Metern verzweigte sich der Schacht. Bulzerdon schätzte die Richtung, in die er vordringen wollte, und wählte den entsprechenden Stollen.

Die Gänge waren erleuchtet, aber das Licht flackerte ab und zu. Jetzt erst wurde Bulzerdon bewußt, daß die Fremden, die in diesem Augenblick auf Quersoy landeten, auf das Herz der Gillmader-Wolke zielten. Wann hatte es das je gegeben, daß die Be­leuchtung schwach wurde oder gar ausfiel – von Happenings einmal abgesehen?

»Ich fürchte«, sagte Razamon dumpf, und

Peter Terrid

der Klang der Röhre verlieh seiner Stimme einen Klang, als spreche er aus einem Grab, »daß die Krolocs die Zentrale der Wolke längst erobert haben.«

»Wir werden sehen«, hielt der Eripäer da­gegen.

»Nach links«, entschied Bulzerdon an der nächsten Abzweigung. Bislang war der Gruppe noch niemand begegnet.

Die Gruppe hastete den Stollen entlang. Auf dem Boden lag ein dickes Kabel, dessen Zweck Bulzerdon verborgen blieb.

Der Eripäer hob eine Hand. »Ruhe!« zischte er.

Die Gruppe hielt an. Jetzt konnte auch Bulzerdon den Lärm hören. Weit voraus wurde gekämpft, jedenfalls vermutete Bul­zerdon das. Er hörte krachende Explosionen, Scheppern und Klirren, dazwischen das häß­liche Zischen von Strahlwaffen.

»Hier!« sagte einer der Barbaren. Ehe Bulzerdon sich's versah, hatte ihm der Hage­re einen harten, metallischen Gegenstand in die Hand gedrückt. Bulzerdon schluckte, als er erkannte, daß es sich bei dem klobigen Ding um eine Waffe handelte. Nicht nur, daß Bulzerdon eine ungeheure Scheu vor Waffen hatte – das Ding war auch entsetz­lich häßlich. Hätte Balduur ihm nicht einen Rippenstoß verpaßt, wäre Bulzerdon stehen­geblieben und hätte sich eine gefälligere Ge­staltung für die Waffe einfallen lassen.

»Vorwärts!« zischte Balduur. Mit einem leisen Seufzer machte sich Bulzerdon daran, die anderen einzuholen, die bereits voraus­geeilt waren. Er sah, daß alle seiner Beglei­ter die Waffen schußfertig in den Händen hielten.

Bulzerdon mußte ein Kichern unter­drücken.

Das alles kam ihm so unerhört bekannt vor. Die Szene wirkte, als gehöre sie zu ei­nem Unterhaltungsfilm – die Röhre mit ih­rem Flackerlicht, die grimmigen Gesichter seiner Begleiter, deren Bewaffnung. Erst nach einiger Zeit wurde dem Skulpturisten klar, daß diese Szenerie nicht arrangiert war, daß die Angelegenheit ernst war – und le­

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bensgefährlich. Der Eripäer stoppte. An dieser Stelle wurde die Versorgungs­

röhre von einer Metallplatte abgeschlossen. Dahinter lag – hoffentlich – die Zentrale der Gillmader-Wolke. Der Kampflärm war nicht zu überhören.

»Bereit?« fragte Gurankor. Bulzerdon stellte überrascht fest, daß auch

er genickt hatte. Der Eripäer warf sich mit dem Gewicht des Körpers gegen die Platte, die klackend aus ihren Verschlüssen sprang und auf den Boden polterte.

Mit einem Feuerstoß aus seiner Waffe schuf sich der Eripäer freie Bahn. Bulzer­don sah ein Gespinst von Strahlbahnen ge­gen den kreisförmigen Ausschnitt vor ihm, er sah, wie Gurankor die Röhre verließ, dann folgten die beiden Barbaren. Pona schloß sich an, und wie hypnotisiert kroch auch Bulzerdon auf die Öffnung zu.

Bereits der erste Blick zeigte ihm, daß er tatsächlich den Weg zur Zentrale von Quer­soy gefunden hatte. Eine Halle dieses Aus­maßes gab es kein zweites Mal in Quersoy. Bulzerdon konnte den Maschinenpark se­hen, mit dem die Gillmader-Wolke in ihrer Lage stabilisiert wurde. Gleichzeitig wurden von diesem Raum aus die Energieversor­gung der Wolke, deren Wasserhaushalt, das Bewetterungsystem und vieles mehr unter­halten. Die Halle war Herz und Hirn der Gillmader-Wolke.

Und in dieses Herz waren Fremde einge­drungen.

Bulzerdon konnte ein halbes Hundert der fremden Wesen in ihren Krumpelanzügen sehen, und durch den Haupteingang der Zentral-Halle drangen immer neue Krolocs ein.

Bulzerdons Begleiter waren schon in Kämpfe verstrickt. Der Künstler konnte Razamon erkennen, der sich hinter eine bi­zarr geformte Maschine geflüchtet hatte und von dort aus die Krolocs unter präzises Feu­er nahm.

Bulzerdons Waffe ging plötzlich los, und er war noch überraschter, als er einen Kroloc

in seiner Nähe erkannte, der unter der Wucht des Treffers zurücktaumelte und dabei die Waffe verlor, mit der er auf Bulzerdon ge­zielt hatte.

Entgeistert mußte der Skulpturist erken­nen, daß er offenbar doch kriegerische Qua­litäten besaß. Er hatte sich seiner Haut ge­wehrt, ohne es überhaupt wahrzunehmen. Eine erstaunliche Feststellung, fand Bulzer­don.

Und einen Augenblick später machte er eine weitere, verblüffende Feststellung. Die Krolocs hatten damit begonnen, die gesamte Zentrale der Wolke in ein Kunstwerk zu ver­wandeln.

4.

Entschlossenheit, bei Heidegger des ver­schwiegene, angstbereite (s. Angst) Sichent­werfen auf das eigenste Schuldigsein, auf das Gewissenhabenwollen, das eine Weise der Erschlossenheit des Daseins ist. E. läßt auch erkenntnistheoretische Implikationen zu. »Die Entschlossenheit bringt das Selbst gerade in das jeweilige besorgende (s. Be­sorgen) Sein bei Zuhandenem und stößt es in das fürsorgende Mitsein mit den Ande­ren« (Heidegger, Sein und Zeit).

(Philosophisches Wörterbuch)

*

Bulzerdons Augen begannen zu leuchten. Fasziniert sah er zu, wie die Krolocs – so­

weit sie sich nicht gegen die Barbaren und die beiden Eripäer zur Wehr setzten – bunte Leitungen zu spannen begannen. Kabel bil­deten ein verwirrendes, abstraktes Muster zwischen den einzelnen Maschinen des Saa­les, und an vielen Stellen hatten die Krolocs die Apparaturen mit farbigen Beulen verse­hen – es sah aus, als hätten sie buntschillern-den Kunststoff auf die Maschinen geklebt. Merkwürdigerweise klebte dieser bunte Kunststoff hauptsächlich an den Sockeln der Maschinen. Diese Anordnung wollte Bulzer­don nicht recht gefallen – auf diese Weise

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verlor die Dekoration viel von ihrem ästheti­schen Reiz.

Allerdings kam Bulzerdon nicht dazu, sich der Betrachtung des Gesamtkunstwerks ungestört hinzugeben.

Das Feuergefecht in der Halle – Bulzer­don konnte das Geschehen von seinem er­höhten Standpunkt aus gut verfolgen – lief ununterbrochen weiter, ja es schien sogar an Heftigkeit zu gewinnen.

»Treibt sie zurück!« konnte Bulzerdon den Eripäer rufen hören. »Und beeilt euch, wir haben nicht mehr viel Zeit!«

»Zeit, wofür?« fragte Bulzerdon halblaut. Wieder betätigte er seine Waffe, und wie­

der erzielte er einen Treffer. »Sinnlos«, hörte er Balduur rufen. »Es

sind zu viele! Wir müssen die Bevölkerung warnen!«

Bulzerdon sah, wie sich seine Begleiter zurückzogen. Im gleichen Maße, in dem sie ihr Feuer beschränkten, wurde auch das Schießen der Krolocs schwächer. Dafür aber verstärkten die Krumpelwesen ihre künstle­rische Tätigkeit.

»Hilf mir!« rief der Eripäer, als er das Ende des Schachtes erreichte. Bulzerdon streckte eine Hand aus und zog den Eripäer in die Höhe, bis sich Gurankor aus eigener Kraft in die Versorgungsröhre ziehen konn­te. Sobald der Eripäer Halt gefunden hatte, setzte er das Feuer auf die Krolocs fort.

Knapp einen Meter neben Bulzerdon schlug ein Schuß aus einer Krolocwaffe ein. Verflüssigtes Metall spritzte herum und brannte Löcher in die Kleidung.

Nacheinander trafen Pona und die beiden Fremden bei der Öffnung ein. Es sah aus, als träten sie einen Rückzug an. Bulzerdon be­griff allerdings nicht, vor wem oder was sich seine Begleiter zurückzogen. Das ganze Spektakel war in seiner Grundkonstruktion viel zu kompliziert, als daß Bulzerdon dies alles hätte durchschauen können. Er begriff auch nicht, warum vor allem der Eripäer so erregt wirkte.

»Was wird die Explosion für Folgen ha­ben?« fragte Razamon, der unablässig auf

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die Krolocs feuerte und einen Treffer nach dem anderen erzielte.

»Ich weiß es nicht«, gab der Eripäer zu. »Aber wahrscheinlich wird die Wolke ab­stürzen.«

»In den Vulkan hinein?« »Ich befürchte es«, stieß der Eripäer zwi­

schen zusammengepreßten Kiefern hervor. Er zerrte an Bulzerdons Ärmel. »Komm!«

forderte er den Widerstrebenden auf. »Wohin?« wollte Bulzerdon wissen. »Gleichgültig«, versetzte Gurankor erregt.

»Nur weg von hier. Das alles wird gleich in die Luft fliegen.«

Unwillkürlich sah Bulzerdon nach oben. Die Idee war faszinierend – eine Wolke über der Wolke. Das würde Quersoy, die gesamte Gillmader-Wolke, zu einem Kunstwerk ma­chen, einem Kunstwerk von atemberauben­der Größe.

»Los, komm!« drängte der Eripäer. Bulzerdon nahm an, daß man den Vor­

gang des In-die-Luft-Fliegens von draußen weit besser würde verfolgen können. Er be­eilte sich, der Aufforderung des Eripäers Folge zu leisten.

Zwar verwirrte ihn, daß die Gruppe ein Tempo anschlug, als säße ihnen die Hitze der Kaldera im Nacken, aber er schaffte es, sich dem rasend schnellen Rückzug anzu­schließen.

Als die Gruppe wieder das Freie erreichte, waren die Plätze und Straßen von Quersoy wieder belebt. Eripäer rannten wild durch­einander, Frauen fluchten, Kinder schluchz­ten, Männer schrien wie von Sinnen, und al­le wirkten, als wären sie übergeschnappt.

»Lauft«, konnte Bulzerdon jemanden schreien hören. »Lauft um euer Leben.«

Bulzerdon stellte fest, daß der Schrei von dem Eripäer kam, und das verärgerte ihn. Offenbar wollte Gurankor die Bewohner und Besucher von Quersoy dazu veranlas­sen, die Wolke zu verlassen. Wahrscheinlich wollte Gurankor als einziger Eripäer Zeuge der Geburt des ersten Gesamtkunstwerks Gillmader-Wolke werden. Bulzerdon fand das ausgesprochen schäbig, um nicht zu sa­

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gen niederträchtig. In diesem Augenblick fühlte er sich plötz­

lich angehoben, und während sich sein Mund zu einem erschreckten Schrei öffnete und sich sein Magen auf den Kopf zu stellen schien, sah er, wie in dem Gebäude, das ihm genau gegenüberlag, meterlange Risse ent­standen. Glas barst, und das Gekreisch der Menge verstärkte sich.

Und durch das Chaos aus Stimmen war das harte Organ des großen Hellhaarigen zu hören.

»Die Zentrale ist explodiert!« sagte der Fremde, der Balduur genannt wurde.

Bulzerdon fühlte sich, als würde ihm das Innerste zuäußerst gekehrt.

Er sah, wie sich die Risse in den Gebäu-den verbreiterten, wie die Eripäer auseinan­derstoben. Wie besessen rannten die Bewoh­ner Quersoys, und Bulzerdon konnte sehen, daß der Horizont irgendwie schief am Him­mel hing. Er kannte sich in Geographie nicht aus, aber irgendwie hing der Horizont schief. Und er bewegte sich, Bulzerdon trau­te kaum seinen Augen.

Zuerst hatte er gezittert, dann aber ver­rutschte er seitlich. Es fühlte und sah sich an, als rüttele jemand an der Gillmader-Wol­ke.

»Hier ist nichts mehr zu retten«, sagte Po-na mit fester Stimme. »Zum Glück stürzt die Wolke nicht sofort ab. Ich hoffe, die Bewoh­ner werden sich in Sicherheit bringen kön­nen.«

Die Gesichter der beiden Fremden waren zu harten Masken gefroren, so kam es Bul­zerdon vor. Sie hatten ihre Waffen in die Gürtel gesteckt und sahen wütend aus.

»Sehen wir uns den Rand der Wolke an«, schlug der Eripäer vor. »Es kann sein, daß sich Quersoy noch tagelang so halten kann – durch die Zentrale wurde schließlich nur die Feineinstellung der Gravitationspolster regu­liert. Bulzerdon, stammst du von dieser Wolke?«

Bulzerdon machte ein empörtes Gesicht. Zwar hatte er von dem Zittern des Horizonts eine aufkeimende Übelkeit zurückbehalten,

die er zu unterdrücken trachtete, aber die Grimasse des Abscheus gelang ihm dennoch vorzüglich.

»Natürlich nicht«, versetzte er, ein wenig würgend. »Ich bewohne meine eigene Wol­ke – die Bulzerdon-Wolke.«

»Um so besser«, warf Razamon ein. »Du hast sicher ein Fahrzeug. Steht es in der Nä­he?«

Bulzerdon nickte unwillkürlich. Eigent­lich hatte er die Frage des Barbaren über­haupt nicht beantworten wollen, eigentlich wollte er in diesem Augenblick nur eines – verschwinden, und das alsbald. Auf der an­deren Seite wurde er von den Ereignissen einfach überrollt. Sein künstlerischer Ver­stand kam mit so profanen Vorgängen nicht zurecht, wie sie sich zuletzt abgespielt hat­ten.

»Zeige uns die Stelle«, kommandierte Razamon.

Bulzerdon war nicht gewohnt, Befehle auszuführen, es sei denn von seiner Frau, aber er gehorchte beinahe automatisch, und auch das erschreckte ihn. Er begriff von alle­dem nur, daß in diesem Augenblick schreck­liche Dinge vonstatten gingen.

Er rannte, weil auch die anderen rannten. Unterwegs begegnete er immer wieder ande­ren Eripäern, die gleichfalls liefen und dabei laut schrien. Bulzerdon verstand die allge­meine Aufregung nicht, aber sie ergriff auch ihn.

»Dort steht der Gleiter«, stieß er hervor, als die Gruppe den Parkplatz erreicht hatte.

»Der mit dem Schrottklumpen auf der La­defläche?« hatte Razamon die Stirn zu fra­gen. Bulzerdon schluckte. Eine derartige Kränkung war ihm zeitlebens nicht wider­fahren. Das Objekt fiel zwar in die Katego­rie der Schrottkunst, aber der Akzent lag da­bei zweifelsfrei auf der Silbe -kunst. Jeder Schwachkopf konnte schließlich sehen, daß es sich um ein Kunstwerk handelte. Am Rang des Werkes ließ sich vielleicht zwei­feln, aber an der grundsätzlichen Qualität »Kunstwerk« konnte es keinerlei Zweifel geben.

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Der Banause wartete gar keine Antwort ab, sondern stürmte sofort auf den Gleiter los.

»Helft mir!« ächzte er. »Was … was …?« Bulzerdon war vor Entsetzen sprachlos.

Da wagte es dieser … Bulzerdon wollte kein angemessenes Schimpfwort einfallen … er wagte es, Hand an das Kunstwerk zu legen. Und der andere Barbar sprang sofort zur Hilfe und zerrte an den Verriegelungen der Ladefläche.

Von Entsetzen und Ekel gepackt, sah Bul­zerdon stieren Blicks, wie die beiden Wüst­linge die Ladeklappe öffneten, und dann setzte sich das Kunstwerk von selbst in Be­wegung, rutschte über die Ladefläche und fiel mit lautem Scheppern auf den Boden.

Bulzerdon stand erstarrt, und erst nach ei­ner Zeitspanne, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, begriff er, was sich vor seinen Au­gen abgespielt hatte.

Man hatte ihn verhöhnt, beleidigt, ge­schändet. Nie zuvor war ein Künstler auf diesem Planeten einer ähnlichen Demüti­gung unterworfen worden. Es gab turbulen­te, lebhafte, ab und an auch blutige Kunst­dispute auf Damaukaaner, aber niemals wäre es einem Eripäer von Damaukaaner einge­fallen, an den künstlerischen Qualitäten sei­nes Gegenübers auch nur den geringsten Zweifel erkennen zu lassen. Der solcherart Beschimpfte hätte sich möglicherweise fra­gen können, ob der Beleidiger vielleicht überhaupt ein Künstler sei, und wenn das je­der getan hätte, wo wäre man dann hinge­kommen?

In den Dreck hatte man sein Kunstwerk gestoßen. Ein Akt der Barbarei, der in der Geschichte des Planeten seinesgleichen suchte.

Bulzerdon wußte nicht mehr, ob er lebte, ob er wach war oder träumte. Sein Verstand weigerte sich, das Geschehene zu verarbei­ten. Wäre das gesamte All mit einem Schlag verschwunden, hätte Bulzerdon dies leichter begreifen können.

Aber während er noch an dem ungeheuer-

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lichen Tort zu knabbern hatte, der ihm wi­derfahren war, dämmerte ihm langsam, daß die unerhörte Beschimpfung in einer höchst bedenklichen Art und Weise vonstatten ge­gangen war.

