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Nr. 5 | 32. Jahrgang 2002 | Biologie in unserer Zeit | 267 | EDITORIAL D as Jahr 2001 wurde zum „Jahr der Lebenswissenschaften“ proklamiert, und Biologen machten in vielen Veranstal- tungen und Veröffentlichungen auf die Bedeutung ihres Faches aufmerksam, das sich in den vergangenen Jahrzehnten un- glaublich rasch entwickelt hat. D as Jahr 2002 ist das „Jahr der Geowissenschaften“, und es wird deutlich, wie eng diese beiden Wissenschaftsberei- che miteinander verzahnt sind: Jedes Jahr nutzt die Menschheit mehrere Milliarden Tonnen Erdöl und Kohle als Energieliefe- ranten – also Reste von in früheren Zeiten auf dem Globus lebenden Organismen. Das bei deren Verbrennung frei wer- dende Kohlendioxid, über viele Millionen Jahre in den Tiefen der Fossillagerstätten gebunden und somit biogeochemischen Kreisläufen entzogen, beginnt sich als anthropogener Treib- hauseffekt auf das globale Klima auszuwirken. Vor etwa 300 Millionen Jahren – im Karbon – bedeckten gigantische Stein- kohlenwälder große Areale, fixierten Mengen von Kohlendioxid und senk- ten somit die Kohlendioxid-Konzen- tration der Erdatmosphäre. Die per- mokarbonische Eiszeit veränderte das Gesicht der Erde dramatisch. N ur 50 Millionen Jahre nach den Karbonwäldern wurden Teile des heutigen Mitteleuropas von dem flachen, tropischen Zech- steinmeer überflutet, es entstanden riesige Salzlager. Deutsch- land ist daher heute eines der salzreichsten Länder der Erde. Im anschließenden Erdmittelalter kam es zu umfangreichen marinen Ablagerungen von Karbonaten, die heute von der Bau- stoffindustrie genutzt werden. Was wären die mitteleuropä- ischen Länder ohne diese biogenen Rohstoffe? Unterent- wickelte Regionen? Wie auch immer! Die Erdgeschichte einer Region wirkt ganz entscheidend in die heutige Zeit hinein, viel mehr, als den meisten von uns bewusst ist. D ie Erde ist ein ruheloser Planet, die Zusammensetzung der kontinentalen Kruste, speziell in Europa, chaotisch, und das macht die Erdgeschichte so faszinierend. Halten Sie sich vor Augen, dass vor 100 Millionen Jahren bei uns Saurier weideten, wo heute Kühe grasen, dass vor 20 000 Jahren, zur Zeit des letzten glazialen Maximums, Norddeutschland große Ähnlichkeit mit dem heutigen Grönland hatte. Der Meeres- spiegel lag damals über 100 Meter unter dem heutigen. Und noch vor 10 000 Jahren lag die Nordseeküste zwischen Skagen und Schottland. In nur 3000 Jahren wurde damals aus einer Mammutzähne in der Nordsee Volker Storch ist Professor für Zoologie an der Universität Heidelberg und seit einem Jahrzehnt mit Biologie in unserer Zeit als Kurator verbunden. flachen Küstenebene ein flaches Schelfmeer – die Nordsee, von deren Grund die Fischer heute des öfteren noch Mam- mutzähne hochholen. H ier setzt eine neue Artikelfolge in der BIUZ ein: „Ausflug in die Erdgeschichte“. Fachleute werden vergangene Zeit- abschnitte so darstellen, dass der Bezug zur heutigen Welt deut- lich wird. Wir beginnen mit dem Karbon, und der Autor And- reas Braun zeigt, dass in dieser Zeit sehr viel mehr passierte als das Heranwachsen und Vergehen von Lepidodendron- und Si- gillaria-Wäldern. D ie Geowissenschaften vermitteln uns nicht nur einen Ein- blick in die Vergangenheit unseres Planeten, sondern auch in globale Dimensionen der Gegenwart, und da setzt ein geomedizinisch-molekularbiologischer Artikel ein, den ich be- sonders hervorheben möchte. Er betrifft die Schlafkrankheit, eine Geißel Afrikas, die schon weitgehend be- siegt schien. Ihre Erreger sind zu Paradebei- spielen der molekularbiologischen Forschung avanciert, Phänomene wie Antigenvariation, Trans-Spleißen, polycistronische Transkrip- tion und RNA-Editieren werden mit ihnen ver- bunden. Doch trotz aller neuen Forschungs- ergebnisse hat die Zahl der Erkrankten in Afri- ka rapide zugenommen, und viele der von der Tsetse-Fliege Glossina mit Trypanosomen infizierten Men- schen sterben ohne Behandlung. Die Situation ist grotesk, denn ein neuer Wirkstoff ist vorhanden und wird – !! – in den rei- chen Ländern als Enthaarungsmittel eingesetzt. August Stich und Dietmar Steverding schreiben die spannende Geschichte. D aneben bietet dieses Heft wiederum ein Spektrum inte- ressanter Artikel aus Zell- und Molekularbiologie, Um- weltforschung und Botanik. Der Bericht „Von der Altlast zum See“ betrachtet das Thema „Kohle“ übrigens aus einem ande- ren Blickwinkel: Ulrich Stottmeister, Erika Weißbrodt und Jörg Tittel berichten über Altlasten in ausgekohlten Tagebauen – und darüber, wie man in den übelriechenden Deponien wie- der eine natürliche Selbstreinigung in Gang setzen kann. Viel Spass beim Lesen und engagierte Diskussionen wünscht Ihnen – Ihr VOLKER STORCH „DIE ERDE IST EIN RUHE- LOSER PLANET – UND DAS MACHT DIE ERDGESCHICHTE SO FASZINIEREND.“

