27
Christian Schaller Giuseppe A. Scotti (Hg.) Die Jesus-Trilogie Benedikts XVI. Eine Herausforderung für die moderne Exegese Ratzinger-Studien VERLAG FRIEDRICH PUSTET

Eine Herausforderung - download.e-bookshelf.de · Vorwort Vom 24. bis 26. Oktober 2013 fand an der Päpstlichen Lateranuni-versität ein Kongress zu den Jesus-Büchern von Papst Benedikt

  • Upload
    others

  • View
    1

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Christian SchallerGiuseppe A. Scotti (Hg.)

Die Jesus-Trilogie Benedikts XVI.Eine Herausforderung für die moderne Exegese

Rat z inger -Stud ienV

ER

LA

G F

RIE

DR

ICH

PU

ST

ET

Die

Jesu

s-Tr

ilog

ie B

ened

ikts

XV

I.Sc

hal

ler

· Sco

tti (

Hg.

)

ISBN 978-3-7917-2840-7

WW

W.V

ER

LA

G-P

US

TE

T.D

E

XIRat z inger -Stud ien

Mit seiner Jesus-Trilogie hat Benedikt XVI. die moderne Exegese herausgefordert – ein Werk, das sich konsequent an der Heiligen Schrift orientiert und das Zeugnis gibt über eine Jahrzehnte umfassende Aus-einandersetzung mit der zentralen Gestalt des christ-lichen Glaubens, der Person Jesus von Nazareth. Die Beiträge dokumentieren die Wortmeldungen inter-national angesehener Wissenschaftler während einer Tagung an der Päpstlichen Lateranuniversität in Rom. In Kooperation mit der »Fondazione Vaticana« liegen die Beiträge nunmehr in einer deutschen Version vor und laden den Leser erneut ein, sich intensiv mit Joseph Ratzingers/Benedikts XVI. Hinführung zu Jesus Christus auseinanderzusetzen. Dabei wird der Blick auch auf den Kontext der Theologie Ratzingers gelenkt, insbesondere auf die bibelhermeneutischen Frage-stellungen und auf Einzelaspekte der Jesus-Trilogie.

Christian SchallerDr. theol., geboren 1967, ist stellvertretender Direktor des Institut Papst Benedikt XVI. in Regensburg.

Giuseppe A. Scottigeboren 1952, ist Präsident der Fondazione Vaticana Joseph Ratzinger-Benedetto XVI und der Libreria Editrice Vaticana.

Ratzinger-Studien

Band 11

Herausgegeben im Auftrag des Institut Papst Benedikt XVI.Regensburg

Christian Schaller / Giuseppe A. Scotti (Hg.)

Die Jesus-Trilogie Benedikts XVI.

Eine Herausforderung für die moderne Exegese

Verlag Friedrich PustetRegensburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

eISBN 978-3-7917-7129-8 (pdf)© 2017 by Verlag Friedrich Pustet, RegensburgUmschlaggestaltung: Martin Veicht, RegensburgSatz: Martin Vollnhals, Neustadt a. d. DonaueBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg

Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:ISBN 978-3-7917-2840-7

Weitere Publikationen aus unserem Verlagsprogramm finden Sie unterwww.verlag-pustet.de

Ratzinger-Studien eBook-Seiten Bd 11.indd 1 07.08.17 09:01

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Bernardo EstradaJesusforschung in den EvangelienVon Reimarus bis heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Juan ChapaDer Beitrag der Papyrologie zur Auslegung der Evangelien . . . . 51

Richard A. BurridgeGriechisch-römische Biografie und die literarische Gattung der Evangelien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Yves Simoens SJDie historische Neubewertung des Vierten Evangeliums . . . . . 145

John P. MeierDie historische Gestalt JesuDer historische Jesus und seine historischen Gleichnisse . . . . . 166

Antonio PittaZwischen Jesus und Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

Prosper Grech OSAVon den Evangelien zur Christologie der Patristik . . . . . . . . . . . 205

Thomas SödingEinladung zur FreundschaftJesus von Nazareth von Joseph Ratzinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

Angelo Amato SDBDer theologische Gehalt von Joseph Ratzingers Jesus von Nazareth und seine methodologische Beispielhaftigkeit . . . . . . 235

Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

Die Herausgeber und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

Vorwort

Vom 24. bis 26. Oktober 2013 fand an der Päpstlichen Lateranuni-versität ein Kongress zu den Jesus-Büchern von Papst Benedikt XVI. statt, der große Beachtung erfuhr. Die Tagung stand unter dem Motto: „I Vangeli: storia e cristologia. La ricerca di Joseph Ratzinger“.

Die Trilogie ist mittlerweile in den „Joseph Ratzinger Gesammel-ten Schriften“ (JRGS) als Band 6/1 erschienen und wurde durch die weiteren Studien zur Christologie in JRGS 6/2 ergänzt. Damit liegen die Beiträge Joseph Ratzingers zur Christologie aus über 50 Jahren nunmehr geschlossen vor. Einige Autoren beziehen sich auf die Reihenfolge des Erscheinens der drei Bände. Deshalb wurde bei der Zitation die ursprüngliche Seitenangabe belassen, lediglich in ecki-gen Klammern mit der Seitenzahl innerhalb der JRGS ergänzt.

Die Grundlage für diesen Band der „Ratzinger-Studien“ (RaSt) ist die Veröffentlichung des Veranstalters, der „Fondazione Vaticana Joseph Ratzinger – Benedetto XVI“, die dem Leser 2014 vorgelegt werden konnte. Die deutsche Ausgabe bietet eine exemplarische Auswahl der darin abgedruckten Beiträge. Sie können als reprä-sentativ gelten für eine ausgreifende Beschäftigung mit den Jesus-Büchern von Papst Benedikt XVI.

Es geht um den wissenschaftlichen Kontext, die denkerischen Vorgaben und deren Einflussnahme auf den Autor Benedikt XVI. Auf diese Weise wird deutlich, welche Anfragen der Autor an die moderne Exegese stellt, deren Fokus auf die historisch-kritische Methode gerichtet ist, deren Notwendigkeit und deren wertvol-ler Beitrag zur Erforschung der Schrift von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. nicht bestritten, aber durch den Blick auf die kanoni-sche Exegese ergänzt wurde.

Die Schriften des Neuen Bundes sind Zeugnis, sie sind das erste Bekenntnis zu diesem Jesus von Nazaret als dem, den der Vater gesandt hat, und dem, der der Sohn Gottes ist. Deshalb kommt ihnen, wie die Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenba-rung des Zweiten Vatikanischen Konzils Dei Verbum sagt, „mit Recht

8 Vorwort

ein Vorrang zu“, weil sie „das Hauptzeugnis für Leben und Lehre des fleischgewordenen Wortes, unseres Erlösers“ sind (DV 18).

Dazu ist es notwendig, zuerst die Intention der jeweiligen Auto-ren zu erforschen, die sich hinter den unterschiedlichen Text-gattungen verbergen. Geschichtliche, poetische oder prophetische Zeugnisse drücken in der Schrift die Wahrheit aus. Zugleich muss auf die Einheit der ganzen Schrift geachtet werden, auf das Erbe der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche und auf die Ana-logie des Glaubens: „Aufgrund wissenschaftlicher Vorarbeit“ soll es dadurch zu einer „tiefere[n] Erfassung und Auslegung des Sin-nes der Heiligen Schrift“ kommen (DV 12).

Papst Benedikt XVI. erweist sich in seinen Jesus-Büchern gerade darin als ein Exeget nach den Vorgaben des Zweiten Vatikanischen Konzils.

Einzutreten in eine Freundschaft mit einer Person, die das Zen-trum unseres Glaubens ist, ist das große Anliegen Benedikts XVI. Mit dieser Aufsatzsammlung bieten die Herausgeber eine Hilfestel-lung an, die Trilogie als Wegweiser zur persönlichen Begegnung mit Jesus Christus zu betrachten, als geistlichen Begleiter im per-sönlichen Hinschauen auf Christus.

