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Frederick Forsyth
Ein pflichtbewusster Bürger
Die Heimreise mochte er am liebsten. In den mehr als dreißig Jahren, die er für British
Airways riesige Aluminiumröhren um den Globus steuerte, hatte er über siebzig
Metropolen gesehen, die meisten von ihnen Hauptstädte. Der ursprüngliche Reiz des
Neuen war schon lang verflogen.
Vor dreißig Jahren jedoch, als die beiden Streifen des Offiziersanwärters frisch
auf den Ärmeln seiner Uniformjacke prangten, war er noch jung und
unternehmungslustig gewesen und hatte die Chance, ferne und fremde Länder
kennenzulernen, gern wahrgenommen. Während der großzügig bemessenen
Zwischenaufenthalte hatte er das Nachtleben in Europa und in den USA genossen und
sich die Tempel und Schreine des Fernen Ostens angesehen. Jetzt aber träumte er nur
noch von seinem Haus in der Nähe von Dorking.
Damals hatte er sich in kurze, aber stürmische Affären mit den schönsten
Stewardessen gestürzt, doch seit sie verheiratet waren, hatte Susan solchen Eskapaden
den Riegel vorgeschoben. Nach über fünftausend Nächten in Hotelbetten wollte er nur
noch eins: in die eigenen Federn sinken und den leichten Lavendelduft von Susan
einatmen, die neben ihm lag.
Ein Sohn und eine Tochter gaben seinem Leben Stabilität und einen weiteren
Grund, gern heimzukommen. Charles, das Flitterwochenbaby, war jetzt dreiundzwanzig
und programmierte Computer. Die achtzehnjährige Jennifer studierte an der Universität
von York Kunstgeschichte. In zwei Jahren würde er in Pension gehen. Schon jetzt
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bedeutete ihm der Anblick von Susan, die wartend in der Tür stand, wenn er mit seinem
Kombi in die Einfahrt von Watermill Lane bog, mehr als jedes noch so exotische Land.
Auf dem Autositz neben ihm blickte der zweite Kapitän auf den Hinterkopf des
Fahrers. Links von ihm starrten die beiden Ersten Offiziere mit noch immer
ungesättigter Neugier auf das Neonlichtermeer von Bangkok, das immer mehr in der
Ferne verblasste. Im hinteren Teil des Mannschaftsbusses saß die Kabinenbesetzung:
der Chefsteward, vier Stewards und elf Stewardessen. Die Klimaanlage des Busses
schützte sie vor der schwülen Hitze draußen. Vor zwei Tagen war er mit derselben
Besatzung von Heathrow hergeflogen, und er wusste, dass der Chefsteward von der
Cockpittür bis zur Schwanzflosse alles im Griff hatte. Das war schließlich sein Job, und
auch er war ein alter Veteran.
Der Job von Captain Adrian Fallon war es, einen weiteren Jumbojet, eine
Boeing 747-400 mit über vierhundert Passagieren, von Bangkok nach London
Heathrow zu fliegen. Oder, wie bald in seinem Logbuch stehen würde, von BKK nach
LHR.
Zwei Stunden vor Abflug bog der Mannschaftsbus in das Flughafengelände ein,
wurde vom Wachposten am Tor durchgewinkt und fuhr weiter zum Büro von British
Airways. Zwei Stunden waren eine lange Vorlaufzeit, doch Captain Fallon war ein
Pedant. Laut Information des BA-Büros würde der Speedbird One Zero aus Sydney, der
um fünfzehn Uhr dreißig Ortszeit gestartet war, pünktlich um einundzwanzig Uhr
fünfundvierzig in Bangkok landen. Was hieß, dass er sich bereits im Landeanflug
befand.
Eine Meile hinter dem Mannschaftsbus fuhr eine schwarze Limousine. Hinter
dem livrierten Chauffeur hatte es sich ein einziger Fahrgast auf dem Rücksitz bequem
gemacht. Wagen und Chauffeur gehörten zum exklusiven Hotel Oriental, in dem der
tadellos gekleidete Geschäftsmann für drei Tage abgestiegen war. Im Kofferraum der
Limousine befand sich ein Lederkoffer mit soliden Kupferverschlüssen. Er verriet einen
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Besitzer, der mit leichtem Gepäck, aber nicht billig reiste. Neben dem Mann lag ein
Diplomatenkoffer aus echtem Krokodilleder.
In der Innentasche seines elegant geschnittenen, cremefarbenen Seidenanzugs
steckte ein britischer Pass auf den Namen Hugo Seymour und ein Rückflugticket von
Bangkok nach London. Erster Klasse, natürlich. Während der Speedbird One Zero von
der Lande- auf die Rollbahn bog und langsam auf die Abflughalle von BA zufuhr, hielt
die Limousine vor dem Abfertigungsgebäude.
Mr. Seymour schob den Gepäckwagen mit seinem Koffer nicht selbst. Er hob
eine manikürte Hand, und ein kleiner Thai-Kuli eilte herbei. Der Geschäftsmann gab
dem Chauffeur ein Trinkgeld, wies mit einer Kopfbewegung auf sein Gepäckstück im
offenen Kofferraum und folgte dem Kuli ins Abfertigungsgebäude, wo er auf den Erste-
Klasse-Schalter von British Airways deutete. Der schwülen Hitze der Tropennacht war
er nicht länger als dreißig Sekunden ausgesetzt gewesen.
Für ein Einchecken in der ersten Klasse braucht man normalerweise keine
Stunde und fünfundvierzig Minuten. Der junge Angestellte hinter dem Schalter hatte
noch nichts zu tun. Innerhalb von zehn Minuten war der Lederkoffer auf dem Weg in
den Gepäckraum, wo er anhand der Aufkleber eindeutig dem Londonflug von BA
zugeordnet wurde. Mr. Seymour bekam seine Bordkarte und wurde in die
Wartelounge der ersten Klasse geschickt, die jenseits der Passkontrolle lag.
Der uniformierte thailändische Passbeamte schaute in den weinroten
Reisepass, auf die Bordkarte und schließlich in das Gesicht auf der anderen Seite der
Glasscheibe. Ein Mann mittleren Alters blickte ihn an, leicht gebräunt, glatt rasiert,
das eisgraue Haar frisch gewaschen und geföhnt. Der Passbeamte registrierte ein
faltenfreies weißes Seidenhemd ohne jede Schweißspur, eine Seidenkrawatte von Jim
Thompson und den oberen Teil eines cremefarbenen Seidenanzugs von einem der
besseren Herrenausstatter Bangkoks, die innerhalb von dreißig Stunden die perfekte
Kopie eines Anzugs aus der Savile Row anfertigen konnten. Er schob den Pass unter
der Glasscheibe zurück.
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“Sawat-di, krab”, murmelte der Engländer. Der thailändische Beamte sah auf
und lächelte anerkennend, weil man ihm in seiner Muttersprache dankte, was für
einen Ausländer ungewöhnlich war.
Irgendwo außer Sichtweite stiegen die Fahrgäste, die von Sydney nach
Bangkok geflogen waren, aus der Boeing und schlängelten sich durch die langen
Korridore zur Passkontrolle. Ihnen folgten die Transitpassagiere. Als das Flugzeug
endlich leer war, konnte sich die Reinigungsmannschaft der neunundfünfzig
Sitzreihen annehmen. Später würden sie vierzehn Säcke sortierten Müll aus dem
Flugzeug tragen.
Mr. Seymour ging mit seinem Diplomatenkoffer in der Hand gemessenen
Schrittes zur Lounge der ersten Klasse, wo ihm zwei atemberaubend schöne
Thaimädchen einen Sitzplatz zuwiesen und ihn mit einem Glas gut gekühlten,
trockenen Weißwein begrüßten. Schweigend nahm er zwischen den zwanzig anderen
Passagieren Platz, die in der großen klimatisierten Luxuslounge warteten, und vergrub
sich in einen Artikel der Zeitschrift Forbes.
Der Abfertigungsschalter der ersten Klasse hatte sich nur wenige Schritte von
dem der Clubklasse entfernt befunden. Doch das hatte den Geschäftsmann nicht
weiter interessiert, deshalb hatte er es auch nicht wahrgenommen. In der Ausführung
von British Airways hat die Boeing 747-400 vierzehn Plätze in der ersten Klasse, von
denen zehn besetzt sein würden, vier davon waren es bereits seit Sydney. Von den
sechs in Bangkok zusteigenden Passagieren hatte sich Mr. Seymour als erster
eingecheckt. Die dreiundzwanzig Plätze der Clubklasse waren alle belegt. Achtzehn
der Passagiere dort stiegen in der thailändischen Hauptstadt zu. Sie hatten in der
Abfertigungshalle nur wenige Schritte neben Mr. Seymour in der Schlange gestanden.
Jenseits von ihnen befanden sich die Warteschlangen der Touristenklasse, von
der man bei British Airways dezent als der World Traveller Class sprach. Hier drängte
sich eine schwitzende Menschenmenge. An zehn Schaltern versuchte man der fast
vierhundert Passagiere Herr zu werden. Zu den Wartenden in diesen Schlangen
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gehörte auch die Familie Higgins. Sie hatte ihr Gepäck selbst schleppen müssen und
war mit dem Bus zum Flughafen gefahren, in dem die dicht gedrängt stehenden
Mitreisenden und die Hitze schließlich den Sieg über die Klimaanlage davongetragen
hatten. Die Kleider der Reisenden in der Touristenklasse waren verknittert und
schweißnass. Die Higgins brauchten fast eine Stunde, bis sie in die Abflugslounge
entlassen wurden. Zunächst statteten sie dem Duty Free Shop noch einen kurzen
Besuch ab, dann ließen sie sich im Nichtraucherteil der Lounge nieder. In dreißig
Minuten würden sie in das Flugzeug steigen können. Captain Fallon und seine
Mannschaft befanden sich schon lange an Bord, doch vor ihnen war bereits die
Kabinenmannschaft da gewesen.
Der Flugkapitän und seine Crew hatten die üblichen fünfzehn Minuten im
Büro verbracht, wo sie den notwendigen Papierkram erledigten. Dazu gehörte vor
allem der Flugplan, dem er entnehmen konnte, wie lange der Flug dauern würde und
wie viel Kerosin sie mindestens tanken mussten. Dann folgten mehrere Seiten mit
Details über die Route, die er in dieser Nacht fliegen würde. Diese Informationen
waren von den verschiedenen Luftkontrollbehörden zwischen Bangkok und London
zusammengetragen worden. Ein genauer Blick auf die Wettervorhersage versprach
eine ruhige Nacht. Schnell und mit routinierter Leichtigkeit blätterte er durch die
NOTAMs (Notices to Airmen – den Nachrichten für die Flugmannschaft), entnahm
ihnen die wenigen Informationen, die für ihn wichtig waren, und ignorierte den
irrelevanten Rest.
Nachdem sie die letzten Bögen Papierkram entweder behalten oder ausgefüllt
hatten, waren die vier Piloten bereit, das Flugzeug zu besteigen. Sie waren ihren
Passagieren weit voraus, und die Fahrgäste aus Sydney hatten den Jumbo schon längst
verlassen. Die Reinigungsmannschaft befand sich noch an Bord, doch das war das
Problem des Chefstewards, Mr. Harry Palfrey. Wie immer würde er alles mit der
üblichen unerschütterlichen Professionalität überwachen.