Bulzerdon erinnerte sich nämlich, daß die beiden Wilden seine Skulptur überhaupt nicht angefaßt hatten. Dennoch war sie in den Staub gestürzt. Hatte die Natur selbst seine Schöpfung verworfen? Bulzerdon konnte das nicht glauben.

Oder …? Ein Gedanke tauchte im Hirn des Eripäers

auf, ein erschütternder Gedanke der seine Welt noch mehr in den Grundfesten erschüt­terte, als es der Akt der Kunstschändung ge­tan hatte.

Stand etwa die Gillmader-Wolke Quersoy schief?

*

Der Eripäer stieß Bulzerdon an. »Vorwärts«, bestimmte er. »Sonst ist es zu spät. Beeile dich!«

»Meine Skulptur!« jammerte Bulzerdon los. »Ich kann doch meine Skulptur nicht hier zurücklassen, schutzlos, hilflos …«

»Niemand wird es wagen, sie zu stehlen«, drängte Gurankor. Er nahm Bulzerdon die Entscheidung ab, indem er ihn vorwärts stieß. Er schubste den fassungslosen Künst­ler vor sich her, bugsierte ihn auf den Rück­sitz des Gleiters und nahm dann hinter dem Steuer Platz.

Bulzerdons Augen hingen tränenfeucht an seiner Skulptur. Natürlich würde man ihm seine Kostbarkeit nicht stehlen, aber es kam ihm dennoch vor, als müsse er sich von ei­nem seiner Kinder trennen.

Man ließ ihm keine Wahl. Der Gleitermo­tor heulte auf, daß Bulzerdon angst und ban­ge wurde. Der Eripäer hatte nicht das nötige Fingerspitzengefühl, um mit einer künstle­risch umgearbeiteten Maschine umgehen zu können. Und zu allem Überfluß wählte er als Musikprogramm ausgerechnet eine sieben­stimmige Motette für Piccoloflöte, Tuben

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und Kesselpauken aus. Den Passagieren quollen fast die Augen aus dem Kopf, als das Paukenstakkato kein Ende zu nehmen schien.

Dennoch brachte der Eripäer das Gefährt in die Luft. Mit jaulenden Maschinen trieb er das heftig schlingernde Gefährt durch die Straßen von Quersoy, auf denen die verrückt gewordenen Eripäer durcheinanderhasteten.

»Hoffentlich hält das Gravitationspolster noch eine Zeitlang«, wünschte Pona. Bulzer­don hätte gerne gewußt, wovon seine Be­gleiter überhaupt redeten. Er jedenfalls ver­stand gar nichts mehr.

Der Flug ging ziemlich rasch vonstatten, obwohl der Eripäer alle Mühe hatte, das Fahrzeug durch einen Verkehr zu steuern, den Bulzerdon in dieser Stärke niemals zu­vor gesehen hatte. Es sah aus, als seien alle Bewohner Quersoys fast gleichzeitig zu ei­nem Ausflug aufgebrochen. Vielleicht, so überlegte Bulzerdon, wollten sie das Schau­spiel des Luftkampfes aus der Nähe bewun­dern.

Denn über Quersoy tobte noch immer die Luftschlacht. Bulzerdon wunderte sich zwar, daß er noch auf keinem Dach eine Kamera entdeckt hatte, mit der das Geschehen hätte festgehalten werden können, aber er sagte sich, daß der Regisseur des Spektakels wahrscheinlich in einem der beteiligten Flugzeuge saß, um aus allernächster Nähe filmen zu können. Bulzerdon nahm sich vor, die Premiere dieses Streifens nicht zu ver­säumen. Ansonsten hielt er nicht sehr viel von diesem Medium, es war ihm zu dünn und zu flach.

Im höchsten Maße befremdet stellte Bul­zerdon fest, daß sich der Horizont ständig veränderte.

Dergleichen war man auf den Gillmader-Wolken nicht gewöhnt. Auf die Fahrt mit dem Gleiter war diese Veränderung nicht zurückzuführen, das wußte Bulzerdon.

Denn, und das war das, was ihn entsetzte, der Horizont verschob sich nicht so, wie man es bei einer Gleiterfahrt erwarten durf­te. Er veränderte nicht den Ausschnitt – er

veränderte sich ganz allgemein. Und das durfte der Horizont nicht. In der hinteren Sitzschale des Gleiters

konnte Bulzerdon nicht kontrollieren, wie sich die Gillmader-Wolke Quersoy verhielt, aber ihm wollte scheinen, als läge Quersoy schief.

Genaugenommen war das ein Ding der Unmöglichkeit. Denn dazu konnte es nur kommen, wenn es in der Zentrale der Wolke katastrophale Pannen gab, und das war prak­tisch ausgeschlossen.

»Ich habe es geahnt«, konnte Bulzerdon den Eripäer sagen hören. Der Künstler hatte sich umgewandt, jetzt drehte er sich, um nach vorne sehen zu können.

Der Rand der Gillmader-Wolke war er­reicht, und jetzt konnte es keinen Zweifel mehr geben, was sich ereignen würde.

Bulzerdons Herz schien den Dienst ein­stellen zu wollen. Mit weit aufgerissenen Augen sah er das Unglaubliche.

Quersoy hatte sein schützendes Gravitati­onspolster verlassen. Die riesige Gillmader-Wolke driftete haltlos, steuerlos.

Und sie trieb – Laune der Natur oder Ab­sicht? – genau auf Punnary zu, auf die be­nachbarte, verfeindete Wolke.

Eine Katastrophe war unausweichlich. Von einem solchen Geschick hatte man

noch nie gehört, seit die Eripäer den Plane­ten besiedelt hatten. Noch nie waren zwei Wolken zusammengestoßen.

Jetzt war dieses Schicksal unvermeidlich geworden.

Oder … Bulzerdon versuchte, die Distan­zen abzuschätzen … vielleicht doch nicht?

Quersoy lag schief. Das war nicht zu übersehen. Bulzerdon konnte von seinem Standort aus unter Punnary hindurchsehen. Konnte Quersoy unter Punnary hinwegtau­chen?

Bulzerdon sah nach hinten. Dieser Teil von Quersoy ragte in die Höhe. Jetzt war die Schräglage nicht mehr zu übersehen. Die Bewohner Quersoys hatten schon sichtlich Mühe, sich auf den Beinen zu halten.

Und die Schräglage verstärkte sich noch.

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»Furchtbar!« murmelte Balduur. Bulzer­don sah, daß der Barbar mit einem Rund­blick die Lage erfaßt und übersehen hatte.

Punnary schien näher zu kommen, aber Bulzerdon wußte, daß es Quersoy war, das auf Punnary zutrieb. Am Rand der Punnary-Wolke waren Menschentrauben zu sehen, desgleichen am Rand von Quersoy. Die Quersoy-Bewohner versuchten verzweifelt, ihre dem Untergang geweihte Gillmader-Wol­ke zu verlassen. Zu Hunderten schwirrten die Gleiter in der Nähe der Wolke, umtanz­ten sie Quersoy wie wildgewordene Insek­tenschwärme. Bulzerdon fühlte sein Herz ra­sen.

Er hatte Angst, fürchterliche Angst sogar. Gleichzeitig aber fieberte er dem Augen­blick des Zusammenstoßes entgegen.

Dieser Aufprall würde einzigartig sein, und er würde einer von den Eripäern sein, die später behaupten konnten: »Ich war beim Absturz von Quersoy dabei, ich habe alles gesehen.«

Bulzerdon leckte sich die trocken gewor­denen Lippen.

Beide Wolken lagen noch annähernd auf gleicher Höhe, aber Quersoy sank, das war jetzt deutlich zu sehen.

»Sie sackt ab«, murmelte Bulzerdon. Nur noch wenige hundert Meter. Sekun­

den verrinnen in quälender Langsamkeit, die Eripäer stehen mit der Reglosigkeit eines Angeklagten, der das Urteil erwartet. Die Distanz verringert sich.

Quersoy schiebt sich unter die Nachbar­wolke.

Bulzerdon kann sehen: Der Boden von Punnary schwarz, durch­

löchert, drohend. Er schiebt sich wie das Verhängnis selbst über den Rand von Quer­soy, wächst und schwillt an, wird immer größer.

Die Kante schrammt über die Dächer von Quersoy, und während Häuser zusammen­stürzen, geht ein Ächzen durch den gesam­ten Körper der Gillmader-Wolke Quersoy.

»Wir fallen!« Quersoy sackt weiter ab, sinkt immer

Peter Terrid

tiefer. Punnary scheint sich aufzubäumen. Menschen schreien, und Quersoy stöhnt un­ter der Belastung auf wie ein sterbendes Tier.

Immer tiefer sackt die Wolke, immer wei­ter schiebt sie sich unter Punnary.

Ein Ruck geht durch Quersoy, die vordere Kante sackt mit einem Ruck in die Tiefe. Die Schräglage der todgeweihten Wolke wird so groß, daß sich die Bewohner kaum mehr zu halten vermögen.

Es ist still geworden auf Quersoy. Die Menschen schreien nicht mehr, sie halten sich nur noch fest, hoffen, beten – und se­hen, was mit ihnen geschieht.

Sie sehen, wie sich eine hohe, schwarze Wand auf Quersoy zuschiebt, der Rand der Kaldera, über der Punnary schwebt. Der Gluthauch des Vulkans weht durch die Stra­ßen von Quersoy.

Und dann … Ein Grollen, so dumpf und tief, daß man

es mehr spürt als hört, geht durch Quersoy. Am Stadtrand schießen Feuersäulen in die Höhe, steigen Funkenbüschel auf, spritzt weißkochende Lava.

Quersoy kommt zur Ruhe. Die Gillmader-Wolke ist gelandet – mit­

ten in der Kaldera von Punnary. Nur die dünne Kruste der Wolke trennt Quersoy noch von einem Element, das niemand zu bändigen vermag – dem Magma der Kalde­ra.

Nur wenige Meter trennen Quersoy von der endgültigen Vernichtung.

Und nur wenige Minuten.

5.

Hoffnung, das Begleitgefühl der Erwar­tung, das sich zu der Gewißheit steigern kann, daß etwas Gewünschtes eintreffen wird. Als Grundhaltung eines Menschen, dessen Blick weniger auf das faktisch Gege­bene, vielmehr auf die Zukunft gerichtet ist, bedeutet Hoffnung ein unkritisches Gelten­lassen der Möglichkeit und zugleich der Wirklichkeit des Ersehnten, und sie stützt

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sich meist auf einen fraglosen (s.d.) Glau­ben, der sich dem tatsachengerechten Den­ken und Handeln in den Weg stellt. Hoff­nung ist Grundprinzip aller Utopien. Sobald sich Hoffnung auf das Unerfaßbare und Ab­solute bezieht, wird sie zum tragenden Ele­ment der Erfüllung im religiösen Glauben.

(Philosophisches Wörterbuch)

*

Bulzerdon sah nach oben. Der Himmel war fast völlig verdeckt von

der Silhouette der Gillmader-Wolke Punna­ry. Die zernarbte Unterseite schien zum Greifen nahe. Mit dumpfem Krachen bra­chen Häuser auf der Oberfläche von Quer­soy zusammen, und von Punnary stürzten Brocken auf Quersoy herab, die einen Glei­ter zermalmen konnten. »Quersoy ist nicht mehr zu retten«, sagte der Eripäer leise.

Bulzerdon war erstaunt, in der Stimme Gurankors einen Schmerz heraushören zu können, der einem Bewohner der Wolke hätte zugeschrieben werden können. Dieser Verlust ging dem Eripäer offenbar sehr nahe – näher als vielen Bewohnern der Wolke. Am Rand von Punnary, nach Sensationen gieriger als Geier nach Aas, schwirrten die Gleiter, von Gaffern besetzt. Hunderte von Objektiven waren auf die Oberfläche der todgeweihten Stadt gerichtet.

Razamon deutete nach vorn. »Dort«, stell­te er knapp fest, »ist kein Durchkommen mehr.«

Ein Knirschen bestätigte seine Worte. Mit diesem Geräusch gab der Motor von Bulzer­dons Gleiter seinen Geist auf. Der Bildhauer konnte sehen, daß auch andere Gleiter zu Boden gingen. Offenbar rief der Absturz der Wolke in dem empfindlichen Gravitations­polster der Punnary-Kaldera Störungen und Turbulenzen hervor, die kein Antigravaggre­gat eines Gleiters ausgleichen konnte.

In Sichtweite stieg die Lava des Vulkans in die Höhe. Noch schimmerte die Masse klebrigrot, aber Bulzerdon kannte sich – wie jeder Bewohner einer Gillmader-Wolke –

auf diesem Gebiet aus. Die Kaldera stand kurz vor einem Ausbruch.

»Wir müssen versuchen, uns zu Fuß zu retten«, stieß Bulzerdon hervor. Er erschrak fast, als er den Klang seiner Stimme hörte – rauh, angsterfüllt und heftig. Die Gefühle, die ihn erfüllten, waren Bulzerdon neu. Er war kein Mann der Entschlossenheit, der Tat, des Kampfes. Nachdenklichkeit, Be­schaulichkeit, Ruhe, das waren die Begriffe, die Bulzerdons Leben bisher bestimmt hat­ten.

Indessen hatte der Künstler verstanden, daß er jetzt keine echte Wahl mehr hatte. Er mußte handeln, rasch, energisch und um­sichtig handeln, wenn er sein Leben retten wollte.

Bulzerdon war der erste, der den nutzlos gewordenen Gleiter verließ. Ihm folgten we­nig später die beiden Barbaren.

Bulzerdon versuchte, sich den Plan der Wolke ins Gedächtnis zu rufen. Er kannte Quersoy, und er kannte auch Punnary, wenn auch nur von einem kurzen Besuch. Immer­hin, Landeskunde gehörte zum Standardun­terricht, und Bulzerdon hatte vor allem Pun­nary und Quersoy häufig in Nachrichtensen­dungen aus dem Kulturleben sehen können. In groben Strichen hätte er eine Karte der Landschaft zeichnen können.

»Im Osten«, sagte er nach einigem Nach­denken und wies mit dem Finger in die Richtung, »dort gibt es im Randgebirge der Punnary-Kaldera einen Paß. Eine andere Möglichkeit, Quersoy zu verlassen, sehe ich nicht.«

Pona wies wortlos in die Höhe. Wie bös­artige Insekten umtanzten die Gleiter der Gaffer den Rand von Punnary. Pona machte ein fragendes Gesicht.

»Aussichtslos«, beantwortete Gurankor die unausgesprochene Frage. »Auf Quersoy kann kein Gleiter mehr landen.«

Die Störungen im Gravitationspolster wa­ren zu stark geworden. Bulzerdon konnte die verheerenden Folgen des Absturzes von Quersoy am eigenen Leib spüren. Die ra­schen, harten Veränderungen im Gravitati­

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onsfeld zerrten an den Körpern der Men­schen, die sich auf Quersoys Oberfläche noch aufhielten.

Bulzerdon konnte sehen, wie Punnary sich ab und zu ruckhaft bewegte, auch dies waren Störungen im Gravitationsfeld. Bis­lang waren solche Phänomene auf diesem Planeten unbekannt gewesen – wie so vieles andere, dachte Bulzerdon, als sein Blick auf ein Wrack fiel. Eine Scheibe der Krolocs – Spaccahs hatte Razamon die Gefährte ge­nannt – war beim Absturz in einer Häuser­wand steckengeblieben. Auch Kriege waren bisher auf Damaukaaner unbekannt gewe­sen; Aktionen dieser Art gab es nur in der – mangelhaft ausgebildeten – Fantasie der Un­terhaltungsindustriellen. Dort wurde ge­schossen und gekämpft – und jetzt mußte Bulzerdon erkennen, daß es Dinge dieser Art auch in Wirklichkeit gab. Und sie waren weit schlimmer als in den Medien.

»Dann los«, bestimmte Balduur. »Je län­ger wir auf der Wolke bleiben, desto größer wird die Gefahr für uns alle. Das Ding wird nicht mehr lange halten.«

Bulzerdon brauchte eine gewisse Zeit, bis er begriff, daß mit dem Ausdruck »Ding« die Gillmader-Wolke Quersoy gemeint war. Ein Damaukaaner hätte niemals derart de­spektierlich von einer Gillmader-Wolke ge­sprochen, nicht einmal von der eines rivali­sierenden Künstlers.

Die beiden Fremden hatten sich an die Spitze des kleinen Trupps gesetzt. Bulzer­don spürte für kurze Zeit die Versuchung, die Gefährten zu verlassen. Noch irrten Tau­sende von Eripäern auf der Oberfläche von Quersoy herum, es gab also genügend Trupps, denen sich Bulzerdon hätte an­schließen können. Aber zum einen war er der Führer dieses Trupps, denn er war der einzige, der Ortskenntnis aufzuweisen hatte, und zum anderen dachte sich Bulzerdon, daß es in Zeiten so barbarischer Handlungen vielleicht ratsam war, sich Barbaren anzu­vertrauen.

»Du sagst uns, wenn wir die Richtung än­dern müssen«, erklärte Balduur im Laufen.

Peter Terrid

Es war mehr eine Anweisung als eine Fra­ge oder gar Bitte. Der Ton behagte Bulzer­don nicht, er war als Künstler andere Um­gangsformen gewohnt. Indes hatte er vorläu­fig keine andere Wahl.

»Wie mag es auf den anderen Wolken aussehen?« überlegte der Eripäer. Es war erstaunlich, woher er die Luft zum Sprechen nahm. Bulzerdon jedenfalls hatte Mühe ge­nug, die Luft zusammenzuschnappen, die er für den Lauf brauchte.

»Ähnlich«, stieß Razamon hervor. »Die Krolocs greifen auf breiter Front an, und was die Gegenwehr der Eingeborenen be­trifft – ich habe nie eine solche Ansamm­lung von Wirrköpfen erlebt.«

Der Ausdruck »Eingeborene«, der sich dem Zusammenhang nach nur auf die Eripä­er von Damaukaaner beziehen konnte, berei­tete Bulzerdon fast körperliche Schmerzen, so sehr empörte er sich über soviel Herab­lassung.