Den Herausgebern bleibt die ehrenvolle Aufgabe, dem Überset-zer, Herrn Dr. Karl Pichler, für die bewährt gute Zusammenarbeit zu danken, ebenso Frau Monika Ottermann, die bei der Abfassung der Übersetzung des Beitrages von Yves Simoens mitgearbeitet hat. Die Vorbereitung des Manuskripts für die Drucklegung übernah-men Frau Tanja Constien und Frau Barbara Krämer vom Institut Papst Benedikt XVI. Auch ihnen gilt unser aufrichtiger Dank für wertvolle Hinweise und die Mühen der Korrekturarbeit. Für die Bearbeitung des Personenverzeichnisses danken wir Frau Katha-rina Weber und Herrn Hartmut Constien.

Für den Verlag Pustet steht Herr Dr. Rudolf Zwank für die stets kompetente Betreuung des Projekts bis zur Drucklegung. Auch ihm sei unser Dank ausgesprochen.

Rom und Regensburg, in der Osterzeit 2017

Giuseppe A. ScottiChristian SchallerHerausgeber

Jesusforschung in den Evangelien

Von Reimarus bis heute

Bernardo Estrada

1. Die Instruktion Sancta Mater Ecclesia

Der internationale Kongress über die Hauptthemen im Denken von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. aus Anlass seiner Trilogie über Jesus von Nazaret war eine besondere Gelegenheit für die Begeg-nung von Vertretern der Bibelwissenschaften von verschiedenen Universitäten und christlichen Denominationen. Das Milieu des Kongresses war geprägt davon, dass es am Ende des Jahres des Glau-bens stattfand, das Papst Benedikt XVI. in Erinnerung an den 50. Jah-restag des II. Vatikanischen Konzils proklamiert hatte.

Die Konzilsdokumente waren gleichsam ein Licht, das durch das Prisma des universellen Lehramtes über die ganze Kirche aus-strahlte. Sie haben viele apostolische und pastorale Initiativen und zahlreiche Begegnungen zur Vertiefung des Inhalts des christlichen Glaubens inspiriert und etliche weitere Schriften angeregt. Manche Theologen halten Lumen gentium für das repräsentativste Konzils-dokument, als grundlegendes Dokument wird aber Dei Verbum, die Konstitution über die göttliche Offenbarung, gewertet.1

Ein weiterer Jahrestag, an den zu erinnern ist, ist die Promulga-tion der Instruktion Sancta Mater Ecclesia (SME), die Dei Verbum mit der Lehre über den Ursprung und die Formung der Evangelien bereichert hat. Veröffentlicht durch die Päpstliche Bibelkommission

1 J. Ratzinger, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung, in: LThK2, Erg.-Bd. 2 (Bd. 13), 503 [JRGS 7, 715–791, hier 729].

10 Bernardo Estrada

im Frühjahr 1964,2 war sie zu einem großen Teil das Werk von Kardi-nal Augustin Bea – der selbst ihr Mitglied und Präsident der Kom-mission De divina revelatione war –, der den Konzilsvätern die Texte über den apostolischen Ursprung und den Prozess der Ausarbei-tung der Evangelien vorlegte. Zur gleichen Zeit veröffentlichte Kar-dinal Bea eine Studie über die Historizität der Evangelien,3 die für die Erstellung von Dei Verbum Nr. 18 und 19 bedeutsam wurde.4

Dei Verbum betont die geschichtliche Offenbarung, indem es den Weg der Erlösung beschreibt, der zu seinem Ziel kommt im Kom-men des Sohnes Gottes, der der Menschheit das Geheimnis der Gottheit verkündet. Das Dokument stellt den Neuen Bund heraus, der in den Evangelien enthalten ist und zum Ausdruck kommt. Die Fakten und die Verkündigung Jesu Christi zeigen in der Tat den Kon-vergenzpunkt zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens,5 zwischen Geschichte und Theologie. In den letzten 250 Jahren hat es ein lebhaftes Interesse für das Studium Jesu in den Evangelien gegeben, wie Gelehrte verschiedener christlicher Deno-minationen gezeigt haben.6 Sancta Mater Ecclesia ist Zeugnis dafür, dass die katholische Wissenschaft sich an der Suche der Neuzeit nach der Gestalt Jesu in den vier Evangelien beteiligt.

2. Die ersten Schritte der modernen Jesus-Forschung: Die First Quest

Von 1774 bis 1778 hat G. E. Lessing posthum die Wolfenbüttelschen Fragmente von H. S. Reimarus veröffentlicht.7 Damit wurden die

2 Pontificia Commissione Biblica, Instructio Sancta Mater Ecclesia. De historica Evange-liorum veritate, 21. 4. 1964, in: AAS 56 (1964), 712–718 (EB 644–659).

3 A. Bea, La storicità dei vangeli sinottici, in: CivCatt 115/II (1964), 417–436; ders., Il carattere storico dei vangeli Sinottici, in: CivCatt 115/II (1964), 526–545; ders., The Study of the Synoptic Gospels. New Approaches and Outlooks, London 1965.

4 L. Randellini, Il Nuovo Testamento, in: Commento alla Costituzione dogmatica sulla Divina Rivelazione, hg. von U. Betti u. a., Mailand 1966, 182–230, bes. 206 f.

5 Der Titel eines der Vorbereitungsdokumente für die Bischofssynode 1967 lautete: His-toricitas: Jesus ‚historiae‘ et Christus ‚fidei‘; I. de la Potterie, Come impostare oggi il problema del Gesù storico?, in: CivCatt 120/II (1969), 447.

6 Das vollständigste Werk über den historischen Jesus ist jetzt: Handbook for the Study of the Historical Jesus, 4 Bde., hg. von T. Holmén / S. E. Porter, Leiden-Boston 2011.

7 Das bekannteste „Fragment“ ist das siebente und letzte Fragment: Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger, veröffentlicht 1778; englisch: The Goal of Jesus and his Discip-les, translated and commented by G. W. Buchanan, Leiden 1970.

11Jesusforschung in den Evangelien

Voraussetzungen der Auslegung der Evangelien grundlegend ver-ändert. Reimarus zufolge sind der Jesus der Geschichte und der Christus des Glaubens nicht dieselbe Person. Er versuchte die Gestalt Jesu „einzugrenzen“, indem er sie von den dogmatischen Voraussetzungen befreite, die – nach Ostern – sein Bild deformiert hätten.8 Seine Schriften – ein schönes Beispiel für das Denken der Aufklärung9 – stellen einen Versuch dar, die Voraussetzung, dass nichts der Prüfung durch die menschliche Vernunft entzogen wer-den könne und dürfe, in historische Kategorien zu übersetzen, mit der Folge einer völligen Trennung – betreffend die Quellen, die Methode und die Schlussfolgerungen – zwischen Glaube und weltlicher Wirklichkeit, die von den meisten Denkern der Aufklä-rung als gegensätzliche und sogar entgegengesetzte Dinge betrachtet wurden. Das Problem besteht in der Schwierigkeit der Versöhnung zwischen Fleisch und Logos, das heißt der geschicht-lich-kulturellen Dimension Jesu und seiner universalen und trans-zendenten Gestalt.

Die historische Methode von Reimarus zielte darauf ab, Jesus sein wahres Gesicht zurückzugeben, frei von der theologischen Konta-mination, die durch seine Jünger in sein irdisches Leben eingetra-gen wurde. In dieser Perspektive hielt Reimarus auch Ausschau nach der Erklärung übernatürlicher Fakten, die in den Evangelien und insbesondere in den Auferstehungserzählungen beschrieben wurden. Der Tod Jesu wurde dann als ein Fehlschlag der Sendung des Nazareners interpretiert; die Jünger hätten den Leib gestohlen und das Volk getäuscht und Jesus zu einer messianischen Gestalt gemacht. Es handle sich demnach um eine gefälschte Geschichte. Die Leben-Jesu-Forschung nach Reimarus10 folgt dann den Pfaden historischer und rationalistischer Erklärung der in den Evangelien berichteten wunderbaren Ereignisse,11 die – mit gemischten Resul-

8 Reimarus war der erste Gelehrte, der Jesu Intentionen, Handlungen und Lehren von den Intentionen und späteren Lehren der Apostel unterschied. A. Arterbury, Reima-rus, Hermann Samuel, in: Encyclopaedia of the Historical Jesus, hg. von C. A. Evans, New York-London 2008, 495b–497a.

