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Die wundersame Geschichte von September, die unter das Feenland fiel und mit den Schatten tanzte Bearbeitet von Sylke Hachmeister, Catherynne M. Valente, Ana Juan 1. Auflage 2014. Buch. 352 S. Hardcover ISBN 978 3 499 21633 6 Format (B x L): 15 x 22 cm schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

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Die wundersame Geschichte von September, die unter das Feenlandfiel und mit den Schatten tanzte

Bearbeitet vonSylke Hachmeister, Catherynne M. Valente, Ana Juan

1. Auflage 2014. Buch. 352 S. HardcoverISBN 978 3 499 21633 6

Format (B x L): 15 x 22 cm

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

als 8 Millionen Produkte.

Leseprobe aus:

Catherynne M. Valente

Die wundersame Geschichte vonSeptember, die unter das Feenland fiel und

mit den Schatten tanzte

Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de.

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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von Catherynne M. ValenteRowohlt Taschenbuch Verlag

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��Deutsche Erstausgabe

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag,Reinbek bei Hamburg, September 2014Copyright für die deutsche Übersetzung

© 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei HamburgLektorat Christiane Steen

Die englische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel«The Girl Who Fell Beneath Fairyland and Led the Revels There»

bei Feiwel and Friends/Macmillan, New YorkCopyright © 2012 by Catherynne M. Valente

Published in agreement with the author,c/o Baror International, Inc., Armonk, New York, U.S.A.

Gesetzt aus der Monotype Bembo bei Dörlemann Satz, LemfördeDruck und Bindung CPI books GmbH, Leck

Printed in GermanyISBN 978 3 499 21633 6

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��Für alle, die einem Mädchen

mit seltsamem Namen

und ihrer fliegenden Bibliothek

eine Chance gegeben haben.

Lasst das Fest beginnen!

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Personen

��September

Ihre Mutter

Ihr Vater

Taiga, eine Hreinn

Runkel, ein Hreinn

Klaas Krosskrabbe, ein Feenkönig

Schräg, eine Sibylle

A-bis-L, ein Bibliowurm

Halloween, Königin des Unterfeenlandes

Die Vizekönigin von Kaffee

Der Herzog von Teestunde

Ihre Kinder: Darjeeling

Kona

Matcha

Caracoli

Der Kleinste Graf

Samstag, ein Marid

Grips, eine Krähe

Fleiss, seine Schwester, ebenfalls Krähe

Glaswurz Grimm, ein Kobold

Das Wachsame Kleid, ein nützliches Werkzeug

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��Aubergine, ein Nachtdodo

Bertram, der Weinende Aal

Schimmer, eine Papierlaterne

Der Alleenmann, ein Lutin

Avogadra, eine Monaciello

Nhet, ein Järlhopp

Der Zwiebelmann

Der Haferspringer, ein Kelpie

Belinda Kraut, eine Feenphysikerin

Maud, ein Schatten

Iago, der Panther der rauen Stürme

Links, eine Minotaura

Prinz Myrrhe, ein Junge

Nick, ein traumfressender Tapir

Der Silberwind, ein folgender Wind

Der Schwarze Wind, ein grimmiger Wind

Der rote Wind, ein Kriegswind

Der Grüne Wind, eine steife Brise

Cymbeline, der Tiger der wilden Böen

Banquo, der Luchs der sanften Schauer

Imogen, die Leopardin der leichten Lüfte

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� BÜHNENABGANG MIT EINEM RUDERBOOT �

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k a p i t e l i

BÜHNENABGANGMIT EINEM RUDERBOOT,VERFOLGT V ON KRÄHEN

Worin ein Mädchen namens September ein Geheimnis bewahrt,

eine schwierige Zeit in der Schule hat, dreizehn Jahre alt wird

und schließlich beinahe von einem Ruderboot über-

fahren wird, wodurch sie den Weg ins Feenland findet

Es war einmal ein Mädchen namens September, das einGeheimnis hatte.

Geheimnisse sind heikle Dinger. Sie können uns mit Süßeerfüllen, sodass wir uns fühlen wie eine Katze, wenn sieeinen dicken, fetten Spatz erbeutet hat, ohne sich bei der

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Jagd auch nur einen Kratzer zu holen. Aber sie können auchin uns stecken bleiben und aus unseren Knochen langsameine bittere Suppe kochen. Dann hat das Geheimnis uns undnicht andersrum. So können wir froh sein, dass Septemberihr Geheimnis im Griff hatte und es bei sich trug wie einPaar prächtiger Handschuhe, die sie, wenn ihr kalt war,herausnehmen und anziehen konnte, um sich an die Wärmevergangener Tage zu erinnern.

Und dies war Septembers Geheimnis: Sie war im Feen-land gewesen.

Das ist im Lauf der Weltgeschichte schon anderen Kin-dern passiert. Es gibt viele Bücher darüber, und die werdenschon so lange von kleinen Jungen und Mädchen gelesen,die Holzschwerter schnitzen, Zentauren aus Papier bastelnund darauf warten, dass sie an der Reihe sind. Für Septemberhatte das Warten im letzten Frühjahr ein Ende gehabt. Siehatte gegen eine böse Königin gekämpft und ein ganzes Landvor deren Grausamkeit gerettet. Sie hatte Freunde gefunden,die witzig, mutig und klug waren: einen Lindwurm, einenMarid und eine sprechende Laterne.