»Wir sind Künstler«, keuchte er wütend. »Und Philosophen. Das Kämpfen ist nicht unsere Art.«

»Das Sterben vielleicht?« hatte der Barbar die Stirn zu kontern. Bulzerdon konnte nicht umhin, ihn seiner handwerklichen Fähigkei­ten wegen zu bewundern. Die Art, in der der Hagere im Laufen die Waffe auf eine Spac­cah richtete und sie mit einem beinahe bei­läufig abgegebenen Schuß zur Notlandung zwang, hatte etwas von einem kriegerischen Ballett an sich. Einen Augenblick lang dach­te Bulzerdon daran, daß vielleicht er … aber Ballett war nicht sein künstlerisches Gebiet. Aber wenigstens eine Skulptur im kriegeri­schen Stil würde er verfertigen, schwor sich Bulzerdon, wenigstens das.

Jemand stieß ihn an der Schulter an, und Bulzerdon, von diesem Angriff völlig über­rascht, flog nach vorn, landete auf dem Bauch und schrammte sich das Gesicht auf. Der Schmerz war fürchterlich, und noch schlimmer war das Feuer, das plötzlich an seiner Schulter brannte.

Erst als er sich halb aufrichtete, begriff der Künstler, daß ihm ein Stoß von Balduur

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das Leben gerettet hatte. Der Kroloc – er taumelte gerade, von einem Schuß Balduurs getroffen, in sichere Deckung – hatte mit seiner Waffe nur einen Streifschuß anbrin­gen können. Die Wunde schmerzte zwar grauenvoll, aber Bulzerdon lebte noch – al­les andere war zweitrangig. Für einen Au­genblick verspürte der Künstler das Bedürf­nis, eine Waffe zu ergreifen und wild feu­ernd loszustürmen, dann sah er ein, daß dies nichts weiter war als eine wildromantische Pose, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatte.

»Helft ihm auf die Beine«, rief Gurankor. Kräftige Hände griffen nach Bulzerdon

und richteten ihn wieder auf. Mit Mühe un­terdrückte der Künstler ein wehleidiges Stöhnen.

»Ich komme zurecht«, murmelte er un­deutlich. »Es läßt sich ertragen.«

»Dann weiter!« Es war unglaublich, welche Energien die­

se Barbaren besaßen. Im Laufschritt über­querte der Trupp einen Marktplatz. Aus der Tiefe erklang dumpfes Poltern, der Boden erzitterte spürbar. Die Risse in den Häusern wurden länger und breiter. Von den Dächern polterten lose Steine auf die Straßen herab. Laternenpfähle neigten sich oder wurden entwurzelt. Bulzerdon hatte niemals etwas Ähnliches gesehen.

Von einer Organisation war auf der Ober­fläche von Quersoy nichts mehr zu erken­nen. Es gab keine Ämter mehr, keine Behör­den, keine Beamten, keine Polizei. Das Cha­os hatte die Herrschaft auf Quersoy angetre­ten, und es regierte mit Macht.

Eripäer rannten kreischend durcheinander. Einige versuchten verzweifelt, ihre Habe zu retten – Kunstwerke, Lebensmittel und Bar­geld. Andere waren nur daran interessiert, die eigene Haut in Sicherheit zu bringen.

Und überall Krolocs. Wohin man auch sah, nach kurzer Zeit

fiel der Blick auf ein Wesen in einem der befremdlichen Krumpelanzüge. Sie schienen allgegenwärtig zu sein, die Invasoren aus dem Korsallophur-Stau. Immerhin schienen

sie mit sich selbst mehr als genug zu tun zu haben.

Offenbar hatten auch die Krolocs begrif­fen, daß der Absturz von Quersoy eine le­bensgefährliche Angelegenheit geworden war. Die Spaccahs der Invasoren flogen Kurse, die nur mit den verheerenden Gravi­tationsverhältnissen über Quersoy zu erklä­ren waren. Bulzerdon konnte sehen, wie eine sehr große Spaccah bei dem Versuch, Quer­soy zu verlassen, von einer Gravitationsim­pulsspitze förmlich zermalmt wurde. Eben noch war die Spaccah langsam in die Höhe geschwebt, im nächsten Augenblick klang das Kreischen des mißhandelten Metalls über den Straßen, und einen Herzschlag spä­ter regnete es Trümmerstücke. Ganz offen­kundig waren die Krolocs ebenso überrascht worden vom Absturz der Wolke wie die Be­wohner von Quersoy. Und sie hatten mit den Folgen der Landung ebenso zu kämpfen wie ihre Opfer.

»Wir müssen die Oberfläche verlassen«, rief Balduur. »Es stürzen immer mehr Häu­ser zusammen.«

»Von unten quillt Lava in die Hohlräume der Wolke«, gab Razamon zu bedenken. Er steckte die Waffe in den Gurt. Zu kämpfen hatte jeden Sinn verloren. Es gab nichts mehr, worum zu kämpfen sich gelohnt hätte. Alles, was es an höherem Leben auf oder in Quersoy noch gab, hatte viel zu sehr mit der Rettung des eigenen Lebens zu tun. Ange­sichts der immer größer werdenden Gefah­ren für die gesamte Wolke hatte der Kampf zwischen Eripäern und Krolocs an Sinn ver­loren – wenn er je einen gehabt hatte.

Wäre dies ein Bühnenstück gewesen, Bul­zerdon hätte diese Entwicklung unlogisch und dramatisch falsch gefunden. Wozu einen Konflikt anfangen, wenn man sich später unter dem Druck der Ereignisse wie­der zusammenfand? Vom rein ästhetischen Standpunkt aus betrachtet, war dieser ganze Krieg ein sehr unerfreuliches Schauspiel, fand Bulzerdon.

»Der Hitze und der Lava können wir viel­leicht ausweichen«, gab Balduur zurück.

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»Einem herabfallenden Stein können wir vielleicht nicht mehr entgehen.«

»Versuchen wir es dort drüben«, schlug der Eripäer vor. Er wies mit dem Lauf sei­ner Waffe die Richtung.

Bulzerdon erschrak heftig. Der Eripäer zeigte genau auf den Eingang des städti­schen Museums.

»Nein!« schrie Bulzerdon auf.

*

»Warum nicht?« fragte Pona ruhig. Ihre Stimme verriet nur angedeutet, daß sie außer Atem war.

»Dort ist das Museum«, stieß Bulzerdon hervor. »Wir können dort nicht kämpfen.«

»Wir wollen auch gar nicht kämpfen«, versetzte Razamon. »Wir wollen nur verhin­dern, daß wir von zusammenstürzenden Häusern begraben werden.«

Er ließ sich durch Bulzerdons erschreck­tes Gesicht nicht länger aufhalten. Zielstre­big stürmte der Barbar auf den Eingang des Museums zu, und Bulzerdon konnte sehen, wie er die Treppe hinunterhastete.

Einen Herzschlag lang blieb Bulzerdon noch stehen, dann rannte er hinter den Ge­fährten her. Das Krachen, mit dem ein vier­stöckiges Haus in einer Sekunde zur Ruine zusammengestürzt war, hatte ihn alles ande­re vergessen lassen.

Es gab etwas mehr als einhundert Stufen, die in die Ausstellungsräume hinunterführ­ten. Bulzerdon schaffte es, diese Treppen in Windeseile hinabzurennen, ohne sich das Genick zu brechen.

Wenn es schon das Museum sein mußte, dann wollte er das Schlimmste verhüten, so­weit es in seinen Kräften stand.

»Leise!« mahnte er unwillkürlich, als er den Eingang der ersten Halle erreichte. Sei­ne Begleiter sahen ihn mit leichter Verwun­derung an.

Jedesmal, wenn Bulzerdon einen der Räu­me betrat, überfiel ihn ein starkes Gefühl der Ehrfurcht. Hunderte, Tausende von Künst­lern hatten auf dem Planeten ihr Bestes ge-

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geben, um dieses Museum möglich zu ma­chen. Es enthielt Kunstschätze von unvor­stellbarem Wert. Der Gedanke, daß diese Kostbarkeiten bei Kämpfen beschädigt wer­den könnten, war Bulzerdon unerträglich. Er hätte alles dafür gegeben, einmal der Ehre teilhaftig werden zu dürfen, in diesen Räu­men auszustellen. Einmal nur, nur eine ein­zige Skulptur …

Das Museum war verlassen. Es war der Automat, der die Beleuchtung und die Kli­maanlage einschaltete, als die Besucher die Ausstellungsräume betraten.

Das Licht von mehreren hundert Punkt­leuchten strahlte die Kunstwerke an. Skulp­turen, Reliefs, Teppiche, Gemälde, Büsten, was immer man sich nur vorstellen konnte, war hier ausgestellt. Jedes einzelne Stück war einzigartig in seiner Vollkommenheit, unersetzlich.

»Bitte!« beschwor Bulzerdon seine Be­gleiter, denen er ansah, daß sie nicht wußten, welches Benehmen sich in diesen Hallen ge­bührte. »Nichts anfassen. Und bitte, nicht schießen!«

»Meinetwegen«, knurrte Razamon, aber er sah eher aus, als hätte er Lust, alles zu zertrümmern.

Balduur kümmerte sich nicht um die Kunstwerke. Er hatte sich rasch orientiert und hastete nun durch die Räume. Achtlos ging er an Kostbarkeiten vorbei, für deren Besitz Bulzerdon sich hätte in Stücke hacken lassen. Er hätte sein Leben gegeben, wäre es ihm gelungen, etwas zu schaffen, das man in einem Atemzug mit den Kostbar­keiten dieses an Kostbarkeiten so reichen Museums zu nennen wagte.

»Wohin führt dieser Weg?« wollte Baldu­ur wissen.

Er deutete in die Richtung der Großen Halle. Dort wurden vornehmlich überlebens­große Standbilder ausgestellt. Bulzerdon haspelte eine Erklärung herunter.

»Und dann?« »Nichts mehr«, sagte Bulzerdon verwun­

dert. Balduur grinste zufrieden. »Dann ist dieser Weg …«

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Er unterbrach sich, schnellte zur Seite. »Nein!« schrie Bulzerdon. Der Schrei

kam zu spät, und er wurde auch nicht beach­tet. Nicht von den beiden Barbaren, die mit unglaublicher Geschwindigkeit wieder ihre Waffen zum Vorschein brachten, und auch nicht von dem Dutzend Krolocs, das sich in diese Räumlichkeiten geflüchtet hatte.

Noch während Bulzerdon seinen Schrei hervorstieß, zerschellte eine kostbare Vase auf dem Boden. Ein Waffenstrahl brannte ein riesiges Loch in ein unersetzliches Mei­sterwerk. Eine Skulptur wurde im Bruchteil einer Sekunde in einen Torso verwandelt.

Bulzerdon preßte die Lippen aufeinander, um nicht laut zu schreien oder gar zu wei­nen.

Was er sah, erfüllte ihn mit unbeschreibli­chem Schmerz. In einem sinnlosen, harten, erbarmungslosen Kampf, der nur einige Herzschläge dauerte, wurden Kunstwerke vernichtet, an denen Genies ein halbes Le­ben gearbeitet hatten. Als die Krolocs die Flucht antraten, war etwas in Bulzerdon zer­stört worden. Er konnte dieses Etwas nicht mit Namen nennen, aber er spürte den Schmerz, den diese Zerstörung in ihm her­vorgerufen hatte.

Er spürte, wie ihm die Tränen über das Gesicht liefen.

Pona trat zu ihm, faßte ihn bei der Hand. »Komm«, sagte sie leise. »Du kannst

nichts daran ändern.« Unwirsch stieß Bulzerdon die Hand zu­

rück. Er wollte nicht getröstet werden. Razamon, der den flüchtenden Krolocs

nachgesetzt hatte, erschien wieder, das Ge­sicht rauchgeschwärzt, auf der Stirn eine blutige Schramme und in der linken Hand eine leergeschossene Waffe.

»Wir haben nur noch ein paar Minuten«, sagte der Hagere kalt, während er seine Waffe nachlud. Es schmerzte Bulzerdon, an­zusehen, welche Perfektion der Mann bei seinen Bewegungen verriet. Er handhabte seine fürchterliche Waffe wie Bulzerdon sei­nen Schweißbrenner.

»Der Rand der Wolke ist schon von Lava

überflutet«, verkündete Razamon. Es knack­te leise, als er das Magazin einrasten ließ. »Und die Aktivität des Vulkans verstärkt sich. Auf dieser Seite sieht es ruhiger aus.«

Er deutete mit dem Lauf der Waffe auf das Mosaik »Eroberung der Sterne« von Hurltherdon. Der Künstler hatte zehn Jahre daran gearbeitet. Bulzerdon wußte, daß die­se Arbeit zum Untergang verdammt war. Nichts konnte sie retten vor der Lava der Kaldera.

»Machen wir uns an die Arbeit!« sagte Balduur hart. Er hob die Waffe und feuerte auf das Mosaik. In Bulzerdon krampfte sich alles zusammen. Der Anblick war fast zu grausam, um wirklich zu sein.

Was waren das für Wesen? Was für Grün­de hatten sie, Kunstwerke zu vernichten? Was für Hirne mußten Lebewesen haben, die lieber kämpften, als sich künstlerisch zu betätigen?

Ein Teil des Mosaiks verschwand unter dem konzentrierten Feuer der beiden Barba­ren. Die beiden Eripäer hatten ihre Waffen nicht benutzt. Sie hatten offenbar sehen kön­nen, welche Qualen Bulzerdon litt, wenn er derlei ansehen mußte. Sie schonten die Ge­fühle ihres Artgenossen.

Verbissen schweigend sah Bulzerdon zu, wie die beiden Barbaren den weitaus größ­ten Teil des Mosaiks zerstörten. Weißschäu­mend lief verflüssigtes Gestein auf den Bo­den der Halle und verbrannte dort weitere Kunstwerke. Dann stellten die Barbaren ihr Feuer ein.

Bulzerdon konnte sehen, daß ein großes Loch in der Wand entstanden war. Und aus diesem Loch wehte ihnen Luft entgegen, er­hitzt von den glühenden Rändern der Öff­nung – aber unverkennbar Frischluft.

»Der Durchbruch«, stellte Balduur fest. Razamon machte eine einladende Hand­

bewegung. »Der Fluchtweg steht offen«, verkündete

er.

6.

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28

Wille, im Gegensatz zu (s.d.) Trieb und (s.d.) Drang der geistige Akt, durch den ein (als solcher erkannter) Wert, eine beabsich­tigte Handlung, bejaht oder erstrebt wird. Der Wille kann sich nur auf (subjektiv) Wertvolles richten (das Böse zu wollen, ver­mag nur der »Satan«); er ist daher abhängig von der individuellen Wertrangordnung (s. Ethik). Das Willensmotiv, also der Wert oder wertvolle Sachverhalt, tritt im Rahmen einer (s.d.) Situation in Erscheinung; jedes Willensmotiv erzeugt Gegenmotive (s. Hemmung) von deren Stärke es abhängt, ob der Wille eine Handlung (s. Sachlichkeit) im Gefolge hat. Der Wille ist, als freier Akt, stets freier Wille, d.h. er hat die Möglich­keit, unter mehreren Motiven zu wählen, so­gar eines, das im Gegensatz zu seinen vita­len Bedürfnissen steht. Vermöge dieses Wil­lens ist der Mensch das einzige Wesen, das aus freien Stücken gegen seine eigenen In­teressen handeln, sogar sich selbst vernich­ten kann (Selbstmord). Schopenhauer ent­warf eine Metaphysik des Allwillens, der objektiv als Natur einschließlich des menschlichen Leibes subjektiv als bewußter Wille erscheint. Nietzsche schuf, an Scho­penhauer anknüpfend, seine Lehre vom Wil­len zur Macht; Klages faßte den Willen in seinem Verhältnis zum Leben als die »universelle Hemmtriebfeder« auf. Hegel bezeichnete als das ideale Endziel der Welt das Bewußtsein des Geistes von seiner Frei­heit (im Willen) und eben damit die Wirk­lichkeit seiner (s.d.) Freiheit.

(Philosophisches Wörterbuch)

*

Bulzerdon fühlte sich nach vorne gezerrt. Er stolperte, fing sich wieder und machte ei­nige Schritte.

Der Boden unter seinen Füßen war nicht nur extrem rauh und uneben, er bewegte sich auch heftig, zuckte wie eine verwundete Kreatur.

Quersoy starb; was Bulzerdon spürte, wa­ren die letzten Zuckungen der Gillmader-Wol-

Peter Terrid

ke. Hinter der Öffnung in der Museumshalle

hatte der Stollen begonnen. Er war nicht be­arbeitet worden, entsprechend mühsam und beschwerlich war das Fortkommen darin ge­wesen.

»Lauft!« keuchte Gurankor. »Lauft!« Eine unglaubliche Hitze schlug Bulzerdon

entgegen. Er wußte, daß er nur wenige Me­ter von der Lava entfernt war, von ihr ge­trennt nur durch das Gestein der Gillmader-Wolke, und dieses Gebilde aus porösem Ge­stein sank in den zähflüssigen Brei aus flüs­sigem Gestein ein. Zuerst war die Wolke nur einige Zentimeter tief in die Lava eingedrun­gen. Der Hohlkörper war darauf geschwom­men, wie ein Schwamm auf dickflüssigem Öl. Aber nach und nach verflüssigte sich auch das Gestein der Wolke. Gleichzeitig sickerte Lava in die Hohlräume und Ritzen Quersoys, und je mehr sich die Wolke mit Lava füllte, um so schneller und tiefer sank sie ein. Ein Prozeß, der exponentiell verlief.

Bulzerdon wußte, daß auf einer abstrakten Uhr seine letzten Sekunden vertickten, daß er einen Wettlauf mit dem Tod vollführte. In einem Videostreifen wäre jetzt Spannungs­musik erklungen, und er wäre Zuschauer ge­wesen, hätte die Szenerie genossen – und er hätte gewußt, daß die Sache gut ausgehen würde.

Dies war kein Film, dies war Wirklich­keit, und es stand keineswegs fest, daß er den Absturz der Gillmader-Wolke überleben würde.