9 R. Schnackenburg, Jesus Christus im Spiegel der vier Evangelien, Freiburg 1998, 15.10 Ausgangspunkt ist das große Werk von A. Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede, 1906,

seit 1913 veröffentlicht unter dem Titel: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübin-gen [hier zitiert nach der Siebenstern-TB-Ausgabe, 2 Bde., München-Hamburg 1966].

11 J. Gnilka, Jesus von Nazaret. Botschaft und Geschichte, Freiburg 1990, 12 f.; Jesus of Nazaret. Message and history, Peabody 1997, 3.

12 Bernardo Estrada

taten – die Studien des 19. Jahrhunderts dominieren. Die Vertreter des historischen Positivismus sind von einer anderen Art von Dog-matismus befallen, und ihre Erforschung der Evangelien läuft auf den Versuch hinaus, eine Biografie Jesu zu erstellen, die auf histori-schen Fakten gründet, ohne sein theologisches Bild einzubeziehen. Auf diese Weise wollen sie nur ein „historisches Supplement“ zu seinem Leben in den Evangelien liefern.12 Von hier geht es dann weiter zur rationalistischen Erklärung, deren repräsentativstes Werk vielleicht das von Paulus 1828 veröffentlichte Werk ist, das allerdings durch starke Vorurteile geprägt zu sein scheint.13 Seine Interpretationen der Wunder und übernatürlichen Ereignisse zei-gen – trotz der breiten Kenntnisse, die er zweifellos hatte – einen naiven Geist, der sich transzendenten Realitäten verschließt.14

Eine andere Position vertrat die Tübinger Schule, deren Gründer, Baur, in Jesus im Grunde einen Förderer der Freiheit und weiterer universaler Werte sieht. Das frühe Christentum sei ihm zufolge das Ergebnis von zwei entgegengesetzten Trends, dem Petrinismus und dem Paulinismus (mit dem Matthäusevangelium und dem Lukas-evangelium als den entsprechenden Beispielen), die eine Art hegelianischer Synthese hervorgebracht hätten, den christlichen Glauben, der im Markusevangelium und – in geringerem Maße – im Johannesevangelium seinen Ausdruck fand.15

Schweitzer richtet im Blick auf den historischen Weg, der durch verschiedene „Leben“ Jesu markiert ist, den Fokus hauptsächlich auf das Buch Das Leben Jesu von Strauß,16 dem er eine besondere Wertschätzung vorbehält, die aus den vielen Lobpreisungen, mit denen er Gelehrte großzügig bedenkt, herausragt. Es ist bezeich-nend, dass eines der ersten Werke von Strauß eine Kritik des Leben

12 Die Hauptvertreter dieses Rationalismus sind: J. G. Herder, Von Gottes Sohn, der Welt Heiland, Riga 1797; F. V. Reinhard, Versuch über den Plan, welchen der Stifter der christlichen Religion zum Besten der Menschheit entwarf, Wittenberg 1830; E. A. Opitz, Versuch einer pragmatisch erzählten Geschichte Jesu von seiner Geburt an bis zur öffentlichen Ausbreitung seiner Lehre für Christen und Nichtchristen, Zerbst 1812.

13 H. E. G. Paulus, Das Leben Jesu als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchris-tentums, 2 Bde., Heidelberg 1828.

14 Siehe auch A. Schweitzer, Leben-Jesu-Forschung, 88–96: Der ausgebildete Rationalis-mus. Paulus.

15 F. C. Baur, Das Christentum und die christliche Kirche der drei ersten Jahrhunderte, Tübingen 1860.

16 D. F. Strauss, Das Leben Jesu, 2 Bde., Tübingen 1835–1836.

13Jesusforschung in den Evangelien

Jesu von Schleiermacher ist, dessen Titel Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte17 den tiefen Eindruck offenbart, den die Prinzipien der Aufklärung im philosophischen und theologischen Denken Deutschlands im 19. Jahrhundert hinterlassen haben. Es war aber sein Leben Jesu, das viele Zweifel, Kritiken und Diskussio-nen hervorrief.18 Das Werk bewegt sich auf den zwei Ebenen Geschichte und Mythos: Die Geschichte diene dazu, die Einzelhei-ten des irdischen Lebens Jesu – kulminierend in seinem Leiden und Tod – zu erzählen, während der Mythos den authentischen Kern der evangelischen Überlieferung – von der Taufe bis zur Auf-erstehung – erkläre. Diese beiden Letztgenannten repräsentieren eigentlich zwei Tore, Eingang und Ausgang, und zwischen den bei-den seien die verschlungenen Wege der natürlichen Erklärung zu finden. Strauß zufolge sei der Mythos der geschichtliche Ausdruck religiöser Überzeugungen, die in Legenden geformt und in der irdischen Persönlichkeit Jesu Gestalt gewonnen haben. Es ist ihm zuzugestehen, verstanden zu haben, dass die Evangelien Geschichte und Theologie enthalten, die zu unterscheiden, aber nicht getrennt zu untersuchen sind. Vielleicht hat Strauß die Konsequenzen nicht in Betracht gezogen, die ein solches Buch haben konnte, denn worum es ihm ging, war nicht, dem Leben Jesu die Geschichtlich-keit abzuerkennen, sondern seine Gestalt von jedwedem religiösen und dogmatischen Glauben zu befreien.

In der geschichtlichen Persönlichkeit Jesu wurde die Menschheit Gottes als die höchste Idee menschlichen Denkens gegenwärtig. Es ist nicht schwer, hinter diesem Begriff des Mythos von Strauß die Hegel’sche Argumentation zu sehen. Der Mythos erwachse aus dem von Menschen geschaffenen Andenken an Jesus, das aus der Idee einer göttlichen Menschheit entspringt. Der wirkliche Jesus werde Strauß zufolge durch dieses Andenken repräsentiert, das für immer besteht und gegenüber Kritik gefeit ist. Die Gestalt Jesu wird so auf ein Symbol reduziert.

Ein weiterer prominenter Vertreter der First Quest ist Renan.19 Anders als Strauß hatte Renan nicht die Absicht, auf der Basis der

17 D. F. Strauss, Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte. Eine Kritik des Schleiermacher’schen Lebens Jesu (Gesammelte Schriften V), Bonn 1877, 3–147.

18 A. Schweitzer, Leben-Jesu-Forschung, 132–154, widmet ein ganzes Kapitel den Freun-den und Widersachern dieses Buches.

19 E. Renan, Vie de Jésus, Paris 1863.

14 Bernardo Estrada

Dogmengeschichte ein neues Konzept zu entwickeln. Sein Werk ist ein gemäß den Prinzipien der liberalen Schule gezeichnetes Leben Jesu. Es ist ein reizvolles literarisches Werk mit lebendigen Beschrei-bungen der Landschaften von Palästina, wirkt aber oft übertrieben; sogar Schweitzer spricht von „Geschmacklosigkeiten […] der grau-enhaftesten Art“.20

Der Mann, der aus seinem Vie de Jésus hervortritt, ist gewiss in der Art seines Sprechens und Lehrens eine angenehme und rei-zende Person, letztlich fehlt ihm aber jedweder übernatürliche Charakter; es kann gar nicht anders sein, da das allgemein verbrei-tete dominierende Denken auf Harnack zurückging, den bedeu-tendsten Vertreter des liberalen Protestantismus. Harnack zufolge beruht das Christentum auf drei Wirklichkeiten, so wie drei Punkte eine Fläche definieren, nämlich die göttliche Vaterschaft, Brüder-lichkeit unter den Menschen und der unendliche Wert der Men-schenseele.21 Gegenüber einer solchen Herangehensweise kann man die Reaktion derer verstehen, die meinen, das Christentum erfordere etwas mehr als eine rein humanistische Erklärung.22