Leider steht in den Büchern über solche verwegenenAbenteuer nur selten, wie man sich nach der Heimkehr zuverhalten hat. September hatte sich grundlegend gewandelt –von einem Mädchen, das sich verzweifelt gewünscht hatte,es möge so etwas wirklich geben, zu einem Mädchen, dasdavon wusste. Eine solche Veränderung ist etwas anderes alsein neuer Haarschnitt – eher schon so etwas wie ein neuerKopf.

Es machte Septembers Schulalltag nicht gerade leichter.War sie früher bloß auf stille Weise merkwürdig gewesen,

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wenn sie während der Mathestunde aus dem Fenster ge-schaut und in Gemeinschaftskunde unter dem Tisch großebunte Bücher gelesen hatte, so nahmen die anderen Kinderjetzt etwas Wildes und Fremdes an ihr wahr. Die Mädchenin ihrer Klasse hätten nicht sagen können, was sie an Septem-ber so störte. Hätte man sie dazu befragt, hätten sie allenfallsgesagt: «Sie ist nicht wie wir.»

Und so luden sie September nicht zu ihren Geburtstags-partys ein und fragten sie nicht, was sie in den Sommerferiengemacht hatte. Sie nahmen ihr die Bücher weg und erzähl-ten den Lehrern Lügengeschichten über sie. «September hatbei den Rechenaufgaben geschummelt», verrieten sie ihnen.«September liest während der Sportstunde hässliche alteBücher. September verschwindet mit Jungs hinter dem Che-miegebäude.» Sie kicherten hinter ihrem Rücken und ließendamit Dornenhecken um ihre Grüppchen aus Spitzenklei-dern und mit Schleifen gebändigten Locken wachsen. In-mitten der Hecken standen sie und flüsterten, und Septem-ber stand immer davor.

Nichtsdestotrotz behielt September ihr Geheimnis fürsich. Wenn sie sich einsam fühlte und fror, holte sie es herausund blies darauf wie auf ein glimmendes Stück Holz, bises sie mit seiner Glut erfüllte: A-bis-L, ihr Bibliowurm, derSamstag zum Lachen brachte, wenn er an seiner blauenWange schnupperte, und der Grüne Wind, der mit seinensmaragdgrünen Schneeschuhen durch den Weizen stapfte.Sie alle warteten darauf, dass September zurückkam, und daswürde sie auch tun – bald, schrecklich bald, jeden Augen-blick konnte es so weit sein. So ähnlich musste es ihrer TanteMargaret gegangen sein, die nie ganz dieselbe war, wenn sie

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von einer ihrer Reisen zurückkehrte. Dann erzählte sie langeGeschichten von Paris und Seidenhosen, roten Akkordeonsund Bulldoggen, und niemand verstand sie so ganz. Dochalle hörten höflich zu, bis sie allmählich verstummte und ausdem Fenster schaute, als könnte sie dort die Seine sehen undnicht Kornfelder über Kornfelder. Jetzt verstand Septemberihre Tante und nahm sich vor, besonders nett zu ihr zu sein,wenn sie das nächste Mal kam.

Abend für Abend erledigte September ihre Pflichten. Siewusch die gelb-rosa Teetassen ab, die sie immer abgewaschenhatte, kümmerte sich um den zunehmend besorgten klei-nen Hund, um den sie sich immer gekümmert hatte, undlauschte dem großen Radio aus Walnussholz, um Nachrich-ten über den Krieg zu hören, über ihren Vater. Das Radiostand so riesig in ihrem Wohnzimmer wie eine schreck-liche Tür, die jeden Moment aufgehen und schlechte Nach-richten hereinlassen könnte. Jeden Tag, wenn die Sonne aufder weiten gelben Prärie unterging, hielt September am Ho-rizont nach einem grünen Schimmer Ausschau, einem ge-fleckten Pelz, der durch das Gras huschte, lauschte auf eingewisses Lachen oder Schnurren. Doch der Herbst verteilteseine Tage wie ein goldenes Kartenspiel, und niemand kam.

Ihre Mutter musste sonntags nicht in der Flugzeugfabrikarbeiten, und deshalb verliebte September sich in die Sonn-tage. Sie saßen dann gemütlich am Feuer beisammen und la-sen, während der Hund an ihren Schnürsenkeln zerrte, oderihre Mutter zwängte sich unter Mr. Alberts erbärmlichen al-ten Ford und schlug von unten dagegen, bis September denZündschlüssel herumdrehen konnte und er sich noch ein-mal knatternd zum Leben erwecken ließ. Vor gar nicht so

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langer Zeit hatte ihre Mutter ihr noch Bücher über Feen,Soldaten oder Pioniere vorgelesen, doch jetzt lasen sie ein-trächtig zusammen, jede ihr eigenes Buch oder ihre Zei-tung, genau wie die Mutter es früher, vor dem Krieg, mitihrem Vater gemacht hatte. Die Sonntage waren die bestenTage, wenn die Sonne nicht untergehen wollte und Septem-ber unter dem strahlenden Lächeln ihrer Mutter aufblühte.Sonntags tat ihr nichts weh. Da vermisste sie den Ort nicht,den sie keinem Erwachsenen je beschreiben konnte. Dawünschte sie nicht, ihr kleines Abendessen mit der kärg-lichen Portion Dosenfleisch wäre ein magisches Festessenmit Süßigkeiten, mit geröstetem Backobst und lila Melonenvoller Regenwasserwein.

