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Praktiken der Subjektivierung 4
Diskurse - Körper - Artefakte
Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung
Bearbeitet vonDagmar Freist
1. Auflage 2015. Taschenbuch. 408 S. PaperbackISBN 978 3 8376 2552 3
Format (B x L): 14,8 x 22,5 cmGewicht: 633 g
Weitere Fachgebiete > Geschichte > Kultur- und Ideengeschichte
schnell und portofrei erhältlich bei
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Aus:
Dagmar Freist (Hg.)
Diskurse – Körper – ArtefakteHistorische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung
März 2015, 408 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2552-3
Ausgehend von der These, dass die gesellschaftliche Dynamik der frühen Moderneweder strukturalistisch noch handlungstheoretisch ausreichend erklärbar ist, beschäf-tigen sich die Beiträge in diesem Band mit Praktiken der Selbstbildung – etwa alsJungunternehmer, als Arzt oder als kinderlose Frau. Sie fragen danach, wie sich Men-schen im praktischen Zusammenspiel von Diskursen, Körpern und Artefakten ent-warfen, sozial/räumlich verorteten und anerkannt wurden, und zeigen auf, wie kultu-relle Deutungsschemata im Vollzug sozialer Praktiken aktualisiert wurden. Die so ent-stehenden Spannungen, die praxistheoretisch unzureichend als Nichtpassungen be-schrieben worden sind, werden als fruchtbare Reibungen analysiert, die Reflexivitätund Kritik ermöglichen und gesellschaftlichen Wandel hervorbringen.
Dagmar Freist (Dr. phil.) ist Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an derCarl von Ossietzky Universität Oldenburg und stellvertretende Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs 1608/2 »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in histo-rischer und interdisziplinärer Perspektive«.
Weitere Informationen und Bestellung unter:www.transcript-verlag.de/978-3-8376-2552-3
© 2015 transcript Verlag, Bielefeld
Inhalt
Diskurse – Körper – Artefakte Historische Praxeologie in der Frühneuzeit forschung – eine AnnäherungDagmar Freist | 9
Diskurse
Zwischen Identitätsbildung und Selbstinszenierung Ärz tliches Self-Fashioning in der Frühen NeuzeitMichael Stolberg | 33
Umkämpfte Erzählungen Zur Selbst-Bildung eines jüdischen Of f iziers in der preußischen NachreformäraNikolaus Buschmann | 57
„Noch bleibt mir ein Augenblick Zeit um mich mit Euch zu unterhalten.“Praxeologische Einsichten zu kaufmännischen Briefschaf ten des 18. Jahrhunder tsLucas Haasis | 87
Die relationale Gesellschaft Zur Konstitution ständischer Ordnung in der Frühen Neuzeit aus praxeologischer PerspektiveMarian Füssel | 115
Beyond the Sea Praktiken des Reisens in Glaubenswechseln im 17. Jahrhunder tConstantin Rieske | 139
Szenen der Subjektivierung Zu den Schrif tpraktiken der Wallfahr t im 18. Jahrhunder tEva Brugger | 161
körper
Die Puppenkinder der Margaretha Kahlen Eine Geschichte der Inszenierung von Weiblichkeit zwischen körperlichem Eigensinn und sozialen Praktiken im ausgehenden 16. Jahrhunder tChristina Beckers | 187
„… daß mein leib mein seye.“ Selbstpositionierungsprozesse im Spiegel erzählter Körperpraxis in den Briefen Liselot tes von der Pfalz (1652–1722)Mareike Böth | 221
„In Gelb!“ Selbstentwür fe eines Mannes im FieberAnnika Raapke | 243
ArtefAk te
Überlegungen zu einer Nationaltracht „Social Imaginar y“ im Schweden des späten 18. Jahrhunder tsMikael Alm | 267
Was macht ein(en) Hausmann? Eine ländliche Elite zwischen Status und Praktiken der LegitimationFrank Schmekel | 287
Wie frühneuzeitliche Gesellschaften in Mode kamen Indische Baumwollstof fe, materielle Polit ik und konsumentengesteuer te Innovationen in Tokugawa-Japan und England in der Frühen NeuzeitBeverly Lemire | 311
„Zu Notdurfft der Schreiberey.“Die Einrichtung der frühneuzeitlichen Kanzlei Meg Williams | 335
„Ich schicke Dir etwas Fremdes und nicht Vertrautes.“ Briefpraktiken als Vergewisserungsstrategie zwischen Raum und Zeit im Kolonialgefüge der Frühen NeuzeitDagmar Freist | 373
Autorinnen und Autoren | 405
Diskurse – Körper – Artefakte Historische Praxeologie in der Frühneuzeit forschung
– eine Annäherung
Dagmar Freist
Diskurse, Körper, Artefakte – diese Begriffe umreißen vertraute Forschungsfelder, die auf den ersten Blick nur wenige Gemeinsamkeiten aufweisen. Diskurstheorien gehen seit den späten 1960er Jahren davon aus, dass es nicht möglich sei, „sich in der Wahrnehmung von Wirklichkeit jenseits der Sprache bzw. jenseits von Diskursen zu bewegen“,1 Formen des Wahren und Wirklichen werden diskursiv ausgebildet.2 Die Körpergeschichte hat zumindest in ihren Anfängen gegen „eine kulturalistische Verflüssigung historischer Kategorien“3 für die Unmittelbarkeit des Körpers oder dann doch wenigstens des Leibes als Ort unmittelbarer Erfahrungen und damit seiner Materialität jenseits von Diskursen plädiert,4 und Artefakte „als von Menschen gefertigte[n] Dinge[n]“ wurden interpretiert als direkte oder indirekte Manifestationen von Kultur.5 Seit diesen programmatischen Anfängen der jeweiligen Forschungsfelder und Theorien hat sich das Bild unter dem Einfluss innerwissenschaft
1 | Sarasin, Philipp: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 2003,
S. 31.
2 | Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse, Frankfur t a.M. 2008.
3 | Tanner, Jakob: Wie machen Menschen Er fahrungen? Zur Historizität und Semiotik
des Körpers, in: Körper Macht Geschichte. Geschichte Macht Körper. Körpergeschichte
als Sozialgeschichte, hg. v. Bielefelder Graduier tenkolleg zur Sozialgeschichte, Biele-
feld 1999, S. 16–34, hier S. 19.
4 | Bynum, Caroline: Warum das ganze Theater mit dem Körper? Die Sicht einer Mediä-
vistin, in: Historische Anthropologie 4 (1996), 1, S. 1–33; vgl. dazu auch Tanner, J.: Wie
machen Menschen Er fahrungen?, bes. S. 19–25.
5 | Bracher, Philip/Hertweck, Florian/Schröder, Stefan: Dinge in Bewegung. Reiselite-
raturforschung und Material Culture Studien, in: Dies. (Hg.): Materialität auf Reisen. Zur
kulturellen Transformation der Dinge (= Reiseliteratur und Kulturanthropologie, Bd. 8),
Berlin/Münster 2006, S. 9–24, hier S. 12.
Dagmar Freist10
licher und interdisziplinärer Methoden und Theoriereflexion und der damit verbundenen Dynamisierung der Konzepte gewandelt und Gemeinsamkeiten hervorgebracht.6 Es ist nicht das Anliegen dieser Einleitung, diese Veränderungen wissenschaftsgeschichtlich in allen ihren Verästelungen nachzuzeichnen.7 Vielmehr soll aufgezeigt werden, wie sich diese Theoriediskussion mit praxis und subjektivierungstheoretischen Denkstilen berührt und welche Relevanz eine solche Annäherung von Denktraditionen und Denkstilen für eine historische Praxeologie haben kann.
1. Diskurse
Den Ausgangspunkt diskursanalytischer Theoriebildung bildet das Verständnis von Diskursen und diskursanalytischen Verfahren nach Foucault, auch wenn er nie ein einheitliches diskurstheoretisches Programm verfasst hat. Teil der Diskursanalyse sind die Bestimmung des Orts einer Reihe von ähnlichen Aussagen (im Sinne des historischen, sozialen und kulturellen Aus
6 | Vgl. dazu die verschiedenen turns in der Geschichtswissenschaft, den Kulturwis-
senschaften und den Sozialwissenschaften. Zum cultural turn vgl. Bonnell, Victoria/
Hunt, Lynn: Beyond the Cultural Turn. New Directions in the Study of Society and Cul-
ture, Berkeley/Los Angeles 1999; Musner, Lutz/Wunberg, Gotthart/Lutter, Christina
(Hg.): Cultural Turn. Zur Geschichte der Kulturwissenschaften, Berlin/Wien 2001; Reck-
witz, Andreas: Die Transformation der Kultur theorien. Zur Entwicklung eines Theoriepro-
gramms. Weilerswist 2000, S. 15–57; zum practice turn Schatzki, Theodore/Knorr-Ce-
tina, Karin/Savigny, Eike von (Hg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London/
New York 2001; Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken.
Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrif t für Soziologie 32 (2003), S. 282–
301; Reichardt, Sven: Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussions an re-
gung, in: Sozial Geschichte 22 (2007), 3, S. 43–65; zum performative turn: Fischer-
Lichte, Erika/Wulf, Christoph (Hg.): Theorien des Performativen, Berlin 2001; Stäheli,
Alexandra: Materie und Melancholie. Die Postmoderne zwischen Adorno, Lyotard und
dem ‚pictorial turn‘, Wien 2004; Burke, Peter: Augenzeugenschaft. Bilder als historische
Quellen, Berlin 2003; zum spatial turn: Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hg.): Spatial
Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. 2. Aufl., Bielefeld
2009; zum emotional turn vgl. Schützeichel, Rainer: Emotionen und Sozialtheorie. Eine
Einleitung, in: Ders. (Hg.): Emotionen und Sozialtheorie. Disziplinäre Ansätze, Frankfur t
a.M. 2006, S. 7–27.