Wer immer sich der Gestalt Jesu mit der Distanz des Historikers nähert, kann gewiss – zusätzlich zu den Details seines irdischen Lebens – etwas über seinen Charakter und seine Haltungen, über sein Temperament und seine Neigungen in Erfahrung bringen. Er oder sie wird auch Aspekte seiner Persönlichkeit entdecken, die aus seinem klaren und deutlichen Sprechen mit der Botschaft vom Reich Gottes offensichtlich werden: „Höheres und Vollendeteres“, schrieb Jülicher, „ist […] auf diesem Gebiet gar nicht zu leisten.“23 Wer aber die übernatürliche Dimension nicht einbezieht, wer „sich in der kühlen Distanz des Historikers der Gestalt Jesu nähert, kann die Frage nach dem Geheimnis der Person Jesu, der Strahlkraft, die von ihm ausgeht, der lebendigen Macht seiner Worte und Taten, der mitreißenden Gewalt seines Leidens und Sterbens nicht beant-worten“.24 Die in der umfassenden Studie von Schweitzer zitierten Autoren sind an Jesus grundsätzlich vom historischen und biogra-

20 A. Schweitzer, Leben-Jesu-Forschung, 208.21 A. v. Harnack, Das Wesen des Christentums, Leipzig 1901.22 R. Morgan, Günther Bornkamm in England, in: Kirche. Festschrift für Günther Born-

kamm zum 75. Geburtstag, hg. von D. Lührmann / G. Strecker, Tübingen 1989, 498 f.23 A. Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu, Freiburg 1888, 179.24 R. Schnackenburg, Jesus Christus im Spiegel der vier Evangelien, Freiburg 1998, 14.

15Jesusforschung in den Evangelien

fischen Blickwinkel aus herangetreten. Die Vorstellung, die sich aus ihren Studien ergab – in Übereinstimmung mit den damali-gen philosophischen Strömungen und dem damals herrschenden Weltbild –, reflektierte vor allem den Charakter und die Persön-lichkeit der Autoren.25 Die Gestalt Jesu, die sich aus den Evangelien ergibt, hatte in ihren Biografien keine klaren Eigenschaften, es waren letztlich Darstellungen nach Gutdünken.

Am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert war es Wrede, der zum ersten Mal verstand, dass das Leben Jesu in den Evangelien eher eine theologische denn eine chronologische Folgerichtigkeit bietet.26 In der Aufnahme eines Hinweises aus dem Markus-Text sieht der lutherische Theologe das „Messiasgeheimnis“ als den Schlüssel für die Interpretation des Zweiten Evangeliums: Der Evangelist habe seine Erzählung um dieses Faktum herum kompo-niert, das in der ersten Hälfte nicht erwähnt und in der zweiten Hälfte des Evangeliums verkündet wird.

Wrede zufolge ist diese Gestalt ein nichtmessianischer Jesus, der durch seine Jünger und durch den Evangelisten selbst in einen Messias verwandelt wird. Auf jeden Fall ist ihm zuzugestehen, dass er den theologischen Reichtum des Markus, der in der Vergangen-heit nicht wirklich geschätzt wurde, ans Licht gehoben hat. Nur wenige Gelehrte konnten den theologischen Wert des Zweiten Evangeliums erkennen,27 das eher wie ein für eine liberale For-schung passender Text aussah, in dem die übernatürliche Dimen-sion verblasst, wenn nicht völlig abwesend war.28

25 Sehr bezeichnend ist die Kritik von Tyrrell an dem in Harnack personifizierten libera-len Denken: „The Christ that Harnack sees, contemplating 19 centuries of Catholic darkness, is only a Liberal Protestant face reflected in the bottom of a deep well“ (G. Tyrrell, Christianity at the Cross-Roads, London 1909, 49).

26 W. Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Ver-ständnis des Markusevangeliums, Göttingen 1901.

27 H. Schürmann, Zur aktuellen Situation der Leben-Jesu-Forschung, in: GuL 46 (1973), 300–310, bes. 301.

28 Es ist interessant festzustellen, dass im Preußen Bismarcks die Lektüre und Verbrei-tung des Markusevangeliums gefördert wurde, da man es sehr geeignet hielt für den Kulturkampf, wobei aber die große theologische Bedeutung des Zweiten Evangeli-ums nicht wahrgenommen wurde. W. R. Farmer, State ‚interesse‘ and Marcan Pri-macy. Bismarck and the Four Gospels, 1870–1914, in: The Four Gospels, 3 Bde., hg. von F. van Segbroeck / C. M. Tuckett / G. Van Belle / J. Verheyden, Leuven 1992, Bd. 3, 2477–2498, bes. 2494–2496.

16 Bernardo Estrada

Jahre später wird Bultmann die Theorie Wredes als Verbindungs-glied zwischen dem „Mythos von Christus“ und der Geschichte von Jesus bezeichnen, dessen Gestalt auch für ihn auf einer unbe-gründeten messianischen Zuschreibung gründet. In den Evange-lien jedoch ist es klar, dass – eher als dass ein Übergang von der Geschichte zum Mythos stattfindet – der Verkündiger zum Verkün-digten wird, um einen Ausdruck von Bultmann zu verwenden.29 Eine so wenig nuancierte Feststellung erfasst aber nicht die volle Wirklichkeit: nicht die ganze Wahrheit.30 Die Verkündigung Jesu proklamierte Gottes Herrschaft, die, wie Gnilka sagt, nur verstan-den werden konnte, wenn das Kreuz und die Auferstehung präsent waren. Aus diesem Grund ist es notwendig, vor der Verherrlichung des Menschensohnes zu schweigen.31

In der Theorie des „Messiasgeheimnisses“ fand Schweitzer ein stichhaltiges Argument, die „Leben Jesu“ zu widerlegen, die nur his-toriografisch und damit ohne eine theologische Sichtweise vorgin-gen. Am Ende seines Werks legt er – im Gefolge von Wrede – seine eigene Antwort auf die Frage nach dem Leben Jesu vor, die in den vielen Porträts des Nazareners entwickelt wurde. Es ist die – von Weiss32 übernommene – „konsequente Eschatologie“. Eine solche Lösung konnte nur das Ende der First Quest erklären,33 deren Epitaph von Schweitzer selbst geschrieben wurde: „Es ist der Leben-Jesu-Forschung merkwürdig ergangen. Sie zog aus, um den historischen Jesus zu finden, und meinte, sie könnte ihn dann, wie er ist, als Leh-rer und Heiland in unsere Zeit hineinstellen. Sie löste die Bande, mit denen er seit Jahrhunderten an den Felsen der Kirchenlehre gefes-selt war, und freute sich, als wieder Leben und Bewegung in die Gestalt kam und sie den historischen Menschen Jesus auf sich zukommen sah. Aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer

29 Wie der Verkündiger zum Verkündigten wurde, ist eine Frage, die Bultmann stellt, allerdings ohne eine überzeugende Antwort zu finden; für ihn bildet Ostern den Gra-ben zwischen den zwei Gestalten. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1984, 35–39: Das Problem des Verhältnisses der Verkündigung der Ur-gemeinde zur Verkündigung Jesu.

30 L. W. Hurtado, Jesus-Devotion and the historical Jesus. The Resurrection of Jesus as a Test-Case, in: Revista Catalana de Teología 36 (2011), 115–131, bes. 122.

31 J. Gnilka, Theologie des Neuen Testaments, Freiburg-Basel-Wien 1994, 151. 32 J. Weiss, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, Göttingen 1900. Siehe auch J. Weiss, Das

älteste Evangelium, Göttingen 1903; A. Schweitzer, Leben-Jesu-Forschung, 620–630.33 G. Segalla, La terza ricerca del Gesù storico e il suo paradigma postmoderno, in: Pro-

spettive teologiche per il XXI secolo, hg. von R. Gibellini, Brescia 2003, 227–250, bes. 227.

17Jesusforschung in den Evangelien

Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück […] Er kehrte in die seine zurück mit derselben Notwendigkeit, mit der das befreite Pen-del sich in seine ursprüngliche Lage zurückbewegt.“34

Nachdem er so seine Skepsis gegenüber früheren Versuchen, Jesus in der eigenen Zeit „festzuhalten“, ausgedrückt hat, stellt er fest, dass man „ihn ziehen lassen“ und in seine Zeit zurückkehren lassen musste. Die „Trennung“ ist für ihn radikal: Der Jesus der Geschichte hat nichts zu tun mit dem Christus des Glaubens.