Die beiden Barbaren bildeten die Spitze. Sie waren stärker und muskulöser als die Eripäer. Bulzerdon hatte verwundert fest­stellen müssen, daß diese ungeschlachten Körper zu Handlungen fähig waren, die mit dem sonst so kämpferischen Gebaren der beiden Barbaren wenig übereinstimmten. Seit geraumer Zeit trug Balduur Pona über der Schulter. Für die junge Frau waren die Strapazen der Flucht zu groß gewesen. Ihr zierlicher Körper war für solche Belastun­gen nicht geschaffen. Nach all der Härte und Kompromißlosigkeit, mit der die beiden

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Fremden gehandelt hatten, hatte Bulzerdon angenommen, sie würden Pona einfach zu­rücklassen.

Jetzt mußte er sich zu der Einsicht beque­men, daß die körperliche Gestalt fremder Wesen wenig über ihre geistigen und cha­rakterlichen Eigenheiten aussagte.

»Dort vorne ist Licht!« konnte Bulzerdon den hageren der beiden Fremden rufen hö­ren. »Wir haben den Rand erreicht!«

Bulzerdon spannte alle Kräfte an. Der Gluthauch wurde stärker. Bulzerdon

wußte, daß er durch eine lähmende Hitze würde marschieren müssen. Erst wenn die Lava überwunden war, wenn der Rand der Kaldera erreicht war, durfte er an Erholung denken, an eine Pause für seine geschunde­nen Gliedmaßen. In seinen Lungen brannte die Hitze, seine Augen glühten – die Tränen­drüsen hatten keine Feuchtigkeit mehr.

Vor Bulzerdon zitterte die Luft. Die Kon­turen verschwammen in der Hitze, die von der Lava ausging. Probeweise faßte Bulzer­don nach der Wand des Stollens. Noch konnte er das Gestein berühren, ohne sich zu verbrennen. Der Fels leitete die Hitze nur schlecht, das war die physikalische Grundla­ge, auf der sich das Wunder der Rettung vollzog.

Mit einem Handzeichen gebot Balduur Halt.

Bulzerdon schob sich an ihn heran. Lange würde er die Pause nicht aushalten können, er brauchte dringend kühle, sauerstoffreiche Luft.

»Dort vorn, über diese Felsnase können wir das Ringgebirge erreichen!«

Bulzerdon konnte den Weg mit einem Blick übersehen.

Was der Fremde vorschlug, war im buch­stäblichen Sinn eine Gratwanderung.

Dreißig Meter von Bulzerdon entfernt ragte ein Stück Fels weit über den Rand der Gillmader-Wolke hinaus, und diese Felsnase wurde immer dünner, je weiter sie hervor­ragte. Auf den letzten Metern – acht bis zehn Schritte, schätzte Bulzerdon – war der Weg nicht mehr als eine Hand breit. Rechts

und links ging es Dutzende von Metern hin­ab.

Der Tod würde rasch und schnell kom­men, wenn einer der Flüchtenden den Halt verlor.

Was dem Fehltritt folgte, vollzog sich binnen weniger Augenblicke: jähes Er­schrecken, Versuche, das Gleichgewicht wiederzufinden, die fürchterliche Einsicht, daß es keine Rettung mehr gab, der Fall in die Tiefe, der Lava entgegen, vielleicht noch eine, höchstens drei Sekunden der Angst während des Falls – und dann das Eintau­chen in hellrote Lava.

Wie lange lebte ein Mensch noch, nach­dem er die Lava berührte? Lange genug, um den Schmerz von der Haut bis ins Hirn zu schicken?

»Ich gehe voran!« verkündete Razamon. Bulzerdon konnte sehen, daß er fast weiß

geworden war im Gesicht. Der Fremde hatte Angst. Bulzerdon fand das sympathisch. Er hatte schon befürchtet, der einzige zu sein, der angesichts des Fluchtweges nur eines empfand, nämlich grauenvolle Angst.

Razamon machte sich auf den Weg. »Verschwendet keine Gedanken an die

Gefahr!« empfahl Balduur. Er trug Pona auf der Schulter und machte sich als nächster auf den Weg. »Jede Sekunde Zögern kann das Ende bringen!«

Ihm folgte der Eripäer. Bulzerdon konnte sehen, daß auch er große Angst hatte, den­noch bewegte er sich mit großer Gelassen­heit.

Bulzerdon raffte allen Mut zusammen. Schon nach wenigen Metern wurde ihm

klar, daß die Felsnase die Zitterbewegungen der absinkenden Gillmader-Wolke nicht nur mitmachte, sondern vielmehr verstärkte. Der Fels zuckte unter Bulzerdons Füßen, beweg­te sich aufwärts und abwärts, zur Seite. Bul­zerdon hatte alle Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Und die Schmalstelle lag noch vor ihm.

Razamon hatte den rettenden Rand der Punnary-Kaldera erreicht. Bulzerdon hätte gerne erleichtert aufgeatmet, bewies dies

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doch, daß es grundsätzlich möglich war, die­sen Weg zu benutzen.

Aber er hatte keine Luft zum Aufatmen. Mit gnadenlosem Griff packte ihn die Hit­

ze, die aus der Kaldera aufstieg. Es war sei­ne Rettung, daß diese Hitze trocken war. Die Luftfeuchtigkeit über der Lava – das Bro­deln klang bedrohlich zu Bulzerdon herauf – lag nahe dem Nullpunkt. Zwar war Bulzer­don nach einigen wenigen Schritten in Schweiß gebadet, aber er kam vorwärts, er bekam Luft, und er hatte das Glück, daß ihm der Schweiß nicht in die Augen lief.

Was sich dann abspielte, war eine Sache von Sekundenbruchteilen, die sich nicht mehr rekonstruieren ließen.

Bulzerdon spürte, wie Quersoy, das win­zige Stückchen von Quersoy, das er brauch­te, um darauf zu stehen, wegsackte, wie er den Halt verlor, wie ihn eine Hand an sei­nem linken Handgelenk packte und sich mit stählerner Härte festkrallte, wie sich sein Mund öffnete und er einen Schrei ausstieß, und wie ihn etwas in die Höhe zerrte, und wie er wieder Boden unter den Füßen spürte – und dann spürte er eine flache Hand im Gesicht, spürte den Schmerz des Schlages und begriff, daß er noch immer in panischer Angst schrie … und daß er gerettet war.

Ohne sich um seinen Retter zu kümmern, fuhr er herum, und er sah, wie sich rötlich leuchtend die Lava über die letzten Reste von Quersoy wälzte und die Wolke unter sich begrub und auflöste.

»Heilige Schöpfung«, brachte Bulzerdon über die Lippen.

Die Lava stieg mitten in der Kaldera in die Höhe, formte eine fast fünfzig Meter ho­he Säule aus, an deren Spitze sich eine Ku­gel aus Lava bildete, die ein Stück in die Höhe stieg und dort frei zu schweben schien. Auf halber Strecke schob sich eine feurige Wand hoch, kreisförmig, in zahlreiche Spit­zen ausufernd, an diesen Spitzen weitere, kleinere Lavakugeln. Es sah aus wie eine gi­gantische Krone aus rotglühender Lava, vielfach gezackt und mit Kugeln an den Spitzen der Zacken.

Peter Terrid

Ein Anblick von schauriger Schönheit. Wog er auf, was er kostete? Der Wohn-,

Arbeits- und Lebensraum war für immer vernichtet. Milliardenwerte an Material zer­stört. Was an Kunstwerten hinabgeglitten war in das Feuer aus dem Inneren des Plane­ten, ließ sich in Ziffern überhaupt nicht aus­drücken.

»Tote«, stieß Bulzerdon hervor. »Hat es Tote gegeben?«

»Nur wenige, soweit ich weiß«, sagte Gu­rankor.

Zeitlupenhaft langsam sackte die Feuer­krone in die Lava zurück. Es war ein An­blick, so einzigartig wie das, was ihn ge­schaffen hatte. Um dieses Schauspiel mög­lich zu machen, mußte eine Riesenwolke vernichtet werden.

»Weiter«, drängte Razamon. »Wir haben keine Zeit für Müßiggang!«

Jetzt erst wurde Bulzerdon klar, daß nur wenig gefehlt hatte, um ihm zu einem ein­maligen Begräbnis zu verhelfen. Nur ein Herzschlag hatte ihn davon getrennt, zusam­men mit Quersoy unterzugehen. Ein Herz­schlag – und die Hand von Razamon. Jetzt erst erinnerte sich Bulzerdon an das Gesicht seines Retters, das er in der Sekunde der höchsten Angst verschwommen gesehen hatte.

»Danke«, sagte er unbeholfen. Er erinner­te sich eines Dutzends Romane und Stücke, in denen Gerettete ihren Dank abgestattet hatten, aber er spürte mit plötzlicher Klar­heit, daß er dem Barbaren nicht mit abgedro­schenem Schwulst kommen durfte.

»Schon gut«, erwiderte der Barbar, der Bulzerdons Verlegenheit erkannt zu haben schien.

»Vertrödelt keine Zeit mit Schwätzen«, mahnte Gurankor. Er deutete nacheinander auf die Kaldera und auf Punnary.

Die Gillmader-Wolke wackelte bedenk­lich, und unter dem riesenhaften Gebilde be­reitete sich offenbar der Vulkan auf einen Ausbruch von verheerender Stärke vor. Ge­rade erst dem Untergang von Quersoy ent­ronnen, mußte die Gruppe sich erneut an­

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strengen, um nicht in den Strudel der Ver­nichtung hineingesogen zu werden.

Wieder übernahmen die beiden Barbaren die Führung. Das hieß, daß sie nach Bulzer­dons Angaben den Weg bestimmten. Bulzer­don gab nur die ungefähre Richtung an.

Das vorläufige Ziel war unbestreitbar klar. Es kam darauf an, den Wirkungsbe­reich des Punnary-Kraters schnellstmöglich zu verlassen. Die zweite Aufgabe würde darin bestehen, den Krolocs zu entwischen, die in hellen Scharen über den Planeten schwärmten und offenbar nach irgend je­mand oder irgend etwas jagten. Jetzt, da Quersoy nicht mehr existierte, konzentrier­ten die Krolocs ihre Angriffe augenschein­lich auf Punnary. In der Nähe dieser Wolke war niemand seines Lebens sicher.

Bulzerdon, der hinter den anderen herstol­perte, warf ab und zu einen Blick zurück, auf die Kaldera, in der die Lava mit unheim­licher Geschwindigkeit in die Höhe stieg, brodelte und Blasen warf. Und auf Punnary, das unversehens zum Brennpunkt der Kämpfe geworden war. Zu Hunderten grif­fen die Krolocs mit ihren Flugscheiben an.

Die Gegenwehr der Punnary-Bewohner fiel etwas heftiger aus als der Widerstand der Eripäer von Quersoy. Vermutlich lag das daran, daß die Punnary-Leute das Schicksal von Quersoy vor Augen hatten. Wenn sich nicht einmal die Großwolke Punnary der Angriffe der Krolocs erwehren konnte, dann war der Kampf um Damaukaaner bereits jetzt so gut wie aussichtslos geworden. Bis die kleinen Wolken sich zu einer Front zu­sammengeschlossen hatten, waren die an­greifenden Krolocs an Altersschwäche ge­storben – der Hader vor allem zwischen den kleineren Wolken war auf Damaukaaner sprichwörtlich.

»Die Krolocs suchen jemanden«, ließ sich Gurankor vernehmen. »Seht euch an, wie sie Punnary belagern!«

Die Taktik der Invasoren wurde offen­sichtlich von ihrer Stärke bestimmt. Sie hat­ten es nicht mehr nötig, ihre Absichten zu verschleiern – ihre Übermacht war er­

drückend geworden. Zwar setzte sich Punna­ry mit allen Mitteln zur Wehr, aber daß die­ser Widerstand – vorläufig – erfolgreich war, lag einzig daran, daß die Krolocs auf massierte Angriffe gegen Punnary verzichte­ten.

Hätten die Krolocs versucht, Punnary mit einer Gravitationsbombe zu vernichten, die Wolke hätte keine zehn Minuten mehr exi­stiert. Bulzerdon war sich allerdings nicht ganz sicher, ob es eine solche Waffe tatsäch­lich gab. Er kannte den Ausdruck aus Unter­haltungsfilmen. In der Regel war auf einer solchen Bombe die Freundin des Helden festgebunden und harrte ihres Retters, der selbstverständlich erst dann auf den Plan trat, wenn der Sekundenzeiger der Zeitschal­tung nur noch einen Schritt bis zur Detonati­on zurückzulegen hatte.

Bulzerdon war sich allerdings klar dar­über, daß die Krolocs auf solche dramaturgi­schen Mätzchen verzichten würden, wenn sie eine solche Waffe einzusetzen gedach­ten. Dieser Kampf hatte nichts mit den un­terhaltenden Melodramen zu tun, die täglich über die Bildschirme flimmerten. Dies war richtiger Krieg, grausam und schmutzig, häßlich und gemein, der Inbegriff des in je­der Beziehung Unschönen. Und das hieß auf einem Planeten viel, der sich ganz und gar der Philosophie und der Kunst verschrieben hatte.

»Vorwärts!« hörte Bulzerdon die drän­gende Stimme des Eripäers. Den Flüchten-den trieb eine gelbliche Wolke hinterher, die aus der Kaldera von Punnary entströmt war und wie ein Fluch der Gruppe folgte. Bul­zerdon spürte ein Würgen im Hals, als er die Schwaden sah, die bösartig wallten und im­mer näher kamen.

»Schwefel?« fragte er mit letzter Luft im Laufen.

»Wahrscheinlich«, versetzte Gurankor keuchend. »Auf jeden Fall sieht das Zeug giftig aus.«

Eine Gefahr mehr, dachte Bulzerdon, wa­rum auch nicht? Als er heute morgen aufge­brochen war – war das tatsächlich erst weni­

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ge Stunden her? – hatte er nur an seine Skulptur gedacht, an das Kind, das seine Frau erwartete, an den Gleitermotor, der ge­neralüberholt werden mußte … an Belanglo­sigkeiten. Jetzt rannte er um sein Leben. Quersoy war vernichtet, der Gleiter zer­schmolzen, die Skulptur vergangen. Statt dessen wimmelte es allenthalben von Din­gen, mit denen Bulzerdon nie etwas zu tun gehabt hatte. Waffen, Aggressivität, Gewalt – Dinge, die Bulzerdons Denken so entfernt lagen wie das Zentralgestirn.

Längst hatte er die Kontrolle verloren über das, was er tat. Er vollführte Handlun­gen, die aus dem Augenblick geboren wa­ren, von denen er nie gewußt hatte, daß den­kende Wesen dergleichen überhaupt fertig bringen konnten. Er rannte um sein Leben, er schoß, überquerte Abgründe … was wür­de noch auf ihn warten?

Krolocs, dachte er spontan. Er konnte sie sehen, die häßlichen Schei­

ben mit ihren befremdlichen Besatzungen. Am Himmel waren Hunderte dieser Spac­cahs zu erkennen. Sie umgaben Punnary in einem weiten Kreis, der keine Lücken er­kennen ließ. Und es hatte fast den Anschein, als suchten sie etwas, die Wesen in ihren Krumpelanzügen. Sie konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf das Land zwischen den Wolken – als ob es dort etwas zu holen gä­be, dachte Bulzerdon.

Das Land zwischen den einzelnen Kratern – es war an Fläche wenig genug – war unbe­lebt, jedenfalls war Bulzerdon davon über­zeugt. Kein Eripäer, der auf sich hielt, hätte dort gesiedelt. Es gab ohnehin noch einige Tausend herrenloser Gillmader-Wolken, die meisten ziemlich klein, aber immerhin – in der Luft gab es Raum genug. Obendrein wä­re es sehr verdächtig gewesen, hätte jemand versucht, sich auf dem Festland niederzulas­sen.

Um so erstaunter war Bulzerdon, als von der Spitze des kleinen Trupps ein Warnruf zu hören war.

»Achtung!« hörte Bulzerdon den hellhaa­rigen Balduur rufen. Bulzerdon hastete nach

Peter Terrid

vorn. Das Land zwischen den Vulkanen war

keineswegs unbelebt. Es gab dort Leben, ge­fährliches Leben.

Sie hatten sich für den Überfall keinen schlechten Platz ausgesucht. Sie versperrten einen Engpaß, und Bulzerdon wußte, daß von hinten die fahlgelbe Giftgaswolke her­angekrochen kam. So oder so, die Lage spitzte sich zu und erforderte eine rasche Entscheidung.

»Kamauken!« staunte Bulzerdon. Die Bewohner des Festlands wurden von

den Damaukaanern Kamauken genannt. Es waren große, harmlose Lebewesen, ziemlich träge von Geist und Körper, sehr verfressen und gierig, aber grundsätzlich ungefährlich – so hatte es jedenfalls in den Schulbüchern geheißen.

Bulzerdon dämmerte, daß in solchen Bü­chern nicht immer die reine Wahrheit zu fin­den war.

Daß die Kamauken groß waren, konnte er sofort sehen. Sie hätten neben ihm stehend bis zu den Schultern gereicht. Dementspre­chend waren die Vierfüßigen proportioniert – und das hieß, daß sie den Eripäern weit überlegen waren, was körperliche Kraft an­betraf. Vermutlich konnten es nicht einmal die beiden kräftigen Barbaren mit einem ausgewachsenen Kamauken aufnehmen. Was die berühmte Trägheit der Kamauken anbetraf, verspürte Bulzerdon erste Zweifel. Gewiß, die Kamauken standen einfach her­um, aber ihre Augen bewegten sich er­schreckend flink, und der Ausdruck dieser Augen wollte Bulzerdon überhaupt nicht ge­fallen.

Ihm wollte auch scheinen, als sei es mit der körperlichen Behäbigkeit der Kamauken nicht weit her, und an Intelligenz fehlte es den Bewohnern des Festlandes ebenfalls nicht. Ihre geistigen Fähigkeiten genügten zwar nicht, um in der Kunstwelt von Da­maukaaner eine Rolle zu spielen, aber sie reichten vollauf aus, die Flüchtenden vor er­hebliche Probleme zu stellen.