Sonntags dachte sie fast gar nicht ans Feenland.Manchmal erwog sie, ihrer Mutter alles zu erzählen, was

passiert war. Manchmal brannte sie drauf, es zu erzählen.Aber eine ältere, weisere Stimme in ihrem Inneren sagte: Esgibt Dinge, die im Verborgenen bewahrt werden wollen. Wenn siees aussprach, so fürchtete sie, würde alles verschwinden, dannwäre es nie gewesen, es würde davonwehen wie die Sameneiner Pusteblume. Wenn nun nichts davon wahr gewesenwar? Wenn alles nur ein Traum gewesen war oder, schlimmernoch, wenn sie den Verstand verloren hatte wie der Cousinihres Vaters in Iowa City? Beides war zu schlimm, um es sichauszumalen, und doch malte sie es sich aus.

Immer wenn diese dunklen Gedanken kamen – dass sienur ein dummes Mädchen war, das zu viele Bücher gelesenhatte, oder dass sie verrückt sein könnte –, schaute Septem-ber hinter sich und erschauerte. Denn sie hatte einen Beweisdafür, dass alles wirklich passiert war. Sie hatte im Feenland

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ihren Schatten verloren, auf einem fernen Fluss, in der Näheeiner fernen Stadt. Sie hatte etwas Großes, Wahrhaftiges ver-loren und konnte es nicht zurückbekommen. Und falls ein-mal jemandem auffiel, dass sie keinen Schatten vor sich oderhinter sich warf, dann würde sie es erzählen müssen. Dochsolange ihr Geheimnis geheim blieb, hatte sie das Gefühl,alles ertragen zu können – die Mädchen in der Schule, dielangen Schichten ihrer Mutter, die Abwesenheit ihres Va-ters. Sogar das große Radio konnte sie ertragen, das vor sichhin knisterte wie ein endloses Feuer.

Fast ein Jahr war vergangen, seit September aus dem Feen-land zurückgekehrt war. Da sie praktisch veranlagt war,interessierte sie sich seit ihren Heldentaten auf der anderenSeite der Welt für Mythologie und lernte alles über Feen,alte Götter, Erbmonarchen und andere magische Gestalten.Nach allem, was sie herausfand, schien ein Jahr genau dierichtige Zeitspanne zu sein. Eine volle Umrundung derSonne. Sicher würde der Grüne Wind ganz bald lachendund hüpfend über den Himmel angesegelt kommen. Undda die Marquess besiegt war und die Schleusen ins Feenlandoffen standen, musste September diesmal keine schreck-lichen Taten vollbringen, keine Mutproben bestehen, danngab es nur Spaß und Freude und Brombeerquark.

Doch der Grüne Wind kam nicht.Als der Frühling sich dem Ende neigte, begann Septem-

ber sich ernsthafte Sorgen zu machen. Im Feenland ticktendie Uhren anders – wenn sie nun achtzig wurde, ehe dortein Jahr um war? Wenn der Grüne Wind kam und eine alteDame antraf, die über ihre Gicht jammerte? September

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würde natürlich trotzdem mitkommen – sie würde nicht zö-gern, ob sie nun achtzehn oder achtzig war! Aber für alteFrauen war das Leben im Feenland nicht ungefährlich, zumBeispiel könnten sie sich bei einem wilden Ritt auf demVeloziped die Hüfte brechen, oder womöglich hörten alleauf ihr Kommando, bloß weil sie Falten hatten. Letztereswäre gar nicht so übel – vielleicht könnte September eineherrlich hutzlige alte Hexe sein und Hexenkichern lernen.Dazu hatte sie bestimmt Talent. Aber es war noch so langebis dahin! Selbst der kleine Hund mit dem traurigen Gesichtsah sie schon scharf an, als wollte er sagen: Musst du nicht lang-sam mal los?

Oder, noch schlimmer, wenn der Grüne Wind sie nunvergessen hatte? Oder wenn er ein anderes Mädchen gefun-den hatte, das genauso gut wie September das Böse bekämp-fen und kluge Sachen sagen konnte? Wenn alle im Feenlandnur höflich geknickst und sich dann wieder ihren Angele-genheiten zugewandt hatten und keiner mehr einen Gedan-ken an ihre kleine Menschenfreundin verschwendete? Wennnun niemand mehr kam, um sie zu holen?