Editorial: Mammutzähne in der Nordsee

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Nr. 5 | 32. Jahrgang 2002 | Biologie in unserer Zeit | 267

| E D I TO R I A L

Das Jahr 2001 wurde zum „Jahr der Lebenswissenschaften“

proklamiert, und Biologen machten in vielen Veranstal-

tungen und Veröffentlichungen auf die Bedeutung ihres Faches

aufmerksam, das sich in den vergangenen Jahrzehnten un-

glaublich rasch entwickelt hat.

Das Jahr 2002 ist das „Jahr der Geowissenschaften“, und es

wird deutlich, wie eng diese beiden Wissenschaftsberei-

che miteinander verzahnt sind: Jedes Jahr nutzt die Menschheit

mehrere Milliarden Tonnen Erdöl und Kohle als Energieliefe-

ranten – also Reste von in früheren Zeiten auf dem Globus

lebenden Organismen. Das bei deren Verbrennung frei wer-

dende Kohlendioxid, über viele Millionen Jahre in den Tiefen

der Fossillagerstätten gebunden und somit biogeochemischen

Kreisläufen entzogen, beginnt sich als anthropogener Treib-

hauseffekt auf das globale Klima auszuwirken. Vor etwa 300

Millionen Jahren – im Karbon – bedeckten gigantische Stein-

kohlenwälder große Areale, fixierten

Mengen von Kohlendioxid und senk-

ten somit die Kohlendioxid-Konzen-

tration der Erdatmosphäre. Die per-

mokarbonische Eiszeit veränderte

das Gesicht der Erde dramatisch.

Nur 50 Millionen Jahre nach den

Karbonwäldern wurden Teile

des heutigen Mitteleuropas von dem flachen, tropischen Zech-

steinmeer überflutet, es entstanden riesige Salzlager. Deutsch-

land ist daher heute eines der salzreichsten Länder der Erde.