7 | Für einen Überblick über die Entwicklung der Praxistheorie aus kultur theoretischen
Ansätzen vgl. Reckwitz, A.: Transformation der Kultur theorien; Bachmann-Medick,
Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 3. neu bearb.
Aufl., Hamburg 2009.
Diskurse – Körper – Ar tefak te 11
gangspunkts), die Erfassung diskursiver Regelmäßigkeiten (Generierung von Ordnungsschemata durch miteinander verbundene Aussagen), Evidenzen des Denk, Sag und Machbaren (durch Wiederholung und Verdichtung bestimmter diskursiver Elemente) und schließlich die diskursive Tradition (Archiv), die sich aus den drei genannten Elementen bildet.8 Die entscheidende Grundannahme von Diskurstheorien ist die epistemische Unhintergehbarkeit der Sprache (sowie visueller oder architektonischer semiotischer Aussagesysteme), eine Prämisse, die mit dem „linguistic turn“ in den 1990er Jahren zum forschungstheoretischen Paradigma ausgerufen wurde.9 Diskurstheorien gehen davon aus, dass es keine Wirklichkeit hinter den Diskursen gibt, die an sich erfahrbar wäre und der Diskurse gewissermaßen nur übergestülpt wurden.10
Einer der Hauptkritikpunkte gegen diese „Analysen von Aussagensystemen“ war die Setzung homogener Diskurskomplexe, die andere Diskurse und Mehrdeutigkeiten – „ein Geschwätz zwischen den Zeilen“ – ignorierten,11 die Reduktion von Konstruktionen bildlich auf ein verbales Handeln, die Dethematisierung von Wandel und nach dem Verlust des Subjekts als Akteur die Verdinglichung von Diskursen zum Status eines Subjekts. Unbelichtet blieb weiter die Frage nach den Funktionsweisen von Diskursen und nach dem Verhältnis diskursiver und nichtdiskursiver Elemente. Mit der Einführung des „Dispositiv“ als „Gesamtheit von Institutionen, Diskursen und Praktiken“,12 bietet Foucault selbst ein Konzept, um die Diskursanalyse durch die Frage der Wechselbezüge zwischen Diskursen, Institutionen und normierenden Wissensordnungen zu erweitern13 und „Verhältnisse zwischen den diskursiven Formationen und nichtdiskursiven Bereichen“ sichtbar zu machen.14 Diskurse bringen nicht nur die Dinge hervor, die sie bezeichnen, sie generieren zu
8 | Die interne Dynamisierung des Diskursbegrif fs lässt sich nachzeichnen in den drei
folgenden Werken: Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Frankfur t a.M./Berlin/
Wien 1979; ders.: Archäologie des Wissens, Frankfur t a.M. 1981; ders.: Von der Subver-
sion des Wissens, Frankfur t a.M. 1987; ders.: Was ist Kritik, Berlin 1992.
9 | Schöttler, Peter: Wer hat Angst vor dem „linguistic turn“?, in: Geschichte und Ge-
sellschaft 23 (1997), S. 134–151; Landwehr, A.: Historische Diskursanalyse.
10 | Sarasin, P.: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, S. 31.
Landwehr, A.: Historische Diskursanalyse, S. 36.
11 | Sarasin, P.: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, S. 41–45.
12 | Ruoff, Michael: Foucault-Lexikon, Entwicklung – Kernbegrif fe – Zusammenhänge,
Paderborn 2007, S. 101.
13 | Bührmann, Andrea/Schneider, Werner: Vom Diskurs zum Dispositiv: Eine Einfüh-
rung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008.
14 | Foucault, M.: Archäologie des Wissens, S. 231; vgl. auch Füssel, Marian/Neu, Tim:
Doing Discourse. Diskursiver Wandel aus praxeologischer Perspektive, in: Achim Land-
wehr (Hg.): Diskursiver Wandel, Wiesbaden 2010, S. 213–235, hier S. 217.
Dagmar Freist12
gleich durch diskursive Regelmäßigkeiten die Grenzen des Denk, Sag, und Machbaren und sind damit untrennbar verbunden mit Effekten der Macht (das „regulierende Ideal“), verursachen Inklusion und Exklusion. Diskursive Praktiken werden dabei als Äußerungsmodalitäten, Handlungskontexte und Funktionsweisen von Diskursen verstanden, die sich in die Körper einschreiben und so ihren Wahrheitsanspruch materialisieren. Mit den Begriffen Kritik und Genealogie gelingt es Foucault, Machtverhältnisse und die Bedingungen der Möglichkeit von Veränderung beschreibbar zu machen.15
Bei der Frage nach dem Verhältnis von Diskursen und Praktiken hat die Forschung zunächst die Frage aufgeworfen, ob es um eine „kausale Konstitutionsbeziehung“ zwischen Wissen und Handeln – erzeugen bestimmte kulturelle Schemata notwendigerweise bestimmte Handlungsmuster – oder eine „Expressionsbeziehung“ geht – kulturelle Schemata existieren allein dadurch, dass sie sich in Praktiken „ausdrücken“.16 Praxistheoretisch hat vor allem Andreas Reckwitz über seine Definition „kultureller Codes“ eine Annäherung von diskurs und praxistheoretischen Denkweisen vorgenommen,17 auch wenn er an anderer Stelle die Praxis und Diskursanalyse als „zwei konträre Fundierungsstrategien“ dargestellt hat.18 „CodeOrdnungen“, die den Rahmen dafür liefern, „was praktizierbar erscheint und was nicht“, sind „in sozialen Praktiken enthalten und geben diesen ihre Form bzw. kommen in den Praktiken zum Ausdruck und ermöglichen diese“.19 Eine nichtdiskursive Praktik ist nach Reckwitz „eine sozial geregelte, typisierte, routinisierte Form des körperlichen Verhaltens [...] und umfasst darin spezifische Formen des Wissens, des know how, des Interpretierens, der Motivation und der Emotion“.20 Diskurse als ein Netzwerk sprachlicher sowie visueller oder architektonischer semiotischer Aussagesysteme sind „selbst nichts anderes als spezifische soziale Praktiken der Produktion von geregelten Repräsentationen; sie sind Praktiken der Repräsentation, [...]
15 | Foucault, M.: Von der Subversion des Wissens.
16 | Reckwitz, A.: Transformation der Kultur theorien, S. 590f.
17 | Vgl. dazu Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt, Weilerswist 2006, S. 36 u. 42
und ders.: Die Kontingenzperspektive der ‚Kultur‘. Kulturbegrif fe, Kulturtheorien und das
kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm, in: Ders.: Unscharfe Grenzen – Perspek-
tiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, S. 15–45, hier S. 17.
18 | Reckwitz, Andreas: Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodo-
logische Relation, in: Herbert Kalthoff/Stefan Hirschauer/Gesa Lindemann (Hg.): The-
oretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Frankfur t a.M. 2008, S. 188–
209, hier S. 191-194.
19 | Jonas, Michael: The Social Site Approach versus the Approach of Discourse/Practi-
ce Formations, in: Reihe Soziologie/Sociological Series 92 (2009), S. 1–22, hier S. 10.
20 | Reckwitz, A.: Das hybride Subjekt, S. 36 und Jonas, M.: The Social Site Approach,
S. 11, dort auch die entsprechenden Verweise auf Reckwitz.
Diskurse – Körper – Ar tefak te 13
die regeln, was wie darstellbar ist“.21 Praktiken und Diskurse als „umfassende ‚Praxis/Diskursformationen‘“22 sind durch ihren gemeinsamen Bezug auf kulturelle Codes, so die Argumentation, miteinander verbunden und institutionalisieren so bestimmte Subjektivierungsweisen in je spezifischen Feldern (Politik, Wissenschaft). Subjektivierung aus dieser Perspektive bedeutet einen Unterwerfungsprozess des Einzelnen unter eine kulturelle Ordnung (codes), „die ihm körperlich und psychisch Merkmale akzeptabler Subjekthaftigkeit ‚einschreibt‘“.23 Theodore Schatzki hat kausale Zusammenhänge zwischen Diskursen und Praktiken negiert: „It is important to emphasize that the relation of expression (manifestation, making present) is noncausal.“24 Es sind die Akteure selbst, die in praktischen Vollzügen mentale Wissensordnungen performativ hervorbringen und je spezifische Ausdrucksformen verleihen.25 Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive haben Marian Füssel und Tim Neu in Anschluss an Foucault und Bourdieu zwar betont, dass Diskurse und Praktiken ihren eigenen Logiken folgen, dass sich über die Inkorporierung und Performanz diskursiver Strukturen allerdings ein verbindendes Element zwischen Diskursen und Praktiken analytisch fruchtbar machen lässt.26 An die Stelle der Repräsentation von Praktiken in Diskursen bei Reckwitz tritt bei Schatzki die Erzeugung von Sinn im praktischen Vollzug.