September wurde dreizehn. Sie dachte nicht einmal dar-an, jemanden zu einer Party einzuladen. Doch ihre Mutterschenkte ihr einen Stapel Lebensmittelmarken mit einembraunen Samtband drum herum. Sie hatte sie monatelangzusammengespart. Butter, Zucker, Salz, Mehl! Und im La-den gab Mrs. Browman ihnen als Krönung noch ein kleinesPäckchen Kakao. September und ihre Mutter backten denKuchen gemeinsam in der Küche, und der verrückte kleineHund sprang ihnen um die Beine, um am Holzlöffel zuschlecken. In dem Kuchen war so wenig Schokolade, dass er

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die Farbe von Staub hatte, aber September fand ihn köstlich.Hinterher schauten sie im Kino einen Film über Spione.September bekam eine ganze Tüte Popcorn für sich alleinund dazu noch Sahnebonbons. Das alles war so überwäl-tigend, dass ihr schwindlig wurde. Es war fast so gut wieein Sonntag, zumal sie drei neue Bücher bekommen hatte,die extra in grünem Papier verpackt waren, eins davon aufFranzösisch, und das war den ganzen Weg von einem Dorfgekommen, das ihr Vater befreit hatte. (Wir können davonausgehen, dass Septembers Vater bei der Befreiung Hilfehatte, aber für September hatte er es ganz allein getan. Viel-leicht mit vorgehaltenem Schwert auf einem prächtigenschwarzen Ross. Manchmal fand September es sehr schwer,an den Krieg ihres Vaters zu denken, ohne gleichzeitig anihren eigenen zu denken.) Natürlich konnte sie das Buchnicht lesen, aber auf die Umschlagseite hatte er geschrieben:«Wir sehen uns sicher bald, mein Mädchen.» Und dadurchwurde es das großartigste Buch, das je geschrieben wordenwar. Es waren auch Illustrationen darin – auf einer saß einMädchen im Alter von September auf dem Mond undstreckte die Hände nach den Sternen aus. Auf einer anderenstand sie auf einem hohen Mondberg und sprach zu einemkomischen roten Hut mit zwei langen Federn daran, derfrech neben ihr herschwebte. Den ganzen Weg zum Kinowar September in das Buch vertieft, versuchte die merkwür-digen Wörter auszusprechen und zu erraten, wovon die Ge-schichte handelte.

Sie verputzten den staubfarbenen Geburtstagskuchen,und Septembers Mutter setzte einen Kessel mit Wasser auf.Der Hund stürzte sich auf einen herrlichen Markknochen.

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September nahm ihre neuen Bücher und ging hinaus auf dieFelder, um der hereinbrechenden Dämmerung zuzuschauenund nachzudenken. Als sie zur Hintertür hinausging,hörte sie das brabbelnde, knisternde Radio, die knackendenatmosphärischen Störungen, die ihr folgten wie ein grauerSchatten.

September legte sich ins lange Maigras. Durch die grün-goldenen Kornhalme schaute sie nach oben. Der Himmelglühte tiefblau und rosa, und ein kleiner gelber Stern gingwie eine Glühlampe an dem lauen Abend auf. Das ist dieVenus, dachte September. Die Göttin der Liebe. Es ist schön,dass die Liebe sich am Abend als Erste zeigt und am Morgenals Letzte geht. Die Liebe lässt die ganze Nacht das Licht an. Werdie Idee hatte, diesen Stern Venus zu nennen, müsste eine 1 be-kommen.

Wir sollten September verzeihen, dass sie das Geräuschzunächst überhörte. Ausnahmsweise einmal hatte sie nichtauf merkwürdige Geräusche oder Zeichen geachtet. Siehatte überhaupt nicht an das Feenland gedacht, sondern anein Mädchen, das mit einem roten Hut sprach, und was daswohl zu bedeuten hatte und wie wundervoll es war, dassihr Vater ein ganzes Dorf befreit hatte. Und außerdem istRascheln kein besonders ungewöhnliches Geräusch, wennman in einem Weizenfeld und wildem Gras liegt. Sie hörtees, und eine kleine Brise ließ die Blätter ihrer Geburtstags-bücher flattern, doch sie schaute erst auf, als das Ruderbootrasend schnell auf den Spitzen der Ähren über ihrem Kopffuhr, als wären es Wellen.

September sprang auf und sah zwei kleine Gestalten ineinem schwarzen Bötchen, das mit wild wirbelnden Rudern

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über die Felder sauste. Eine der Gestalten trug einen breitenHut, schwarz glänzend wie ein Fischerhut. Die andere fuhrmit einer langen silbernen Hand über die pelzigen Köpfe destrockenen Korns. Der Arm blitzte metallisch, das glänzendeschlanke Handgelenk einer Frau, eine Hand mit eisernenFingernägeln. Die Gesichter der beiden konnte Septembernicht erkennen – bis auf den Arm war die Frau von dembreiten, vorgebeugten Rücken des Mannes verdeckt.

«Wartet!», rief September und rannte, so schnell siekonnte, hinter dem Boot her. Es musste aus dem Feenlandkommen, und jetzt entfernte es sich mit den beiden darin.«Wartet, ich bin hier!»

«Halt lieber Ausschau nach dem Alleenmann!», rief derMann mit dem schwarzen Regenmantel über die Schulterzurück. Sein Gesicht lag im Schatten, doch die Stimme kamihr vertraut vor, ein gebrochenes Krächzen, das sie beinaheerkannte. «Der Alleenmann kommt mit seinem Lumpenkar-ren und seinem Knochenwagen, er hat uns alle auf der Listestehen.»

«Wartet bitte!», rief September ihnen nach. Ihre Lungekrampfte sich zusammen. «Ich kann nicht so schnell!»