Nach der Kritik der psychologisierenden und phantasiereichen Porträts Jesu, die seine Vorgänger vorgelegt hatten, stellte Schweit-zer fest: „Das historische Fundament des Christentums, wie es die rationalistische, die liberale und die moderne Theologie aufgeführt haben, existiert nicht mehr.“35 Das alte Modell, das auf der Erfor-schung „positiver Fakten“ basierte, hatte alles eliminiert, was dem Glauben und der Erfahrung der Kirche zugeschrieben werden konnte. Mit der Missachtung der Intention der Evangelisten, die die Offenbarung Gottes und den Erlösungstod Jesu verkündigten, ging das Kostbarste, was in den Schriften der Evangelien enthalten war, verloren.

Das durch eine ostentative Apologetik gekennzeichnete katho-lische Denken des 19. Jahrhunderts versuchte die Historizität der Evangelien zu beweisen und verwendete dabei die gleichen Argu-mente, die schon andere Gelehrte für den Zugang zu Jesus einge-setzt hatten.36 Obwohl im christlichen Altertum die Frage betref-fend die Unterschiedlichkeit der Evangelien und ihre besondere Weise, die Geschichte des Nazareners zu erzählen, gestellt wurde,37 stieß man nicht zum Kern des Problems vor. Später, im Mittelalter, eigneten sich die Menschen einen Zugang zum Text des Evange-

34 A. Schweitzer, Leben-Jesu-Forschung, 620 f.35 Ebd., 621. Siehe J. Jeremias, Das Problem des historischen Jesus, Stuttgart 1960, 71973,

8: „Es war geradezu tragisch, dass Albert Schweitzer, der in dem genannten Werke mit unerbittlichem Scharfsinn diese Wunschbilder als solche aufdeckte, selbst dem Fehler der psychologischen Konstruktion erlag, wenn er unter Berufung auf Mat-thäus 10,23 die Enttäuschung über das Ausbleiben des Endes für die große Wende im Leben Jesu erklärte, die ihn dazu veranlasste, den Leidensweg auf sich zu nehmen, um auf diese Weise die Gottesherrschaft herbeizuzwingen.“

36 L. Stefaniak, De Novo Testamento ut christianismi basis historica, in: DT(P) 61 (1958), 113–130. Die drei Punkte betreffend die Historizität waren authenticitas, integritas, veracitas. I. de la Potterie, Come impostare oggi il problema del Gesù storico?, in: CivCatt 120/II (1969), 447–463, bes. 448.

37 Augustinus, De consensu evangelistarum.

18 Bernardo Estrada

liums an, den man einen Zugang „des Glaubens“ nennen könnte. Es gab die Überzeugung, in den Evangelien die übernatürlichen Ereignisse zu finden, die die Geschichte der Erlösung markierten, und man nahm – manchmal unkritisch – die Zusammenstellung von im Text enthaltenen Wörtern und Fakten, deren Gewissheit keinem Zweifel ausgesetzt wurde, einfach entgegen. Dieses Den-ken war – wie die Frage von Schweitzer – darauf gerichtet, das Leben Jesu aus einer bestimmten – historisch-biografischen – Per-spektive zu erforschen, was wohl für andere Arten literarischer Werke geeignet ist.38

Diese Sackgasse machte es notwendig, einen anderen Zugang zu den Evangelien zu wählen, der von der Theologie ausgehen sollte. In diesem Zusammenhang entstand in den 1920er Jahren die Schule der Formkritik mit den Postulaten von Bultmann, Dibelius und Schmidt. Was für diese Autoren mehr als nur die Fakten zählt, ist das Wort, das Wirklichkeit wird, ist die Verkündigung als das grund-legende Ereignis in den Inhalten der Evangelien. Obwohl moderne Kritiker in Kähler den Vorläufer der Kerygma-Theologie sehen und auf ihn als den verweisen, der als Erster explizit im Evangelium die zwei Figuren des historischen Jesus und des Christus des Glaubens zeigte,39 dürfen wir nicht vergessen, dass schon Strauß diese Unter-scheidung getroffen hatte. Ihre äußersten Konsequenzen sollten jedoch mit den pauschalen Postulaten von Bultmann sichtbar wer-den. Er übte auf die neutestamentlichen Studien des 20. Jahrhun-derts einen beherrschenden Einfluss aus.40 Seine Konzeption des nachösterlichen Glaubens und des schöpferischen Potentials der frühen christlichen Gemeinde schuf einen unüberbrückbaren Gra-ben zwischen dem Leben Jesu und der frühen Kirche.

Die Voraussetzungen dieses kerygmatischen Zugangs leiten sich einerseits von den Schlussfolgerungen her, die Schweitzer nach seiner langen Forschungsarbeit gezogen hatte,41 andererseits von

38 Segalla hat recht, wenn er sagt, es sei ein Fehler, Evangelienforschung mit der Inten-tion zu betreiben, ihre Historizität zu verneinen oder zu bestätigen. G. Segalla, Gesù Rabbi ebreo di Nazaret e Messia crocifisso, in: StPat 30 (1993), 463–515, bes. 486.

39 M. Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Chris-tus, Leipzig 1892.

40 A. Lindemann, Rudolf Bultmann e il suo influsso sulla teologia e sulla chiesa, in: Ras-segna di Teologia 44 (2003), 5–30.

41 H.-P. Müller, Albert Schweitzer und Rudolf Bultmann. Theologische Paradigmen unter der Herausforderung durch den Säkularismus, in: ZThK 93 (1996), 101–123.

19Jesusforschung in den Evangelien

den Postulaten der religionsgeschichtlichen Schule, der es darum ging, die Wurzeln des christlichen Glaubens in den Formulierun-gen der Mythologie der griechisch-römischen Welt mit ihrem Pan-theon von vergöttlichten Heroen zu finden. Hier sei der Ursprung des auf Jesus Christus angewendeten Titels kyrios zu finden, wie Bultmann selbst es von seinem Lehrer Bousset übernommen hat.42 Die christliche Verkündigung habe die Gestalt Jesu vergeistigt und ihn zum Sohn Gottes proklamiert, während der Erzählstoff des Evangeliums in der Form der Legende gestaltet wurde. Einige der Jesus-Erzählungen hätten ihren Ursprung im christlichen Gottes-dienst gehabt.

Eine solche Vergöttlichung ist aber nie erfolgt. Bekanntlich ist besonders in der – wahrscheinlich von der synoptischen Überlie-ferung unabhängigen – johanneischen Überlieferung die Gestalt Jesu als kyrios nicht das Ergebnis eines gnostischen Mythos vom Erlöser, sondern die Darstellung eines Propheten wie Mose im Licht von Dtn 18,15–22 (Joh 1,21). Die Bedeutung der Sendung Jesu gründet auf dieser Wirklichkeit; seine Einheit mit dem Vater erwächst aus seinem völligen Gehorsam gegenüber dem Willen dessen, der ihn gesandt hat.43 Joseph Ratzinger hat diese Tatsache in der Einführung zum ersten Band von Jesus von Nazareth gut erfasst: „In Jesus ist die Verheißung des neuen Propheten erfüllt. Bei ihm ist nun vollends verwirklicht, was von Mose nur gebrochen galt: Er lebt vor dem Angesicht Gottes, nicht nur als Freund, son-dern als Sohn; er lebt in innerster Einheit mit dem Vater.“44

Die Aussage von Bultmann aus dem Jahr 1926, „dass wir vom Leben und von der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wis-sen können“,45 gibt tatsächlich eine gute Vorstellung von seinem Denken. Obwohl diese Worte hauptsächlich von der Schwierigkeit einer Rekonstruktion der persönlichen und psychologischen Ent-

42 W. Bousset, Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenaeus, Göttingen 1913; R. Bultmann, Das Urchristentum im Rah-men der antiken Religionen, Zürich 1949.