2. körper
Kulturwissenschaftlich und historisch ausgerichtete Körperstudien haben sehr früh an diskurstheoretische Überlegungen angeknüpft und den Körper als eine invariante biologische Realität infrage gestellt. Die Folge war zum einen eine radikale Historisierung des Körpers verbunden mit der „Erforschung der Umformung von Leiblichkeit in verschiedenen Epochen, Kulturen und Gesellschaftsformen“,27 zum anderen eine Rekonzeptualisierung des Körpers
21 | Reckwitz, A.: Das hybride Subjekt, S. 43, und Jonas, M.: The Social Site Approach,
S. 11f., dort auch die entsprechenden Verweise auf Reckwitz.
22 | Reckwitz, A.: Das hybride Subjekt, S. 44.
23 | Reckwitz, Andreas: Subjekt/Identität: Die Produktion und Subversion des Indivi-
duums, in: Stephan Moebius/Andreas Reckwitz (Hg.): Poststrukturalistische Sozialwis-
senschaften, Frankfur t a.M. 2008, S. 75–92, hier S. 78, und Jonas, M.: The Social Site
Approach, S. 14, dort auch die entsprechenden Verweise auf Reckwitz.
24 | Schatzki, Theodore R.: Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human
Activity and the Social, Cambridge 1996, S. 33.
25 | Ders., Kap. 2.
26 | Füssel, M./Neu, T.: Doing Discourse, S. 22–223.
27 | Duden, Barbara: Geschichte unter der Haut, Stuttgart 1987, S. 14f.
Dagmar Freist14
als diskursiv hervorgebrachte, soziale Konstruktion; Körpererfahrung und Kör per wahrnehmung werden in dieser Perspektive allein über Diskurse ermöglicht.28 Durch diese Diskursivierung des Körpers entstand allerdings das analytische Problem, dass diesen Diskursen vorgängig eine Stofflichkeit (Leib) existiert, die die Frage nach der Materialität permanent aufwirft.29 Dieses erkenntnistheoretische Paradoxon findet sich wieder in der Unterscheidung der Geschlechterforschung von sex (biologischem Geschlecht) und gender (sozialer Konstruktion von Geschlecht). Genau hier setzt Judith Butler an, wenn sie kritisch aufzeigt, dass „die Grenzen des linguistischen Konstruktivismus“ erreicht seien, wenn das biologische Geschlecht als unkonstruierbar apostrophiert werde30 und fragt zugleich, ob die Möglichkeit bestehe, „die Frage nach der Materialität des Körpers mit der Performativität der sozialen Geschlechtsidentität zu verknüpfen“.31 Jene „ständig wiederholende Macht des Diskurses, diejenigen Phänomene hervorzubringen, welche sie reguliert und restringiert“, hat Butler als Ausgangspunkt genommen für ihre „Reformulierung der Materialität von Körpern“.32 Das „regulierende Ideal“ in der Lesart von Butler ist nicht nur eine regulierende Kraft, bezogen darauf, wie etwas zu bezeichnen, zu bewerten und zu unterscheiden sei (männlicher Körper, weiblicher Körper, das biologische Geschlecht), sondern „eine Art produktive Macht“, die durch ständige Wiederholungen Wahrheiten konstituiert (das biologische Geschlecht), die sich mit der Zeit zwangsweise materialisieren.33 Ständige Wiederholungen tragen zugleich ein Moment der Instabilität in sich als die dekonstituierende Möglichkeit des Wiederholungsprozesses selbst, was zu einer potentiell produktiven Krise in der Konsolidierung von Normen (der biologische Körper) und deren Naturalisierung führen kann.34
Die theoretischen Debatten um den Körper der 1990er Jahre haben nicht nur polarisiert, sondern auch zu einer Schärfung von Begrifflichkeiten und Theorieansätzen geführt und das Forschungsfeld über historische Körperdiskurse hinaus geöffnet. Nicht zuletzt unter dem Einfluss von Theorien des
28 | Ellerbrock, Dagmar: Körper – Moden – Körper-Grenzen, in: Neue Politische Litera-
tur 49 (2004), S. 52–84, hier S. 53; vgl. auch Lorenz, Maren: Leibhaftige Vergangenheit.
Einführung in die Körpergeschichte, Tübingen 2000.
29 | List, Elisabeth: Wissende Körper – Wissenskörper – Maschinenkörper. Zur Semio-
tik der Leiblichkeit, in: Die Philosophin 5 (1994), S. 9–26.
30 | Butler, Judith: Körper von Gewicht, Frankfur t a.M. 1997, S. 27.
31 | Ebd., S. 21.
32 | Ebd., S. 22.
33 | Ebd., S. 21.
34 | Ebd., S. 33.
Diskurse – Körper – Ar tefak te 15
Performativen35 und Praxistheorien36 wird in jüngeren Studien nach Körperwissen und dem Embodiment sozialer Strukturen (Habitus), der Herstellung, Inszenierung, Internalisierung, Einübung und Performanz von Körper und Geschlechteridentitäten, den Prozessen des Herstellens, des Einübens, der Af rmation, aber auch der Subversion von Körperpraktiken gefragt. Der LeibKörper37, so diese Denktraditionen, konstituiert sich erst im praktischen Vollzug. Die körperlichleiblichen Vollzüge als performative Akte (als körperliche Handlungen) stehen nach Judith Butler in einem historischen Kontinuum, in dem sie ein Repertoire von Bedeutungen aufrufen („Performativität als Zitatförmigkeit“).38 Soziale Praktiken wiederum sind material verankert: „primär in den Körpern [...], sekundär auch in den Artefakten“.39 Der „Körper steckt in den Praktiken“ und spielt von Anfang an eine zentrale Rolle in allen praxistheoretischen Ansätzen.40
3. ArtefAk te
Dass sich die Bedeutung von Artefakten nicht aus ihrer materiellen Beschaffenheit erschließen, noch wie ein Text als Zeichensystem decodieren lässt, gehört zu den Grundeinsichten der jüngeren „materialculture studies“, die sich in den angelsächsischen Ländern seit den 1980er Jahren etabliert haben.41 Mit dieser Neufokussierung verabschiedete sich die Dingforschung nicht nur
35 | Fischer-Lichte, Erika: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012.
36 | Hirschauer, Stefan: Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des
Tuns, in: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhält-
nis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 73–91.
37 | Für eine knappe Einführung in die Leib-Körper Problematik u.a. Gugutzer, Robert:
Body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports (= Materialitäten,
Bd. 2), Bielefeld 2006.
38 | Butler, J.: Körper von Gewicht, S. 35.
39 | Reckwitz, A.: Praktiken und Diskurse, S. 191f.
40 | Hirschauer, S.: Praktiken und ihre Körper, S. 75.
41 | Für die Entwicklung der „material culture studies“ und zugleich für eine kritische
Auseinandersetzung mit der Hybridformel „material“ und „culture“ vgl. Hicks, Dan: The
Material-Cultural Turn. Event and Effect, in: Ders./Mary C. Beaudry (Hg.): The Oxford
Handbook of Material Culture Studies, Oxford 2010, S. 25–98; vgl. auch Hahn, Hans
Peter: Dinge als Zeichen – eine unscharfe Beziehung, in: Ulrich Veit/Tobias L. Kienlin/
Christoph Kümmel (Hg.): Spuren und Botschaften: Interpretationen materieller Kultur,
Münster 2003, S. 29–51, hier S. 31.
Dagmar Freist16
von der Vorstellung, dass Dingen und Artefakten42 aufgrund ihrer Materialität eine essentialistische, vordiskursive und atemporale Bedeutung zu eigen sei, sondern auch davon, „that objects merely symbolize or represent aspects of a preexisting culture or identity“.43 Die Neuausrichtung der Materialitätsforschung fokussiert stattdessen auf die materielle Beschaffenheit von Dingen und Artefakten und deren Potential in je spezifischen Kontexten.44 Entsprechend verschob sich die erkenntnistheoretische Frageperspektive von „objectlessons“ zu „objectdomains“45 und die Frage nach der Bedeutung von Dingen und Artefakten in sozialen Beziehungen gewann an Relevanz.46 Diese Grundannahme einer Polyvalenz von Dingen und Artefakten hat sowohl die empirische Forschung als auch die Theoriebildung inspiriert, völlig neue Forschungsfelder nicht zuletzt in der Geschichtswissenschaft eröffnet47 und zentrale Begriffe und Konzepte generiert. Zu den wichtigsten gehören die empirischtheoretische Auseinandersetzung mit den Gebrauchsweisen von Dingen und Artefakten,48 Appadurais einflussreiche Studien zu den „social lives of things“,49 Studien zu der Wertigkeit von Artefakten als Folge sozialer
42 | Dinge bezeichnen die materielle Welt insgesamt, während Artefakte sich auf die
von Menschen hergestellten Dinge beziehen. Mit „materieller Kultur“ werden die von
Menschen hergestellten Dinge und die physisch-materielle Umwelt bezeichnet.
43 | Woodward, Sophie: Material Culture. Oxford Bibliographies (http://www.oxford-
bibliographies.com/view/document/obo-9780199766567/obo-9780199766567-
0085.xml vom 28. Juli 2014).
44 | Tietmeyer, Elisabeth u.a. (Hg.): Die Sprache der Dinge. Kulturwissenschaftliche
Perspektiven auf die materielle Kultur, Münster 2010.
45 | Hicks, Dan/Beaudry, Mary C. (Hg.): The Oxford Handbook of Material Culture Stu-
dies, Oxford 2010, S. 29, 44f. u. 50, und insbesondere Miller, Daniel: Material Culture
and Mass Consumption, Cambridge, Mass. 1991, S. 158–177. Miller verbindet Giddens’
Konzept der „object domains“ mit Bourdieus Habitus-Konzept.