Doch sie ruderten nur noch schneller über die Felder, unddie Nacht zeigte jetzt ihr ganzes Gesicht. Oh, ich kann sienicht einholen, dachte September verzweifelt, und ihr Herzschnürte sich zusammen. Denn obgleich Kinder, wie wirschon sagten, alle herzlos sind, so trifft das auf halbwüchsigeHerzen nicht ganz zu. Diese Herzen sind rau und neu,schnell und wild, und sie wissen nicht, wie stark sie sind.Ebenso wenig kennen sie Vernunft oder Beherrschung, undwenn ihr die Wahrheit wissen wollt: Ziemlich viele erwach-

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sene Herzen lernen das niemals. Und so können wir jetzt, imGegensatz zu früher, sagen, dass sich September das Herz zu-sammenschnürte, denn es hatte in ihr zu wachsen begonnenwie eine Blume im Dunkeln. Und wir können uns einenMoment Zeit nehmen, um sie zu bedauern, denn wenn manein Herz hat, führt das zu den eigenartigen Kümmernissender Großen.

September, deren junges, ungebildetes Herz sich vor Panikzusammenzog, rannte schneller. Sie hatte so lange gewartet,und jetzt entkamen sie ihr. Sie war zu klein und zu langsam.Wie sollte sie es ertragen, wie sollte sie es je ertragen, wennsie die Gelegenheit verpasste? Ihr Atem ging zu kurz und zuschnell, und sie spürte Tränen in den Augenwinkeln. Im Wei-terlaufen wischte sie sie weg und zertrat dabei altes Korn unddie eine oder andere blaue Blume.

«Hier bin ich!», schrie sie. «Ich bin’s! Wartet auf mich!»Die Silberfrau glitzerte in der Ferne. September strengte

sich so sehr an, sie zu sehen, sie einzuholen, schneller zu ren-nen, nur ein kleines bisschen schneller. Beugen wir unsnah zu ihr heran, zwicken wir sie in die Fersen und flüsternwir ihr ins Ohr: Na komm schon, Mädchen, das kannst dubesser, du schaffst das, reck die Arme noch ein Stückchenweiter!

Und da lief sie schneller, reckte sich noch mehr, sie liefdurchs Gras, und erst als sie stolperte und hinfiel, sah sie dieniedrige, moosbewachsene Mauer, die da plötzlich durchdas Feld verlief. Sie fiel mit dem Gesicht auf eine Wiese, dieso weiß war, als hätte es geschneit, doch die Wiese war kühlund roch herrlich süß, wie Zitroneneis.

Ihr Buch lag vergessen auf dem nun verlassenen Gras un-

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serer Welt. Ein plötzlicher Wind, der ganz entfernt nachGrünem roch, nach Minze, Rosmarin und frischem Heu,blätterte die Seiten hastig um, als wollte er möglichst schnellherausfinden, wie die Geschichte ausging.

Septembers Mutter trat aus dem Haus und hielt mit ver-weinten Augen nach ihrer Tochter Ausschau. Doch da warkein Mädchen mehr im Weizen, nur drei nagelneue Bücher,ein wenig Toffee, noch in Wachspapier eingewickelt, undzwei Krähen, die davonflogen und einem Ruderboot hin-terherkrächzten, das bereits verschwunden war.

Das Nussbaumradio hinter ihr knarzte und knackte.

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k a p i t e l i i

SCHATTEN IM WALDWorin September einen gläsernen Wald entdeckt,

sehr praktische Fähigkeiten einsetzt, einem ziemlich unfreund-

lichen Rentier begegnet und feststellt, dass im Feenland

irgendwas ganz furchtbar schiefläuft

September schaute von dem weißen Gras auf. Mit wack-ligen Beinen erhob sie sich und rieb die schmerzenden

Schienbeine. Die Grenze zwischen unserer Welt und demFeenland hatte sie diesmal reichlich unsanft begrüßt, unddas, wo sie doch allein unterwegs war, ohne grüngewande-ten Begleiter, der sie heil über alle Grenzübergänge brachte.September putzte sich die Nase und schaute, wo sie gelandetwar.

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Um sie herum erhob sich ein Wald. Die helle Nachmit-tagssonne schien hindurch und verwandelte jeden Zweig ingoldfunkelnde Prismen, denn all die hohen Bäume bestan-den aus verwachsenem, schwankendem Glas. Glaswurzelnstanden knorrig nach oben oder wuchsen in die schneebe-deckte Erde, gläserne Blätter wogten und klimperten gegen-einander wie winzige Schlittenglöckchen. Leuchtend rosaVögel flitzten hinein und schnappten mit ihren runden grü-nen Schnäbeln nach den gläsernen Beeren. Triumphierendträllerten sie mit tiefen Altstimmen etwas, das sich anhörtewie Habshabshabs und Dukomische! Dukomische! In was füreinem trostlosen, kalten und schönen Wald diese Vögel leb-ten! Wirres weißes Unterholz schlang sich um knorrige,feuerrote Eichen. Glastau zersplitterte auf den Blättern, undGlasmoos knackste unter Septembers Füßen. SilberblaueGlasblümchen reckten hier und dort ihre Köpfe aus Kreisenvon rotgoldenen Glaspilzen.