43 P. N. Anderson, The Fourth Gospel and the Quest for Jesus, London-New York 2006, 39.44 Jesus I, 30 [JRGS 6, 144].45 „Freilich bin ich der Meinung, dass wir vom Leben und von der Persönlichkeit Jesu so

gut wie nichts mehr wissen können, da die christlichen Quellen sich dafür nicht inte-ressiert haben, außerdem sehr fragmentarisch und von der Legende überwuchert sind, und da andere Quellen über Jesus nicht existieren“ (R. Bultmann, Jesus, Tübin-gen 1951, 11).

20 Bernardo Estrada

wicklung des Nazareners sprechen, gerichtet gegen die „Leben Jesu“ des 19. Jahrhunderts,46 bleibt das Bultmann’sche Kerygma abgetrennt von der Person Jesu und der Gemeinschaft, die ihn kannte und sein Leben teilte, und von seiner Offenbarung vor Israel vor Ostern.47

Dieser Zugang kann – nach Bultmann – nur im Glauben an Jesus erfolgen, und es gibt keinen anderen Weg. „Christlichen Glauben […] gibt es erst, seit es ein christliches Kerygma gibt, d. h. ein Kerygma, das Jesus Christus als Gottes eschatologische Heilstat verkündigt, und zwar Jesus Christus, den Gekreuzigten und Aufer-standenen. Das geschieht erst im Kerygma der Urgemeinde, nicht schon in der Verkündigung des geschichtlichen Jesus […].“48

In seinem früheren Verständnis – um einen Begriff zu gebrau-chen, der ihm teuer war – gibt es eine Art inhärenter methodologi-scher Schwierigkeit bei der Annahme, dass die Geschichte und die Fakten Teil der Evangelien sind, deren Absicht theologisch und deren Ziel das Heil ist. Die einzige Geschichte, die von Bultmann in der Erzählung des Evangeliums angenommen wird, folgt aus per-sönlicher Entscheidung, durch den Akt des Glaubens: Das „mythi-sche Faktum“, das in antiker Zeit geschah, wird in der menschli-chen Geschichte gegenwärtig durch meine Glaubensaussage, gewinnt neue Kategorien und wird entmythologisiert.49

Bultmann glaubte einerseits, dass er letztlich das durch Schweit-zer schon vorbereitete Ende der First Quest herbeigeführt habe, und andererseits, dass die historische Gestalt Jesu für die kerygmati-sche Theologie weder von Interesse noch von Nutzen sei: Es genügte zu wissen, dass es ihn gegeben hat. Eine solch radikale Schlussfolgerung konnte jedoch nicht von langer Dauer sein. „Das

46 So W. Schmithals, 75 Jahre: Bultmanns Jesus-Buch, in: ZThK 98 (2001), 39. Im Nach-wort zur italienischen Ausgabe des Jesus-Buches (Gesù, Brescia 1997, 178 f.) schreibt Schmithals, dass Bultmann nur die Möglichkeit der Rekonstruktion des Lebens und der Persönlichkeit Jesu in Frage stellte; sein Werk, seine Lehre und seine Intentionen sind nicht genannt.

47 „Die Geschichte Jesu gehört für Bultmann in die Geschichte des Judentums, nicht des Christentums. Dieser jüdische Prophet hat zwar historisches Interesse für die neutes-tamentliche Theologie, Bedeutung für den christlichen Glauben hat er jedoch nicht und kann er nicht haben. Denn das Christentum […] hat erst Ostern begonnen“ (J. Jeremias, Das Problem des historischen Jesus, 11).

48 R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 71977, 2.49 P. Grech, Il Problema del Gesù storico da Bultmann a Robinson, in: Dei Verbum. Atti

della XX Settimana Biblica Italiana, Brescia 1970, 400 f.

21Jesusforschung in den Evangelien

Bemühen, Jesus von Nazaret in seiner geschichtlichen Erscheinung zu erkennen, seine wirklichen Worte und seine Taten in den Griff zu bekommen, [kann] nicht als abwegig oder verfehlt ange sehen werden.“50 Die frühe Kirche verkündigte von Beginn an den, der unter Pontius Pilatus gekreuzigt wurde, als den Auferstandenen, als den Herrn, den Messias und Erlöser, unter Vermeidung jeder Idealisierung seiner Person, seiner Mythisierung.

Jeremias bemerkte diesbezüglich, das Evangelium von der Bot-schaft Verbum caro factum est zu entleeren, würde bedeuten, beim Doketismus zu enden, während der Ausschluss des Kerygmas aus dem Leben Jesu beim Ebionitismus enden würde. Geschichte und Kerygma sind nicht voneinander trennbar, sie stützen sich gegen-seitig als Ruf und Antwort darauf: Der Ruf ist in der Person und Sendung Jesu gegeben, die Antwort kommt von der Urkirche, die mit Dank und Lob Gottes antwortet und so zum Glaubenszeugnis vor der Welt wird.51

Der Verweis auf wirklich historische Ereignisse ist in der Tat wesentlich für den biblischen Glauben, wie Joseph Ratzinger/Bene-dikt XVI. feststellt: Dieser Glaube „erzählt nicht Geschichten als Symbole für übergeschichtliche Wahrheiten, sondern er gründet auf Geschichte, die sich auf dem Boden dieser Erde zugetragen hat. Das Factum historicum ist für ihn nicht eine auswechselbare sym-bolische Chiffre, sondern konstitutiver Grund: Et incarnatus est – mit diesem Wort bekennen wir uns zu dem tatsächlichen Hereintreten Gottes in die reale Geschichte.“52

Betreffend den Zugang zu Jesus durch die Evangelien haben wir vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich von den Synoptikern gesprochen. Aber auch in den Besonderheiten und eigenen Zügen bei Johannes kann man die mit den anderen Evangelien gemein-samen Punkte sehen. Obwohl moderne Gelehrte den historischen Wert von Johannes neu bewerten, bieten den größten Teil der Jesus-Überlieferung doch die Synoptiker.53 Aber auch das Vierte Evange-lium trägt zur historischen Frage nach Jesus bei, und Johannes ver-vollständigt und bereichert in verschiedener Weise die Erzählung des Markus. Dazu kommt, dass die theologischen Themen des

50 R. Schnackenburg, Jesus Christus im Spiegel der vier Evangelien, 14. 51 J. Jeremias, Das Problem des historischen Jesus, 22 f. 52 Jesus I, 14 [JRGS 6, 132].53 Siehe den Beitrag von Y. Simoens in diesem Band.

22 Bernardo Estrada

Johannes hilfreich sind für das geschichtliche Verständnis der ursprünglichen Ereignisse, ihrer Rezeption und der Entfaltung ihrer Erinnerung.54

3. Die Instruktion Sancta Mater Ecclesia und die New Quest

Üblicherweise wird der Beginn der Second Quest oder der New Quest bzw. der „Neuen Frage“ nach dem historischen Jesus auf die Vorlesung von Ernst Käsemann in Marburg 1953 zurückgeführt.55 Eigentlich handelte es sich um einen Versuch, den Gegensatz zwi-schen Kerygma und Geschichte zu überwinden.56 Den Theoreti-kern der New Quest zufolge ist der Zugang zu Jesus durch die Ver-kündigung möglich, insofern die Evangelien die Geschichte im Kerygma und die Kontinuität zwischen Jesus und dem Christus annehmen, ohne ihn auf einen Mythos zu reduzieren. Auf dieser Basis können wir die Kriterien sehen, die es dem Einzelnen mög-lich machten, in den Evangelien geschichtliche Ereignisse zu erfas-sen. Wohlbekannt ist das Kriterium der Diskontinuität (bzw. das „Unähnlichkeits kriterium“), wonach alles das zu Jesus gehört, was weder dem Judentum seiner Zeit noch der Umwelt der frühen Kir-che zugeschrieben werden kann.57 Der zentrale Punkt dieser Methodologie ist die Absicht, Aspekte des Lebens Jesu hervorzu-heben, die dem hellenistischen Milieu näher sind als dem jüdi-

54 P. N. Anderson, The Fourth Gospel and the Quest for Jesus, 173.55 E. Käsemann, Das Problem des historischen Jesus, in: ZThK 51 (1954), 125–153.56 Ohne einen Gegensatz zwischen dem historischen Jesus und dem Kerygma zu

behaupten, wie in der liberalen Schule, noch zwischen dem Kerygma und dem histo-rischen Jesus zu unterscheiden, wie in der Formgeschichte, wurde stattdessen ver-sucht, die Kontinuität zwischen beiden zu sehen.