46 | Miller, Daniel: Why Some Things Matter, in: Material Culture. Why Some Things Mat-
ter, London 1998, S. 3–21.
47 | Für eine gute Einführung siehe Harvey, Karen (Hg.): History and Material Culture. A
Student’s Guide to Approaching Alternative Sources, London/New York 2009; program-
matisch für die Geschichtswissenschaft Leora Auslander: Beyond Words, in: American
Historical Review, 110 (2005), 4, S. 1015–1045, sowie AHR Conversation: Historians
and the Study of Material Culture, in: ebd. 114 (2009), S. 1354–1404.
48 | Für eine Einführung vgl. Dant, Tim: Materiality and Society, Maidenhead 2005.
49 | Appadurai, Arjun: Introduction: Commodities and the Politics of Value, in: Ders.
(Hg.): The Social Life of Things: Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986,
S. 3–63, bes. S. 3–13.
Diskurse – Körper – Ar tefak te 17
Konventionen und Zuschreibungen,50 Arbeiten zu Dingen und Artefakten als Objekte der Distinktion und Marker von Zugehörigkeit51 und die für die Praxistheorie bedeutsamen Studien zu den „Umgangsqualitäten“ von Dingen,52 der Ästhetisierung des Sozialen53, dem Eigensinn der Dinge,54 der Affordanz von Dingen (dem Aufforderungscharakter von Dingen),55 der Handlungsmacht von Dingen56 oder zu der afzierenden Wirkung von Dingen. Bei allen disziplinär bedingten und theoretischen Unterschieden kreisen die zentralen Fragen um die agency von Dingen. „A key area of contestation in the literature on material culture is the question of agency and the ways in which objects can produce particular effects or allow and permit certain behaviors or cultural practices.“57 Insbesondere Bruno Latour hat mit seiner Definition von „actor or actant“ („human, unhuman, nonhuman, inhuman“)58 eine Debatte nicht nur um den Subjektstatus von Dingen, sondern auch um den ontologischen Status
50 | Thompson, Michael: Rubbish Theory: The Creation and Destruction of Value, Ox-
ford 1979; im Kontext transnationaler memory practices in der Frühen Neuzeit: Freist,
Dagmar: Lost in Time and Space? Glocal Memoryscapes in the Early Modern World, in:
Erika Kuijpers u.a. (Hg.): Memory before Modernity. Practices of Memory in Early Mo-
dern Europe, Leiden 2013, S. 203–221.
51 | So beispielsweise Belk, Russel W.: Possessions and the Extended Self, in: Journal
of Consumer Research 15 (1988), S. 139–168; McCracken, Grant: Culture and Con-
sumption: A Theoretical Account of the Structure and Meaning of Consumer Goods, in:
ebd. 15 (1988), S. 71–84.
52 | Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. 11. Aufl.,
Berlin 1976, S. 170. Gehlen spricht von einem vorweggenommenen Antwortverhalten
der Dinge, d.h. er geht davon aus, dass der Anblick von Dingen bestimmte Umgangs-
qualitäten zeigt.
53 | Böhme, Gernot: Contributions to the Critique of the Aesthetic Economy, in: Thesis
Eleven 73 (2003), 1, S. 71–82; ders.: Atmosphäre. Essays zur Ästhetik. 2. Aufl., Frank-
fur t a.M. 1997.
54 | Hahn, Hans Peter: Vom Eigensinn der Dinge, in: Bayerisches Jahrbuch für Volks-
kunde (2013), S. 13–22. Hahn meint mit Eigensinn der Dinge die „Entfaltung von Sinn-
horizonten in der Aktion zwischen Menschen und Dingen“, S. 14.
55 | Gibson, James J.: The Ecological Approach to Visual Perception, Boston 1979;
Jenkins, Harold S.: Gibson’s „Affordances“: Evolution of a Pivotal Concept, in: Journal of
Scientific Psychology (2008), Dez., S. 34–45.
56 | Latour, Bruno: On Actor-Network Theory. A Few Clarifications, in: Soziale Welt 47
(1996), S. 369–381, hier S. 372f. und ders.: Reassembling the Social. An Introduction
to Actor-Network-Theory, Oxford/New York 2005.
57 | Woodward, S.: Material Culture.
58 | Latour, B.: On Actor-Network Theory, S. 373.
Dagmar Freist18
von Aktanten als Urhebern von Handlungen ausgelöst59: „[A]n actornetwork is the entity that does the inscribing“.60 Nach Latour ist ein Aktant „literally [...] anything provided it is granted to be the source of an action“.61 Mit der Konzeptualisierung von Dingen als „Partizipanden des Sozialen“62 wurde die Debatte um den Status von Dingen als Akteure mit quasi Subjektstatus erweitert um ein Verständnis von Dingen als Teilhaber in Praktiken.
Die Materialität sozialer Praktiken und die „Sozialität von Artefakten“ ist in Praxistheorien vielfach betont worden.63 Besonders anschlussfähig für praxistheoretische Ansätze sind die Überlegungen Theodore R. Schatzkis zu der Bedeutung von Artefakten und Dingen für die Hervorbringung des Sozialen. „The bearing of materiality on human activity and social life lies not just in the constitutive and causal relations that hold between individual actors and particular objects, but also in how material entities are connected with temporally and spatially extended manifolds of organized human actions.“64 Mit dem Konzept des „arrangements“ umschreibt er die Art und Weise, in der Menschen, Artefakte, Organismen aller Art und Dinge aufeinander bezogen sind und in diesen Relationen spezifische Positionen besetzen und Bedeutungen aufweisen. Die Bedeutungen dieser „arrangements“ werden in den beständigen Aktualisierungen der Beziehungen in praktischen Vollzügen erzeugt.65
4. Diskurse – körper – ArtefAk te in pr A xeologischer perspek tive
Eine entscheidende Voraussetzung für die Annäherung der Forschungsfelder von Diskursen, Körpern, Artefakten, die sich in den bisherigen Ausführungen bereits angedeutet hat, bildet eine Denkbewegung innerhalb des Poststrukturalismus hin zu einem Verständnis des Sozialen, das erst in praktischen Vollzügen performativ erzeugt wird.66 Praktiken werden verstanden als kollektive Handlungsgefüge (Praktik), die sich aus der Summe der sie konstitu
59 | Hirschauer, S.: Praktiken und ihre Körper, S. 74.
60 | Latour, B.: On Actor-Network Theory, S. 372.
61 | Latour, B.: On Actor-Network Theory, S. 373.
62 | Hirschauer, S.: Praktiken und ihre Körper, S. 74.
63 | Schmidt, Robert: Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empiri-
sche Analysen, Berlin 2012, S. 63.
64 | Schatzki, Theodore R.: Materiality and Social Life, in: Nature and Culture 5 (2010),
S. 123–149, hier S. 135.
65 | Schatzki, Theodore R.: The Site of the Social. A Philosophical Account of the Con-
stitution of Social Life and Change, University Park, Pa. 2002, S. 20–25.
66 | Volbers, Jörg: Performative Kultur, Wiesbaden 2014.
Diskurse – Körper – Ar tefak te 19
ierenden sozialen Praxis in ständig wiederholten Aneignungen bereits vorhandener Möglichkeiten und immer wieder neuen Realisierungen von bereits Vorhandenem ergeben.67 Soziale Praktiken, so Karl Hörning, „begründen eine bestimmte Handlungsnormalität im Alltag“, die sich auf Handlungsroutinen, Erfahrungen und ein (implizites) Wissen von der Relevanz und Geeignetheit bestimmter Handlungsweisen gründet, die im Vollzug von Praktiken fortlaufend aktualisiert und erkennbar werden.68 In jüngerer Zeit wurde sowohl in der geschichtswissenschaftlichen69 als auch der soziologischen Debatte70 Kritik an einem so tendenziell deterministischen Verständnis sozialer Praktiken geübt und auf die Kontingenz der Praxis, die Kreativität des Handelns und das Miteinander von Routinen und Reflexivität in Praktiken verwiesen.71 Insgesamt möchten praxistheoretische Ansätze die analytischen Perspektiven der Handlungstheorie mit ihrer Fokussierung auf die Rationalität sozialen Handelns oder der Systemtheorie, die von inhärenten Logiken von Systemen als handlungsleitend ausgeht, erweitern, indem sie den materiellen, also körperlichen und dinglichen Charakter sozialen Handelns und die Performativität der Praxis betonen. Dies bedeutet eine Abkehr sowohl von dem Primat des handelnden Subjekts als auch von der Wirkmächtigkeit von Strukturen. An die Stelle tritt ein Verständnis des Sozialen, das erzeugt, aufrecht erhalten und verändert wird im praktischen Zusammenspiel sehr unterschiedlicher Akteure – Menschen, Körper, Artefakte, Dinge, Diskurse – in je spezifischen Settings.72
Diese Denkfiguren verbindet die Kritik an einem metaphysischen, substanzontologischen Verständnis von Subjekt, das Diskursen und diskursiven Praktiken vorgängig sei, oder von dem die Tätigkeit des Konstruierens – etwa
67 | Zur Einführung in die Praxistheorie Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer The-
orie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrif t für Soziolo-
gie 32 (2003), S. 282–301; Hillebrand, Frank: Praxistheorie, in: Georg Kneer/Markus
Schroer (Hg.): Handbuch soziologische Theorien, Wiesbaden 2009, S. 369–394.