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Als Chefsteward musste Harry Palfrey nicht nur die thailändische
Reinigungsmannschaft beaufsichtigen. Alle Toiletten mussten gelüftet, geputzt und
dann inspiziert werden. Speisen und Getränke für vierhundert Passagiere wurden an
Bord gebracht, und er hatte sogar eine Auswahl der aktuellsten Zeitungen aus London
besorgt, die gerade mit einem anderen Jet aus London eingetroffen waren. Als sein
Captain und die Mannschaft an Bord kamen, war Mr. Palfrey mit seinen
Flugvorbereitungen noch nicht einmal halb fertig.
Im Sommer wäre Captain Fallon nur von zwei ersten Offizieren begleitet
worden, doch jetzt war es Ende Januar, und die Gegenwinde des Winters dehnten die
Flugzeit auf bis zu dreizehn Stunden aus, weshalb ein zweiter Kapitän zur Ablösung
erforderlich war.
Adrian Fallon selbst hielt dies eigentlich für überflüssig. Im hinteren linken
Teil der Flugkanzel befand sich ein kleiner Raum mit zwei Schlafkojen, und es war
völlig normal für den Kapitän, die Maschine auf Autopilot zu stellen und den beiden
anderen Piloten zu überlassen, während er sich vier oder fünf Stunden Schlaf gönnte.
Trotzdem: Vorschriften waren Vorschriften, und deshalb waren sie jetzt zu viert statt
zu dritt.
Als das Quartett sich durch den langen Tunnel der Fluggastbrücke dem leeren
Flugzeug näherte, nickte Fallon dem jüngeren der beiden ersten Offiziere zu.
“Tut mir leid, Jim. Die Rundwanderung.”
Der junge Mann, der durch das Fenster des Mannschaftsbusses den Freuden
des dahinschwindenden Bangkoks nachgetrauert hatte, nickte. Er öffnete die Tür am
Ende der Brücke und trat in die schwüle Nacht hinaus. Niemand von ihnen mochte
diese Aufgabe, doch sie war Pflicht und blieb in der Regel am Jüngsten hängen.
Würde man den Jumbojet in eine rechteckige Schachtel packen, würde diese vom Bug
bis zum Schwanzende und von einer Flügelspitze zur anderen eine Fläche von über
viertausend Quadratmetern bedecken. Das war die Strecke, die der mit der
Rundwanderung beauftragte Mann abgehen musste, um nachzusehen, ob sich alle
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Teile des Flugzeug auch an ihrem Platz befanden. Ein Verkleidungsstreifen am
Flugzeugrumpf könnte sich gelöst haben oder eine kleine Pfütze ein Leck verraten,
das der Bodenmannschaft entgangen war. Den letzten Check lassen die Fluglinien am
liebsten von einem eigenen Mitarbeiter vornehmen.
Manchmal betrug die Außentemperatur weit unter null, oder es ging gerade
ein tropischer Monsunregen nieder. Das war dann Pech. In diesem Fall kehrte der
beflissene Kollege mit den drei Streifen am Uniformärmel nach zwanzig Minuten
zurück. Schweißgebadet und mit mehreren Mückenstichen, aber sonst ganz intakt.
Captain Fallon betrat sein Reich über die Treppe, die vom Eingangsbereich
zum oberen Passagierraum führte, und ging dann weiter zur Cockpittür. Innerhalb
weniger Minuten hatten die beiden Flugkapitäne und der andere Erste Offizier ihre
Uniformjacken ausgezogen und hinter die Tür des Ruheraums gehängt, um sich dann
auf ihren Plätzen niederzulassen. Fallon nahm natürlich den linken Platz ein, während
der ältere Erste Offizier sich rechts von ihm hinsetzte. Seine Vertretung hatte sich in
den Ruheraum zurückgezogen, wo er die Aktienkurse studierte.
Zu Beginn seiner Karriere, als er von den gemütlichen Flügen nach Belfast
zur Langstrecke wechselte, war Fallon noch mit Navigator und Bordingenieur
geflogen. Doch diese Zeiten waren längst vorbei. Sein Ingenieur war jetzt eine
Technologieleiste über seinem Kopf und an den Wänden um ihn herum - genügend
Schalter, Hebel, Uhren und Knöpfe, um alle Aufgaben eines Bordingenieurs
wahrzunehmen. Und mehr. Das System der automatischen Flugzeugsteuerung ersetzte
den Navigator. Es war schneller, besser und genauer, als ein Mensch es jemals sein
konnte.
Während der Erste Offizier das erste der fünf Testprogramme durchlief, die
vor dem Start vorgeschrieben waren, blickte Fallon auf das Gepäckformular, das er
unterzeichnen musste, sobald alles an Bord war und die Passagierliste mit Mr.
Palfreys Kopfzählung überein stimmte. Der Albtraum eines jeden Flugkapitäns war
nicht so sehr der Passagier ohne Gepäck – das konnte auch später nachkommen -,
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sondern ein Gepäckstück an Bord, dessen Besitzer nicht erschienen war. In so einem
Fall musste der gesamte Gepäckraum wieder entladen werden, bis die betreffenden
Koffer gefunden und aussortiert waren. Schließlich konnte in ihnen alles enthalten
sein.
Im Moment wurde das Flugzeug noch über den APU – den Auxiliary Power
Unit -, versorgt, einem fünften Triebwerk, von dem nur die wenigsten Passagiere
wussten. Die Hilfsturbine dieses Riesenvogels war stark genug, um einen kleinen
Jäger anzutreiben, und garantierte, dass im Flugzeug alles – von Licht, Lüftung bis zu
der Energie, die zum Start notwendig war - unabhängig von äußeren Quellen
funktionierte.
In der Abflugslounge der Touristenklasse wurden Mr. und Mrs Higgins und
ihre Tochter Julie langsam müde. Das Kind begann zu quengeln. Vor vier Stunden
hatten sie ihr Zwei-Sterne-Hotel verlassen, und wie bei Pauschaltouristen üblich, hatte
sich alles ewig hingezogen. Das Gepäck im Bus verstauen, aufpassen, dass nichts
verloren geht, Schlange stehen und warten, dann auf einem schmalen Bussitz Platz
nehmen, ein Verkehrsstau, die Angst, zu spät zu kommen, noch ein Verkehrsstau.
Beim Flughafen dann aussteigen, das Gepäck suchen, gleichzeitig auf Kind und
Gepäckwagen aufpassen, vor der Abfertigung wieder in einer dichten
Menschenmenge Schlange stehen, die Durchleuchtungsmaschinen der Sicherheit
passieren, eine Körperdurchsuchung, weil die Gürtelschnalle einen Alarm ausgelöst
hatte, ein weinendes Kind, weil es von der Puppe getrennt wurde, die durch die
Röntgenmaschine musste, wieder Schlange stehen, warten und schließlich die harten
Plastikstühle der letzten Station vor dem Einstieg ins Flugzeug.
Julie umklammerte ihre thailändische Puppe, die sie in Phuket geschenkt
bekommen hatte. Das Warten war langweilig, und sie begann umherzulaufen. Wenige
Schritte von ihren Eltern entfernt rief ein Mann ihr zu: “Hallo, Kleine, eine hübsche
Puppe hast du da.”
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Sie blieb stehen und starrte den Fremden an. Er sah ganz anders aus als ihr
Vater und trug Cowboystiefel mit schrägen Absätzen, eine schmutzige,
ausgewaschene Jeans, ein Jeanshemd und eine Kette aus bunten Holzperlen. Neben
ihm stand ein kleiner Rucksack. Sein Haar war strähnig, wahrscheinlich hatte er es
schon lange nicht mehr gewaschen, und von seinem Kinn wuchs ein dünner,
struppiger Bart.
Was Julie Higgins mit ihren acht Jahren nicht wissen konnte, war, dass es in
Südostasien von westlichen Rucksacktouristen nur so wimmelte. Zu dieser Klasse
gehörte der Mann, der sie gerade angesprochen hatte. Südostasien zog sie an wie ein
Magnet, zum einen, weil das Leben dort einfach und billig war, aber auch wegen des
unkomplizierten Zugangs zu Drogen, die viele von ihnen nahmen.
“Sie ist neu”, sagte Julie. “Ich habe sie Pooky getauft.”
“Toller Name. Warum heißt sie so?”, fragte der Hippie.
“Weil Daddy sie in Poo-Ket gekauft hat.”
“Das kenne ich. Klasse Strände. Habt ihr dort Urlaub gemacht?”
“Ja. Ich bin mit Daddy schwimmen gegangen, und wir haben die Fische
gesehen.”
In diesem Moment stupste Mrs. Higgins ihren Mann mit dem Zeh gegen den
Fuß und deutete mit einem Kopfnicken auf ihre Tochter.
“Julie, Schatz, komm her!”, rief Mr. Higgins in einem Ton, den seine Tochter
verstand. Er drückte Missbilligung aus. Julie trottete zu ihren Eltern zurück. Higgins
funkelte den Hippie böse an. Er verabscheute solche Typen: ungebunden, ungepflegt
und mit ziemlicher Sicherheit drogenabhängig. Wirklich niemand, mit dem seine
Tochter sich unterhalten sollte. Der Hippie begriff schnell. Er zuckte mit den
Schultern, kramte eine Zigarettenschachtel hervor, bemerkte das Nichtraucherschild
über seinem Kopf und schlenderte in den Raucherteil der Lounge, wo er sich eine
Zigarette ansteckte. Mrs. Higgins rümpfte die Nase. Aus dem Lautsprecher wurden sie
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jetzt zum Einsteigen aufgefordert. Die Reihen vierunddreißig bis siebenundfünfzig
sollten beginnen.
Mr. Higgins warf einen Blick auf seine Bordkarte. Reihe vierunddreißig, Sitz
D, E und F. Er versammelte seine Familie um sich, überprüfte, ob sie ihr gesamtes
Handgepäck dabei hatten, und stellte sich ein letztes Mal in einer Schlange an.
Die geplante Startzeit von dreiundzwanzig Uhr fünfundvierzig würden sie
zwar nicht schaffen, doch die stand sowieso nur auf dem offiziellen Zeitplan, der
mehr oder weniger fiktiv war. Für Captain Fallon zählte nur, dass der Tower in
Bangkok ihm für fünf nach Mitternacht eine Startbahn zugewiesen hatte, und die Zeit
wollte er schaffen. In der modernen Zivilluftfahrt ging es einzig und allein darum,
eine Start- und eine Landebahn zu bekommen. Wenn man in Westeuropa oder
Nordamerika die zugewiesene Zeit nicht einhielt, konnte es einem passieren, dass man
über eine Stunde in der Luft auf eine neue Genehmigung warten musste.
Die zwanzig Minuten Verspätung machten allerdings nichts. Er wusste, dass
er die Zeit wieder einholen würde. Wegen starker Gegenwinde über Pakistan und dem
Süden Afghanistans nannte sein Flugplan eine Reisezeit von dreizehn Stunden und
zwanzig Minuten. Da in London in Greenwich Time gemessen wurde, betrug die
Zeitverschiebung sieben Stunden. Er würde ungefähr um zwanzig nach sechs an
einem bitterkalten Januarmorgen in London landen. Die Temperatur dort betrug um
die null Grad, während das Thermometer in Bangkok auch um Mitternacht noch
sechsundzwanzig Grad Celsius anzeigte, bei einer Luftfeuchtigkeit von über neunzig
Prozent.