Im anschließenden Erdmittelalter kam es zu umfangreichen

marinen Ablagerungen von Karbonaten, die heute von der Bau-

stoffindustrie genutzt werden. Was wären die mitteleuropä-

ischen Länder ohne diese biogenen Rohstoffe? Unterent-

wickelte Regionen? Wie auch immer! Die Erdgeschichte einer

Region wirkt ganz entscheidend in die heutige Zeit hinein, viel

mehr, als den meisten von uns bewusst ist.

Die Erde ist ein ruheloser Planet, die Zusammensetzung

der kontinentalen Kruste, speziell in Europa, chaotisch,

und das macht die Erdgeschichte so faszinierend. Halten Sie

sich vor Augen, dass vor 100 Millionen Jahren bei uns Saurier

weideten, wo heute Kühe grasen, dass vor 20 000 Jahren, zur

Zeit des letzten glazialen Maximums, Norddeutschland große

Ähnlichkeit mit dem heutigen Grönland hatte. Der Meeres-

spiegel lag damals über 100 Meter unter dem heutigen. Und

noch vor 10 000 Jahren lag die Nordseeküste zwischen Skagen

und Schottland. In nur 3000 Jahren wurde damals aus einer

Mammutzähne in der Nordsee

Volker Storch ist Professor für Zoologiean der Universität Heidelberg und seit einem Jahrzehnt mitBiologie in unserer Zeitals Kurator verbunden.

flachen Küstenebene ein flaches Schelfmeer – die Nordsee,

von deren Grund die Fischer heute des öfteren noch Mam-

mutzähne hochholen.

Hier setzt eine neue Artikelfolge in der BIUZ ein: „Ausflug

in die Erdgeschichte“. Fachleute werden vergangene Zeit-

abschnitte so darstellen, dass der Bezug zur heutigen Welt deut-

lich wird. Wir beginnen mit dem Karbon, und der Autor And-

reas Braun zeigt, dass in dieser Zeit sehr viel mehr passierte als

das Heranwachsen und Vergehen von Lepidodendron- und Si-

gillaria-Wäldern.

Die Geowissenschaften vermitteln uns nicht nur einen Ein-

blick in die Vergangenheit unseres Planeten, sondern

auch in globale Dimensionen der Gegenwart, und da setzt ein

geomedizinisch-molekularbiologischer Artikel ein, den ich be-

sonders hervorheben möchte. Er betrifft die Schlafkrankheit,

eine Geißel Afrikas, die schon weitgehend be-

siegt schien. Ihre Erreger sind zu Paradebei-

spielen der molekularbiologischen Forschung

avanciert, Phänomene wie Antigenvariation,

Trans-Spleißen, polycistronische Transkrip-

tion und RNA-Editieren werden mit ihnen ver-

bunden. Doch trotz aller neuen Forschungs-

ergebnisse hat die Zahl der Erkrankten in Afri-

ka rapide zugenommen, und viele der von

der Tsetse-Fliege Glossina mit Trypanosomen infizierten Men-

schen sterben ohne Behandlung. Die Situation ist grotesk, denn

ein neuer Wirkstoff ist vorhanden und wird – !! – in den rei-

chen Ländern als Enthaarungsmittel eingesetzt. August Stich

und Dietmar Steverding schreiben die spannende Geschichte.

Daneben bietet dieses Heft wiederum ein Spektrum inte-

ressanter Artikel aus Zell- und Molekularbiologie, Um-

weltforschung und Botanik. Der Bericht „Von der Altlast zum

See“ betrachtet das Thema „Kohle“ übrigens aus einem ande-

ren Blickwinkel: Ulrich Stottmeister, Erika Weißbrodt und Jörg

Tittel berichten über Altlasten in ausgekohlten Tagebauen –

und darüber, wie man in den übelriechenden Deponien wie-

der eine natürliche Selbstreinigung in Gang setzen kann.

Viel Spass beim Lesen und engagierte Diskussionen wünscht

Ihnen – Ihr

VOLKER STORCH

„DIE ERDE IST EIN RUHE-

LOSER PLANET – UND DAS

MACHT DIE ERDGESCHICHTE

SO FASZINIEREND.“