»Sie sehen aus wie überdimensionale

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Faultiere«, stellte Razamon fest. Die Kamauken schienen ihn verstanden

zu haben. Mitten im Satz griffen sie an.

7.

Egoismus, (vom lat. ego, »ich«), Eigenlie­be, Ichliebe; Verhalten, das vom Ich-Gefühl, von dem Gedanken an das eigene. Ich be­herrscht und geleitet wird. Der Egoismus ist zunächst ein Ausfluß des natürlichen Selbst­erhaltungstriebs, der auch ethisch vom Wert des Lebens gefordert ist. Er ist notwendig zur Erkenntnis und Verwirklichung der Per­sönlichkeitswerte und zur Erfüllung der sitt­lichen Pflicht, die eigenen Anlagen und Fä­higkeiten zur größtmöglichen Vollendung zu bringen; er wird ethisch verwerflich, wenn dem fremden Leben und der fremden Per­sönlichkeit weniger Wert beigemessen wird als der eigenen, wenn die Rechte anderer verletzt werden; s. auch Altruismus, Hobbes, Smith, Stirner. L. Klages beschreibt den Egoismus als »persönliche Selbstbehaup­tung« und unterscheidet vier Grundformen: den spontanen, den passiven, den reaktiven und den isolierten Egoismus.

(Philosophisches Wörterbuch)

*

Bulzerdon versuchte sich mit einem Satz in Sicherheit zu bringen, aber er prallte mit­ten in diesem Satz gegen einen Felsen. Zu tief war die Gruppe bereits in den Engpaß vorgerückt, als daß eine Flucht möglich ge­wesen wäre.

Während die Spitze von wütend bellenden Kamauken angegriffen wurde, wälzte sich schwer die Giftgaswolke heran.

Von vorn erklangen Schußgeräusche, gel­lende Schreie, wütendes Fauchen und Bel­len. Die Kamauken waren alles andere als primitiv. Ihre Intelligenz war immerhin hoch genug, um sie zu Listen und Kniffen greifen zu lassen. Mit Felsbrocken, die sie erstaun­lich präzise zu schleudern verstanden, ver­suchten sie ihre Opfer kampfunfähig zu ma­

chen. Was die Gruppe erwartete, wenn sie den Angriff nicht zurückschlagen konnte, bewiesen die blanken Knochen, die auf dem Boden des Passes zu sehen waren. Offenbar lauerten die Kamauken des öfteren in die­sem Gebiet.

Bulzerdon vermutete, daß sich die Tiere von den Abfällen ernährten, die von den Gillmader-Wolken in die jeweiligen Krater geworfen wurden. Bei einer Großwolke vom Format Quersoys gab es täglich genügend organischen Abfall, um eine große Kamau­kenherde davon ernähren zu können. Der größte Teil des Unrats landete natürlich in der Lava des Vulkans, aber beachtliche Mengen wurden vermutlich vom Wind oder durch andere Umstände an die Ränder der Vulkane getragen und dort von den Kamau­ken aufgespürt.

Jetzt waren sie offenbar fest entschlossen, daß Ende von Quersoy zu ihren Gunsten auszuschlachten – und das wortwörtlich.

Bulzerdon spürte einen scharfen Schmerz im linken Knöchel. Ein Stück Fels war un­mittelbar neben Bulzerdon auf dem Boden aufgeprallt und dort zersplittert. Wie Ge­schosse pfiffen die Trümmer durch die Luft, und eines dieser Geschosse hatte Bulzerdon am Knöchel getroffen. Blut floß, und der Geruch machte die Kamauken fast wahnsin­nig vor Gier.

Ein Dutzend der plump wirkenden Tiere stürzte sich hangabwärts auf Bulzerdon. In ihrer Gier vergaßen die Kamauken jede Si­cherung, ein Teil fiel den präzisen Schüssen der beiden Barbaren zu Opfer, der Rest lan­dete ineinander verschlungen knapp zehn Meter neben Bulzerdon, und sofort ent­brannte zwischen den Kamauken ein mörde­rischer Kampf. Es war erstaunlich und be­ängstigend, welche Beweglichkeit die unge­schlachten Kolosse an den Tag legten.

»Klettert den Hang hinauf!« Balduurs Stimme verriet Anstrengung,

aber keinerlei Angst oder übermäßige Erre­gung. Der Hüne deutete auf die Felswände, die steil und schroff in die Höhe ragten. Bul­zerdon glaubte, sich verhört zu haben. »Dort

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hinauf? Ohne Hilfsmittel?« Der Versuch allein erschien ihm selbst­

mörderisch. Aber angesichts der Zwickmühle, in der

sich die Gruppe befand, gab es keine große Wahl – entweder die Kamauken, deren Zahl kein Ende zu nehmen schien und deren An­griffswut durch ihre fürchterlichen Verluste nur noch mehr angestachelt wurde, oder die Gaswolke, die sich mit grausamer Langsam­keit heranschob. Der Tod durch Genick­bruch würde schneller und weniger schmerzhaft sein als die beiden ersten Mög­lichkeiten.

Bulzerdon sah in die Höhe. Er schätzte, daß er mindestens dreißig

Meter hoch würde klettern müssen, eine Vorstellung, die ihn schwindeln machte.

»Wir müssen den Aufstieg gleichzeitig beginnen«, kommandierte Razamon. »Sonst werden die Nachzügler von den Kamauken überfallen.«

Vor dieser Gefahr waren die Flüchtenden vergleichsweise früh sicher. Bereits nach knapp vier Minuten hatte Bulzerdon eine Höhe erreicht, die ihn einigermaßen gelas­sen auf die wild mit den Pranken schlagen­den Kamauken herabsehen ließ.

Gleichzeitig aber wurde auch die Sicht auf die gelbe Gaswolke besser. Bulzerdon konnte sehen, wie sie einen Kamauken er­reichte und verschlang. Schemenhaft war noch ein Aufbäumen des Tieres zu erken­nen, dann fiel es zur Seite. Das Gas wirkte rasch, und wahrscheinlich wirkte es sofort tödlich. War es vielleicht nicht doch besser, das unvermeidliche Ende auf diese Weise herbeizuführen – in dem er einfach verharrte und das Gas seine Arbeit tun ließ?

Dann aber mußte Bulzerdon an seine Fa­milie denken, und an die Kunstwerke, die den Krolocs in die Hände fallen würden, wenn sie auch Bulzerdons Wolke überfielen. Daran, daß sie die Wolke angreifen würden, herrschte für Bulzerdon kein Zweifel – zwar war ihm bereits aufgefallen, daß der Kunst­verstand der Krolocs zu wünschen übrigließ, aber er war absolut sicher, daß selbst die

Peter Terrid

merkwürdigen Wesen in ihren Krumpelan­zügen das absolute künstlerische Zentrum des gesamten Planeten – also Bulzerdons Wolke – erkennen mußten und danach han­delten.

»Ich helfe dir!« stieß Razamon hervor. Er griff nach Bulzerdons Arm, und mit einem kräftigen Zug beförderte er den Künstler auf die Spitze der Felswand. Bulzerdon wurde fast übel, als er hinabsah. Wie er es ge­schafft hatte, an dieser Wand in die Höhe zu klettern, war ihm ein Rätsel. Offenbar war er fast automatisch geklettert, während er das Schicksal seiner Sippe erwogen hatte. Etwas erstaunt mußte Bulzerdon feststellen, daß mehr in ihm steckte, als er angenommen hat­te – und Bulzerdon war, was die Annahme von eigenen Fähigkeiten anging, keineswegs bescheiden. Allerdings bezog sich sein er­staunlich ausgeprägtes Selbstbewußtsein in der Regel auf seine Fähigkeiten als Künstler und Familienvater. Daß er auch zum Klette­rer taugte, überraschte ihn.

»Gerade noch rechtzeitig«, keuchte Bul­zerdon.

Unter ihm begann die Giftgaswolke da­mit, den gesamten Bereich der Schlucht zu füllen. Nach kurzer Zeit war von dem Fels­boden, auf dem Bulzerdon gerade noch ge­standen hatte, nichts mehr zu sehen, auch nicht von den Kamauken. Was nicht recht­zeitig die Flucht ergriffen hatte, war der Wolke zum Opfer gefallen.

Es war warm auf der Felsnase. Zum einen schwitzte Bulzerdon von der Anstrengung des Kletterns, zum anderen wehte von der Punnary-Kaldera heiße Luft herüber.

»Es sieht übel aus«, stellte Gurankor fest. Seine Stimme verriet Bedrückung. »Ich fürchte, daß sich auch Punnary nicht wird halten können.«

»Die Leute verstehen nichts vom Kämp­fen«, murrte Razamon. »Auf Atlantis hätten wir dem Spuk längst ein Ende gemacht.«

»Wirklich?« Balduurs Stimme deutete ein wenig Spott

an. Offenbar gefiel dem Odinssohn die Be­zeichnung Atlantis für Pthor nicht.

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»Jedenfalls hätten wir uns erbitterter ge­gen die Invasion zur Wehr gesetzt«, beharrte Razamon. Er lud seine Waffe nach. »Es ist eine Schande, wie sich die Eripäer dieses Planeten verhalten.«

Bulzerdon sah ihn vorwurfsvoll an. »Schande?« fragte er. »Nach welchem Maß­stab?«

Razamon kniff die Augen zusammen. »Wieso? Was heißt, nach welchem Maß­

stab?« »Für uns von Damaukaaner ist Kämpfen

keine Tugend, Feigheit also auch keine Schande. Auf dieser Welt gilt als schändlich, wer nicht denkt oder sich nicht künstlerisch betätigt. Nur für Wesen, die den Kampf lie­ben, kann Tapferkeit als Tugend gelten.«

Balduur machte eine wegwerfende Bewe­gung.

»Spitzfindigkeiten«, wehrte er ab. »Seht ihr Eripäer denn nicht, daß es euch an den Kragen geht?«

Bulzerdon zuckte mit den Schultern. »Na und?« fragte er leichthin. »Es ist dies

alles eine Frage des Maßstabes. Für einen Philosophen der Gewaltlosigkeit kann es keinen schöneren Tod geben als den durch Gewalt – beweist er ihm doch, daß er das Stadium primitiver Gewalttätigkeit hinter sich gebracht hat.«

»Und in dieser Handlungsweise verbirgt sich eine gehörige Portion Eitelkeit«, konter­te Gurankor. »Außerdem: Ist es nicht Aufga­be des Denkers, anderen zu helfen? Ist es ehrenvoll für den Getöteten, tatenlos zuzu­lassen, daß sein Widersacher zum Mörder wird?«

Bulzerdon runzelte die Stirn. Gurankors Einwurf hatte ihn verwirrt.

»Das verstehe ich nicht«, sagte er. Razamon sah ihn verwundert an. Daß ein

Bewohner dieses Planeten, auf dem es von Künstlern und Philosophen nur so wimmel­te, einfach zugab, etwas nicht zu verstehen, irritierte den Pthorer. Die Eripäer von Da­maukaaner hatten auf ihn nicht den Eindruck gemacht, als gäben sie schnell und leicht ei­gene Schwächen zu.

»Ich will damit sagen«, erklärte Guran­kor, »daß es zwischen Täter und Opfer eines Verbrechens sehr verschiedene und kompli­zierte Verbindungen geben kann, daß es Menschen gibt, die ebenso zu Opfern präde­stiniert sind wie andere zu Tätern.«

Razamon zuckte mit den Schultern. »Habt ihr keine wichtigeren Probleme?«

fragte er ätzend. Pona deutete in die Höhe. »Das dort, beispielsweise!« sagte sie be­

sorgt.

*

Bulzerdon sah mindestens zwei Dutzend Spaccahs am Himmel – aber keinen einzigen Flugkörper eripäischer Bauweise. Ganz of­fenkundig war die Schlacht um Damaukaa­ner geschlagen, und ebenso offenkundig war sie von den Krolocs gewonnen worden.

In großer Höhe, mit bloßem Auge gerade noch zu erkennen, schwebten die riesigen Transportspaccahs der Krolocs. Die Gebilde, die Bulzerdon in der Nähe erkennen konnte – in erschreckender Nähe – waren vermut­lich Ein-Mann-Spaccahs.

»Sie suchen uns«, murmelte Pona. Razamon schüttelte den Kopf. »Nicht

uns«, sagte er rauh. »Sie suchen den Eripäer.«

Gurankor zog fragend eine Braue in die Höhe.

»Wenn sie Gurankor gefangen haben, dann brauchen die Krolocs kaum noch Wi­derstand zu befürchten. Wahrscheinlich hat ihnen ein Bewohner von Quersoy verraten, daß der Eripäer auf Damaukaaner zu finden ist. Und nun suchen sie nach ihm.«

»Wie wollen sie einen Mann finden, der einen ganzen Planeten hat, um sich darauf zu verstecken?«

Balduur übernahm es, Ponas Frage zu be­antworten.

»Wäre Gurankor nur irgendein Eripäer, wäre es schwierig, ihn zu finden. So aber ist er umgeben von Personen, die seine Bedeu­tung unterstreichen. Die Krolocs brauchen

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nur nach dem Lebewesen zu suchen, daß von seinen Gefährten am hartnäckigsten ver­teidigt wird. Das Zentrum einer Macht ver­rät sich stets von selbst.«

»Hört sich schlüssig an«, stimmte Bulzer­don zu, obwohl ihm die Schlußfolgerung überhaupt nicht gefiel. Immer wieder schiel­te er zu den Spaccahs hinauf.

Die Invasoren aus dem Korsallophur-Stau schienen zu wissen, wo sie nach dem Eripä­er zu suchen hatten. Sie beschränkten ihre Suche auf das Gebiet um die Punnary-Kalde­ra, und allein aus diesem Grund war die Chance groß, daß sie ihr Ziel tatsächlich er­reichten.

»Die Flucht geht also weiter«, erklärte Gurankor erbittert.

»Vorläufig«, stimmte Razamon zu. »Bis wir die Krolocs abgeschüttelt haben – oder bis eine Hilfsflotte der Eripäer auftaucht und die Krolocs zurückdrängt.«

»Das scheint mir so wahrscheinlich wie das plötzliche Erlöschen unserer Sonne«, versetzte Pona. »Wo sollte diese Flotte her­kommen?«

Razamon zuckte mit den Schultern. »Wir haben größere Sorgen«, sagte er ge­

lassen. »Seid ihr bereit?« Bulzerdon nickte automatisch, obwohl er

genaugenommen zu gar nichts bereit war. Er wäre am liebsten auf seiner Wolke gewesen, bei Frau, Kindern und Kunst. Das Laufen behagte ihm nicht, das Schießen war ihm widerwärtig, und obendrein hatte er immer noch große Mühe, überhaupt zu begreifen, was sich um ihn herum und mit ihm abspiel­te. Irgendwie schien er in eine völlig falsche Inszenierung geraten zu sein – allerdings wußte er sehr genau, daß er von dieser Büh­ne nicht einfach verschwinden konnte.

Die Flucht ging weiter. Razamon übernahm die Führung, wäh­

rend Balduur der Gruppe den Rücken deck­te.

Dabei nahm Razamon keinerlei Rücksicht auf seine Begleiter, denen er körperlich weit überlegen war. Er wählte stets den be­schwerlichsten Weg zur Flucht, über Felsen

Peter Terrid

und durch reißende Gewässer, die nach Schwefel stanken und teilweise siedend heiß erschien.

Bulzerdon war nach kurzer Zeit schon völlig außer Atem, aber jedesmal, wenn er einfach erschöpft liegenbleiben wollte, fiel sein Blick auf die Spaccahs der Krolocs, und der Gedanke daran gab ihm neue Kraft. Bul­zerdon wußte, daß es die Angst war, die ihn vorantrug, kein edles Gefühl, aber unerhört wirksam. Und mit jeder Minute, die sich die Flucht in Länge zog, mit jedem Schweiß­tropfen wuchs diese Angst. Bulzerdon malte sich aus, was die Krolocs mit ihm anstellen würden, wenn sie ihn zu fassen bekamen, und seine Phantasie war üppig, durch zahl­reiche Unterhaltungsfilme genügend präpa­riert.

Was ihn am meisten bedrückte und er­schreckte, war die lautlose Hartnäckigkeit, mit der die Krolocs ihre Suche betrieben.

Inzwischen waren weitere Spaccahs auf­getaucht. Bulzerdon schätzte die Zahl der Suchfluggeräte auf mindestens fünfzig.

Die Spaccahs hatten einen weiten Ring um die Punnary-Kaldera gelegt, den sie bei ihrer Suche systematisch verengten. Irgend-wann mußte sich bei dieser Treibjagd der Erfolg einstellen – wenn der Gesuchte sich in dem fraglichen Gebiet aufhielt, mußte er den Krolocs ins Netz gehen.

Einen Augenblick lang durchzuckte Bul­zerdon ein Gedanke; der ihn selbst er­schreckte – nämlich das ganze Problem da­durch zu lösen, daß er Gurankor einfach er­schoß.

Bulzerdon war über diesen Gedanken ent­setzt – weniger über die Tat selbst als viel­mehr darüber, daß er überhaupt auf einen solchen Einfall gekommen war. Er schrieb auch das der ständigen Bedrohung durch die Krolocs zu, obwohl er spürte, daß dies eine Ausrede war.

Vielleicht hatten auch die Filme abge­färbt, in denen solche Handlungsabläufe ab und zu zu sehen waren. Helden kamen aller­dings niemals auf so hinterlistige Gedanken, aber daß er kein Held war, war Bulzerdon

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bereits schmerzlich bewußt geworden. Eine der zahlreichen Ängste, die ihn während der Flucht in immer stärkerem Maße zu plagen begannen, war die, daß er sich im Lauf der Zeit als Erzhalunke entpuppen konnte, wenn diese Flucht noch lange dauerte. In solchen Extremsituationen widerfuhren den Betrof­fenen die unglaublichsten charakterlichen Veränderungen.

Mit Handzeichen forderte Razamon die Gruppe auf, in Deckung zu gehen.

»Jetzt kommt die kritische Phase«, flü­sterte er, als habe er Angst, von den Krolocs gehört zu werden.