68 | Hörning, Karl: Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wis-
sens, Weilerswist 2001, S. 160.
69 | Reichardt, S.: Praxeologische Geschichtswissenschaft, S. 48; Füssel, M./Neu, T.:
Doing Discourse, S. 228.
70 | Hörning, K.: Experten des Alltags, S. 163; Alkemeyer, Thomas: Handeln in Un-
sicherheit – vom Sport aus betrachtet, in: Fritz Böhle/Margit Weihrich (Hg.): Handeln
unter Unsicherheit, Wiesbaden 2009, S. 183–202, bes. S. 190–192; Alkemeyer, Thomas/
Buschmann, Nikolaus: Praktiken der Subjektivierung – Subjektivierung als Praxis, in:
Hilmar Schäfer (Hg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld
2014 (i.E.).
71 | Insbesondere Alkemeyer, T./Buschmann, N.: Praktiken der Subjektivierung.
72 | In Anlehnung an Theodore R. Schatzkis Konzept von Arrangements als die Bezie-
hungen zwischen Wesen und Dingen vgl. Schatzki, T.R.: The Site of the Social, S. 20–25.
Dagmar Freist20
eines sozialen Geschlechts – ausgehen würde. An die Stelle tritt die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeiten von Subjektwerdung und seines Wirkens und die Einsicht in die Dezentrierung des Subjekts.73 In diesem Zusammenhang macht Butler einen für praxis und subjektivierungstheoretische Denkweisen grundlegenden gedanklichen Schritt, indem sie formuliert, es ginge weder um die Frage nach einem vordiskursiven Subjekt noch um dessen Abschaffung, sondern um die „kulturelle Bedingung einer Möglichkeit“ der Subjektwerdung als ein performatives Werden im körperlichen Vollzug.74 Damit ist eine erste Schnittstelle zu praxistheoretischen Ansätzen markiert, die davon ausgehen, dass sich soziale Ordnungen und ihre Subjekte in den Vollzügen sozialer Praktiken bilden.
5. historische pr A xeologie Als Mikro-historie
Die in diesem Sammelband publizierten Beiträge befassen sich exemplarisch mit Selbstbildungsprozessen in der Frühen Neuzeit und fragen danach, wie sich Menschen in sozialen Praktiken zum einen entwerfen, verorten und Anerkennung finden, zum anderen kulturelle Deutungsschemata im Vollzug sozialer Praktiken aktualisieren und zugleich verändern. In Anlehnung an Foucault und Butler werden Subjekte nicht ontologisch vorausgesetzt, sondern der Blick richtet sich auf den performativen Vollzugscharakter von SelbstBildungen und den Eigenanteil der Akteure in diesem als offen und unsicher verstandenen Prozess.
Praktiken sind damit immer zugleich Wiederholung und Neuerschließung,75 im praktischen Vollzug sozialer Handlungsmuster werden eingeübte und erwartbare Handlungsweisen reproduziert oder im Prozess der Reproduktion „überschrieben“76 und damit transformiert. Soziale Praktiken haben damit durchaus subversive Effekte, aber nicht im Sinne eines ereignisgeschichtlich geprägten historischen Denkens als Umsturz, sondern praxistheoretisch ver
73 | So etwa Butler in: Körper von Gewicht, S. 29; konstitutiv für Foucaults Genealogie
des modernen Subjekts ist dabei eine historisierende und praxeologische Perspektive.
Vgl. Foucault, Michel: Technologien des Selbst, in: Ders.: Schrif ten. Dits et Ecrits, Bd.
4: 1980–1988, Frankfur t a.M. 2005, S. 966–999, hier S. 968. Vgl. auch Fischer-Lichte,
E.: Per formativität, S. 41.
74 | Butler, J.: Körper von Gewicht, S. 29.
75 | Hörning, K.: Experten des Alltags, S. 163.
76 | Freist, Dagmar: „Ich will Dir selbst ein Bild von mir entwerfen“. Praktiken der Selbst-
bildung im Spannungsfeld ständischer Normen und gesellschaftlicher Dynamik, in: Tho-
mas Alkemeyer/Gunilla Budde/Dagmar Freist (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kul-
turelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013, S. 151–174, hier S. 164.
Diskurse – Körper – Ar tefak te 21
standen als permanenter „Überschreibungsprozess“ sozialer Praktiken mit dem Effekt, eingeübte Seh, Denk und Handlungsweisen zu verändern und im praktischen Vollzug neu hervorzubringen.77 Die daraus entstehenden Spannungen werden verstanden als fruchtbare Reibungen, die Reflexivität und Kritik ermöglichen und somit eine Voraussetzung gesellschaftlichen Wandels bilden.
Die Ursachen gesellschaftlichen Wandels werden in der Regel auf sogenannte „Basisprozesse“, auf „langfristige, evolutionäre Trends“, wie etwa die Industrialisierung, Modernisierung oder Staats und Nationenbildung zurückgeführt,78 für die die Frühe Neuzeit häufig als „Musterbuch der Moderne“ bemüht wird79. Was bis heute in der Geschichtswissenschaft als historisch relevante Gegenstände für die Erklärung von Wandel definiert wird,80 hat Hans Medick in einem 1994 erschienenen Aufsatz zu Recht als „Verwechselung der Größe des Erkenntnisgegenstandes mit einer Erkenntnisperspektive“ kritisiert. An die Stelle „universalisierender ‚Passepartout‘ Kategorien“,81 wie Familie, Staat, Individuum, Moderne als „unterstellte makrohistorische Substanzen“,82 müsse eine mikrohistorische Verfahrensweise treten, die der Unterschiedlichkeit und Fremdheit der Vergangenheit Rechnung trägt. Durch die „Verkleinerung des Beobachtungsmaßstabs“ werde zugleich eine „qualitative Erweiterung der historischen Erkenntnismöglichkeiten erreicht“83 und historische Besonderheiten
77 | Vgl. dazu ebd. und die Kritik von Marian Füssel an dem Begrif f der „Subversion“,
der einem ereignisgeschichtlichen (Miss)Verständnis von Subversion als Umsturz ge-
schuldet ist. „Überschreibungen“ meint die Gleichzeitigkeit von Reproduktion und Neu-
erschließung im Vollzug sozialer Praktiken.
78 | Dipper, Christof: Die deutsche Geschichtswissenschaft und die Moderne, in: Inter-
nationales Archiv für die Sozialgeschichte der Literatur 37 (2012), S. 37–62, hier S. 58f.
79 | Schulze, Winfried: „Von den großen Anfängen des neuen Welttheaters“. Entwick-
lung, neuere Ansätze und Aufgaben der Frühneuzeitforschung, in: Geschichte in Wis-
senschaft und Unterricht 44 (1993), S. 3–18, hier S. 9.
80 | So etwa Wolfgang Reinhard in seiner bekannten polemischen Abrechnung mit mi-
krohistorischen Ansätzen. Wolfgang Reinhard: Lebensformen Europas. Eine historische
Kulturanthropologie, München 2004, S. 18–34. Kritisch gegenüber unilinearen und
zentristischen historischen Sichtweisen Hans Medick schon 1984. Vgl. Medick, Hans:
Missionare im Ruderboot. Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die
Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), S. 295–319, hier S. 302f.
81 | Ebd., S. 302.
82 | Ders.: Mikro-Historie, in: Winfried Schulze (Hg.): Sozialgeschichte, Alltagsge-
schichte, Mikro-Historie, Göttingen 1994, S. 40–53, hier S. 45.
83 | Ebd., S. 44.
Dagmar Freist22
und Einzelheiten wie auch Kontingenzen und Möglichkeitsräume sichtbar.84 Anders als von einigen Kritikern mikrohistorischer Verfahren offensichtlich so verstanden, geht es dabei nicht um die Aneinanderreihung von „Fallstudien von unterschiedlichen Dimensionen“, deren Ergebnisse sich nicht verallgemeinern ließen und vor allem Abweichungen, die in dieser Lesart als rückständig definiert werden, thematisierten.85 Mikrohistorische Verfahren interessieren sich für die Bedingungen der Möglichkeiten von Handlungsweisen und analysieren „soziale Beziehungsnetze und Handlungszusammenhänge“ im Blick „auf die gesellschaftlichen, ökonomischen, kulturellen und politischen Bedingungen und Verhältnisse, die in und mit ihnen, durch und auch gegen sie zur Äußerung und zur Wirkung kommen“.86
Die Fokussierung auf soziale Praktiken in Gegenwart und Vergangenheit erlaubt in Anlehnung an mikrohistorische Verfahren eine solche Verkleinerung des Beobachtungsmaßstabs, um unter der wissenschaftlichen Beobachterperspektive eines mikroskopischen Blicks die Komplexität sozialer Praktiken, die Kontingenzen in den Vollzügen sozialer Praktiken, die Gleichzeitigkeiten verschiedener Möglichkeitsräume und damit auch die Gestaltbarkeit des Sozialen in je spezifischen „Praxisgegenwarten“87 sichtbar zu machen. Gerade die empirische Arbeit im DFGGraduiertenkolleg 1608/1 „Selbstbildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive“ an der Carl von OssietzkyUniversität Oldenburg hat „im Kontrast zu einer soziologischen Tradition, die das reibungslose Funktionieren des Sozialen ins Scheinwerferlicht rückt“ und einer historiographischen Tradition, die Wandel aus der Perspektive von Basisprozessen und unilinearen Entwicklungslinien beschreibt, die „Aufmerksamkeit auf Momente des Unerwarteten, der Beunruhigung, des Konflikts, der Unterbrechung und der Kritik, die in der Praxis auftauchen (können)“ gelenkt.88 Diese Aufmerksamkeitsverschiebung durch die empirische Arbeit hat eine Denkbewegung in der theoretischen Arbeit bewirkt, die zu einer Weiterentwicklung praxis und subjektivierungstheoretischer Grundannahmen geführt hat. Der derzeit zu beobachtenden einseitigen Verlagerung des praxistheoretischen Interesses „von den Akteuren
84 | Vgl. Davis, Natalie Zemon: Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des
Martin Guerre, München 1984.