57 Das Prinzip wurde schon zu Beginn des Jahrhunderts von Wrede, Das Messiasge-heimnis, 90 f., erwähnt, in Ansätzen war es schon in den Schriften von P. W. Schmie-del, E. Hirsch und W. Heitmüller vorhanden: J. Gnilka, Jesus von Nazaret, 29. Bult-mann nimmt das Kriterium, das das Zugpferd der New Quest werden sollte, anfänglich an. Es gibt aber dennoch Vorbehalte: Wir können Jesus nicht aus dem zeit-genössischen Judentum löschen und meinen, es habe nichts mit dem frühen Chris-tentum zu tun. Unter anderem könnte das Kriterium der Diskontinuität einen anti-judaistischen Affekt in sich bergen, wie F. Mußner feststellt: Methodologie der Frage nach dem historischen Jesus, in: Rückfrage nach Jesus, hg. von K. Kertelge, Freiburg-Basel-Wien 1974, 118–147, bes. 132.

23Jesusforschung in den Evangelien

schen, das als Legalismus dargestellt wird, dem es darum zu tun ist, durch die Erfüllung des Gesetzes Verdienste aufzuhäufen. Das führt zu einer verzerrten theologischen Vorstellung, die zum Teil einer besonderen Weise, allein durch Glauben gerechtfertigt zu werden, geschuldet ist.58

Seither gewinnen die Kriterien der Historizität – mit wechseln-dem Erfolg – Bürgerrecht in der historischen Erforschung der Evan-gelien.59 Ihre eigentliche Anwendung erfordert jedoch – Fusco zufolge – eine vollständigere und besser abgestimmte Analyse der einzelnen Kriterien: Zusätzlich zum Kriterium der Diskontinuität („discontinuity“) müssen das Unableitbarkeitskriterium („way of the only adequate explanation“) und das Kriterium der Mehrfach-bezeugung („way of the testimony“) angesetzt werden. Diese drei Verfahren zusammen würden ein zufriedenstellenderes Bild von Jesus ergeben.60

Der Beitrag der „Neuen Frage“ besteht nicht in der Entdeckung neuer Quellen oder origineller Ideen über die Evangelien, sondern in der Anwendung eines neuen Begriffs von Geschichte.61 Wie aus den Untersuchungen der letzten Jahrzehnte hervorgeht, ist Geschichte mehr als eine Katalogisierung von Fakten gemäß den Kategorien von Zeit und Kausalität: Sie nimmt Gestalt an in einem einzigen und schöpferischen Ereignis, das das Subjekt in eine per-sönliche Begegnung mit der Wirklichkeit selbst hineinzieht. Das Aufkommen des Postmodernismus in der Geschichte hat das Werk von Aron, Marrou, Veyne und Ricœur – und anderen – befördert. Sie konzipieren Geschichte als Rekonstruktion, als Theorie, die der Geschichte selbst vorangeht:62 Historiografie sei das Ziel der intel-

58 E. P. Sanders, Judaism. Practice and Belief 63 BCE–66 CE, London 1992, 275–277. In Jesus and Judaism, London 1985, 25–29, glaubt Sanders, dass die Wurzeln dieser Hal-tung schon bei W. Bousset vorhanden sind.

59 F. Lambiasi, L’autenticità storica dei vangeli, Bologna 1976, ist eine nützliche Studie zu den Kriterien. R. Latourelle, L’accès à Jésus par les évangiles. Histoire et herméneu-tique, Tournai-Montréal 1978.

60 Das erste Kriterium geht von den Phänomenen zurück zu ihrer Erklärung, vom Ergebnis Kirche zur Ursache Jesus. Das zweite Kriterium beruht auf dem Bild Jesu, das in den Köpfen der Jünger geformt wurde, den Augenzeugen seines Lebens und seiner Verkündigung. V. Fusco, Tre approcci storici a Gesù, in: Rassegna di Teologia 24 (1983), 311–328.

61 J. M. Robinson, A New Quest for the historical Jesus and other Essays, Philadelphia 1983, 66–72.

62 R. Aron, Introduction à la philosophie de l’histoire, Paris 1948, 93.

24 Bernardo Estrada

lektuellen Konstruktion dessen, der sie schreibt. Geschichte ist dann das Resultat einer mit – selbstverständlich falsifizierbaren – Belegen versehenen Hypothese, die weiter ausgearbeitet werden muss: Jede Geschichte enthält in sich ein Stück Fiktion, dazu bestimmt, das von den Zeugnissen hinterlassene Schweigen auszu-füllen, um große historische Handlungsbögen zu entfalten.63

Wenn die subjektive Komponente von Geschichte forciert wird, wird jedoch leicht die Rolle des Autors – besonders hinsichtlich einiger Aspekte der Berichte in den Evangelien – überschätzt. Skepsis in Bezug auf die wirkliche Möglichkeit von Wundern, die in den Evangelien erzählt werden, erhöht zum Beispiel die Bedeutung der persönlichen Beteiligung in der Verkündigung des Ereignisses, das aus einer „mythischen“ Vergangenheit genommen und in die eigene Erfahrung eingebunden wird. Geschichte wäre dann das Ergebnis einer subjektiven Aktion des eigenen Ich. Das Wissen von Jesus durch das Kerygma würde möglich dank des Glaubensaktes, der seine Gestalt aktualisiert und ihn zum Teil der Existenz des Gläubigen macht. Diese Aussagen exemplifizieren die Entmytholo-gisierung Bultmann’scher Art.

Eine andere Schlussfolgerung ergibt sich aus der neuzeitlichen Auffassung von Geschichte: Die Trennung und Entgegensetzung des Jesus der Geschichte und des Christus des Glaubens – ange-deutet bei Reimarus und Strauß, ausgesprochen von Kähler und proklamiert von Schweitzer und Bultmann – tritt nicht so klar her-vor. Diese Dualität sollte faktisch nicht einen unverfälschten Jesus einem vom Dogma verfälschten Christus entgegensetzen. Die Rekonstruktion der Gestalt Jesu ist sozusagen von beiden Blickwin-keln aus gleichermaßen subjektiv. Deshalb weist eine Lesart des Lebens Jesu Christi im Licht des Glaubens, begleitet von der Aner-kennung der von den Historikern geleisteten Arbeit, den Weg zur heutigen Forschung.

Eine Antinomie zwischen dem historischen Jesus und dem Chris-tus des Glaubens kann sich nicht auf die Evangelien berufen, weil im Diskurs über Jesus die „theologische“ Biografie nicht die Not-

63 D. Marguerat, Jésus historique et Christ de la foi: une dichotomie pertinente?, in: Revista Catalana de Teología 36 (2011), 35–53, bes. 42.

64 A. del Agua, El Jesús histórico y el Cristo de la fe. Reconsideración de una abstracción metodológica, in: Ecos de la Escritura. Homenaje a José Manuel Sánchez Caro, hg. von S. Guijarro / G. Hernández, Estella 2011, 217–235, bes. 232.