Es klopfte an der Cockpittür. Der Chefsteward trat mit der Passagierliste ein.
Er und seine Mannschaft waren mit der Kopfzählung fertig.
“Vierhundertfünf, Skipper.”
Das passte. Fallon unterzeichnete das Gepäckformular und überreichte es
Palfrey, der damit zur letzten offenen Tür ging und es einem Mitglied der
Bodenmannschaft von BA aushändigte. Außerhalb des Riesenvogels beendete das
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Bodenpersonal die ihm zugewiesenen Aufgaben. Der Frachtraum wurde verschlossen,
Schläuche wurden abgehängt, und alle Fahrzeuge setzten auf einen respektvollen
Sicherheitsabstand zurück. Der Riesenvogel würde seine vier gigantischen Rolls-
Royce-Motoren anwerfen und zu rollen beginnen.
In der ersten Klasse hatte sich Mr. Seymour sein schönes Seidenjackett
abnehmen lassen, das jetzt in der vorderen Garderobe hing. Die Krawatte lockerte er
zwar, behielt sie aber an. Auf dem Tischchen perlte ein Glas Champagner, und der
Chefsteward hatte ihn mit einer neuen Financial Times und einem Daily Telegraph
ausgestattet. Mr. Palfrey war vom Scheitel bis zur Sohle ein Snob und schätzte das,
was er “Klasse” nannte. In Zeiten, wo selbst Hollywoodstars wie Pennerinnen
aussahen, war es ihm eine besondere Freude, sich um Menschen “mit Klasse” zu
kümmern.
Im Cockpit überwachte Fallon die letzten Startvorbereitungen. Er blickte aus
dem Fenster nach unten und sah den Flugzeugschlepper und hinter dessen Steuer den
anonymen, aber enorm wichtigen Mann, den manche den “Schlepperjoe” nannten.
Ohne ihn würde der Speedbird One Zero nirgendwo hinfliegen, denn seine Nase
zeigte zum Flughafengebäude, und ohne fremde Hilfe konnte er nicht wenden.
Von der Bodenkontrolle Bangkok kam die Starterlaubnis. Gleichzeitig begann
das kleine, aber enorm zugkräftige Fahrzeug von Schlepperjoe die 747-400
zurückzuschieben. Die vier 524er Rolls-Royce-Motoren erwachten zum Leben. Dazu
brauchte Fallon keine Energiequelle von außen, er hatte ja sein APU.
Auf Fallons Anweisung hin griff sein Copilot ans obere Instrumentenbrett und
betätigte den Startschalter für Triebwerk Nummer vier, während er mit der anderen
Hand die Kraftstoffanzeige mit der gleichen Nummer anschaltete. Diese beiden
Handgriffe wiederholte er noch dreimal und fuhr dabei die Motoren hoch. Erst die
Nummer vier, dann drei, dann zwei, dann eins. Die automatische Kraftstoffkontrolle
stellte die Triebwerke auf Leerlauf.
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Schlepperjoe drehte den Speedbird One Zero um neunzig Grad, so dass seine
Nase jetzt zur Rollbahn wies. Als er fertig war, gab er über den Sprechfunk seines
Kopfhörers im Cockpit Bescheid. Das Kabel seines Kopfhörers war noch immer in
der Nähe des Bugfahrwerks eingesteckt, weshalb er darum bat, die Feststellbremse
einzulegen.
Dazu hatte er guten Grund, denn schließlich wollte er noch länger leben. Um
das Kabel abzuziehen, musste er vom Schlepper steigen, zum Bug des Jumbos gehen
und den Stecker aus der Dose ziehen. Ein Schlepperjoe, der bei diesem Akt unter das
Bugfahrwerk des Jumbos geriet, würde als Hackfleisch enden. Fallon legte die
Feststellbremse ein und gab ihm Bescheid. Fünfzehn Meter unter ihm zog der Thai
das Kabel ab, trat zurück und hielt die Flagge hoch, die er wie immer der Halterung
entnommen hatte. Fallon winkte ihm dankend zu, und der Schlepper fuhr davon. Von
der Bodenkontrolle erhielt Fallon die Erlaubnis loszurollen; sie wurde auch an den
Tower weitergegeben.
In Reihe 34 hatte die Familie Higgins endlich Platz genommen. Sitz G war
zum Glück frei geblieben, so dass sie die ganze Reihe für sich hatten. John Higgins
nahm Platz D, der an den Gang grenzte, seine Frau Platz G am gegenüberliegenden
Ende der Mittelreihe, der an den anderen Gang grenzte. Julie saß zwischen ihnen und
beschäftigte sich mit Pooky, damit diese es bequem und eine ruhige Nacht hatte.
Der Speedbird One Zero rollte auf die Startbahn zu. Der riesige Vogel wurde
nur über das Bugfahrwerk gelenkt, das Fallon mit dem Handrad steuerte. Der
Flugkapitän war ständig in Funkkontakt mit dem Tower. Als er das hintere Ende der
Hauptstartbahn erreicht hatte, bat er um die Starterlaubnis, die ihm sofort gewährt
wurde. Er konnte also ohne anzuhalten von der Rollbahn auf die Startbahn
schwenken.
Dort richtete der Jumbo seine Nase am Mittelstreifen aus. Hoch über dem
Asphalt legte der Kapitän die Schubhebel um und streckte seine Hand dann nach den
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TOGA-Schaltern (Take-Off/Go Around)aus. Alle vier Motoren drehten zu der fest
eingestellten Startgeschwindigkeit hoch.
Die Passagiere nahmen nur ein leises Grollen wahr, während der Jumbo
beschleunigte. Weder sie noch die Mannschaft in der isolierten Ruhe des Cockpits
konnten das ohrenbetäubende Geheul der vier Düsenmotoren außen hören, doch die
Kraft, die von ihnen ausging, war deutlich zu spüren. Auf einer Seite huschten in der
Ferne die Lichter des Flughafengebäudes vorbei. Fallon betätigte einen weiteren
Schalter, und das Bugfahrwerk erhob sich vom Asphalt. Die Passagiere in der ersten
Klasse hörten unter ihren Füßen ein dumpfes Geräusch, doch dies stammte nur vom
Gasdruckstoßdämpfer des Bugfahrwerks, der jetzt vom Gewicht entlastet wurde und
sich ausdehnte. Zehn Sekunden später hob auch das Hauptfahrwerk ab, und der Vogel
war in der Luft.
Nachdem sie abgehoben hatten, fuhr der Copilot auf Fallons Kommando hin
sämtliche Fahrwerke ein, was nochmals dumpfe Geräusche zur Folge hatte. Dann
ebbten Lärm und Vibrationen ab. Mit einer Geschwindigkeit von vierhundert Metern
pro Minute stieg der Jumbo auf eine Höhe von vierhundertfünfzig Metern und nahm
dann das Steigtempo zurück. Während er die Maschine weiter beschleunigte, ließ
Fallon die Landeklappen nacheinander einfahren. Erst von zwanzig auf zehn Grad,
dann auf fünf, auf eins und schließlich auf null.
Auf Sitz 34 D löste John Higgins den festen Griff, mit dem er die beiden
Armlehnen umklammert hielt. Er flog nicht besonders gern, und am meisten hasste er
den Start. Aber natürlich versuchte er, sich seiner Familie gegenüber nichts anmerken
zu lassen. Jetzt blickte er in den Gang hinaus und stellte fest, dass der Hippie ihm nur
vier Reihen weiter auf Platz 30 C schräg gegenüber saß. Vor ihm streckte sich der
lange Gang bis zu der Zwischenwand, die die Touristenklasse von der Club Klasse
trennte. In diesem Bereich gab es eine vollständige Bordküche und vier Toiletten.
Vier oder fünf Stewardessen waren bereits wieder auf den Beinen und bereiteten ein
spätes Abendessen vor. Seit dem letzten Imbiss im Hotel waren sechs Stunden
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vergangen, und er war hungrig. Er drehte sich um und half Julie, sich mit der
Videoeinrichtung des Flugzeugs zurechtzufinden, und suchte für sie den
Trickfilmkanal.
Von Bangkok startet man in der Regel in Richtung Norden. Fallon entfernte
sich mit dem aufsteigenden Jumbo langsam vom Flughafen und sah nach unten. Es
war eine klare Nacht. Hinter ihm befand sich der Golf von Thailand, an dem Bangkok
lag, und vor ihm, auf der anderen Seite der Landzunge, das Andamanische Meer.
Dazwischen lag Thailand. Im Mondschein blitzten so viele überflutete Reisfelder auf,
dass das ganze Land unter Wasser zu stehen schien. Der Speedbird One Zero stieg auf
neuntausenddreihundert Meter und pendelte sich dort auf die Flughöhe ein. Der Kurs
auf London führte diesmal über Kalkutta, Delhi, Kabul, Teheran, die Osttürkei, den
Balkan und Deutschland. Fallon stellte den Speedbird One Zero auf Autopilot,
streckte sich - und wie auf ein Stichwort hin brachte eine der Stewardessen des
Oberdecks den Kaffee.
Auf Platz 30 C blickte der Hippie auf die kleine Karte mit den Auswahlmenüs
für das späte Abendessen. Hunger hatte er nicht besonders viel, doch er sehnte sich
nach einer Zigarette. Noch dreizehn Stunden und dann noch eine Stunde am
Gepäckband in Heathrow, wo er auf seinen großen Rucksack warten musste, erst dann
konnte er nach draußen eilen und sich eine anstecken. Bis es dann so weit war, um
sich einen anständigen Joint zu genehmigen, würde es noch einmal zwei Stunden
dauern.
“Das Fleischgericht”, sagte er zu der lächelnden Stewardess, die vor ihm
stand. Sein Akzent schien amerikanisch zu sein, doch sein Pass wies ihn als einen
Kanadier namens Donovan aus.
In einem Büro im Westen Londons, dessen genaue Adresse ein ziemlich gut
gehütetes Geheimnis ist, klingelte ein Telefon. Der Mann am Schreibtisch blickte auf
seine Uhr. Halb sechs, und draußen war es bereits dunkel.
“Ja.”
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“Boss, BA Null-Eins-Null von Bangkok ist gestartet.”
“Danke.”
Er legte auf. Am Telefon pflegte sich William “Bill” Butler kurz zu fassen.
Generell war er dafür bekannt, nicht viel zu reden. Außerdem galt er als ein Mann, für
den es sich gut arbeiten ließ, den man aber besser nicht enttäuschte. Keiner seiner
Untergebenen wusste jedoch, dass er einmal eine Tochter hatte, die er sehr liebte. Sie
war sein ganzer Stolz gewesen, hatte ein Stipendium für ein Universitätsstudium
erhalten und war dann an einer Überdosis Heroin gestorben. Bill Butler hatte etwas
gegen Heroin. Und noch mehr hatte er gegen die Männer, die damit handelten. Das
machte ihn zu einem gefährlichen Feind. Es war geradezu furchteinflößend, wie er in
seiner Arbeit aufging. Als Teil der Zoll- und Steuerbehörde Ihrer Majestät kämpfte
seine Abteilung einen endlosen Krieg gegen harte Drogen. Sie wurden meist kurz “die
Schlagtruppe” genannt, und Bill Butler hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht,
härter zuzuschlagen als irgend-jemand sonst.