85 | Reinhard, W.: Lebensformen Europas, S. 27.
86 | Medick, H.: Mikro-Historie, S. 45.
87 | Nassehi, Armin: Die Zeit der Gesellschaft. Zu einer soziologischen Theorie der Zeit.
Neuauflage mit einem Beitrag zu „Gegenwarten“, 2. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 11–32,
bes. S. 24–29.
88 | Neuantrag DFG-Graduier tenkolleg 1608/1 Selbstbildungen. Praktiken der Sub-
jektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive, Oldenburg, April 2014.
Vgl. auch Alkemeyer, T./Buschmann, N.: Praktiken der Subjektivierung (i.E.).
Diskurse – Körper – Ar tefak te 23
auf die Praktiken sowie die korrespondierende Tendenz zur Reduktion von Handeln auf Routinen“ wird eine Analyseperspektive entgegengesetzt, die die Unbestimmtheit praktischer Vollzüge fokussiert und somit auch die Bewältigungsstrategien im Umgang mit Kontingenzerfahrungen sichtbar macht.89
Aus dieser Perspektive zeigen sich Praktiken nicht nur als regelhafte, routinisierte und strukturierte Einheiten von Aktivitäten, sondern als offene Vollzüge, die von ihren Teilnehmern situationsadäquate Improvisationen und Bewältigungsstrategien erfordern. Mit dieser Neufokussierung wird eine makroanalytische bzw. makrohistorische Perspektive, in der Praktiken als scheinbar geordnet und regelhaft erscheinen und in die sich die Subjekte nur erfolgreich einfügen müssen, ja, in die sie gewissermaßen hineinrekrutiert werden, ergänzt durch die Teilnehmerperspektive der historischen Akteure, in der allein Momente der Überraschung, Irritation und Bewältigung in praktischen Vollzügen beobachtbar werden.90 Damit wird nicht für eine Rückkehr des autonomen Subjekts plädiert91, sondern es geht vielmehr darum, zu einem „praxeologischen Neuverständnis dieser Subjektivität“ zu kommen.92
Die Beiträge dieses Sammelbandes greifen diese Denkbewegung in unterschiedlicher Weise auf und sind entlang der Trias von Diskursen – Körpern – Artefakten in praxistheoretischer Lesart gruppiert. Die überwiegende Zahl der Beiträge konzentriert sich auf das Heilige Römische Reich, ein Beitrag auf Deutschland im 19. Jahrhundert, und vier Beiträge betrachten globalhistorische Phänomene aus praxeologischer Perspektive.
89 | Neuantrag DFG-Graduier tenkolleg 1608/1 Selbstbildungen. Praktiken der Sub-
jektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive, Oldenburg, April 2014,
sowie die Beiträge von Buschmann, Freist und Raapke in diesem Band.
90 | Diese praxistheoretische Erweiterung der Beobachterperspektiven als ein syste-
matischer Wechsel zwischen Theater- und Teilnehmerperspektive bildet ein Kernstück
der Arbeit des Oldenburger Graduier tenkollegs, das hier für eine historische Praxeologie
als Mikro-Historie fruchtbar gemacht wird. Für die Erweiterung der Beobachterperspek-
tive vgl. Alkemeyer, T./Buschmann, N.: Praktiken der Subjektivierung (i.E.).
91 | Füssel, Marian: Die Rückkehr des ‚Subjekts‘ in der Kulturgeschichte. Beobachtun-
gen aus praxeologischer Perspektive, in: Stefan Deines/Stephan Jaeger/Ansgar Nün-
ning (Hg.): Historisier te Subjekte – Subjektivier te Historie. Zur Ver fügbarkeit und Unver-
fügbarkeit von Geschichte, Berlin 2003, S. 141–159, bes. S. 156–159.
92 | Neuantrag DFG-Graduier tenkolleg 1608/1 Selbstbildungen. Praktiken der Sub-
jektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive, Oldenburg, April 2014,
sowie Alkemeyer, Thomas: Subjektivierung in sozialen Praktiken. Umrisse einer praxeo-
logischen Analytik, in: Ders./Gunilla Budde/Dagmar Freist (Hg.): SelbstBildungen.
Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013, S. 33–68, bes.
S. 61–68 und Alkemeyer, T./Buschmann, N.: Praktiken der Subjektivierung (i.E.).
Dagmar Freist24
Eine der zentralen Herausforderungen einer historischen Praxeologie besteht darin, dass vergangene Praktiken nicht im aktuellen Vollzugsgeschehen beobachtbar sind.93 Sie sind erstens gleichsam „eingefroren“ in historisch überlieferten Texten und Dingen und müssen aus dieser Überlieferung erschlossen werden, und sie sind zweitens beobachtbar in den Praktiken, die diese Texte und Dinge hervorgebracht haben. Soziale und kulturelle Praktiken zurückliegender Epochen werden beobachtbar in jeweils spezifischen Materialisierungen – etwa in Form von Briefen, Tagebüchern, Notizen, Bildern oder Dingen. Zugleich sind diese Materialisierungen das Ergebnis bestimmter Praktiken, etwa des Schreibens, der religiösen Praxis, der Improvisation oder des Sammelns.
Für die Analyse von Praktiken aus historischer Perspektive sollen hier fünf Analyseebenen vorgeschlagen werden, die je nach Erkenntnisinteresse zum Tragen kommen. Erstens die Praktiken der Text, Bild und Dingherstellung in je spezifischen „sites“.94 Zweitens die routinisierten und regelhaften Praktiken kollektiver Handlungsmuster (Sprachstile, Kleidungsverhalten, Raumanordnungen), die sich makroanalytisch als geordnete Praktikenkomplexe zeigen, etwa frühneuzeitlicher Briefsteller, Ärzte, Wissenschaftler, adlige Frauen, Katholiken. Drittens die Momente der Irritation, Reflexion und Transformation, die im Vollzug von Praktiken zu Bewältigungsstrategien, Anpassungen oder Überschreibungen führen. Viertens die Umgangs und Gebrauchsweisen von Dingen und dem Wissen – oder Nichtwissen über den Umgang mit Dingen; hier sind Bedeutungszuschreibungen und Wertigkeiten ebenso gemeint wie Verwendungszusammenhänge und Nichtpassungen. Und schließlich fünftens im Sinne Foucaults ein Verständnis diskursiver Praktiken, die „systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“.95 Die einzelnen Beiträge beziehen sich in unterschiedlicher Weise auf diese Analyseebenen.
Das Kapitel „Diskurse“ wird durch den Beitrag von Michael Stolberg mit dem Titel „Zwischen Identitätsbildung und Selbstinszenierung. Ärztliches SelfFashioning in der Frühen Neuzeit“ eröffnet. Ärzte im 16. und 17. Jahrhundert hatten einen regen Anteil an der Gelehrtenkorrespondenz ihrer Zeit, was sich nicht nur in zehntausenden von Briefen aus ärztlicher Feder und einer typischen gelehrten Aufschreibepraxis der Zeit niedergeschlagen hat, sondern
93 | Für eine Kontroverse um die Frage der „Öffentlichkeit von Praktiken“ als absolut
gesetzte Voraussetzung, um überhaupt praxeologisch arbeiten zu können, und eine Kri-
tik an dieser Haltung verbunden mit einem Plädoyer, die historische Dimension sozialer
Praktiken einzubeziehen vgl. Schmidt, R.: Soziologie der Praktiken, S. 237–262 und Hil-
lebrandt, Frank: Praktiken, in: Soziologische Revue 36 (2013), S. 300–303.
94 | Schatzki, T.: The Site of the Social sowie die Beiträge von Buschmann und Freist
in diesem Band.
95 | Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfur t a.M. 1969, S. 74.
Diskurse – Körper – Ar tefak te 25
auch in Ärzteporträts, die sie in Gelehrtenstuben zeigen. Dieser Gelehrtenhabitus, der von jungen Jahren an eingeübt wurde und als kollektives Handlungsmuster von Ärzten zumindest in der Draufsicht im 16. und 17. Jahrhundert sichtbar wird, stand allerdings in einem auffälligen, wie sich aber zeigen sollte, fruchtbaren Spannungsverhältnis zu der eigentlichen beruflichen Tätigkeit, den Alltagspraktiken von Ärzten. Nicht das gelehrte Schreiben, so Stolberg, son dern der kreatürliche, dahinsiechende Leib, der Umgang mit Exkrementen und handwerkliches Geschick standen im Mittelpunkt ihrer alltäglichen Arbeit. Damit bewegten sich Ärzte in der Praxis nicht nur in einem Feld mit Wunderheilern und Heilpraktikern, sondern häufig auch in einer sozialen Schicht, die mit dem Gelehrtenhabitus wenig anfangen konnte. Vor diesem Hintergrund geht Stolberg der Frage nach, ob dieser öffentlichkeitswirk sam inszenierte Anspruch auf Gelehrsamkeit als ein wesentliches Distinktionsmerkmal der Ärzte auf Anerkennung traf und was die jeweiligen Bedingungen dieser Anerkennung waren. Zugleich kann Stolberg aufzeigen, wie diese Gelehrtenpraktik der Ärzte als kollektive, routinierte Handlungsmuster „überschrieben“ wurden in den praktischen Vollzügen einer empirisch tätigen Ärzteschaft, deren sinnliche und manuelle Fertigkeiten und praktische Erfahrungen zunehmend wertgeschätzt wurden.