Völlig auszuschließen war das nicht. Die vordersten Spaccahs schienen zum Greifen nahe.

»Wenn wir diese Absperrung hinter uns gebracht haben«, raunte Razamon, »haben wir das Schlimmste geschafft.«

Bulzerdon begriff, welche Taktik der Fremde verfolgte. Gelang es den Flüchten-den, die Reihen der Verfolger ungesehen zu durchqueren, waren sie vor weiterer Ent­deckung so gut wie sicher.

Bulzerdon sah nach oben. Was würden die Krolocs mit ihm und den

anderen anfangen, wenn sie das Pech haben sollten, den Feinden in die Hände zu fallen? Was stand ihm bevor? Folter, Gefangen­schaft, der Tod?

Bulzerdon war gewillt, stets das Schlimm­ste anzunehmen, und so betrachtete er die Spaccahs mit steigendem Entsetzen.

Wie stets machte einer der beiden Barba­ren den Führer. Razamon war es, der tief ge­duckt auf die vorderste Spaccah zuschlich. Jeden Winkel, hinter dem er Deckung finden konnte, nutzte er aus. In dem zerklüfteten Gelände war es ohnehin ziemlich schwierig, jemanden auszumachen, und wenn sich die­ser jemand auch noch anstrengte, unsichtbar zu werden … Bulzerdon wußte aber auf der anderen Seite auch, daß es technische Mittel gab, Flüchtende zu orten. Und technisch wa­ren die Krolocs gewiß nicht zu unterschät­zen.

Bulzerdon konnte die Waffen sehen, die

aus den Spaccahs herausragten. Es waren unästhetische Gebilde; häßlich wie der Zweck, dem sie dienten. Immer wieder sah Bulzerdon zu den Mündungen hinüber, als erwarte er, den tödlichen Schuß daraus her­vorbrechen sehen zu können.

Mit Handzeichen gebot Razamon seinen Gefährten, nach Möglichkeit kein Geräusch zu machen. Es gab hochempfindliche Mi­krofone, die aus einem Flüstern Gebrüll ma­chen konnten. Jedes Hüsteln konnte aufge­fangen, jeder unvorsichtige Tritt geortet werden.

Bulzerdon hielt den Atem an, als die Spaccah praktisch über seinem Kopf stand. Wie die Fühler großer, häßlicher Insekten ragten Waffen und Ortungseinrichtungen aus der Scheibe und drohten über die Land­schaft.

Bulzerdon bewegte sich nicht. Er versuch­te förmlich mit dem Fels zu verschmelzen. Er lag im Schatten eines großen Fels­brockens, hart an den Stein geschmiegt. Bul­zerdon hatte sich ausgerechnet, daß man ihn aus der Luft nicht sehen konnte.

Er rührte sich nicht. Die Kraft, sich auf den Rücken zu legen

und den Flug der Spaccah zu verfolgen, hat­te er nicht aufbringen können. Jetzt ver­fluchte er im stillen seine Feigheit – nun mußte er diese qualvollen Augenblicke fast blind durchstehen, ohne zu sehen, was sich über ihm abspielte.

Seine Phantasie gaukelte ihm er­schreckende Bilder vor: drohende Waffen­mündungen, finster dreinblickende Wesen, die diese Waffen mit boshaftem Grinsen auf den wehrlos Daliegenden richteten, die Fin­ger an die Abzüge brachten …

»Weiter!« Wie Posaunenstöße klangen Razamons

geflüsterte Worte an Bulzerdons Ohr. Er drehte sich herum, sah in die Höhe.

Geschafft, dachte er triumphierend, als er die Scheibe in einiger Entfernung ihre Suche fortsetzen sah.

Die Krolocs hatten die Flüchtenden nicht bemerkt. Mochten sie ihre Suche nach dem

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Eripäer fortsetzen, finden konnten sie ihn nicht mehr. Gurankor war seinen Häschern entwischt.

Bulzerdon hastete vorwärts. Nur fort von den widerlichen Spaccahs, weg von diesem Land, das so wild und gefährlich war wie seine Bewohner.

Dann hörte er plötzlich einen Fluch. Es war Gurankor, der die Verwünschung ausge­stoßen hatte.

Bulzerdon, der seine helle Freude an der abziehenden Spaccah der Krolocs gefunden und ihr unentwegt nachgesehen hatte, fuhr erschrocken herum.

Was er sah, ließ ihn erstarren. Genau vor ihm hing, knapp zwei Manns­

längen über dem steinigen Boden, eine Spaccah in der Luft. Eine große, häßliche Spaccah, erheblich größer als die anderen, stärker bewaffnet und angefüllt mit er­schreckenden Wesen in häßlichen Krumpe­lanzügen, die jetzt ausschwärmten, um ihre Gefangenen einzusammeln.

Schicksalsergeben hob Bulzerdon die Hände.

8.

Erlebnismittelpunkt. Der Bestimmtheit des Gegenstands korrespondiert in der Phi­losophie R. Hönigwalds die unbegrenzte Vielzahl der Erlebnismittelpunkte. Der Er­lebnismittelpunkt (monás, siehe Monade) ist durch seine possessive Bindung an den eige­nen Organismus zeitlich lokalisierte Tatsa­che und in seiner universalen Intentions­funktion (Denken-Können) als ein Prinzip zu betrachten. Der Vereinzelung der Erleb­nismittelpunkte entspricht ihre intermonadi­sche Verbindung in Verständigung und Überlieferung.

(Philosophisches Wörterbuch)

*

»Was werden sie mit uns machen?« fragte Bulzerdon. Er brachte es fertig – das jeden­falls glaubte er –, seine Stimme frei von

Peter Terrid

Angst klingen zu lassen. Razamon zuckte mit den Schultern. »Das

bleibt abzuwarten«, sagte er knapp. Ab und zu schielte Bulzerdon zur Seite,

auf eine der Waffen, die auf ihn gerichtet war. Insgesamt zielte mehr als ein Dutzend Krolocs auf Bulzerdon.

Aus unerfindlichen Gründen schienen die Krolocs ausgerechnet den Künstler für die wichtigste Persönlichkeit in der Gruppe der Gefangenen zu halten. Unter normalen Um­ständen wäre dies in Bulzerdons Augen ge­recht und angemessen gewesen, in diesem besonderen Fall allerdings hätte er es vorge­zogen, weniger bevorzugt mit tödlichen Waffen bedroht zu werden.

Der Boden unter Bulzerdons Füßen vi­brierte leicht. Die Spaccah setzte also ihren Flug fort.

Einer der Krolocs stieß einige Sätze in seiner knarrenden Sprache hervor, die Pona übersetzte. Die Gestik des Wesens allerdings war so eindeutig gewesen, daß sich die Übersetzung der Eripäerin erübrigte. Bulzer­don folgte dem Befehl und trat als erster über die Schwelle.

Der Raum, in dem man ihn geführt hatte, schien die Zentrale der Spaccah zu sein.

Jedenfalls konnte Bulzerdon an den Wän­den riesige Bildschirme erkennen, auf denen der Himmel von Damaukaaner zu sehen war – und dieser Himmel schien ausschließlich von Spaccahs erfüllt.

»Sie greifen Punnary an«, stellte Guran­kor nach einem Blick auf einen der Schirme fest. »Offenbar geht die Invasion ihrem Hö­hepunkt entgegen.«

»Und wir sind nahezu hilflos«, murmelte Pona bitter.

Die Krolocs hatten sich hinter den Gefan­genen aufgebaut. Bulzerdon konnte die Ge­stalten in den Krumpelanzügen in einem spiegelnden Metallteil entdecken. Die Waf­fen dieser Wachen zielten auf die Köpfe der Gefangenen. An Flucht war also nicht zu denken.

Bulzerdon zählte siebenundzwanzig Kro­locs in der Zentrale. Zu weitergehenden Be­

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obachtungen war er nicht fähig. Er hätte ein Funkgerät der Krolocs nicht von einem Staubsauger unterscheiden können, daher waren für ihn alle Maschinen und Apparatu­ren in der Zentrale gleichermaßen befremd­lich und unheimlich. Er sah zwar, daß die Krolocs Knöpfe drückten und an Hebel zo­gen, er sah Lichter flackern, Zeiger über Skalen kriechen – aber von alledem begriff der Künstler nichts.

Bulzerdon wußte nur eines – hinter ihm stand ein Lebewesen, daß ihn aus unerfindli­chen Gründen für einen Feind hielt und das eine todbringende Waffe auf seinen Kopf gerichtet hatte. Alle Überlegungen und Ge­danken mußten von dieser Prämisse ausge­hen und diese Tatsachen verarbeiten.

Niemand kümmerte sich um die Gefange­nen. Bulzerdon war das einstweilen nur recht. Er befürchtete, daß dieses »Sich-um-die-Gefangenen-Kümmern« für ihn sehr unangenehm werden würde. Bulzer­don traute den Krolocs mittlerweile alles zu, was sich an Handlungen überhaupt nur den­ken ließ.

Das Grundmuster des Kroloc-Verhaltens hieß Krieg, und diese Gedankenstrukturen, die zu diesem Grundmuster gehörten, waren Bulzerdon fremd. Er konnte sie nicht einmal näherungsweise nachvollziehen. Er selbst wäre niemals auf die Idee gekommen, ande­re Lebewesen zu bedrohen, zu jagen, zu quälen oder gar willentlich zu töten. Und an­gesichts der Empfindungen, die ihn be­herrschten, da er das Opfer solcher Handlun­gen werden konnte, war ihm noch unver­ständlicher, wie Lebewesen zu solchen Ide­en kamen.

Bulzerdon hielt es für ratsam, wenig zu sagen und noch weniger zu tun. Vielleicht hatten die Krolocs ein Einsehen und ließen ihn laufen. Er, an die Stelle der Krolocs ver­setzt, hätte jedenfalls nicht gewußt, was er mit einem gefangenen Bildhauer hätte an­fangen können – es sei denn, ihm einen Auf­trag zu geben oder ihm Modell zu stehen. Zu beidem schienen die Krolocs keine Lust zu haben.

»Das ist das Ende von Damaukaaner«, murmelte Pona bedrückt.

»Vom Ende rede ich, wenn ich es hinter mir habe«, entgegnete Razamon kalt. Seine Augen wirkten auf Bulzerdon fast so hart und bedrohlich wie die Waffen der Krolocs. »Ich habe zuviel erlebt, um sofort aufzuge­ben. Gibt es nicht noch eine Flotte, die Da­maukaaner zu Hilfe kommen könnte?«

Gurankor bedachte den Barbaren mit ei­nem bösen Blick.

»Dies ist nicht der richtige Ort, solche Dinge zu erörtern«, murmelte der Eripäer. »Aber es gibt eine solche Flotte.«

»Dachte ich es mir doch«, murmelte Raz­amon. Über sein hageres Gesicht flog die Andeutung eines Lächelns.

»Und wann wird, wenn überhaupt, diese Flotte in die Kämpfe eingreifen?«

Balduurs Stimme klang – soweit Bulzer­don das beurteilen konnte – gleichmütig, als habe er kein besonderes Interesse an der Antwort auf die Frage. Bulzerdon war ein­mal mehr verwirrt. Solche Gespräche in der Zentrale eines gegnerischen Schiffes … war das nicht Verrat?

Anhand der Bildschirme konnte Bulzer­don erkennen, daß die Spaccah mit den fünf Gefangenen an Bord rasch himmelwärts stieg. Die Krolocs schienen es eilig zu ha­ben, mit ihrer wertvollen Beute so rasch als möglich das Weite zu suchen. Bulzerdon war gespannt, wohin die Reise gehen würde. Ob es dort, wo die Krolocs lebten, auch Künstler gab? Maler, Musiker, Bildhauer? Vielleicht war ein Gedankenaustausch mög­lich – Künstler untereinander sollten sich doch, unbeschadet aller sonstigen Verschie­denheit und Feindschaften, verstehen kön­nen.

Während Bulzerdon hoffnungsvollen Ge­danken nachhing, wurde es in der Zentrale der Spaccah laut, und in dem Augenblick, in dem Bulzerdon sich wieder mit seiner wirk­lichen Lage beschäftigte, durchfuhr ein hef­tiger Ruck die Spaccah und riß ihn von den Beinen.

Noch im Fallen hörte Bulzerdon den Ju­

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belruf des Eripäers. Bulzerdon ruderte mit den Armen, bekam irgend etwas zu fassen, an dem er sich festklammern wollte, aber das Etwas löste sich aus einer Verankerung, und so rutschte Bulzerdon auf dem Rücken über das Metall des Bodens. Während er weiterhin nach Halt suchte, bekam er ein be­wegliches Metallteil zwischen die Finger, und dann hörte er das Fauchen eines Ener­gieschusses. Die gellenden Schreie, das Kreischen von Metall und das Klirren von Glassit belehrten Bulzerdon, daß in der Zen­trale der Spaccah ein Kampf ausgebrochen war.

An einer fremdartig aussehenden Maschi­ne kam Bulzerdons Rutsch zum Stillstand. Hätte das schwarzbraune Gebilde nicht in diesem Raumschiff gestanden, Bulzerdon hätte es für ein Kunstwerk gehalten.

»Die Flotte!« konnte Bulzerdon die Frau rufen hören.

Wieder waren Schußgeräusche zu hören, diesmal erklangen sie im Hintergrund, und jetzt erst wurde Bulzerdon klar, daß er im Fallen einen Kroloc entwaffnet und mit des­sen Waffe einen Schuß abgegeben hatte. Die Waffe hielt er noch in der Hand, und als er sie hob, um sie näher zu betrachten, löste sich ein weiterer Schuß, der in die Decke ging und dort ein Loch brannte, durch das Bulzerdon seinen Kopf hätte stecken kön­nen.

Die ganze Angelegenheit war Bulzerdon unheimlich. Von Gewalttätigkeiten verstand er nichts. Fort mit der Waffe, dachte er, packte sie beim Lauf und schleuderte sie in den Raum. Wohin sie traf, konnte er nicht sehen, wohl aber hören. Es splitterte hörbar.

Irgendwo tief im Schiffsinnern heulten Maschinen auf. Ein zweites Mal wurde die Spaccah von einer Riesenfaust gepackt und umhergewirbelt. Bulzerdon, der sich gerade aufrappeln wollte, wurde ein weiteres Mal von den Beinen geworfen. Die Antigravan­lage der Spaccah fiel aus, einige g kamen durch und preßten Bulzerdon die Eingewei­de zusammen und ließen ihm fast die Augen aus dem Kopf quellen.

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In der Spaccah war das Chaos nahezu per­fekt. Die Krolocs rannten heulend durchein­ander, die Maschinen kreischten und wim­merten, weil sie hoffnungslos überlastet wurden. Meterlange Blitze zuckten zwi­schen Maschinen und setzten Kabel in Brand. Rauch breitete sich aus, und in die Chaos liefen Eripäer, die Barbaren die Kro­locs wie aufgescheucht und feuerten auf al­les, was ihnen begegnete. Dabei richteten die Krolocs in ihrer Aufregung erheblichen Schaden in den eigenen Reihen an.

Bulzerdon wurde hin und her gestoßen und landete schließlich in einer Ecke, mit dem Gesicht zum großen Panoramaschirm.

Jetzt erst verstand Bulzerdon, was sich abspielte.

Die Flotte war aufgetaucht, die Flotte, von der Razamon und Gurankor gesprochen hat­ten – die Flotte der Eripäer, und sie machte den Invasionstruppen der Krolocs schwer zu schaffen.

Die Spaccah mit den Gefangenen jeden­falls hatte kaum noch Chancen. Sie war schwer getroffen, das verrieten die hekti­schen Bewegungen und das Zittern des Schiffsleibs. Die Spaccah zuckte unter den Treffern, die sie erhielt, und die Stöße, die trotz der Schirmfelder bis auf die Hülle durchschlugen, ließen die Spaccah so heftig um ihre Achsen wirbeln, daß die Automaten nicht mehr nachkamen. Auch auf den Bild­schirmen überschlugen sich die Bilder.

»Bravo!« brüllte Bulzerdon begeistert. Für eine halbe Minute war das Bild auf

dem größten Schirm klar und deutlich gewe­sen, und Bulzerdon hatte sehen können, wie ein Eripäerschiff einen Angriff flog, feuerte, und abdrehte und zu einer neuerlichen At­tacke ansetzte.

Erst als er das Schmettern hörte, mit dem der Waffenstrahl des Eripäerschiffs das Schirmfeld durchschlug und sich ins Innere der Spaccah fraß, begriff Bulzerdon, daß er in dem Schiff steckte, auf das geschossen wurde.

Gehetzt sah sich Bulzerdon um. Die Krolocs hatten einstweilen genug da­

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mit zu tun, die Spaccah leidlich kursstabil zu halten. Nur eine kleine Gruppe war damit beschäftigt, die Gefangenen zu jagen, die sich langsam aus der Zentrale der Spaccah zurückzogen, nicht ohne lebenswichtige An­lagen des Schiffes unter präzises Feuer zu nehmen.

»Wartet auf mich!« schrie Bulzerdon mit sich überschlagender Stimme. »Nehmt mich mit!«

Er kam auf die Füße und begann zu lau­fen. Es fehlte nicht viel, und er wäre beim nächsten Volltreffer, der in der Spaccah ein­schlug, von den Beinen gefegt worden, aber er schaffte, was er sich vorgenommen hatte. Er fand Anschluß an die Gruppe, die sich ih­re Freiheit zurückeroberte. Einmal mehr fiel Bulzerdon auf, daß sich die beiden Fremden besonders heftig und auch gekonnt ihrer Haut wehrten. Es schien nicht das erste Mal zu sein, daß sie sich in einer solchen Lage befanden.

»Kämpft euch zur Hülle durch«, empfahl Balduur. »Dort haben wir die größten Chan­cen.«

Auf dem Gang wartete eine kleine Gruppe Krolocs, die jedoch rasch vertrieben war. Die beiden Barbaren handhabten ihre Waf­fen mit einer Kunstfertigkeit, die Bulzerdon erstaunte.

»Warum zur Hülle?« fragte er im Laufen. Er kam an einem getöteten Kroloc vorbei und eignete sich dessen Waffe an.