Fünf Stunden verstrichen. Hunderte von aufgewärmten Fertigmahlzeiten
waren serviert und verschlungen oder stehen gelassen worden. Die Plastiktabletts
hatte man wieder eingesammelt. Der Billigwein in den Viertelliterflaschen war
ausgetrunken und abserviert worden. Manche hatten die unberührten Flaschen auch in
die Rücksitztasche vor ihren Knien geklemmt. Jenseits der Trennwand war die
wogende Menschenmasse der Touristenklasse endlich zur Ruhe gekommen.
In dem kleinen Elektronikraum unterhalb der ersten Klasse unterhielten sich
die beiden Bordcomputer miteinander, während sie Informationen der automatischen
Flugzeugsteuerung verarbeiteten, Funk- und Satellitensignale empfingen, die Position
des Flugzeugs bestimmten und über Korrektursignale den Autopilot auf dem
einprogrammierten Kurs steuerten.
Weit unter ihnen lag das zerklüftete Gebiet zwischen Kabul und Kandahar. In
den weiter nördlich gelegenen Bergen Pamirs führten fanatische Talibanrebellen ihren
Krieg gegen Schah Masood, der ihnen als Letzter erbittert Widerstand leistete. In
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ihrem Riesenkokon hoch über Afghanistan merkten die Reisenden nichts von der
Schwärze der Nacht, der tödlichen Kälte, dem Lärm der Motoren, der kargen
Landschaft und den Kriegshandlungen.
Überall waren die Rollos herabgezogen. Dünne Decken wurden verteilt, und
die Lichter waren herabgedimmt. Die meisten Passagiere versuchten ein wenig zu
schlafen. Einige schauten sich den Bordfilm an, andere hörten Musik.
Auf Platz 34 G schlief Mrs. Higgins tief und fest. Sie hatte sich die Decke bis
unters Kinn gezogen und atmete regelmäßig mit halb geöffneten Mund. Durch das
Zurückklappen der Armlehne hatten sie aus den Sitzen E und F eine durchgehende
Fläche gemacht, auf der sich Julie der Länge nach ausstreckte. Unter der warmen
Decke war sie, an ihre Puppe gekuschelt, ebenfalls eingeschlafen.
John Higgins konnte nicht schlafen. Im Flugzeug war ihm das noch nie
gelungen. Obwohl auch er müde war, ließ er den Urlaub in Südostasien noch einmal
Revue passieren. Es war natürlich eine Pauschalreise gewesen. Für einen
Versicherungsangestellten gab es keine andere Möglichkeit, nach Thailand zu
kommen. Selbst für diese Reise hatten sie eisern sparen müssen. Doch sie war jeden
einzelnen Penny wert gewesen.
Sie hatten im Hotel Pansea auf der Insel Phuket gewohnt, weit entfernt vom
lauten Getümmel Pattayas. Beim Buchen der Reise hatte er eigens darauf geachtet,
dass seine Familie mit solchen Dingen nicht in Berührung käme. Es war für alle ein
traumhafter Urlaub gewesen. Sie hatten Fahrräder gemietet und waren durch
Gummiplantagen und die Thaidörfer im Landesinneren geradelt. Vor den
rotgestrichenen buddhistischen Tempeln mit den goldenen Dächern waren sie
staunend abgestiegen und hatten den Mönchen in den safranfarbenen Roben bei ihren
Zeremonien zugesehen.
Im Hotel hatten er und Julie sich Schnorchel, Flossen und Tauchbrillen
ausgeliehen. Mrs. Higgins war keine große Schwimmerin und wagte sich höchstens in
den ruhigen Hotel-Swimmingpool. Doch mit Julie, die ihre Schwimmflügel und eine
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Schwimmweste trug, war er zum Korallenriff hinausgeschwommen. Unter Wasser
hatten sie die Fische vorbeihuschen sehen: Engels- und Clownfische, Vieraugen und
Gelbklingendoktorfische.
Julie war so begeistert gewesen, dass sie den Kopf hoch reckte und zu rufen
versuchte, weil sie dachte, ihr Vater habe die Fische vielleicht nicht bemerkt. Aber er
hatte sie natürlich bemerkt. Er machte Zeichen, dass sie ihr Mundstück wieder
einstecken sollte, doch da hatte sie schon Wasser geschluckt und hustete und prustete.
Er musste mit ihr an den Strand zurück.
Am Hotelpool würden auch Tauchstunden angeboten, doch davon hatte er
keinen Gebrauch gemacht. Er hatte gelesen, dass es weiter draußen Haie gab, was
Mrs. Higgins einen Entsetzensschrei ausstoßen ließ. Sie waren eine Familie, die ein
schönes, harmloses Abenteuer wollte, mehr jedoch nicht.
Im Hotelladen hatte Julie die Puppe entdeckt, die wie ein kleines
Thaimädchen aussah, und er hatte sie ihr gekauft. Nach zehn Tagen im Hotel Pansea,
das direkt unter dem horrend teuren Amanpuri lag, hatten sie die Reise mit einem
Dreitageaufenthalt in Bangkok abgeschlossen. Dort nahmen sie an Führungen teil,
besichtigten den Jade- und den riesigen schlafenden Buddha. Sie hatten die Nasen
über den Gestank gerümpft, der vom Chao Praya aufstieg und sich mit den Abgasen
vermischte. Doch sie hatten es in Kauf genommen, denn es war ein einzigartiger
Urlaub gewesen, der sich so schnell nicht wiederholen würde.
In der Rückenlehne vor ihm befand sich ein kleiner Bildschirm, auf dem man
den Flug genau verfolgen konnte. Gelangweilt schaute er eine Weile zu. Endlose
Zahlen flimmerten auf: Wie weit sie von Bangkok entfernt waren, wie weit es noch
zum Ziel war, die verbleibende Flugzeit, die Außentemperatur (erschreckende
sechsundsiebzig Grad unter null) und die Windgeschwindigkeit.
Zwischen den Zahlen war eine Karte zu sehen, über der ein kleines weißes
Flugzeug sich langsam in Richtung Nordwesten auf Europa und seine Heimat
zubewegte. Er fragte sich, ob das kleine Flugzeug vielleicht eine hypnotische
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Wirkung auf ihn ausüben würde, wie etwa das Schäfchenzählen, und er darüber
einschlief. Doch in dem Moment geriet das Flugzeug in eine kleine Turbulenz, und
sofort war er hellwach und in Alarmbereitschaft. Mr. Higgins umklammerte die
Armlehnen und suchte nach etwas, um sich abzulenken. So wurde er Zeuge folgender
Szene.
Vier Reihen vor ihm auf der anderen Seite des Gangs war der Hippie
ebenfalls wach. Er sah auf seine Armbanduhr, schlug die Decke zurück und erhob
sich.
Nachdem er sich umgeblickt hatte, um sicher zu gehen, dass niemand ihn
beobachtete, ging er langsam durch den Gang auf die Trennwand zu. Im Durchgang
befand sich ein Vorhang, der jedoch nur halb zugezogen war. Ein Lichtstreifen aus
der Bordküche beleuchtete ein Stück Teppich und zwei Toilettentüren. Als der Hippie
bei den Türen angekommen war, schaute er beide an, machte aber keine Anstalten,
eine davon zu öffnen. Wahrscheinlich waren beide besetzt, obwohl Higgins
niemanden sonst durch den Gang hatte gehen sehen. Der Hippie lehnte sich gegen
eine der Türen und wartete.
Dreißig Sekunden später gesellte sich noch ein Mann zu ihm. Dieser Passagier
sah völlig anders aus. Er war von lässiger Eleganz und schien recht wohlhabend zu
sein. Offensichtlich war er aus dem vorderen Flugzeugteil gekommen, der Club- oder
vielleicht sogar der ersten Klasse. Aber warum?
Im Licht aus der Bordküche war zu erkennen, dass er die Hose eines
cremefarbenen Seidenanzugs trug, ein Seidenhemd und eine gelockerte
Seidenkrawatte. Seine ganze Erscheinung verriet sofort die “Erste Klasse”. War er im
Flugzeug so weit nach hinten gegangen, nur um sich zu erleichtern?
Dann begannen Mr. Elegant und der Hippie miteinander zu reden. Es war eine
leise, ernsthafte Unterhaltung. Die meiste Zeit sprach der Mann aus dem vorderen
Teil des Flugzeugs. Er beugte sich zu dem Hippie, der mehrmals bestätigend nickte.
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Die Körpersprache der beiden verriet, dass der elegante Mann Instruktionen gab,
während der Hippie sich mit allem einverstanden erklärte.
John Higgins war der Typ Mann, der ein wachsames Auge auf seine
Nachbarn hatte. Seine Neugierde war geweckt. Wenn Mr. Elegant eine Toilette
aufsuchen wollte, hätte er es in der ersten und in der Club-Klasse fünf oder sechs
gegeben. Zu dieser späten Stunde konnten sie nicht alle besetzt sein. Und ihre
Unterhaltung war nicht das oberflächliche Geplauder von zwei Männern, die sich
zufällig beim Anstehen getroffen hatten.
Sie trennten sich. Der Mann in der Seidenkleidung verschwand aus Higgins
Blickfeld und kehrte in den vorderen Flugzeugteil zurück. Der Hippie versuchte erst
gar nicht, eine der beiden Toiletten aufzusuchen, sondern ging wieder zu seinem
Platz. John Higgins Gedanken überschlugen sich. Er wusste, dass er etwas
Eigenartiges erlebt hatte. Es musste irgendeine Bedeutung haben, doch welche? Als
der Hippie sich im Dämmerlicht der Kabine umblickte, um herauszufinden, ob ihn
jemand gesehen hatte, schloss Higgins die Augen und stellte sich schlafend.
Zehn Minuten später hatte John Higgins eine Erklärung für das gefunden, was
er beobachtet hatte. Die beiden Männer hatten sich nicht zufällig getroffen. Doch
wann hatten sie ihr Rendezvous verabredet? Higgins war sich sicher, dass sich der
elegante Geschäftsmann nicht in der Abflugslounge der Touristenklasse befunden
hatte. Er wäre ihm sofort aufgefallen. Seit sie eingestiegen waren und ihre Plätze
eingenommen hatten, hatte der Hippie sich nicht mehr von der Stelle bewegt.
Vielleicht war ihm von einer Stewardess eine handgeschriebene Notiz überbracht
worden, aber Higgins hatte nichts dergleichen gesehen, was aber nichts bewies.
Wenn diese Theorie nicht zutraf, gab es nur noch eine Erklärung. Das
Rendezvous an der Grenze zwischen Touristen- und Club-Klasse musste schon in
Thailand geplant worden sein. Aber warum? Um etwas zu besprechen? Um
Informationen auszutauschen? Oder hatte der elegante Herr neue Instruktionen
erteilen wollen? War der Hippie ein persönlicher Assistent des Geschäftsmanns?
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Sicher nicht. In dem Aufzug? Sie waren verschieden wie Tag und Nacht. Higgins
begann sich Sorgen zu machen. Mehr noch, er schöpfte Verdacht.
In London war es elf Uhr nachts. Bill Butler warf einen Blick auf seine
schlafende Frau, seufzte und löschte das Licht. Er hatte sich den Wecker auf halb fünf
gestellt. Zu dieser Tageszeit reichte das, um sich zu waschen, anzuziehen, ins Auto zu
steigen und um Viertel nach fünf in Heathrow zu sein, eine ganze Stunde vor der
Landung. Alles Weitere war unkalkulierbar.