Nikolaus Buschmann eröffnet seinen Beitrag „Umkämpfte Erzählungen. Zur SelbstBildung eines jüdischen Ofziers in der preußischen Nachreformära“ mit der These, dass die Erinnerungen Meno Burgs „als eine Reflexion darüber gelesen werden (können), wie und in welcher Form die Arbeit am eigenen Selbst zum subjektiven ‚Gelingen‘ dieses Lebens beitrug“.96 Während diese Erinnerungen in Anlehnung an Andreas Reckwitz’ Pilotstudie „Das hy bri de Subjekt“ als erfolgreiche Einpassung in die hegemoniale Normativität von Bürgerlichkeit gelesen werden können, weist Buschmann auf bedeutungsvolle Ambivalenzen eines solchen Subjektbegriffs hin. Subjektwerdung sei eben nicht nur die Reproduktion kulturell präformierter Subjektformen, sondern gerade der so erfolgreiche Lebensweg des Juden Meno Burgs zeige die „Unverfügbarkeit und die Ungleichzeitigkeit dieses Lebensweges“. Damit treten die Bewältigungsstrategien des Protagonisten im Umgang mit unvorhergesehenen Entwicklungen in den Fokus, und der Prozess der Subjektivierung wird lesbar als ein „Ringen um Handlungsfähigkeit und Anerkennung in einer kontingenten sozialen Praxis“.
Der nächste Beitrag stammt aus der Feder von Lucas Haasis mit dem Titel „‚Noch bleibt mir ein Augenblick Zeit um mich mit Euch zu unterhalten.‘ Praxeologische Einsichten zu kaufmännischen Briefschaften des 18. Jahrhunderts“. Ausgehend von Etienne Wengers praxistheoretischem Konzept einer „community of practice“ analysiert Haasis, „wie Kaufleute des 18. Jahrhunderts
96 | Die Zitate stammen aus dem Beitrag von Nikolaus Buschmann in diesem Band.
Dagmar Freist26
sich und ihre Aktivitäten, eingefangen in kollektiven Aushandlungsprozessen im Zeitverlauf, plausibilisierten, wie sich nicht nur SelbstEntwürfe abbildeten, sondern vielmehr Festschreibungen, SelbstVerwicklungen im Zeitverlauf vollzogen und durch die Briefkorrespondenz materielle Beglaubigungen erfuhren“.97 Die Grundlage der Analyse bildet eine Abwerbungspraxis unter Kaufleuten, die sich über das komplett erhaltene Kaufmannsarchiv des Hamburger Kaufmanns Nicolaus Gottlieb Lütkens aus der Zeit seiner ersten kaufmännischen Etablierungsversuche nachzeichnen lässt. In einem polyphonen Briefgespräch werden die Kontingenz der Praxis im kaufmännischen Miteinander und die Bemühungen der Akteure sichtbar, in immer wieder neu zu er probenden Briefpraktiken die gesetzten Ziele zu erreichen, Anerkennung zu finden und unerwartete Wendungen zu meistern.
Ausgehend von der berechtigten Kritik an einem zu starren Modell der Ständegesellschaft, mit der die Dynamisierung der frühneuzeitlichen Gesellschaft nicht erklärt werden kann, bietet Marian Füssel in seinem Beitrag „Die relationale Gesellschaft. Zur Konstitution ständischer Ordnung in der Frühen Neuzeit aus praxeologischer Perspektive“ eine alternative Lesart an. Er richtet den Fokus auf die permanenten Distinktionskämpfe unterschiedlicher sozialer Gruppen, die die Beziehungen der einzelnen Akteure untereinander immer wieder neu auszuhandeln und zu stabilisieren suchten. Den Kern seines Beitrags bildet ein relationales Verständnis ständischer Ordnung als soziale Praxis, das er in fünf Schritten entwickelt. An konkreten Bei spielen wird die konstitutive Bedeutung von Artefakten und Körpern für die symbolische Hervorbringung von Status und gesellschaftlicher Position deutlich. Aus praxeologischer Perspektive kann Füssel zeigen, dass ständische Subjekte nicht den Ausgangspunkt sozialen Handelns bilden, sondern das Ergebnis einer Vielzahl von Praktiken sind. Abschließend wird die Frage nach gesellschaftlichem Wandel und Aufbrüchen aus der Ständegesellschaft aufgeworfen.
Der Beitrag von Constantin Rieske mit dem Titel „Beyond the Sea: Praktiken des Reisens in Glaubenswechseln im 17. Jahrhundert“ richtet das Augenmerk auf das konstitutive Wechselspiel von Reisen und Konversion. Den Ausgang bildet nicht eine konfessionelle Identität, die gewechselt wird, also ein religiöses Ausgangs und Endsubjekt, sondern die Aufmerksamkeit richtet sich auf den Glaubenswechsel als komplexen Prozess religiöser Subjektivierung. Damit rücken die Praktiken des Glaubenswechsels, Beobachtungen von Glaubenspraktiken, Einübung und Inkorpierung mit all den dazugehörigen Irritationen des eigenen Selbst und Weltverhältnisses in den Mittelpunkt der Analyse, es geht kurz gesagt um das „Wie“ des Glaubenswechsels, weniger um das Warum. Durch eine praxeologische Relektüre von Konversionsberichten,
97 | Die Zitate stammen aus dem Beitrag von Lucas Haasis in diesem Band.
Diskurse – Körper – Ar tefak te 27
Briefen und Tagebüchern spürt Rieske den vielschichtigen Praktiken religiöser Subjektivierung nach.
Den Abschluss dieses Kapitels bildet der Beitrag von Eva Brugger „Szenen der Subjektivierung. Zu den Schriftpraktiken der Wallfahrt im 18. Jahrhundert“. Im Mittelpunkt ihres Beitrags steht die Verschiebung von Wallfahrtspraktiken vom Körper der Gläubigen hin zur Ordnung der Liste im Verlauf des 18. Jahrhunderts. Ursache ist nicht nur die Kritik der Aufklärung an den körperbetonten Glaubenspraktiken der Altgläubigen, die detailliert in Reiseberichten beschrieben werden, sondern auch die Entstehung von Nahwallfahrtsorten. Körperpraktiken werden ergänzt durch Praktiken des Verzeichnens und Darstellens in sogenannten Mirakel- und Guttatenlisten; damit erlangen Schrift und Artefakte, vor allem Gnadenbilder, durch eine neue ihnen zugeschriebene Wirkmächtigkeit eine besondere Rolle in der Vermittlung göttlichen Heils und der heilenden Kraft göttlicher Gnade außerhalb der großen Wallhaftsorte. Zugleich, so Brugger, prägen die Aufzeichnungen von Wallfahrten und Gnadenerlebnissen den Rahmen, innerhalb dessen Gnade erwartet werden konnte, und erreichen damit auf gewisse Art und Weise eine disziplinierende Wirkung – als Antwort auf Bestrebungen der Gläubigen, sich durch veränderte Glaubenspraktiken eben dieser obrigkeitlichen Kontrolle zu entziehen.
Das nächste Kapitel ist mit „Körper“ überschrieben und wird eröffnet mit dem Beitrag von Christina Beckers unter dem Titel „Die Puppenkinder der Margaretha Kahlen. Eine Geschichte der Inszenierung von Weiblichkeit zwischen körperlichem Eigensinn und sozialen Praktiken im ausgehenden 16. Jahr hundert“. Den Ausgangspunkt dieses Beitrags bildet der ungewöhnliche Fall vorgetäuschter Schwangerschaften und Totgeburten der Margaretha Kahlen, die mit diesen Inszenierungen versuchte, die gesellschaftliche Anerkennung als Mutter, zumindest doch ihrer Fruchtbarkeit zu gewinnen. Beckers vergleicht den Fall Kahlen zunächst mit ähnlichen, bereits bekannten Fällen vorgetäuschter Schwangerschaft und den jeweils damit verbundenen Körperinszenierungen und wahrnehmungen, um dann den Fokus auf die Praktiken zu lenken, mit denen Margaretha ihre Schwangerschaften und Geburten darstellte. Beckers fragt zum einen danach, auf Grundlage welcher „‚Sehgewohnheiten‘ und diskursiv verankerter Wahrnehmungsdispositionen ihre Inszenierung glücken konnte“, und wie Margaretha in einer über die „verschiedenen Korrelationen von Artefakten und Koakteuren in geteilten Praktiken entstehenden Gemeinschaft“ von ihren gesellschaftlichen Mitspielern als Schwangere anerkannt wurde.98
In ihrem Beitrag „‚… daß mein leib mein seye‘: Selbstpositionierungsprozesse im Spiegel erzählter Körperpraxis in den Briefen Liselottes von der Pfalz
98 | Die Zitate stammen aus dem Beitrag von Christina Beckers in diesem Band.