September lachte. Ich bin wieder da, oh, ich bin wieder da! Mitausgestreckten Armen wirbelte sie herum, dann schlug sieeine Hand vor den Mund – ihr Lachen hallte in dem gläser-nen Wald seltsam wider. Es klang nicht hässlich, eigentlichsogar ganz schön, wie wenn man in eine Muschel spricht.Oh, ich bin hier! Ich bin wirklich hier – das ist das allerbesteGeburtstagsgeschenk!

«Huhu, Feenland!», rief sie. Das Echo spritzte durch dieLuft wie leuchtende Farbe.

Dukomische! Dukomische!, antworteten die rosa-grünenVögel. Habshabshabs!

Wieder lachte September. Sie reckte sich nach einemniedrigen Zweig, auf dem ein Vogel saß und sie aus neugie-

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rigen Glasaugen beobachtete. Er reichte ihr einen schillern-den Fuß.

«Hallo, Vogel!», sagte sie fröhlich. «Ich bin wieder da, undalles ist noch genauso seltsam und wundervoll, wie ich es inErinnerung hatte! Wenn die Mädchen aus der Schule dashier sehen könnten, würde ihnen die Spucke wegbleiben,das sage ich dir. Kannst du sprechen? Kannst du mir alleserzählen, was passiert ist, seit ich fortgegangen bin? Ist jetztalles gut? Sind die Feen zurückgekommen? Gibt es jedenAbend Gesellschaftstänze und eine Kanne Kakao auf jedemTisch? Wenn du nicht sprechen kannst, ist es in Ordnung,aber wenn du es kannst, so sprich! Sprechen macht riesigenSpaß, wenn man gute Laune hat. Und ich hab gute Laune!Und wie, Vogel. Bessere Laune kann man gar nicht haben.»September lachte zum dritten Mal. Nachdem sie so lange fürsich gewesen war und ihre Geheimnisse still gehütet hatte,sprudelten die Worte aus ihr heraus wie kühler goldenerChampagner.

Aber da blieb ihr das Lachen im Hals stecken. Vielleichthätte niemand anders es so schnell sehen oder darüber so er-schrecken können, aber sie lebte selbst schon so lange damit.

Der Vogel hatte keinen Schatten.Er legte den Kopf schräg, und falls er sprechen konnte,

zog er es vor, den Schnabel zu halten. Er hüpfte davon, umzwei oder drei Glaswürmer zu jagen. September schauteüber die eisigen Wiesen, über die Hänge, auf die Pilze undBlumen. Ihr Magen drehte sich um und versteckte sich un-ter den Rippen.

Nichts hatte einen Schatten. Weder die Bäume noch dasGras, noch die anderen Vögel mit der schönen grünen

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Brust, die sie immer noch beobachteten und sich fragten,was los war.

Ein gläsernes Blatt fiel herab und segelte zu Boden, ohneeinen Schatten zu werfen.

Die niedrige kleine Mauer, über die September gestolpertwar, ging weiter, als sie in beide Richtungen schauen konnte.Aus jeder Ritze der dunklen Oberfläche ragte blassblauesMoos heraus wie unbändige Haare. Die tiefblauen Glas-steine glänzten. Sie waren von Adern aus weißem Kristalldurchzogen. Der Spiegelwald übergoss sie mit verdoppeltemund verdreifachtem Licht, kleinen Regenbögen und langenblutorangenen Strahlen. Mehrmals machte September dieAugen zu und wieder auf, nur um sich zu vergewissern, dasssie wirklich wieder im Feenland war, dass sie nicht nach demSturz bewusstlos gewesen war. Und noch ein letztes Mal,um sich zu vergewissern, dass es wirklich keine Schatten gab.Sie stieß einen langen Teekesselseufzer aus. Ihre Wangenglühten rosig wie die Vögel über ihr und die Blätter an denkleinen gläsernen Ahornbäumen.

Und obwohl sich die Ahnung, dass etwas nicht stimmte,im ganzen Wald ausbreitete, fühlte September sich dochvoll, warm und froh. Immer wieder strichen ihre Gedankenüber die wundervollen Worte wie über einen glatten, glän-zenden Stein: Ich bin hier, ich bin zu Hause, keiner hat mich ver-gessen, und ich bin noch nicht achtzig.

Plötzlich drehte sie sich um und suchte A-bis-L, Samstag,Schimmer und den Grünen Wind. Bestimmt hatten sieschon gehört, dass September wieder da war, und wollten sietreffen, mit einem großen Picknick, Neuigkeiten und altenWitzen. Doch bis auf die rosigen Vögel, die neugierig das

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laute Etwas anstarrten, das auf einmal Platz in ihrem Waldeinnahm, und ein paar längliche gelbe Wolken am Himmelwar sie allein.

«Tja», sagte September verlegen zu den Vögeln, «es wärewohl zu viel verlangt, dass alle meine Freunde sich hier wiezu einer Teegesellschaft versammelt hätten und auf michwarteten!» Ein großer Vogel pfiff und wackelte mit den präch-tigen Schwanzfedern. «Da hat es mich wohl in eine auf-regende abgelegene Provinz des Feenlandes verschlagen, undich muss meinen Weg ganz allein finden. Der Zug bringtuns eben nicht bis zur Haustür! Manchmal brauchen wireine freundliche Seele, die uns mitnimmt.» Ein kleinererVogel mit einem schwarzen Fleck auf der Brust guckte zwei-felnd.