Es war ein langer Tag gewesen. Wie eigentlich immer. Er fühlte sich müde,
konnte aber nicht einschlafen. Seine Gedanken rasten, und er stellte sich stets dieselbe
Frage. Hätte er noch mehr tun können?
Alles hatte mit einem Tipp eines Kollegen aus der U.S. Drug Enforcement
Agency, der gefürchteten DEA auf der anderen Seite des Großen Teichs, begonnen.
Dann war die wilde Jagd losgegangen.
Neunzig Prozent des Heroins, das von Abhängigen auf den Britischen Inseln
und mehr oder weniger ganz Westeuropas konsumiert wurde, kam aus der Türkei und
war braun. Der Handel damit wurde von einer skrupellosen türkischen Mafia
kontrolliert, die zu den brutalsten Verbrechersyndikaten der Welt zählte, unter der
britischen Bevölkerung aber fast völlig unbekannt war.
Ihr Produkt stammte von den Mohnfeldern Anatoliens. Es sah aus wie brauner
Rohrzucker und wurde meist geraucht oder auf einem Stück Alufolie über einer Kerze
erhitzt und dann inhaliert. Im Unterschied zu den Amerikanern hielten britische
Junkies nicht viel von Injektionen.
Die türkische Ware unterschied sich deutlich von den Produkten aus dem
Goldenen Dreieck im Fernen Osten. Das “Thai White” sah aus wie Backpulver und
war in der Regel mit ähnlich aussehendem weißen Puder im Verhältnis eins zu
zwanzig verschnitten. Dies war der Stoff, hinter dem die Amerikaner her waren.
Sollte es einer britischen Bande gelingen, regelmäßig vernünftige Mengen
davon zu beschaffen, würde die Cosa Nostra sicher aufmerksam werden. Sie würden
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nicht kaufen wollen, sondern tauschen, und zwar gegen feinstes kolumbianisches
Kokain im Verhältnis drei zu eins: sechs Kilo Kokain gegen zwei Kilo “Thai White”.
Der Tipp vom DEA war aus der Niederlassung in Miami gekommen. Eine
ihrer Quellen aus der Unterwelt hatte durchsickern lassen, dass die Familie
Trafficante in den letzten sechs Monaten dreimal einen Boten oder “Maulwurf” mit
sechs Kilogramm reinem kolumbianischen Kokain nach Großbritannien geschickt
hatte. Jedes Mal war er mit zwei Kilogramm “Thai White” zurückgekommen.
Nicht viel, aber regelmäßig. Dem Organisator auf der britischen Seite musste
jede Reise zweihunderttausend Pfund wert gewesen sein. Die transportierten Mengen
legten für Bill Butler nahe, dass sie nicht per Schiff oder Lkw angeliefert, sondern auf
dem Luftweg befördert wurden - im Gepäck eines Passagiers. Unruhig wälzte er sich
im Bett herum und versuchte, wenigstens noch vier Stunden Schlaf zu kriegen.
Auch John Higgins konnte nicht schlafen. Er wusste von der dunklen Seite
des thailändischen Urlaubsparadieses. Vor einiger Zeit hatte er einen Zeitungsartikel
über das Goldene Dreieck gelesen, eine Hügellandschaft, in der Papaver somniferum
gezüchtet wurde, der Opiummohn. In dem Artikel stand, dass es tief im Dschungel der
Grenzgebiete moderne Labore gebe, die für die thailändische Armee unerreichbar
waren. Dort wurde aus den Mohnpflanzen erst der Grundstoff Morphium und daraus
dann das puderweiße Heroin gewonnen.
Während die meisten Passagiere schliefen, rutschte John Higgins
unentschlossen auf seinem Platz hin und her. Sicher gab es mehrere harmlose
Erklärungen für die ungewöhnliche Begegnung vor der Toilettentür, nur fiel ihm
selbst gerade keine ein.
Als John Higgins leise den Sicherheitsgurt öffnete, aufstand und seinen
Diplomatenkoffer aus der Gepäckablage über den Sitzen zog, bewegte sich das kleine
weiße Flugzeug auf dem Bildschirm ruckartig auf Anatolien und die Osttürkei zu. Im
Flugzeug rührte sich niemand, noch nicht einmal der Hippie.
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Er setzte sich wieder und suchte in seiner Tasche nach Papier und einem
Kugelschreiber. Letzteren fand er sofort, und schließlich kramte er auch vier Bogen
des Hotelbriefpapiers hervor, das er aus seinem Zimmer im Hotel Pansea
mitgenommen hatte. Sorgfältig trennte er den oberen Teil mit dem Briefkopf ab und
kam so zu dem Blankopapier, das er brauchte. Er benutzte seinen Koffer als Unterlage
und begann einen Brief in sorgfältig gemalten großen Blockbuchstaben aufzusetzen.
Dazu brauchte er eine halbe Stunde.
Als er fertig war, flog das kleine weiße Flugzeug gerade auf Ankara zu. Er
faltete die Bögen und steckte sie in einen der Unicef-Umschläge, die von BA in den
Flugzeugen bereitgestellt wurden. Auf den Umschlag schrieb er in dicken Lettern:
FÜR DEN KAPITÄN. EILT.
Dann erhob er sich, schlich leise zum Vorhang bei den Toilettentüren und
spähte in die Bordküche. Ein junger Steward stand mit dem Rücken zu ihm und
bereitete das Frühstück vor. Higgins zog sich unbemerkt zurück. Ein Signal erklang.
Er hörte, wie der Steward die Bordküche verließ und in den vorderen Flugzeugteil
verschwand. Higgins glitt am Vorhang vorbei in die leere Bordküche, stellte den
Umschlag senkrecht zwischen zwei Kaffeetassen auf die Anrichte und ging an seinen
Platz zurück.
Es dauerte eine weitere halbe Stunde, bis der Steward, der sich wieder an die
Vorbereitung des Frühstücks gemacht hatte, ihn entdeckte. Anfangs dachte er, es
handle sich um eine Spende für die Unicef, doch als er sich die Handschrift genauer
ansah, runzelte er die Stirn, dachte einen Moment lang nach und machte sich
schließlich auf die Suche nach dem Chefsteward.
“Er steckte zwischen zwei Kaffeetassen, Harry. Ich dachte, ich zeige ihn
lieber erst dir, statt gleich damit ins Cockpit zu rennen.”
Harry Palfrey zwinkerte ihm wohlwollend zu.
“Richtig, Simon. Gut gemacht. Wahrscheinlich irgendein Verrückter.
Überlass das nur mir. Also, zurück an die Frühstücksabletts ...”
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Während er dem jungen Mann nachblickte, registrierte Palfrey die kräftigen
Schenkel unter dessen Uniformhose. Er hatte schon mit vielen Stewards
zusammengearbeitet, und mit mehr als genug von ihnen war er ins Bett gegangen,
aber dieser hier war besonders hinreißend. In Heathrow könnte er vielleicht ... Er sah
sich den Umschlag an, legte die Stirn in Falten und wollte ihn schon öffnen, überlegte
es sich dann aber anders, stieg die Treppe hoch und klopfte an die Cockpittür.
Eine reine Formalität. Der Chefsteward durfte das Cockpit jederzeit betreten
und deshalb öffnete Palfrey nach dem Klopfen auch gleich die Tür. Auf dem linken
Pilotenplatz saß der zweite Kapitän und starrte auf die Lichter einer näher
kommenden Küste. Captain Fallon war nirgendwo zu sehen. Der Chefsteward klopfte
an die Tür des Ruheraums. Diesmal wartete er.
Dreißig Sekunden später öffnete Adrian Fallon die Tür und fuhr sich dabei
mit den Fingern durchs ergrauende Haar.
“Harry?”
“Eine seltsame Geschichte, Skipper. Irgendjemand hat das hier zwischen zwei
Kaffeetassen in der mittleren Bordküche hinterlassen. Wollte vermutlich anonym
bleiben.”
Er hielt ihm den Umschlag hin.
Adrian Fallon spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. In den dreißig Jahren
bei der Fluggesellschaft hatte er nie eine Flugzeugentführung oder Bombendrohung
erlebt, doch er kannte mehrere Kollegen, die diese Erfahrung gemacht hatten. Es war
der Albtraum, den er immer gefürchtet hatte. Jetzt sah es so aus, als würde er in der
einen oder anderen Form damit konfrontiert werden. Er riss den Umschlag auf, hockte
sich auf den Rand der Koje und las den Brief:
“Ich bedaure, Captain, dass ich diese Zeilen nicht unterzeichnen kann, aber
ich möchte in nichts hineingezogen werden. Als pflichtbewusster Bürger jedoch kann
ich nicht umhin, Ihnen mitzuteilen, was ich beobachtet habe. Zwei Ihrer Passagiere
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haben sich ausgesprochen eigenartig verhalten. Für ihr Benehmen gibt es keine
logische Erklärung, deshalb ...”
Der Brief fuhr fort, bis ins Detail zu erläutern, was sein Verfasser gesehen
hatte und warum es ihm so seltsam vorgekommen war, dass er Verdacht schöpfte.
Dann beschrieb er die Verdächtigen.
“Einer der beiden Passagiere sieht aus wie ein Hippie: schmutzig, ungepflegt,
der Typ, dem wahrscheinlich gewisse exotische Substanzen nicht fremde sind. Sein
Platz ist 30 C. Wo der andere Mann sitzt, weiß ich nicht, aber vermutlich kam er aus
der ersten oder der Club Class.”
Jetzt folgte noch eine Beschreibung des eleganten Mannes, und dann endete
der Brief mit den Worten:
“Ich hoffe, Ihnen hiermit keine Unannehmlichkeiten zu bereiten, doch wenn
diese beiden Männer irgendwie unter einer Decke stecken, hecken sie vielleicht etwas
aus, für das sich die Obrigkeiten interessieren könnten.”
Aufgeblasenes Arschloch! Mit den Obrigkeiten meinte er wahrscheinlich die
Zoll- und Steuerbehörde Ihrer Majestät. Das Ausspionieren von Passagieren war
etwas, das Fallon gegen den Strich ging. Er reichte den Brief an Harry Palfrey weiter.
Der Chefsteward las ihn und pfiff dabei leise durch die Zähne.
“Ein mitternächtliches Rendezvous?”
Fallon wusste über Harry Palfrey Bescheid, und Palfrey wusste, dass er es
wusste. Deshalb wählte der Captain seine Worte sorgfältig.
“Eigentlich weist nichts darauf hin, dass sie was zusammen hatten. Wenn
überhaupt, müssen sie sich schon in Bangkok kennen gelernt haben. Warum haben sie
sich dann nicht in Heathrow verabredet, statt sich vor einer Toilettentür zu treffen?
Und reingegangen sind sie auch nicht. Verdammt und zugenäht, Harry! Bitte holen
Sie mir die Passagierliste.”
Während der Chefsteward seiner Bitte nachkam, kämmte Fallon sich das Haar
und strich sein Hemd glatt.
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“Unsere Position?”, fragte er dann den zweiten Kapitän.
“Kurz vor der griechischen Küste. Stimmt was nicht, Adrian?”
“Ich hoffe nicht.”
Palfrey kam mit der Liste zurück. Laut dieser saß auf Platz 30 C ein Kevin
Donovan.
“Was ist mit dem anderen Mann? Dem Eleganten.”