25Jesusforschung in den Evangelien

wendigkeit der geschichtlichen Vergangenheit ausschließt. In den Texten der Evangelien ist nicht nur der Christus des Glaubens prä-sent: Es gibt auch ein Bewusstsein der geschichtlichen Singularität des Menschen Jesus, wenn der kulturelle und zeitliche Abstand zwischen den Ereignissen seines Lebens und unserer Zeit ange-nommen wird. Das heutige Denken erfolgt eher in Begriffen der Komplementarität, unter der Voraussetzung einer dialektischen Beziehung zwischen theologischer und historischer Funktion: Die biblische Offenbarung ist in die Geschichte eingetreten. Wir begeg-nen in den Evangelien immer der Spannung zwischen Vergangen-heit und Gegenwart, zwischen dem geschichtlichen Gedächtnis Jesu und seinem Herrsein in seiner Kirche.64

Die Frage nach dem historischen Jesus und die Verkündigung des Christus des Glaubens stützen sich auf Rekonstruktionen der Gestalt Jesu, die aus einem intellektuellen Milieu erwachsen, das durch theologische Notwendigkeiten und Meinungen gekenn-zeichnet ist. Diese beiden Vorstellungen sind weder entgegenge-setzt noch heterogen oder äußerlich: Beide sind hergeleitet von einem subjektiven Werk der Rekonstruktion, das letztlich vom his-torischen Ereignis herkommt.65

Sogar Joseph Ratzinger neigt dazu, diese differenzbejahende Entgegensetzung herunterzuspielen, wenn er schreibt: „Dies alles […] aufnehmend, wollte ich doch den Versuch machen, einmal den Jesus der Evangelien als den wirklichen Jesus, als den ‚historischen Jesus‘ im eigentlichen Sinn darzustellen. Ich bin überzeugt und hoffe, auch die Leser können sehen, dass diese Gestalt viel logi-scher und auch historisch betrachtet viel verständlicher ist als die Rekonstruktionen, mit denen wir in den letzten Jahrzehnten kon-frontiert wurden. Ich denke, dass gerade dieser Jesus – der der Evangelien – eine historisch sinnvolle und stimmige Figur ist.“66

Mitte der 1950er Jahre war die redaktionsgeschichtliche Methode in einem gewissen Sinn eine Art Reaktion auf die vorhergehende

65 D. Marguerat, Jésus historique et Christ de la foi, 43 f.66 Jesus I, 20 f. [JRGS 6, 137]. Es besteht keine allgemeine Übereinstimmung hinsichtlich

der Nebeneinanderstellung dieser beiden Gestalten. Frey zufolge zum Beispiel würde diese Wahl stattdessen zu einer Relativierung führen, in der der Gedanke einer christologischen Entwicklung durch eine bestimmte Harmonisierung „plato-nisch-dogmatischer“ Art ersetzt wird: J. Frey, Continuity and Discontinuity between „Jesus“ and „Christ“. The Possibilities of an implicit Christology, in: Revista Catalana de Teología 36 (2011), 69–98, bes. 75, Anm. 14.

26 Bernardo Estrada

formgeschichtliche Methode. Das Werk Bultmanns hatte faktisch einen riesigen Graben zwischen den Ereignissen des Lebens Jesu und dem nachösterlichen Glauben geschaffen. Bultmann zufolge hatten die Dokumente ihren Ursprung im Glauben und in der Ver-kündigung der frühen christlichen Gemeinde, die kleine literari-sche Einheiten mit Aussprüchen und Taten Jesu (die „Formen“) mündlich weitergab. Diese Formen wurden dann gesammelt und von den Evangelisten – die nicht Autoren im eigentlichen Sinn, sondern eher Kompilatoren waren – zusammengestellt. Man muss die von der Formkritik erbrachte diachronische Leistung, die prä-synoptischen Einheiten der literarischen Überlieferung zu identi-fizieren und zu klassifizieren, unbedingt anerkennen. Weniger akzeptabel ist jedoch eine auf Vorurteil basierende Zurückweisung jeder übernatürlichen Wirklichkeit, sei es ein Wunder, eine Prophe-tie oder ein messianischer Anspruch.

Die Redaktionskritik – ein von Willi Marxsen geprägter Begriff67 – versuchte eine logischere und angemessenere Antwort auf die Realität der Evangelien zu geben. Es ist kein Zufall, dass ihre Betrei-ber – Bornkamm, Conzelmann, Marxsen – größtenteils Bultmann-Schüler waren oder seinem Kreis nahestanden. Hinzu kamen einige Gelehrte, die an verschiedenen Universitäten tätig waren, wie Schweizer, R. H. Lightfoot, Trilling und Davies. Für sie waren die Evangelisten nicht mehr „Sammler“ von Überlieferungen oder Kompilatoren, sondern wirkliche Autoren, beseelt von einer klaren literarischen und theologischen Intention. Jeder von ihnen hat aus den Umständen der Komposition seines Evangeliums und der Situation der Adressaten ein Bild Jesu entwickelt.

Der bedeutendste Beitrag dieser Methode besteht zweifellos darin, der Überlieferung eine entscheidende Rolle vor der schriftli-chen Zusammenstellung der Evangelien zugeschrieben zu haben: Jesus gab seine Botschaft nicht schriftlich weiter, sondern vertraute sie einer lebendigen Überlieferung an. Verschiedene Menschen waren – abhängig von ihrer Umwelt und ihrer konkreten Situation – empfänglich für verschiedene Aspekte des Grund-Kerygmas. Die Vielheit der Zeugen ist tatsächlich ein Anzeiger des lehrmäßigen Reichtums der Botschaft, und die verschiedenen soziokulturellen und religiösen Herangehensweisen haben zu einer komplexen und

67 W. Marxsen, Der Evangelist Markus. Studien zur Redaktionsgeschichte des Evangeli-ums, Göttingen 1956.

27Jesusforschung in den Evangelien

organischen Sichtweise und zur Schaffung einer Theologie tout court beigetragen.68 Die synchrone Sichtweise, die in der formgeschichtli-chen Methode verschwunden war, wird zum Teil wiedergewonnen. Das macht es möglich, das literarische Werk als ein Ganzes zu sehen, das aus einzelnen Elementen zusammengesetzt und nicht nur das Resultat einer kollektiven Überlieferung ist.69 Die drei Momente der Formierung der Evangelien – Jesus, die mündliche Überlieferung, die Zeit der Niederschrift – werden nun als eine Ergänzung zum „Vorwärts“ und „Rückwärts“ in der Formkritik gesehen.70

Eher als die Methode, die zweifellos positive Aspekte hat, ver-dienen einige von denen, die für sie werben und sie übernehmen, Kritik: An erster Stelle ist eine gewisse Skepsis gegenüber der Überlieferung vor Ostern festzustellen; dann führt die starke Beto-nung der Unterschiede zwischen den Evangelien dazu, besondere Ereignisse nicht auf reale Sachverhalte, sondern auf die editori-sche Tätigkeit der Evangelisten zurückzuführen; außerdem führt eine übertriebene Betonung des Binoms Überlieferung/Redaktion (wie zuvor in der Formkritik) zu einer „Atomisierung“ des Textes. Was die messianischen Wunder und Aussprüche betrifft: Sie fin-den in den Evangelien Raum als die Verkündigung der Kirche, aber nicht immer als Fakten.

Unterschiede in den Überlieferungen der Evangelien – vor allem zwischen Johannes und den Synoptikern, insbesondere Markus – dürfen uns nicht dazu verleiten, „historisch“ und „theologisch“ oder „authentisch“ und „bearbeitet“ einander entgegenzusetzen, als hätte Geschichte nichts mit subjektiven Bewertungen zu tun. Das Ultimatum von Schweitzer, bei der Suche nach Jesus zwischen den Synoptikern und Johannes zu wählen, wird jetzt von vielen als nicht überzeugend gesehen.71 Alle evangelischen Überlieferungen

68 A. Feuillet, Évangiles synoptiques. Vue d’ensemble sur l’histoire de leur exégèse, in: Esprit et Vie 86 (1976), 641–646, bes. 644.

69 R. Bauckham, Jesus and the Eyewitnesses. The Gospels as Eyewitness Testimony, Grand Rapids-Cambridge 2008, macht geltend, dass die Überlieferung zwar eine kol-lektive Komponente hat, im Wesentlichen aber von Einzelnen abhängt, die Augen-zeugen der Ereignisse waren.

70 V. Fusco, I problemi dei vangeli oggi, in: Vangeli sinottici e Atti degli Apostoli, hg. von M. Làconi u. a., Leumann 1994, 49 f.

71 K. Berger, Das Evangelium nach Johannes und die Jesustradition, in: Johannesevan-gelium – Mitte oder Rand des Kanons? Neue Standortbestimmungen, hg. von Th. Söding, Freiburg-Basel-Wien 2003, 38–59, bes. 38.