September dachte daran, dass Pandämonium, die Haupt-stadt des Feenlandes, nicht an einem Ort blieb. Sie warmal hier und mal dort, damit jeder, der sie suchte, sie auchfinden konnte. September brauchte sich bloß aufzuführenwie eine Heldin, tapfer und treu auszusehen, stolz etwaszu schwingen, dann fand sie sich gewiss schon bald in einerder herrlichen Wannen des Golem-Mädchens Lug wie-der, das sie waschen und stadtfein machen würde. A-bis-Lwohnte bestimmt in Pandämonium, wo er glücklich für sei-nen Großvater arbeitete, die Stadtbibliothek vom Feenland.Samstag besuchte sicher jeden Sommer seine Großmutter,den Ozean, und war ansonsten genau wie September mitdem Großwerden beschäftigt. Darüber machte sie sich keineSorgen. Bald waren sie wieder zusammen. Dann würden sieherausfinden, was mit den Schatten des Waldes passiert war,und rechtzeitig zum Abendessen kriegten sie das wieder hin,

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genau wie Septembers Mutter Mr. Alberts ächzendes, keu-chendes Auto immer wieder hinkriegte.

Mit geradem Rücken machte September sich auf denWeg, ihr Geburtstagskleid kräuselte sich im Wind. Das Kleidhatte ihrer Mutter gehört, und die hatte es gnadenlos abge-näht und gesäumt, bis es September passte. Es war von einemschönen, hellen Rot, das man fast Orange nennen konnte,was September auch tat. Sie leuchtete regelrecht in dem blas-sen Wald aus Glas, eine kleine Flamme, die zwischen durch-sichtigen Baumstämmen über das weiße Gras lief. OhneSchatten schien das Licht überallhin zu gelangen. Der Wald-boden war so hell, dass September blinzeln musste. Doch alsdie Sonne wie ein scharlachrotes Gewicht am Himmel ver-sank, wurde es kalt im Wald, und die Bäume verloren ihreeindrucksvollen Farben. Während die Sterne und der Mondaufgingen, wurde die Welt um September herum silberblau,und sie lief tapfer und beherzt weiter, ohne jedoch nach Pan-dämonium zu gelangen.

Aber das Seifenmädchen hat die Marquess geliebt, dachte Sep-tember. Und die Marquess ist nicht mehr. Ich habe gesehen, wie siein einen tiefen Schlaf fiel, der Panther der rauen Stürme hat sie fort-getragen. Vielleicht gibt es keine Wannen mehr, in denen der Mutgewaschen wird. Vielleicht gibt es auch Lug nicht mehr. Vielleichtist Pandämonium jetzt immer an ein und derselben Stelle. Werweiß, was im Feenland geschehen ist, während ich Algebra gelerntund die Sonntage am Kamin verbracht habe?

September schaute sich nach den rosafarbenen Vögelnum, die sie sehr gern hatte, weil sie ihr als Einzige Gesell-schaft leisteten, aber sie waren zu ihren Nestern geflogen.Sie lauschte angestrengt auf Eulen, doch kein Ruf durch-

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brach die Stille des Abends. Milchiges Mondlicht strömtedurch die gläsernen Eichen, Ulmen und Kiefern.

«Ich werde die Nacht wohl hier verbringen müssen.» Sep-tember seufzte und schauderte, denn ihr Geburtstagskleidwar für den Frühling gemacht und nicht für eine Übernach-tung auf kaltem Boden. Aber jetzt war sie älter als bei ihrerersten Ankunft an der Küste des Feenlandes und richtete sichklaglos auf die Nacht ein. Ein ebenmäßiges Grasfleckchen,von einem freundlichen Zaun aus gläsernen Birken umge-ben und von drei Seiten geschützt, erklärte sie zu ihrem Bett.Sie sammelte kleine Glasstöckchen und häufte sie aufeinan-der. Das zitronenduftige Gras darunter kratzte sie größten-teils weg. Blauschwarze Erde kam zum Vorschein, die frischund satt roch. September schälte gläserne Rinde ab undlehnte die gekräuselten Schalen so an die Stöcke, dass sieeine kleine Pyramide aus Glas bildeten. Sie drückte trocke-nes Gras hinein und war mit dem Ergebnis ganz zufrieden –wenn sie nur Streichhölzer gehabt hätte. September hattevon Cowboys und anderen interessanten Leuten gelesen, dieFeuer mit zwei Steinen machen konnten – wenngleich siebezweifelte, dass sie alle nötigen Informationen hatte. Den-noch suchte sie sich zwei glatte dunkle Steine, nicht aus Glas,sondern aus ehrlichem Gestein, und schlug sie fest aneinan-der. Es gab ein fürchterliches Geräusch wie ein knackenderKnochen, das durch den ganzen Wald hallte. September ver-suchte es erneut, und wieder gab es nur ein lautes Krachen,das in ihren Händen vibrierte. Beim dritten Versuch schlugsie daneben und quetschte sich einen Finger. Sie saugte dar-an, um den Schmerz zu lindern. Der Gedanke, dass Feuer-machen immer schon ein Problem der Menschheit gewesen

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ist, half ihr auch nicht weiter. Das hier war kein Menschen-ort – ließ sich hier kein Strauch finden, an dem schöne dickePfeifen wuchsen, oder Streichholzblumen oder, noch besser,eine Zauberin, die mit einer Handbewegung ein knisterndesFeuer entfachen könnte, gern noch mit einem Topf Suppedarauf?