“Ich glaube, den habe ich gesehen”, erwiderte Palfrey. “Erste Klasse, Platz 2
K.” Er blätterte durch die Passagierliste. “Eingetragen unter dem Namen Hugo
Seymour.”
“Lassen Sie uns auf Nummer Sicher gehen und nichts überstürzen”, meinte
der Captain. “Bitte gehen Sie unauffällig durch die erste und die Club-Klasse. Halten
Sie unter den Decken nach cremefarbenen Seidenhosen Ausschau. Und suchen Sie in
den Garderoben nach der dazu passenden cremefarbenen Anzugjacke.”
Palfrey nickte und ging leise nach unten. Fallon ließ sich einen starken
schwarzen Kaffee bringen und überprüfte die Flugdaten.
Der Bordcomputer, in den vor dem Abflug vor neun Stunden die geplante
Route eingegeben worden war, hatte dafür gesorgt, dass der Speedbird One Zero
genau und pünktlich Kurs hielt. Vier Stunden vor der Landung flogen sie über
Griechenland. In London war es zwei Uhr zwanzig, nach griechischer Zeit drei Uhr
zwanzig morgens. Draußen war es noch stockdunkel. Weit unter ihnen sah man eine
lockere Wolkendecke, durch die manchmal Lichter blitzten. Über ihnen leuchteten
hell die Sterne.
Adrian Fallon nahm seine Bürgerpflichten ernster als manch anderer und ganz
bestimmt so ernst wie der anonyme Schwätzer aus der Touristenklasse, aber jetzt
befand er sich in einem Dilemma. In dem Brief deutete nichts darauf hin, dass der
Flug in irgendeiner Weise gefährdet war, deshalb neigte er dazu, das Schreiben
einfach zu ignorieren.
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Es gab nur ein Problem: In der Organisation britischer Flugpiloten, der
BALPA – British Airline Pilots‘ Association -, gab es ein Sicherheitskomitee, dessen
stellvertretender Vorsitzender er war. Wenn Seymour und Donovan in Heathrow
wegen eines schweren Delikts mit der Polizei oder den Zollbehörden in Konflikt
gerieten und dann herauskam, dass er vor beiden Passagieren gewarnt worden war,
aber nichts unternommen hatte, stünde er dumm da. Er steckte in der Zwickmühle.
Als Griechenland in den Balkan überging, traf er eine Entscheidung. Harry Palfrey
hatte den Brief gesehen, und dann gab es vor allem noch den “pflichtbewussten
Bürger”, der ihn geschrieben hatte. Er konnte nicht damit rechnen, dass sie
schwiegen, wenn in Heathrow etwas aufflog. Also ging er besser auf Nummer Sicher.
Statt den Zollbehörden würde er nur dem diensthabenden Beamten seiner
Fluggesellschaft, der sich in Heathrow durch die Nachtschicht quälte, eine knappe,
neutrale Vorwarnung übermitteln.
Wenn er dazu den offiziellen Funkverkehr nutzte, würden es fast alle Piloten,
die gerade auf Heathrow zuflogen, mitbekommen. Sicher waren es mehr als zwanzig,
er hätte also gleich einen Artikel in die Times setzen können. Doch zum Glück gab es
in den BA-Flugzeugen eine Vorrichtung namens ACARS – das Aircraft
Communications, Addressing and Reporting System.
Über dieses System konnte er dem Bodenpersonal von BA in Heathrow eine
vertrauliche Mitteilung zukommen lassen. Damit hätte er die Verantwortung
weitergeschoben.
Der Chefsteward kam zurück. Er bestätigte, dass es sich bei dem
beschriebenen Mann eindeutig um Hugo Seymour handelte. Daraufhin schickte Fallon
seine kurze Botschaft los. Sie befanden sich gerade über Belgrad.
Bill Butler kam nicht mehr dazu, sich um halb fünf wecken zu lassen. Um
zehn vor vier klingelte sein Telefon. Es war einer seiner Mitarbeiter, ein
Flughafenbeamter, der im Terminal 4 von Heathrow Nachtschicht hatte. Während er
zuhörte, schob Butler die Daunendecke zur Seite, setzte sich auf und war sofort
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hellwach. Zwanzig Minuten später saß er im Auto und dachte beim Fahren weiter
nach.
Mit Ködern, falschen Fährten und anonymen Denunziationen kannte er sich
aus. Das waren uralte Tricks. Als Erstes hatten sie den anonymen Anruf aus einer
Telefonzelle irgendwo in der Stadt erhalten, der einen der Passagiere in einem
eintreffenden Flugzeug als Schmuggler denunzierte.
Die Zollbehörde durfte den Anruf nicht ignorieren, obwohl es sich bei dem
beschriebenen Mann mit neunzigprozentiger Sicherheit um einen unschuldigen
Touristen handelte, der beim Abflug gesichtet und als Köder ausgewählt worden war.
Bei dem Anrufer hatte es sich wahrscheinlich um ein in London stationiertes
Bandenmitglied gehandelt.
Während der beschriebene Tourist am Flughafen abgefangen und untersucht
wurde, konnte der eigentliche Täter in der Menschenmenge untertauchen und
unbemerkt durch den Zoll entkommen.
Doch jetzt war noch eine Warnung vom Kapitän des Flugzeugs eingetroffen –
ein Novum. Er hatte einen Hinweis von einem Passagier erhalten, in dem gleich zwei
Fahrgäste als verdächtig denunziert wurden. Hinter allem musste ein Hintermann
stecken, der Kopf der Bande, und es war Butlers Aufgabe, sein ganzes Können gegen
diesen Mann aufzubieten und ihn zu besiegen. Möglicherweise handelte es sich bei
dem Passagier im Flugzeug aber auch nur um einen übereifrigen Menschen, der sich
in alles einmischen musste und damit die Dinge noch mehr komplizierte.
Er parkte vor dem Terminal 4 und ging in das fast leere Flughafengebäude. Es
war jetzt halb fünf, und ein Dutzend Jumbos in den Farben von British Airways, die
das Terminal 4 fast allein besetzte, näherten sich dem Flughafen aus Afrika, dem
Orient sowie Nord- und Südamerika. In zwei Stunden würde es hier wieder wie in
einem Irrenhaus zugehen.
Die Maschinen, die um sechs Uhr abends in New York, Washington, Boston
und Miami gestartet und sieben Stunden unterwegs waren, plus fünf Stunden
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Zeitverschiebung, würden auf die Flugzeuge aus Asien treffen, die sich dreizehn
Stunden in der Luft befanden und sieben Stunden Zeitverschiebung abziehen konnten.
Irgendwann zwischen sechs Uhr und zwanzig vor sieben würden die ersten
übernächtigten Passagiere aus den Maschinen steigen und sich innerhalb von Minuten
zu einer Flutwelle anwachsen. Zehn Mitglieder seiner “Schlagtruppe” fuhren über die
dunklen Straßen ihrer Heimatkreise ebenfalls auf das Terminal 4 zu.
Butler wollte seine Männer unauffällig an allen entscheidenden Stellen der
Abfertigung, den Pass- und Zollkontrollen positionieren, einen Aufruhr aber auf jeden
Fall vermeiden.
Es hatte schon ähnliche Fälle gegeben. Der Bote, der genau wusste, was sich
in seinem Hauptgepäckstück verbarg, hatte kalte Füße bekommen und seinen Koffer
einfach nicht abgeholt. Unter den Augen der Zollbeamten hatte sich das Gepäckband
immer weiter gedreht, bis es schließlich nur noch einen Koffer gab, den niemand
wollte. Wie der Bote seinem wütenden Boss gegenübertreten wollte, war seine Sache.
Manche von ihnen hatten diese Erfahrung bestimmt nicht überlebt. Doch Butler
wollte mehr als einen einsamen Koffer. Er wollte den Boten und die Ware –
mindestens.
Den Mitteilungen aus West Drayton zufolge bewegte sich der Speedbird One
Zero gerade über den Kanal auf Suffolk zu. Der Kurs führte den Jumbo in den Norden
des Flughafens, von wo er eine lange Schleife in Richtung Westen fliegen würde, um
dann auf die Hauptlandebahn einzuschwenken.
Adrian Fallon hatte wieder den linken Platz im Cockpit eingenommen und
hörte sich die Anweisungen aus West Drayton an. Sein Flugzeug war pünktlich und
hatte genau Kurs gehalten. Die 747 befand sich jetzt auf viertausendfünfhundert
Meter Flughöhe, und Fallon sah bereits die Lichter von Ipswich auf sich zukommen.
Einer seiner beiden Offiziere überreichte ihm eine Nachricht, die über ACAR
eingetroffen war. Darin wurde er höflich darum gebeten, den mysteriösen Brief über
den Chefsteward sofort nach Öffnen der ersten Tür nach draußen zu reichen. Fallon
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grunzte verärgert, zog die beiden zusammengefalteten Papierbogen aus der
Brusttasche seines Hemdes und gab sie mit den entsprechenden Anweisungen für
Harry Palfrey dem Ersten Offizier. Jetzt hatten sie die Küste erreicht. Es war fünf
nach sechs.
In den drei Passagierkabinen herrschte die erwartungsvolle Unruhe, die jeder
Landung vorausgeht. Die Lichter waren schon lange an, die Frühstücktabletts
abgeräumt und verstaut und auch das Videoprogramm war ausgeschaltet worden. Das
Bordpersonal hatte die Jacketts angezogen, und den Passagieren in der Ersten und der
Club Class überreichte man die abgelegte Garderobe. Die Fluggäste an den
Fensterplätzen blinzelten müde auf die Lichterketten unter ihnen.
Mr. Hugo Seymour trat aus der Toilette der ersten Klasse. Er hatte sich frisch
gemacht, rasiert und gekämmt und roch nach einem teuren Aftershave. Wieder auf
seinem Platz rückte er die Krawatte zurecht, knöpfte die Weste zu und nahm seine
cremefarbene Anzugjacke entgegen, die er sich über den Schoß legte. Der
Diplomatenkoffer aus Krokodilleder stand zwischen seinen Füßen.
Der kanadische Hippie in der Touristenklasse streckte sich müde und sehnte
sich nach einer Zigarette. Da er einen Gangplatz hatte, konnte er nicht durch das
Fenster sehen und versuchte es auch gar nicht.
Vier Reihen hinter ihm war die Familie Higgins hellwach und bereits fertig
zum Ausstieg. Julie saß zwischen ihren Eltern und erzählte ihrer Puppe Pooky von all
den Wundern, die sie in ihrer neuen Heimat sehen würde. Mrs. Higgins packte die
letzten Kleinigkeiten in ihre Handtasche. Der ordentliche Mr. Higgins hielt seinen
Diplomatenkoffer aus Plastik auf den Knien, die Hände darauf verschränkt. Er hatte
seine Pflicht getan, und das gab ihm ein gutes Gefühl.
Das kleine weiße Flugzeug an der Rücklehne vor ihm flog eine Kurve, bis
seine Nase auf Heathrow zeigte. Den Ziffern entnahm er, dass es noch zwanzig
Meilen bis zur Landung waren. Es war zwölf nach sechs.