»Die Eripäer werden diese Spaccah wahr­scheinlich zur Landung zwingen wollen«, stieß Razamon im Laufen hervor. »Wahrscheinlich wissen sie, daß der Eripäer an Bord ist.«

»Und wenn sie die Spaccah dennoch ab­schießen?«

Pona bekam auf ihre Frage keine Ant­wort, da ein neuer Trupp Krolocs auf der Bildfläche erschien und den Flüchtenden den Weg versperrte. Ein kurzes Feuerge­fecht entstand, dann rannten die Krolocs da­von. Allerdings hatte Bulzerdon dabei einen Streifschuß abbekommen, der ihn am linken Oberarm verwundete – die Verletzung war

nicht sehr schwer, aber schmerzhaft und hin­derlich.

»Wenn wir abstürzen«, beantwortete schließlich Gurankor die Frage seiner Be­gleiterin, »dann kann es uns ziemlich gleich­gültig sein, in welchem Bereich des Schiffes wir uns aufhalten.«

Immer neue Abteilungen der Krolocs leg­ten sich den Fliehenden in den Weg und mußten erst niedergekämpft werden. Dabei half den Gefangenen allerdings die Tatsa­che, daß die Krolocs alle Hände voll zu tun hatten. Immer wieder schlugen Treffer der Eripäerschiffe in den Rumpf ein, und jedes­mal ging ein Ruck durch die getroffene Spaccah. Immer häufiger fiel das Licht aus, der Antigrav stellte für ganze Sekunden die Tätigkeit ein, ein deutliches Zeichen für die Schwere der Schäden, die die Spaccah be­reits davongetragen hatte.

Meter um Meter kämpfte sich die Gruppe ihrem Ziel entgegen. An der Krümmung der Wände war zu erkennen, wie sehr sich die Flüchtenden ihrem Ziel bereits genähert hat­ten.

Wieder ging ein heftiger Ruck durch den Rumpf der Spaccah, dann hörte das Arbeit­geräusch des Antriebs schlagartig auf.

»Wir stürzen ab«, schrie Bulzerdon auf. »Keineswegs«, murmelte Razamon. »Wir

sind gerade gelandet. Ich habe deutlich das Knirschen und Schleifen von Metall auf Fels hören können.«

»Gelandet!« seufzte Bulzerdon ungläubig. »Dann sind wir also gerettet?«

Razamon war zu realistisch eingestellt, um sich mit Vermutungen abzugeben.

»Möglicherweise«, sagte er trocken. »Vielleicht aber auch nicht. Wir werden se­hen.«

*

Balduur hob seine Waffe und gab einen Feuerstoß auf die Wand ab, die den Flüch­tenden den Weg versperrte. An der getroffe­nen Stelle verdampfte das Metall fast schlagartig. In dem Gang breitete sich der

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typische Geruch nach verbranntem Eisen aus. Schmelzbäche liefen an der Wand herab und bildeten rotglühende Lachen auf dem Boden, die sich rasch vergrößerten. Auch Razamon und Gurankor nahmen die Wand unter Feuer. In wenigen Minuten schufen sie so ein genügend großes Loch, durch das selbst der hünenhafte Balduur hindurch­schlüpfen konnte.

»Wo mögen wir gelandet sein?« fragte Pona.

Bulzerdon zuckte hilflos mit den Schul­tern. Er kannte sich als einziger in der Grup­pe auf Damaukaaner aus, aber er hatte in den letzten Minuten alles andere zu tun ge­habt, als sich um die Flugrichtung der Spac­cah zu kümmern.

»Irgendeine«, sagte er ratlos. Er war sicher, daß die Spaccah nicht auf

festem Boden gelandet war. Irgendwie wuß­ten die Eripäer, die auf diesem Planeten ge­boren und aufgewachsen waren, ob sie auf einer Gillmader-Wolke standen oder auf der eigentlichen Kruste des Planeten. Der Boden fühlte sich auf einer Wolke anders an, man ging anders – es ließ sich nicht beschreiben, war aber unverkennbar.

Das Feuer war eingestellt worden. Die Außenluft hatte nun die Aufgabe, die glüh­heißen Ränder des Loches zu kühlen, bis man durch die Öffnung schlüpfen konnte, ohne sich dabei Brandwunden einzuhandeln. Bulzerdon schnupperte, aber er konnte noch keinen charakteristischen Geruch herausfin­den. Irgendwie – auch dies ein Geheimnis, mit dem nur Eingeborene umzugehen ver­standen – rochen alle Wolken anders. Jede hatte einen eigenen, unverkennbaren Ge­ruch. Einige Wolken – die seiner Freunde beispielsweise hätte Bulzerdon mit verbun­denen Augen erkennen können, allein am Geruch.

Und was da von draußen hereinwehte …? Irgendwie kam der Geruch Bulzerdon

vertraut vor. »Ich gehe voran«, entschied Balduur. Bulzerdon glaubte es zischen hören zu

können, als der Barbar durch die Öffnung

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schlüpfte, so heiß waren die Ränder noch immer. Obendrein waren im Feuer der Strahlwaffen Blasen entstanden, die später geplatzt waren und nun rasiermesserscharfe Kanten und Zacken aufzuweisen hatten. Ein Wunder, daß sich der Barbar nicht die Hän­de bis auf die Knochen aufriß, als er ge­wandt durch die Öffnung turnte.

Wie nicht anders zu erwarten, übernah­men es die beiden Barbaren, das Gelände zu erkunden, nachdem die Gruppe die Öffnung in der Bordwand der Spaccah passiert hatte.

Bulzerdons Gefühl, daß er sich auf ver­trautem Boden bewegte, wurde immer stär­ker. Da war dieser Geruch, der ihm so unge­heuer bekannt vorkam, dieser ganz eigen­tümliche, undefinierbare Geruch …

»Hier scheint alles ruhig zu sein«, raunte Razamon.

Bereits im nächsten Augenblick wurde er eines Besseren belehrt. Von irgendwoher kam ein Stück Fels angeflogen, barst auf dem Boden der Wolke und zerplatzte in ei­nem Regen feiner, rasiermesserscharfer Splitter.

Bulzerdon zog sich sofort in sichere. Deckung zurück, das hieß, er versuchte, sich in der Nähe der Bordwand der Spaccah auf­zuhalten. Solange er das dicke Metall der Bordwand hinter sich wußte, fühlte er sich einigermaßen sicher.

Dann aber sah er, wie einige Krolocs durch die gleiche Öffnung krochen, die auch er benutzt hatte, und beinahe schlagartig nahm das Feuergefecht, das im Innern der Spaccah begonnen hatte, seinen Fortgang.

Die Gruppe hatte viel Arbeit damit, sich der Krolocs zu erwehren. Zudem wurde ganz offensichtlich der Angriff der eripäi­schen Flotte auf die Spaccah mit aller Erbit­terung fortgesetzt. Der Boden, auf dem Bul­zerdon stand, bebte, wann immer die Spac­cah getroffen wurde.

»Komm!« forderte Razamon den zaghaf­ten Künstler auf. »Dort bist du nicht in Si­cherheit.«

Ein Schuß, der in unmittelbarer Nähe Bul­zerdons einschlug, unterstrich den Wahr­

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heitsgehalt dieser Worte. Bulzerdon nahm die Beine in die Hand und lief hinter den Freunden her, die sich in einer raschen Flucht absetzten.

Wie die Gillmader-Wolke vor der Lan­dung der Spaccah einmal ausgesehen hatte, ließ sich jetzt nicht mehr feststellen. Nur ei­nes wurde Bulzerdon bereits nach kurzer Zeit klar: Sehr groß war diese Wolke nicht. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Einfamilien-Reihenwolke, wie auch er eine bewohnte. Der Raum zwischen der Bord­wand der Spaccah und dem Rand der Wolke war jedenfalls nicht sehr groß. Immerhin schien die Gefahr nicht mehr sehr groß zu sein, denn als Bulzerdon den Schlagschatten der Spaccah verlassen hatte, konnte er se­hen, daß die Luft erfüllt war von kämpfen­den Einheiten beider Flotten, und es sah ganz so aus, als wären die Eripäer in der Überzahl.

Immer wieder stießen Eripäerschiffe her­ab, nahmen für kurze Zeit die notgelandete Spaccah unter Feuer, die sich kaum noch wehren konnte, und zogen dann wieder hoch, um an der Luftschlacht teilnehmen zu können.

»Hinterher!« schrie Gurankor. Die Krolocs hatten es nun sehr eilig, ihre

hoffnungslos angeschlagene Spaccah zu ver­lassen. Immer neue Spinnenwesen erschie­nen auf der freien Fläche, die nach der Not­landung der Spaccah noch übriggeblieben war. Gegen diese Übermacht hatte die Grup­pe der Flüchtenden nichts aufzubieten. Die einzige Rettung bestand in einem schleuni­gen Absetzmanöver und hinhaltendem Wi­derstand – so lange, bis die Eripäerflotte die Lage in der Hand hatte.

Die Gruppe war hinter einer Felsnase in Deckung gegangen. Bulzerdon hetzte hinter den anderen her und warf sich hinter der Felsnase in Deckung. Einen Augenblick spä­ter wäre er beinahe aufgesprungen.

Die Felsnase war gar keine Felsnase. Die Felsnase war vielmehr eine Nase aus

Metall. Und eine solche Nase gab es nur auf Bulzerdons Wolke.

9.

Zufall (griech. tyche), das Eintreten uner­warteter, im Rahmen der gültigen Naturge­setze unvorhergesehener Ereignisse, beson­ders auch ihr unvorhergesehenes Zusam­mentreffen mit anderen Ereignissen. Im all­gemeinen ist das, was sich uns als Zufall darstellt, eine Verkettung von unbekannten oder ungenügend bekannten Ursachen und ebensolchen Wirkungen. Da aber jedes mit Bewußtsein begabte Lebewesen grundsätz­lich die Möglichkeit hat, in den Kausalnexus einzugreifen und das (verursachte) Gesche­hen in Richtung auf ein Ziel zu verändern oder zu lenken (s. Finalität), da ferner die Absichten des Nebenmenschen grundsätz­lich unerkennbar sind, wirken die Folgen der Ziele setzenden Spontaneität auf mich als Zufälle, denen ich ausgeliefert bin, wenn auch ein Standpunkt denkbar ist, von dem aus gesehen es keine Zufälle »gibt«; dies hauptsächlich in der Auffassung von der ab­soluten Gültigkeit der Kausalität im Welt­ganzen, wonach alle Geschehnisse im »Weltmechanismus« derart mit Notwendig­keit vorausbestimmt sind, daß »nichts ande­res hätte auftreten können«, daß alles und zufällig Erscheinende ebenfalls mit Notwen­digkeit geschieht. Besonders aufdringlich er­scheint im Leben das Problem des Zufalls, wenn dieser in der zufälligen Begegnung zweier Menschen erfahren wird, woraus sich manche zukunftsreiche Folgen ergeben. Man ist zu dem Glauben verführt, daß bei kleinen Abweichungen im vorausgegange­nen Verhalten des einen oder des anderen die Begegnung sicher nicht zustande gekom­men wäre. Andernfalls wird geglaubt, daß man im Zufall irgendwie doch sinnvoll zu­einander »geführt« worden sei.

(Philosophisches Wörterbuch)

*

»Oh nein!« stöhnte Bulzerdon auf. »Nicht doch, bei allen Lichtern des Himmels.«

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Er war völlig außer Fassung. Es konnte keinen Zweifel geben. Die

Spaccah war tatsächlich auf seiner Wolke gelandet. Die merkwürdigen Zacken am Bo­den, die unter dem Rumpf der Spaccah her­vorlugten – das waren die Reste von Bulzer­dons Behausung. Die Spaccah, fast so groß wie die gesamte Wolke, hatte das Gebäude bei ihrem Niedergang einfach plattgedrückt.

»Meine Wolke!« schluchzte Bulzerdon. »Meine Kunstwerke, meine unersetzlichen Schätze.«

Er war den Tränen nahe. Das Gesamtwerk seines Lebens war durch die Landung der Spaccah vernichtet worden. Plattgedrückt, zerquetscht, zerstört – der kostbare Abfall. Unersetzlicher Müll, mit einem Schlag der Unsterblichkeit als Kunstwerk entrissen, und neuerlich zum trivialen Dasein von Unrat verurteilt.

»Dies ist dein Heim?« fragte Pona ent­setzt.

Bulzerdon nickte unter Tränen. Er spürte in sich ein Gefühl aufsteigen, das er bislang nicht gekannt hatte.

»Und deine Familie?« »Pah«, machte Bulzerdon, begleitet von

einer wegwerfenden Geste. Eine Familie bekam er zur Not rasch wie­

der zusammen – aber keine neuen Kunst­werke. Obendrein war Bulzerdons Frau die intelligentere, realistischere Persönlichkeit in dieser Partnerschaft – wenn auch die Tat­sache, daß sie ausgerechnet Bulzerdon ge­heiratet hatte, dieser These eindeutig zu wi­dersprechen schien –, sie hatte sich garan­tiert längst in Sicherheit gebracht, desglei­chen die Kinder. Um sie war Bulzerdon nicht besorgt.

Er hob eine Waffe und feuerte auf die Krolocs, die gegen seine Deckung stürmten.

»Gesindel!« schrie er zornrot. »Banausenpack, Kunstschänder, Wolkenzer­störer!«

In blinder Wut feuerte er auf die Krolocs, und so groß war seine Erbitterung, daß er je­de Deckung vergaß, aufsprang und feuerte, immer wieder feuerte, und dazu brüllte er,

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was seine Lungen hergaben. Rasender Zorn erfüllte seine Künstlersee­

le. Er stürzte nach vorn, warf sich den Kro­locs entgegen, und die Wesen in ihren häßli­chen Anzügen schienen vor soviel sichtbarer Wut den Mut zu verlieren.

Jedenfalls stoben die Krolocs auseinander und suchten das Weite. Bulzerdon stieß einen triumphierenden Schrei aus und setzte den Fliehenden nach.

Er sah nicht, daß am Himmel eine drama­tische Wende eintrat. Die Flotte der Eripäer wurde überraschend von einer Armada der Krolocs attackiert, und diesem Angriff hat­ten die Eripäer vorläufig nichts entgegenzu­setzen. Die Zahl der Spaccahs, die am Him­mel kreisten, vergrößerte sich in jeder Minu­te.

All dies nahm Bulzerdon nicht wahr. Er sah nur, daß die große Spaccah sein

Haus zerstört hatte. Und er handelte nach dieser Erkenntnis. Bulzerdon brauchte, brül­lend und schießend wie besessen, eine halbe Minute, um einen der Eingänge zu errei­chen, der ins Innere der Wolke führte. Er war völlig außer Atem, als er das schwere Stahlschott erreichte.

»Langsam!« hörte er jemanden sagen. Als er sich erschöpft umdrehte, sah er Balduur neben sich stehen. Der Fremde war dem Künstler gefolgt. »Nicht so eilig, alter Freund!«

»Meine Familie!« brachte Bulzerdon schweratmend über die Lippen. »Ich muß zu meiner Familie.«

Er zerrte am Verschlußhebel des Ein­gangsschotts, aber seine Kräfte reichten nicht aus, den Widerstand zu überwinden.

»Laß mich das machen«, schlug Balduur vor.

Der Hüne brauchte nur einmal zuzugrei­fen, dann bewegte sich der Hebel. Es kreischte und ächzte, als er sich in seinem Gelenk drehte. Balduur ließ den Verschluß einrasten, dann zog er den Hebel auf sich zu. Das Schott schwang langsam auf, nach au­ßen.

Balduur stieß einen erschreckten Schrei

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aus, und aus dem Inneren von Bulzerdons Wolke erklangen Geräusche, die dem Künst­ler Schauer über den Rücken jagten. Es hör­te sich an, als lägen im Wolkeninnern die Furien aller Sternenhöllen miteinander im Kampf.

Balduurs Gesicht hatte sich verfärbt – schwarz, wie Bulzerdon entgeistert feststell­te. Und im nächsten Augenblick kam aus dem offenen Schott der nächste tintenge­tränkte Schwamm angeflogen, dem Balduur nur mit einem beachtlichen Satz ausweichen konnte. Dazu verstärkte sich das Heulen, Schreien und Keifen, das aus dem Schott drang.

»Heilige Kunst«, stöhnte Bulzerdon ent­setzt. »Was ist hier passiert?«

Ein braunes Etwas kam aus der Öffnung hervorgeschossen, fiepte und schlug eine große Zahl kleiner weißer Zähne in Bulzerd­ons Bein. Gleichzeitig schlugen ihm aus der Öffnung Geruchswolken entgegen, die jeder Beschreibung spotteten.

»Deine Familie?« ächzte Balduur, sicht­lich erschüttert.

Es konnte keinen Zweifel geben. Das im­mer noch fiepende Etwas, das seine nadel­scharfen Zähne nicht aus Bulzerdons Wade ließ, war Jurran, das Maskottchen der Bul­zerdon-Sippe, eine kinderliebe, haarige Kreatur ohne den geringsten Nutzwert. Bul­zerdon hatte von jeher den Standpunkt ver­treten, daß Tiere, die weder eßbar waren noch Eier legten, Wolle spendeten oder sich anderweitig als nützlich erwiesen, in seinem Haus nichts zu suchen hatten. Die Kinder und seine Frau waren da anderer Meinung gewesen und hatten gewonnen – wie Bulzer­don einmal mehr und überaus schmerzlich konstatieren mußte. Jurran liebte Kinder und haßte Bulzerdon. Er oder sie – um diesen Unterschied hatte sich Bulzerdon nicht ge­kümmert – verstärkte den Druck der Kiefer.

»Verschwindet!« konnte Bulzerdon eine Stimme hören, die er mit einiger Erschütte­rung als die seiner Frau identifizierte. Sie überschlug sich vor Aufregung und war kaum noch erkennbar. Dazu kam das infer­

nalische Heulen und Schreien der Kinder. Was die Kleinsten vor allem an Geräuschen von sich gaben, übertraf an entsetzlicher Wirkung noch die berühmte »Horror Sym­phonie« von Gib Kinap, die nur ein einziges Mal aufgeführt worden war, weil selbst der Komponist den grauenvollen Lärm dieses musikalischen Kunstwerkes nicht ertragen hatte und um seinen Verstand gekommen war.