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(1652–1722)“ befasst sich Mareike Böth zum einen mit der Formierung habitueller Dispositionen und gewohnter Körperpraxis Liselottes von der Pfalz, in dem sie das Augenmerk auf das umfangreiche praktische Handlungsrepertoire legt, mit dem Liselotte bereits als Kind konfrontiert wurde. Der Umgang mit dem kranken Leib/Körper wurde permanent eingeübt und findet Ausdruck in den Briefen Liselottes. Zum anderen fungiert der gesunde Körper in den Briefpraktiken als narratives Muster einer gemeinsam erfahrbaren Körper konstitution, über die die familiäre Zugehörigkeit beglaubigt wurde. Die Selbstthematisierungen über den Körper und dessen Umgangsweisen umfassten auch Vorstellungen von Tugend und angemessenen Verhaltensweisen, die eingeübt wurden und deren Irritationen durch fremde Körperpraktiken am französischen Hof körperlich erfahrbar waren. Böth kann zeigen, dass für Liselotte das Schreiben über ihren Körper eine Praxis der Selbstvergewisserung ihrer Zugehörigkeit zu ihrer Herkunftsfamilie darstellte.
Den Abschluss dieses Kapitels bildet der Beitrag von Annika Raapke mit dem Titel „‚In Gelb!‘ Selbstentwürfe eines Mannes im Fieber“. Ausgangspunkt ihrer Studie sind die Briefe eines französischen Soldaten, Lelong, der nach zweimonatiger Schiffsreise auf Martinique eintraf, dort die ersten Anzeichen des weit verbreiteten Gelbfiebers verspürte und einem weiten Adressatenkreis seine körperliche Befindlichkeit in immer anderen Variationen per Brief schilderte. Alle Sinnstiftung, alle Bedeutung, so die zentrale These dieses Beitrags, nimmt ihren Anfang über den Körper Lelongs, dessen Praktiken, Wahr nehmung und Umgangsweisen, die in den Briefen über Jahrhunderte festgehalten wurden. Raapke untersucht diese Gelbfieberepisode Lelongs in zwei facher Weise praxeologisch. Zum einen analysiert sie anhand seiner detaillierten Krankheitsschilderungen die Praktiken der Krankheitsbewältigung in den Umgangsweisen von Ärzten und Patient und zeigt, dass Praktiken aus zurückliegenden Epochen auch außerhalb ihres Aufführungskontextes beobachtbar werden. Zum anderen geht es ihr darum, diskursive Praktiken – in Anlehnung an Reckwitz als Praktiken der sprachlichen Verarbeitung raumzeitlich und kulturell gebundener Denk und Sagbarkeiten – des Schreibens über Gelbfieber zu identifizieren und hier insbesondere den mit Gelbfieber verbundenen Diskurs einer spezifischen Männlichkeit.
Das dritte und letzte Kapitel steht unter der Überschrift „Artefakte“. Der erste Beitrag stammt von Mikael Alm mit dem Titel „Überlegungen zu einer Nationaltracht. ‚Social Imaginary‘ im Schweden des späten 18. Jahrhunderts“. Ähnlich wie Füssel fragt Alm danach, wie sich die Dynamik der frühneuzeitlichen Gesellschaft, die sich als komplexere Wirklichkeit hinter dem vertrauten Bild der Ständegesellschaft abzeichnet, analytisch einfangen lässt. Den Ausgangspunkt seiner Studie bilden 73 Aufsätze aus unterschiedlicher Feder, die als Reaktion auf ein Preisausschreiben über die Vor und Nachteile einer schwedischen Nationaltracht bei der Königlichen Patriotischen Gesellschaft in
Diskurse – Körper – Ar tefak te 29
Stockholm im Jahre 1773 eingereicht worden waren. Was die einzelnen Aufsätze bei allen Unterschieden vereint, sind die Reflexionen der Autoren und Autorinnen über die soziale Ordnung und die eigenen Beobachtungen über die Relevanz von Kleidung, Farben und Formen für die jeweiligen gesellschaftlichen Positionierungen einzelner Akteure und die gesellschaftliche Lesbarkeit dieser Selbstentwürfe. Nicht die geburtsstandrechtliche Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen Stand, sondern erst deren performativer Vollzug in Praktiken, die für alle lesbar sind, entscheiden über soziale Hierarchisierungen und Differenzierungen im Alltag.
Frank Schmekel befasst sich in seinem Beitrag mit dem Thema „Was macht ein(en) Hausmann? Eine ländliche Elite zwischen Status und Praktiken der Legitimation“ mit den je spezifischen Distinktionspraktiken ländlicher Oberschichten in Nordwestdeutschland. Der Beitrag geht davon aus, dass sich die herausgehobene gesellschaftliche Stellung dieser ländlichen Oberschichten, die so genannten Hausmänner, nicht allein mit der Übernahme bestimmter Ämter, mit ihrem Vermögen und dem Genuss bestimmter Privilegien erklären lässt. Erst im praktischen Vollzug kollektiver Handlungsmuster, die von den Zeitgenossen verstehbar waren als Anspruch auf eine herausgehobene gesellschaftliche Stellung und in Praktiken der Ehrerbietung anerkannt wurden, wird der Anspruch auf soziale Distinktion beobachtbar. Insbesondere in einer Region, die zum einen sehr ländlich geprägt und abgeschieden war, zum anderen insbesondere durch Wasserstraßen mit den großen Handelszentren bis nach Bremen, Amsterdam und London verbunden war, erhielten Artefakte eine besondere Bedeutung als Distinktionsmittel.
Beverly Lemire eröffnet ihren Beitrag „Wie frühneuzeitliche Gesellschaften in Mode kamen. Indische Baumwollstoffe, materielle Politik und konsumentengesteuerte Innovationen in TokugawaJapan und England in der Frühen Neuzeit“ mit der These: Kleidung ist politisch. Überzeugend kann sie aufzeigen, welche politische Wirkmächtigkeit Mode als eines der umstrittensten Konsumgüter der Frühen Neuzeit entfalten konnte dank ihrer Fähigkeit, die Träger immer wieder neu körperlich und gesellschaftlich zu formen und die Sehgewohnheiten aus dem Gleichgewicht zu bringen. Eine zentrale Rolle in diesen Praktiken des Zeigens und Sehens in Mode spielten indische Baumwollstoffe, die gesellschaftlich und politisch sowohl in Europa wie auch in Japan die Eigenschaft von KatalysatorGütern annahmen. Das gesellschaftlich irritierende dieses Artefaktes war dessen wandelbare Erscheinung, die simple Klassifizierungen als mondän oder luxuriös nicht zuließen. Lemire zeigt in ihrem Beitrag, wie indische Baumwollstoffe als Teilhaber an Praktiken in immer neuen Variationen kollektive Performanzen von Distinktion, Zugehörigkeit und Ausgrenzung ermöglichten und als beunruhigende Zeichen sozialer Positionierung politische und gesellschaftliche Abwehrhaltungen auslösten.
Dagmar Freist30
Meg Williams zeigt in ihrem Beitrag „‚Zu Notdurfft der Schreiberey‘: Die Einrichtung der frühneuzeitlichen Kanzlei“, in welcher Weise die physischen und materiellen Settings die administrativen Schreib und Kanzleipraktiken am Habsburger Hof im 16. Jahrhundert hervorgebracht haben. In ihrer Analyse geht es ihr weniger um den Idealtypus einer frühneuzeitlichen Kanzlei, sondern darum, wie die Techniken des Schreibens und die Materialität von Verwaltung die Arbeitsabläufe prägten. Mit ihrer Fokussierung auf die Beziehungen zwischen Räumen, Menschen, Objekten und Praktiken kann Williams am Beispiel der Administration Ferdinands I. ein bemerkenswertes Ineinandergreifen der habsburgischen Regierung und des habsburgischen Haushalts nachweisen und ein komplexeres Bild frühneuzeitlicher Administration zeichnen, als es aus der traditionellen Perspektive der Bürokratisierung oder administrativer Efzienz gelingt. Dabei thematisiert sie auf einer breiten Quellengrundlage den Einfluss der materiellen Ausstattung der Kanzlei auf die praktischen und räumlichen Erfahrungen ihrer Mitglieder und analysiert die materiellen Konventionen und Alltagspraktiken der Kanzlei.
Den Abschluss des Kapitels bildet der Beitrag von Dagmar Freist zu dem Thema „‚Ich schicke Dir etwas Fremdes und nicht Vertrautes‘: Briefpraktiken als Vergewisserungsstrategie zwischen Raum und Zeit im Kolonialgefüge der Frühen Neuzeit“. Ausgehend von der Wahrnehmung der außereuropäischen Welt als Ungewissheitsraum, in denen routinierte Handlungssicherheit verloren geht und vertraute Alltagspraktiken scheitern, analysiert der Beitrag, wie sich die Einlassungen mit diesen Ungewissheitsräumen zum einen in Praktiken der Prävention, des Riskierens und der Improvisation, zum anderen in Praktiken der Erzeugung von Orientierung und Gewissheiten zeigen. Exemplarisch für diese Ungewissheitsräume steht in diesem Beitrag der Atlantik, der in Anlehnung an Theodore Schatzki praxistheoretisch rekonzeptualisiert wird als „social site“. Aus mikrohistorischer Perspektive werden so die Kontingenz sozialer Praktiken und Bewältigungsstrategien der Akteure sichtbar und die vielschichtigen Verwendungszusammenhänge und Bedeutungszuschreiben von Dingen in Selbstvergewisserungsstrategien.