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Die Mannschaft im Cockpit konnte die noch dunklen Felder von Berkshire
unter sich sehen und die Lichter von Windsor Castle. Die Fahrwerke wurden
ausgefahren und die Landeklappen nacheinander auf den erforderlichen Winkel von
fünfundzwanzig Grad gestellt. Für einen Beobachter vom Boden schien der Jumbo
fast bewegungslos über den letzten Asphaltmeilen zu schweben, dabei flog er immer
noch mit hundertsiebzig Knoten Geschwindigkeit, die allerdings langsam gedrosselt
wurde, während sie an Höhe verloren.
Zehn Minuten später brachte Adrian Fallon den Riesenvogel neben einer
fahrbaren Passagierbrücke endgültig zum Stehen, legte die Feststellbremse ein und
ließ den Ersten Offizier die abschließenden Arbeiten erledigen. Die Stromversorgung
wurde wieder auf die Hilfsturbine umgestellt, weshalb die Kabinenlichter einmal kurz
aufflackerten, um sofort wieder hell zu leuchten. Unter ihm sah das Bordpersonal des
vorderen Flugzeugteils das klaffende Maul der Passagierbrücke auf sich zukommen.
In dem Moment, als sie mit einem dumpfen Geräusch auf den Flugzeugrumpf traf,
wurde die Tür aufgerissen.
Draußen stand ein junger Mann im Overall des technischen Bodenpersonals.
Als er Harry Palfrey erblickte, zog er eine Augenbraue hoch.
“Chefsteward?”
“Der Brief?”
Der junge Mann nickte. Palfrey drückte ihm zwei zusammengefaltete Bogen
Papier in die Hand, und der Mann verschwand. Der Chefsteward drehte sich mit
einem routinierten Lächeln zu den Passagieren der ersten Klasse um, die hinter ihm
warteten.
“Auf Wiedersehen, Sir, ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug.”
Sie begannen einzeln an ihm vorbeizugehen. Der Achte in der Reihe war der
untadelig gekleidete Mr. Hugo Seymour, der sich zu dieser frühen Morgenstunde
schon durch sein perfektes Äußeres als ein Mann “von Klasse” auszeichnete. Harry
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Palfrey hoffte aufrichtig, dass der dumme Mensch im hinteren Teil der Maschine ihm
keine Unannehmlichkeiten bereiten würde.
Nach der ersten Klasse kamen die Passagiere der Club Class. Einige von
ihnen stolperten aus den hinteren Reihen herbei, andere stiegen die Treppen von oben
hinunter. Dahinter standen dicht an dicht die Reisenden der Touristenklasse. Obwohl
sie noch zehn Minuten warten mussten, drängten sie wie eine Viehherde dem
Ausgang entgegen.
Zu dieser frühen Stunde wirkte die Ankunftshalle wie eine riesige dunkle
Höhle. Eine lange Reihe Passbeamte wartete hinter den Schaltern auf die
Menschenmenge, die bald auf sie zurollen würde. Über den Schaltern befand sich auf
einer Seite eine Spiegelwand. Es handelte sich um einen Doppelspiegel, hinter dem
sich ein Raum befand. Dort stand Bill Butler und schaute nach unten.
An den Schaltern unter ihm saßen zehn Passbeamte. Zwei von ihnen waren
für die Pässe von Briten und Reisenden aus der Europäischen Union zuständig, die
übrigen acht für den Rest der Welt. Einer seiner Assistenten hatte alle instruiert. Die
Zusammenarbeit zwischen den Einwanderungsbehörden und dem Zoll lief seit jeher
gut, außerdem hatten diese ungewohnten Instruktionen der langweilige Morgenroutine
ein wenig Würze verliehen. Nur vier Passagiere der ersten Klasse kamen aus
Großbritannien, die anderen waren Thailänder oder Australier. Die vier britischen
Bürger brauchten nur Sekunden, um die für sie zuständige Kontrolle zu passieren. Als
der dritte von ihnen seinen Pass zurückbekam, hob der Beamte kaum merklich den
Kopf und nickte in Richtung Spiegel. Bill Butler hielt den anonymen Brief in der
Hand. Es gab nur einen Passagier in einem cremefarbenen Seidenzug: Hugo Seymour.
Butler sprach hastig etwas in ein kleines Funkgerät.
“Er kommt jetzt raus. Cremefarbener Seidenanzug. Diplomatenkoffer aus
Krokodilleder.”
Ranjit Gul Singh war ein Sikh. Außerdem hatte er ein
geisteswissenschaftliches Universitätsstudium in Manchester absolviert und eine
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Ausbildung bei der Zollbehörde gemacht. Jetzt arbeitete er in der “Schlagtruppe” mit.
Einem unbeteiligten Beobachter wären die beiden letzten Eigenschaften an diesem
Morgen nicht aufgefallen. Er stand mit Kehrblech und Besen bewaffnet im langen
Gang hinter der Passkontrolle. Über einen winzigen Kopfhörer in seinem rechten Ohr
erhielt er Butlers Anweisungen. Wenige Sekunden später huschte ein cremefarbener
Seidenanzug an seinem gesenkten Kopf vorüber.
Singh sah den Geschäftsmann in der Herrentoilette, die sich ungefähr in der
Mitte des Gangs befand, verschwinden. Leise murmelte er etwas in seinen linken
Ärmel.
“Er ist direkt auf die Herrentoilette zugesteuert.”
“Folgen Sie ihm, und sehen Sie nach, was er dort macht.”
Der Sikh betrat die Herrentoilette und fegte etwas Müll auf sein Kehrblech.
Der Mann im cremefarbenen Seidenanzug hatte keine der Toilettenkabinen betreten,
sondern wusch sich die Hände. Gul Singh zog einen Lappen hervor und begann die
Waschbecken zu putzen. Der andere Mann beachtete ihn nicht weiter. Während der
Sikh eifrig seiner niedrigen Aufgabe nachging, überprüfte er, ob sich jemand in einer
Toilettenkabine versteckt hatte. War dies eine vereinbarte Zusammenkunft, eine
Übergabe? Er polierte noch immer die Waschbecken, als der Geschäftsmann sich die
Hände abtrocknete, seinen Koffer nahm und ging. Es war zu keinen Treffen
gekommen. Singh berichtete es Bill Butler.
In dem Moment winkte einer der Passbeamten an den Schaltern für
Nichtengländer einen abgerissenen Hippie weiter und warf einen vielsagenden Blick
in Richtung Spiegelwand. Butler verstand das Signal und sprach wieder in sein
Funkgerät. Im Gang zur Zollabfertigung stand eine junge Frau, die ebenfalls aus dem
Flugzeug zu kommen schien, was aber nicht stimmte. Sie machte sich gerade an ihrem
Schuh zu schaffen, richtete sich dann auf und sah die Jeans und das Jeanshemd vor
sich. Sie folgte dem Hippie.
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Als Hugo Seymour wieder in den Flughafengang trat, war er dort nicht mehr
allein, sondern mitten unter den Passagieren der Touristenklasse. Er versucht Zeit zu
schinden, dachte Bill Butler, um in der Menge unterzutauchen. Aber warum trug er
dann einen Anzug, mit dem er aus jeder Menschenmasse hervorstach? In dem
Moment ging ein weiterer anonymer Anruf ein. Butler erhielt die Nachricht über sein
Funkgerät.
“Die Stimme klang amerikanisch”, teilte man ihm aus der Telefonzentrale
mit. “Der Anrufer behauptete, ein kanadischer Hippie in Jeans und Jeanshemd mit
ungepflegten langen Haaren und dünnem Bart habe eine besondere Fracht in seinem
Rucksack. Dann hängte er auf.”
“Wir sind schon hinter ihm her”, sagte Butler.
“Das war schnell, Boss”, erwiderte der Mann aus der Telefonzentrale
bewundernd. Butler eilte durch Gänge, die der Öffentlichkeit verschlossen blieben,
um hinter einem anderen Doppelspiegel Position zu beziehen, der sich diesmal in der
Zollabfertigung befand, und zwar in der Nähe der grün markierten Schleuse unter dem
Schild “Nichts zu verzollen”. Es wäre mehr als überraschend, wenn einer der
Verdächtigen auf den rot markierten Ausgang zugehen würde.
Butler freute sich über den zweiten anonymen Anruf. Er passte genau ins
Muster. Der Hippie war tatsächlich ein typischer Köder, während der ehrbare
Geschäftsmann die Ware hatte. Kein schlechter Trick, doch diesmal würde es nicht
funktionieren. Das verdankten sie einem pflichtbewussten Bürger mit wachem Blick
und einem Hang zum Schnüffeln.
Das Gepäck aus Bangkok lief über Band Nummer 6, um das sich bereits über
zweihundert Personen geschart hatten. Die meisten hatten sich Gepäckwagen aus dem
hinteren Teil der Halle besorgt. Auch Mr. Seymour stand unter ihnen. Sein schwerer
Lederkoffer war als einer der ersten auf dem Band erschienen, doch da war er noch
nicht in der Halle gewesen. Die anderen Passagiere der ersten Klasse waren bereits
verschwunden. Der Lederkoffer hatte schon zwanzigmal die Runde gemacht, doch er
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vermied es, ihn anzublicken, und starrte statt dessen auf die Öffnung, die das Gepäck
ausspuckte.
Keine zehn Schritte von ihm entfernt stand der Hippie Donovan und wartete
noch immer auf seinen großen schwarzen Rucksack. In dem Moment trat Mr. Higgins
mit Frau und Tochter auf das Band zu. Er schob nicht einen, sondern gleich zwei
Gepäckwagen. Julie, die das erste Mal eine Fernreise gemacht hatte, bestand darauf,
für ihren kleinen Koffer und Pooky einen eigenen Wagen zu haben.
Die kreisenden Gepäckstücke wurden eines nach dem anderen von ihren
Besitzern identifiziert, ergriffen und vom Band auf den Gepäckwagen gehoben. Vor
der grünen Schleuse hatte sich bereits eine Schlange gebildet, die jetzt, nachdem auch
die Reisenden aus zwei weiteren Jumbos eingetroffen waren, immer länger wurde. Es
handelte sich hauptsächlich um Amerikaner und ein paar Briten, die über Miami aus
ihrem Karibikurlaub zurückkehrten. Ein Dutzend uniformierter Zollbeamter
beobachtete sie mit gespielt gelangweilter Mine. Einige waren am Gepäckband
postiert, andere in der Schleuse.
“Da ist er, Daddy.”
Mehrere Passagiere blickten auf und lächelten nachsichtig. Julie Higgins
Koffer war nicht zu verwechseln. Es war ein mittelgroßes Gepäckstück der Marke
Samsonite, das aber über und über mit Stickern ihrer Lieblingshelden aus
verschiedenen Trickfilmserien beklebt war. Fast im selben Augenblick erschienen die
beiden großen Reisetaschen ihrer Eltern. Der ordentliche John Higgins türmte sie so
auf den Wagen, dass sie nicht herunterrutschen konnten.
Der Hippie entdeckte seinen Rucksack, schwang ihn sich über die Schultern
und ging auf die grüne Schleuse zu. Jetzt holte sich auch Mr. Seymour seinen
Lederkoffer, legte ihn auf einen Gepäckwagen und folgte dem Hippie. Bill Butler
stand hinter dem Spiegel bei der grünen Schleuse und beobachtete, wie die
morgenmüde Menschenkarawane an ihm vorüberzog.
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In der Halle sprach ein herumstehender Gepäckträger kurz etwas in seinen
Ärmel.
“Sie kommen. Zuerst der Hippie, zehn Schritte hinter ihm der Seidenanzug.”