»Verschwindet«, keifte Bulzerdons Weib mit einer Stimme, die nichts Menschliches mehr hatte. »Löst euch auf, ihr Bestien, Kunstschänder, Vandalen, Bilderstürmer!«

»Bist du sicher?« fragte Balduur und deu­tete auf die Öffnung. Zu sehen war dort einstweilen nichts, offenbar hatte Amyra die Beleuchtung ausgeschaltet. Erkennbar waren allerdings übelriechende Schwaden, die aus der Öffnung wehten und sich auf der Ober­fläche von Bulzerdons Wolke zu verbreiten begannen. Der Geruch war schlichtweg grauenerregend.

»Weib!« rief Bulzerdon zaghaft. »Amyra!«

»Bestie!« klang es zurück. »Widerliches Untier. Verschwindet. Mich bekommt ihr Bestien nicht, und meine Kinder auch nicht.«

»Ich bin es, Bulzerdon!« Bulzerdon überlegte, ob er sich dadurch

ausweisen sollte, daß er einige Kosenamen für sein Weib zitierte, aber er unterließ es, da er Balduur an seiner Seite wußte. Der Hüne machte ein grimmiges Gesicht.

»Ich gehe voran!« verkündete er ent­schlossen.

»Nein!« schrie Bulzerdon auf. Der Warnruf kam zu spät. Balduur mach­

te zwei Schritte, dann hatte ihn das Dunkel verschluckt. Danach war es sekundenlang still.

Bulzerdon schloß die Augen. Es schepperte und krachte, polterte und

donnerte, als ginge die Welt unter. Bulzer­don erkannte den Lärm wieder. Die Kinder hatten offenbar den halben Hausrat zusam­mengetragen und als Barrikade aufgebaut.

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Über dieses Hindernis war Balduur gestol­pert, und vermutlich lag der Barbar jetzt un­ter Schüsseln und Tiegeln, Töpfen, Pfannen und Auflaufformen begraben.

»Macht Licht, Kinder. Eine dieser Bestien haben wir!«

Bulzerdon holte tief Luft. »Wo ist Balduur?« In einem verzweifelten Ausfall hatte es

die Gruppe fertiggebracht, zu Bulzerdon hinüberzurennen. Razamon vor allem feuer­te pausenlos auf die immer heftiger angrei­fenden Krolocs. Noch gelang es, die Spin­nenwesen zurückzudrängen, die offenbar daran interessiert waren, Gefangene zu ma­chen. Sehr lange konnte dieser Widerstand allerdings nicht mehr dauern, die Übermacht der Spaccahs am Himmel wurde zusehends größer.

Bulzerdon deutete auf den Eingang. »Er macht gerade Bekanntschaft mit meiner Frau«, sagte er düster.

»Aha!« machte Razamon. Mit einem kur­zen Feuerstoß zerstörte er einen Kroloc-Roboter, der sich aus seiner Deckung ge­wagt hatte. Auf der Oberfläche von Bulzerd­ons Wolke entstand ein rotglühender Metall­faden. Fast schien es, als sei Bulzerdons Wolke das Zentrum der Schlacht geworden, so massiert tauchten die Spaccahs in diesem Himmelsgebiet auf.

»Amyra!« versuchte Bulzerdon noch ein­mal sein Weib anzurufen. Dann fiel ihm et­was ein.

»Wir ergeben uns!« rief er. »Wir bitten um Pardon!«

»Kommt einzeln«, erklang die energische Stimme von Amyra. »Mit erhobenen Hän­den und ohne Waffen. Und keine falsche Bewegung, unser Wachtier reißt euch in Stücke!«

Bulzerdon schielte auf Jurran. Der Schmerz der Bißwunde ließ langsam nach, aber das Tier lockerte den Griff seiner Kie­fer nicht. Die Drohung mit diesem Wachtier war zwar ein wenig überzogen, aber immer­hin wirksam.

»Tut, was sie sagt«, bat Bulzerdon. Er hob

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die Hände und betrat sein Heim. Amyra hatte in der Hand eine uralte Waf­

fe, die sie auf den Eingang gerichtet hatte. Die Kinder waren mit Wurfgeschossen aller Art ausgerüstet und sahen überaus kriege­risch drein. Bulzerdon konnte sich kaum vorstellen, daß dies seine Familie war.

»Da bin ich«, sagte er zaghaft. »Schießt nicht auf uns – wir kommen in friedlicher Absicht!«

Amyra sah ihn zweifelnd an, dann senkte sie die Waffe und lächelte.

»Bulzerdon«, rief sie erleichtert. Auf dem Boden lag, tintenverschmiert

und von Hausgerät förmlich begraben, Bal­duur und sah sich erstaunt um. Der Blick, mit dem er Amyra bedachte, verriet gehöri­gen Respekt.

»Nachdem sich dieses Mißverständnis ge­klärt hat«, ließ Gurankor vernehmen, »sollten wir uns wieder um die Krolocs kümmern.«

Razamon trat an die Öffnung der Wolke und spähte nach oben.

»Überflüssig«, sagte er bitter. »Die Kro­locs werden sich um uns kümmern.«

»Sieht es so ernst aus?« fragte Amyra. Razamon verzog das magere Gesicht. »Noch ernster«, sagte er hart. »Wir haben

praktisch keine Chance mehr, uns erfolg­reich gegen die Gefangennahme zur Wehr zu setzen – es sei denn, wir bringen uns selbst um.«

*

Die Pause nach diesen Worten des Barba­ren schien ewig zu dauern. Bulzerdon schwankte einmal mehr von einem extremen Gefühl zum anderen. Gerade noch war er unendlich erleichtert gewesen, wieder bei seiner Familie zu sein; jetzt quälte ihn die Furcht vor den nächsten Stunden. Oder wa­ren es nur Minuten?

Razamon stand am Eingang und sah hin­aus. In der rechten Hand hielt er seine Waf­fe, mit der er einen Schuß nach dem anderen abgab, und das in einem unglaublichen

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Tempo. Hinter ihm stand Balduur, der die Magazine auswechselte und sich bereithielt, an Razamons Stelle zu treten. Pona und Amyra versuchten die Kinder zu beruhigen, die seit Bulzerdons Rückkehr ihre kriegeri­schen Instinkte verloren hatten und nur noch Angst zeigten. Gurankor hatte die Hände zu Fäusten geballt und lief auf und ab, soweit die Enge der Höhle überhaupt eine Bewe­gung zuließ.

»Kein Flugzeug der Eripäer mehr zu se­hen«, kommentierte Razamon die Gescheh­nisse auf der Oberfläche.

Die Wolke zitterte und bebte. Bulzerdon wurde bleich. War auch seine Wolke zu dem Schicksal verurteilt, in der Lava des darun­terliegenden Vulkans zu verschwinden?

»Wenn kein Wunder geschieht …« Razamon hob die Waffe und gab einen

Feuerstoß ab. Sein Gesicht wirkte merkwür­dig ruhig dabei. Er sah gelassen aus, ge­fühlskalt oder nervenstark – das kam auf den Standpunkt an. Bulzerdon jedenfalls spürte plötzlich das Verlangen, von Razamon eine Skulptur zu gestalten.

Fast automatisch griff er neben sich. Er bekam einen Stift zu fassen, einen Zeichen­block, und sofort begann er Razamon zu skizzieren.

Mit einigen wenigen Strichen, rasch und gekonnt auf das Papier geworfen, zeichnete er den Eingang der Höhle, die rechteckige Öffnung des Schottes, und in diesem Rah­men die Gestalt des Mannes mit der Waffe. Im Hintergrund waren am Himmel Schwär­me von Spaccahs zu sehen.

Razamons Körperhaltung verriet auf merkwürdige Art Entspanntheit. Bulzerdon hatte Mühe, diese Haltung aufs Papier zu bringen.

»Muß das sein?« fragte Pona erstaunt. »Ausgerechnet jetzt?«

Bulzerdon winkte ab. Wann bekam ein Künstler schon einmal

ein solches Sujet geliefert? Er radierte, ver­besserte, radierte erneut. Ein künstlerischer Plan reifte in ihm. Man mußte versuchen, das alles realistisch einzufangen und zwar

auf allen künstlerischen Ebenen – also op­tisch, akustisch – in jeder nur denkbaren Be­ziehung.

»Sie kommen näher«, sagte Razamon ge­lassen. Er gab die leergeschossene Waffe an Balduur weiter und nahm eine geladene Waffe in Empfang, mit der er den Kampf sofort fortsetzte.

»Die Krolocs wissen sehr genau, nach wem sie suchen«, sagte Balduur. »Freunde, wir müssen eine Entscheidung treffen.«

Bulzerdon hörte nicht zu. Er war mit wichtigeren Dingen beschäftigt.

»Erledige du das«, sagte er gewohnheits­mäßig zu Amyra. Er selbst war in seine Skizzen vertieft.

Amyra preßte die Lippen aufeinander. Am Himmel – soweit er durch die Öff­

nung des Schottes sichtbar war – drängten sich die Spaccahs der Krolocs. Durch diese Reihen war keine Flucht möglich.

Wortlos reichte Razamon eine leerge­schossene Waffe an Balduur weiter. Mit der gleichen Ruhe nahm er eine neue Waffe an. Die Krolocs waren ganz offensichtlich daran interessiert, die Bewohner der Gillmader-Wol­ke lebend in ihre Hände zu bekommen. Ob­wohl die Krolocs eine gewaltige Übermacht aufzuweisen hatten, machten sie dem Kampf kein Ende. Razamon stand deutlich sichtbar am Eingang, und doch wurde er nicht be­schossen – jedenfalls waren keine Treffer unter den Schüssen.

»Sie hungern uns aus«, stellte Razamon fest. »Sie werden warten, bis wir keine Mu­nition mehr haben – dann werden sie kom­men. Und sie haben viel Zeit.«

Gurankor preßte die Lippen aufeinander. Der stillschweigende Vorwurf in Razamons Bemerkung traf ihn hart – daß die Krolocs sich Zeit lassen konnten bei der Belagerung von Bulzerdons Wolke war dem mangelhaf­ten Widerstand der Eripäer von Damaukaa­ner zuzuschreiben.

»Aha«, sagte Balduur plötzlich. Er deute­te auf eine Lücke in der Belagerungsfront der Krolocs. Das Loch war deutlich zu se­hen. Offenbar näherte sich ein wichtiges

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Schiff – vermutlich der Oberbefehlshaber der Kroloc-Flotten. So jedenfalls erklärte sich Razamon die Tatsache, daß die Spac­cahs zur Seite rückten und dem herannahen­den Schiff Platz machten. Wie dieses Schiff aussah, ließ sich vorerst nicht feststellen. Es kam unmittelbar aus der Sonne, so schien es, und war nur als leuchtender Schemen vor leuchtendem Hintergrund zu sehen.

»Alle Teufel«, entfuhr es Razamon Se­kunden später.

Die Krolocs machten mitnichten Platz für das näherkommende Schiff. Sie wollten nicht höflich sein – ihnen blieb offenbar nichts anders übrig, als auszuweichen.

»Was ist das?« fragte Gurankor mit stei­gender Verwunderung.

»Ich weiß es nicht«, flüsterte Razamon. Er leckte sich die Lippen. »Vielleicht ein Wunder.«

Daß das geheimnisvolle Schiff näherkam, war an der Reaktion der Spaccahs zu erken­nen. Von dem Schiff selbst konnten die Be­lagerten noch immer nicht das geringste se­hen.

»Es muß leuchten wie die Sonne«, mur­melte Pona beeindruckt.

Erst als das Schiff zum Greifen nahe schi­en, wurde es deutlich sichtbar.

Gurankor seufzte leise, und Pona preßte die Hand vor den Mund. Das Schiff, das langsam, majestätisch auf Bulzerdons Wol­ke herabsank, war das schönste Gebilde, das die beiden Eripäer jemals gesehen hatten. Bulzerdon sah zufällig hoch, sprang auf und blieb mit offenem Mund stehen. Das Schiff glich – grob betrachtet – einem riesenhaften Insektoiden und glänzte in einem strahlen­den, warmen Goldton, der aus dem Schiff selbst heraus zu strahlen schien. Niemals zu­vor hatte Bulzerdon Ähnliches gesehen, und er wußte auch im gleichen Augenblick, daß er niemals wieder etwas Vergleichbares würde sehen dürfen.

Ohne an die Krolocs zu denken, die sich auf seiner Wolke herumtrieben, taumelte Bulzerdon, vom Anblick des herabschwe­benden Schiffes geblendet, nach vorn.

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»Wundervoll«, murmelte er wie be­rauscht. »Herrlich. Absolut einmalig!«

Wie ein Schwarm wütender Insekten um­schwärmten die Krolocs das Schiff, ohne aber durch ihre Schüsse mehr ausrichten zu können, als ein verstärktes Strahlen des ge­samten geheimnisvollen Körpers. Keiner der Schüsse schien dem Schiff aus Gold etwas anhaben zu können. Es schien unüberwind­lich, ein Sendbote aus einer Welt, die weit entfernt war – in jeder nur denkbaren Hin­sicht.

Bulzerdon verharrte am Eingang seiner Höhle und staunte. Er kam erst wieder zu sich, als das Schiff zum Stillstand kam. Eine Handbreit schwebte es über dem Boden von Bulzerdons Wolke, und eine Luke öffnete sich, und dann hörte Bulzerdon eine Stimme rufen.

»Razamon, Balduur?« Bulzerdon sah aus den Augenwinkeln

heraus, wie den beiden die Kiefer herabsan­ken.

»Atlan!« schrie Razamon auf. »Bei allen Sternenteufeln, Atlan!«

»Beeilt euch«, rief die Stimme. »Ihr habt nicht viel Zeit!«

»Wir kommen«, schrie Razamon begei­stert. »Warte, wir kommen!«

Immer wieder beschossen die Krolocs das goldene Gefährt, aber sie erreichten nichts. Das Schiff war sicher unter seinen geheim­nisvollen Schirmfeldern. Bulzerdon verstand von diesen Dingen nicht viel, aber er ver­stand etwas von Kunst, von Schönheit und Größe, und er wußte, daß dieses Schiff das größte, schönste, erhabenste Kunstwerk war, das jemals von einem Eripäer gesehen wor­den war. Daß dieses Kunstwerk flog, Men­schen beherbergte, interessierte Bulzerdon nicht.

»Bulzerdon«, rief Gurankor. »Wach auf.« Verträumt schüttelte der Künstler den

Kopf. Warum aufwachen, wenn der Traum so schön war? Schmerzlich wurde Bulzer­don bewußt, daß er selbst in seiner Glanzzeit nichts geschaffen hatte, was sich auch nur annähernd mit diesem Gebilde vergleichen

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ließ. »Können wir Gäste mitbringen?« rief Bal­

duur zum Schiff hinüber. »Selbstverständlich«, lautete die knappe

Antwort. Pona hatte sich zwei von Bulzerdons Kin­

dern unter die Arme geklemmt, die anderen zerrte Amyra hinter sich her.

»Bulzerdon«, rief die Frau. »Wach auf und komm mit, sonst lassen wir dich hier zurück!«

Der Gedanke, diesen Anblick nicht länger genießen zu dürfen, schreckte Bulzerdon auf. Er schüttelte den Kopf, zwinkerte.

Dann begann er zu laufen, auf das golde­ne Schiff zu.

*

»Die Gefahr wird immer größer!« Thalia zerknüllte die Berichte und warf

die Knäuel auf den Boden. Die Nachrichten der letzten Tage und Stunden waren alles andere als Freudenbotschaften.

Von den beiden Vermißten war keine Spur zu finden.

»Neue Meldungen von den Posten!« Der Dello drückte Thalia ein Bündel in die Hand.

Rasch überflog die Frau die Nachrichten. Die Informationen besagten nichts Gutes.

Im Gegenteil. Die Invasion stand unmittel­bar bevor.

Thalia ließ den Korsallophur-Stau seit ei­niger Zeit überwachen, soweit ihre be­schränkten Mittel das zuließen. Außerhalb des Wölbmantels patrouillierten Zugor-Verbände, mit zuverlässigen Dellos besetzt. Sie behielten den Korsallophur-Stau ständig im Auge.

Was sich jetzt abzeichnete, war eindeutig. Die Krolocs verstärkten ihre Verbände.

Aus allen Richtungen kamen die typischen

scheibenförmigen Fluggeräte der Krolocs angeflogen, ballten sich zusammen, verei­nigten sich zu Flottillen und Flotten. Mit je­der Stunde wuchs die Gefahr. Schon jetzt waren die Krolocs allem, was Thalia zum Schutz von Pthor aufbieten konnte, weit überlegen. Vielleicht wußten die Krolocs das nicht, vielleicht warteten sie aus diesem Grund noch, bevor sie den entscheidenden Schlag ausführten.

Was konnte Pthor, was konnte Thalia dem entgegensetzen?

Die Frau hatte getan, was in ihrer Macht gestanden hatte. Alle Verbündeten waren in­formiert, alarmiert, standen bereit. Die Ma­gier wollten ihre Fähigkeiten einsetzen, um Pthor vor der Eroberung zu bewahren, aber ob ihre Hilfe genügte?

Thalia wußte keine Antwort auf diese Fra­ge.

Sie hatte Heimdall benachrichtigt und Si­gurd informiert. Auch ihre beiden Brüder waren kampfbereit.

Ganz Atlantis stand abwehrbereit, war wie erstarrt in der Erwartung der großen Kroloc-Offensive.

Nur einer fehlte. Der Mann, der an der Spitze der vereinig­

ten Heere zu kämpfen hatte, der sich König von Atlantis nannte. Dieser Mann fehlte und war nicht aufzufinden.

In der Stunde der höchsten Not mußte At­lantis ohne seinen König auskommen.

Niemand wußte, wo er war, was aus ihm geworden war.

»Atlan!« flüsterte Thalia. Es klang wie eine Beschwörung.

ENDE

E N D E