Während September noch mit ihrem Finger beschäftigtwar, schaute sie durch den dünnen Nebel und sah in derFerne, irgendwo zwischen den Bäumen, etwas in der Nachtglühen. Ein Flackern, rot und orange.

Da war ein Feuer, ja, gar nicht so weit weg!«Ist da jemand?», rief September. Ihre Stimme klang dünn

in dem gläsernen Wald.Nach einer langen Weile kam eine Antwort. «Jemand,

vielleicht.»«Ich sehe, dass du etwas Rotes und Orangenes und Flam-

miges hast, und wenn du so freundlich wärst, mir etwas da-von abzugeben, könnte ich mich warm halten und Abend-essen kochen, falls ich hier etwas zu essen finde.»

«Dann bist du ein Jäger?», sagte die Stimme, und so vielAngst und Hoffnung, Verlangen und Hass lagen darin, wieSeptember es nie zuvor gehört hatte.

«Nein, nein!», beeilte sie sich zu sagen. «Na ja, einmal habeich einen Fisch getötet, also bin ich vielleicht ein Fischer.Aber jemanden, der ein einziges Brot im Leben gebackenhat, würde man ja auch nicht als Bäcker bezeichnen! Ichdachte nur, ich könnte vielleicht einen Eintopf aus Glas-kartoffeln oder Glasbohnen oder Äpfel kochen, wenn ich zu-fällig so was finde, was ein großes Glück wäre. Ich könnte eingroßes Blatt als Kochtopf nehmen. Wenn ich ganz vorsichtig

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bin, hält es vielleicht, es ist ja aus Glas.» September war stolzauf ihren Erfindungsreichtum – einige Sachen fehlten zwar,zum Beispiel Kartoffeln, Bohnen und Äpfel, aber der Planselbst saß fest in ihrem Kopf. Das Feuer war das Allerwich-tigste, mit dem Feuer würde sie dem Wald beweisen, was inihr steckte.

Das rote Glühen kam immer näher, bis September er-kannte, dass es in Wirklichkeit nur ein kleines StückchenKohle in einer Pfeife mit einem sehr großen Pfeifenkopfwar. Die Pfeife war zwischen die Zähne eines Mädchens ge-klemmt. Das Mädchen hatte weiße Haare, weiß wie das Gras,die im Mondlicht silberblau wirkten. Ihre Augen waren großund dunkel. Ihre Kleider bestanden aus weichem blassen Fellund Glasrinde, dazu trug sie als Gürtel eine Kette aus unge-schliffenen violetten Steinen. In den Augen des Mädchensstand große Sorge geschrieben.

Zwischen ihren blassen Haaren entsprang ein kurzes wei-ches Geweih, und ähnlich wie bei einem Reh standen zweilange, weiche schwarze Ohren hervor, die innen sauber undlavendelfarben glänzten. Das Mädchen schaute Septemberin aller Seelenruhe an, und ihr weiches Gesicht nahm einenargwöhnischen, gequälten Zug an. Sie zog kräftig an ihrerPfeife. Die leuchtete rot, orange, dann wieder rot.

«Heiße Taiga», sagte sie schließlich, klemmte die Pfeifezwischen die Zähne und streckte eine Hand aus. Sie trugeinen flachsfarbenen Handschuh mit abgeschnittenen Fin-gern. «Vergiss das Gemurkse da.» Das merkwürdige Mäd-chen nickte zu den einsamen Teilen von Septembers Lager.«Komm mit mir zum Hügel, da kriegst du was zu essen.»

September sah wohl gekränkt aus, denn Taiga fügte schnell

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hinzu: «Oh, das wäre bestimmt ein gutes Feuer geworden,das sieht man gleich. Absolut fachmännisch. Aber so tief imWald findest du nichts Essbares, und hier sind überall Jäger,die nur darauf aus sind … sich eine Ehefrau zu schießen,wenn du mir das Schimpfwort verzeihst.»

September kannte eine ganze Menge Schimpfwörter. Diemeisten hatte sie die Mädchen auf den Schulklos sagen hö-ren, im Flüsterton, als könnten die Wörter etwas auslösen,wenn man sie nur aussprach, als wären sie Zauberwörter undmüssten auch so behandelt werden. Aber das Rehmädchenhatte keines dieser Schimpfwörter benutzt.

«Schimpfwort? Meinst du Jäger?» Das kam ihr noch amwahrscheinlichsten vor, denn bei dem Wort hatte Taiga dasGesicht verzogen, als könnte sie es nur unter Schmerzen aus-sprechen.

«Nee», sagte Taiga und kickte mit einem Stiefel Dreckweg. «Ich meine Ehefrau.»