Der Hippie kam nicht weit. Er hatte den halben Weg zum Schleuseneingang
zurückgelegt und sah in der Ferne bereits den ersehnten Flughafenausgang, als zwei
uniformierte Zollbeamten ihm den Weg verstellten. Sie waren natürlich höflich.
Ausgesprochen höflich.
“Entschuldigen Sie, Sir, könnten Sie uns bitte begleiten?”
Der Kanadier explodierte.
“Was zum Teufel soll das heißen?”
“Bitte kommen Sie einfach mit uns, Sir.”
Der Kanadier begann zu schreien.
“Jetzt reicht es aber, verdammt noch mal. Nach dreizehn Stunden in diesem
gottverdammten Flieger kann ich solchen Scheiß nicht brauchen, kapiert!”
Die Schlange hinter ihm kam einen Moment lang ins Stocken. Dann versuchte
jeder woandershin zu blicken und so zu tun, als sei nichts passiert, eine typisch
britische Reaktion, wenn jemand eine Szene macht. Die Schlange bewegte sich weiter
vorwärts und mit ihr Hugo Seymour.
Dem Kanadier wurden der kleine und der große Rucksack abgenommen. Als
man ihn durch eine Tür in eines der Durchsuchungszimmer schob, schrie und
protestierte er noch immer. Die Schlange blieb jetzt in Bewegung. Der Geschäftsmann
im cremefarbenen Seidenanzug hatte schon fast die Schleuse passiert, als er ebenfalls
angehalten wurde. Zwei Beamten stellten sich ihm in den Weg, zwei weitere traten
hinter ihn.
Anfangs schien Mr. Hugo Seymour gar nicht zu begreifen, was geschah. Dann
wurde er blass, seine Sonnenbräune wechselte ins Aschfahle.
“Ich verstehe nicht ganz. Gibt es ein Problem?”
“Wenn Sie bitte so freundlich wären, uns zu folgen, Sir.”
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Auch er wurde weggeführt. Hinter dem Spiegel seufzte Bill Butler laut auf.
Jetzt hatten sie einen dicken Fisch an der Angel – und den Koffer samt Inhalt. Das
Ende der Jagd.
Sie brauchten drei Stunden. Butler wechselte ständig zwischen den beiden
Räumen hin und her und wurde immer frustrierter. Wenn der Zoll ein Gepäckstück
auseinander nimmt, finden sie wirklich alles. Wenn es etwas zu finden gibt. Beide
Rucksäcke waren geleert und das Innerste nach außen gekehrt worden. Bis auf
mehrere Päckchen Lucky Strikes hatten sie nichts gefunden. Bill Butler überraschte
das nicht. Köder hatten nie etwas dabei.
Wer ihn verblüffte, war Hugo Seymour. Ein Dutzendmal hatten sie den
Lederkoffer durch die Röntgenmaschine geschoben und erfolglos nach verborgenen
Fächern gesucht. Nichts. Dann war der Krokodilkoffer derselben Prozedur unterzogen
worden. Ihr einziger Fund war ein Röhrchen mit Magentabletten der Marke Bisodol
gewesen. Zwei von ihnen wurden zerdrückt, um das Pulver chemisch untersuchen zu
können. Seymour musste sich ausziehen und einen Plastikoverall überstreifen,
während seine Kleidung geröntgt wurde. Dann wurde auch er geröntgt, um
sicherzugehen, dass er nichts im Körper transportierte. Nur Fehlanzeigen.
Gegen zehn Uhr mussten sie die beiden Männer im Abstand von fünfzehn
Minuten gehen lassen. Seymour drohte ihnen mittlerweile lautstark mit seinem
Anwalt, wodurch Butler sich aber nicht beeindrucken ließ. Das taten sie alle.
Schließlich hatte niemand eine Vorstellung davon, wie weitreichend der Einfluss
seiner Behörde war.
“Sollen wir sie verfolgen, Boss?”, fragte sein düster dreinblickender
Stellvertreter. Butler dachte einen Moment lang nach, schüttelte dann aber den Kopf.
“Ich glaube, es war eine Falschinformation. Wenn sie zu Unrecht denunziert
wurden und unschuldig sind, verfolgen wir sie umsonst. Wenn sie aber doch Dreck
am Stecken haben, werden ihre Hintermänner jetzt so schnell keinen Kontakt zu ihnen
aufnehmen. Lassen wir es. Nächstes Mal.”
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Der Kanadier, der als erster freigelassen wurde, fuhr mit dem Flughafenbus
nach London und checkte sich in einer schmutzigen Absteige in der Nähe des
Bahnhofs Paddington ein. Mr. Hugo Seymour fuhr mit dem Taxi zu einem wesentlich
teureren Hotel.
Um kurz nach zwei erhielten drei Männer in verschiedenen Straßen Londons
einen Anruf. Jeder von ihnen stand wie verabredet in einer öffentlichen Telefonzelle.
Jeder bekam den Auftrag, sich unter einer bestimmten Adresse zu melden. Einer von
ihnen erledigte selbst einen Anruf, bevor er sich wie die anderen auf den Weg zu
seiner Verabredung machte.
Um vier Uhr saß Bill Butler allein in seinem Auto vor einem teuren
Apartmentblock. Es waren Wohnungen, die man für eine Woche oder sogar nur für
einen Tag mieten konnte.
Um fünf nach vier hielt hinter ihm der neutral aussehende Transportwagen,
auf den er gewartet hatte. Er spuckte zehn Männer seiner Schlagtruppe aus. Sie hatten
keine Zeit mehr für Instruktionen. Vielleicht hatte die Bande einen Wachposten
aufgestellt. In den dreißig Minuten, die er jetzt vor dem Haus stand, hatte sich
allerdings kein einziger Vorhang bewegt. Im Eingang gab es eine Rezeption, an der
aber niemand saß. Butler postierte zwei enttäuschte Männer vor den Lifttüren und
ging mit den anderen die Treppe hinauf. Die Wohnung befand sich im dritten Stock.
Die Schlagtruppe hielt nicht viel von Formalitäten. Mit einem einzigen Stoß
zertrümmerte der Rammbock das Türschloss, und sie waren drinnen. Junge,
durchtrainierte Einsatzkräfte – hoch motiviert, aber ohne Waffen.
Die fünf Männer in dem angemieteten Wohnzimmer versuchten erst gar nicht,
sich zu wehren. Das plötzliche und unerwartete Eindringen der Männer hatte sie
völlig überrascht. Butler trat als Letzter ein. Er hatte die Situation völlig im Griff und
ließ seine Leute die Innentaschen der Männer nach Papieren durchsuchen. Als Erstes
nahm er sich den finster dreinblickenden Amerikaner vor.
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Stimmproben sollten später ergeben, dass er der Mann war, der in einem
anonymen Anruf den kanadischen Hippie bei der Zollbehörde in Heathrow denunziert
hatte. In der Tasche neben ihm befanden sich sechs Kilo Stoff, den sie als feinstes
kolumbianisches Kokain identifizieren würden.
“Mr. Salvatore Bruno, ich verhafte Sie wegen des dringenden Verdachts, in
konspirativer Zusammenarbeit mit anderen eine verbotene Substanz in dieses Land
eingeführt zu haben ...”
Nachdem die Formalitäten geregelt waren, wurde der Mann aus Miami in
Handschellen abgeführt. Als Nächstes nahm sich Butler den Hippie vor, der als Köder
gedient hatte. Als der mürrische Kanadier aus der Wohnung geführt wurde, rief Butler
seinen Kollegen nach: “In mein Auto. Mit dem will ich mich noch unterhalten.”
Mr. Hugo Seymour hatte sich umgezogen und trug jetzt statt des
Seidenanzugs ein Tweedjackett und Hosen, die besser für das englische Wetter im
späten Januar geeignet waren. Der zweite Köder. Er wurde um einen Stapel
Fünfzigpfundnoten erleichtert, der sich auf zehntausend Pfund belief. Sein Lohn für
die Mitarbeit in dieser Operation. Auch er wurde widerstandslos abgeführt. Butler
wandte sich an die letzten beiden Männer.
Die Ware lag zwischen ihnen auf dem Tisch und befand sich noch immer in
dem Gepäckstück, in dem sie durch den Zoll gekommen war. Der falsche Boden war
herausgerissen worden und gab das Fach darunter frei. Darin lagen Plastiktüten mit
zwei Kilogramm weißem Pulver: Heroin der Marke Thai White, wie später bestätigt
wurde. Die Sticker mit den Comicfiguren waren noch immer deutlich zu sehen.
“Mr. John Higgins, ich verhafte Sie wegen des dringenden Verdachts, in
konspirativer Zusammenarbeit mit anderen eine verbotene Substanz in dieses Land
eingeführt zu haben ...”
Man musste den pflichtbewussten Bürger ins Badezimmer begleiten, wo er
sich übergab. Als auch er abgeführt worden war, wandte sich Butler an den letzten
Mann, der den Bangkok-Drogendeal organisiert hatte. Er saß am Fenster und starrte
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düster in den Londoner Himmel - ein Anblick, der ihm in Zukunft wohl eine Weile
versagt bleiben würde.
“Hinter dir war ich schon lange her, mein Freund.”
Er erhielt keine Antwort.
“Eine raffinierte Masche. Nicht ein Köder, sondern zwei. Und hinter den
beiden trottete der unschuldige Mr. Higgins mit seiner molligen Frau und der
entzückenden Tochter, die dem Aufruhr in der grünen Schleuse aus dem Weg
gingen.”
“Bringen Sie’s hinter sich”, herrschte der Mann den Polizisten an.
“In Ordnung. Mr. Harry Palfrey, ich verhafte sie wegen des ...”
Von seinen letzten beiden Männern ließ Butler die Mietwohnung auf
Beweismittel durchsuchen. Vielleicht hatten die Männer in den Sekunden, als die Tür
aufgebrochen wurde, noch etwas weggeworfen. Butler selbst stieg die Treppe
hinunter und ging zu seinem Auto. Vor ihm lag noch eine lange Nacht mit viel Arbeit,
aber es war eine Arbeit, die er gern machte. Seine Vertretung saß am Steuer des
Wagens, deshalb stieg er hinten ein und nahm neben dem schweigenden Kanadier
Platz.
“Wir haben noch ein paar Dinge zu klären”, begann Butler, als das Auto
losfuhr. “Wann haben Sie erfahren, dass Seymour in diesem Doppelbluff ihr Partner
war?”
“Erst gerade in der Wohnung”, antwortete der Hippie.
Butler war wie vom Blitz getroffen.
“Und was ist mit der Unterhaltung, die Sie mitten in der Nacht vor der
Toilettentür führten?”
“Was für eine Unterhaltung? Welche Toilette? Ich habe ihn noch nie zuvor
gesehen.”
Butler lachte, was selten genug vorkam.
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“Natürlich. Ich entschuldige mich für das, was wir Ihnen in Heathrow
zugemutet haben, aber Sie kennen ja die Regeln. Ich konnte Ihre Identität dort noch
nicht lüften. Und danke auch für den Anruf. Gute Arbeit, Sean. Heute Abend geht das
Bier auf meine Rechnung.”
Aus dem Englischen von Karl Laurenz
First published 2001 by Online Originals, London and Bordeaux Copyright © Frederick Forsyth, 2001 Copyright © der deutschen Ausgabe 2001 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH
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