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Kindheit & Jugend 15 I n den Bairros am Rand von Maputo, wo diese Studie durchgeführt wurde, sind sehr häufig Kinder zu sehen, die unbeauf- sichtigt von Erwachsenen mit einem Baby auf dem Rücken oder einem Kleinkind an der Hand, das kaum laufen gelernt hat, durch die Straßen gehen. Dieses Phänomen erweist sich als besonders interessant, wenn es im Licht der Debatte über Kinderrechte betrachtet wird, in der sich Schutz und Partizipation gegenüber stehen. Tatsächlich stellen Kinder, die andere Kinder betreuen, die paternalistische Logik, die sie ausschließlich als Empfänger von Schutzmaßnahmen der Erwach- senen sieht, in Frage, weil sie sich selber für den Schutz anderer verantwortlich zeigen. In diesem Artikel soll ein positives Bild der mosambikani- schen Kindheit aufgezeigt werden, das sich nicht nur – wie die meisten bisherigen Studien – da- rüber definiert, was den Kindern fehlt (Zugang zu Bildung, Gesundheitswesen, Ernährungssi- cherheit und so weiter), sondern vor allem her- vorhebt, über welche Fähigkeiten, Kompetenzen, Autonomie, Rechte und Möglichkeiten die Kin- der verfügen. Ziel ist dabei jedoch nicht, darüber zu entscheiden, ob die Kinder das tun sollten, was sie tun. Es geht vielmehr darum, herauszu- finden, was sie tun und welche Bedeutung es für sie persönlich hat. Der Artikel basiert auf den Ergebnissen einer Untersuchung, die in der Zeit von August 2008 bis Dezember 2009 durchge- führt wurde. Ausgehend von der Annahme der Soziologie der Kindheit, nach der Kinder soziale Akteure mit vollen wissenschaftlichen Rechten sind, wurde eine ethnografisch-partizipative Me- thodik angewendet, um die Kinder selbst zu Wort kommen zu lassen. Ich begleitete die Kinder bei ihren täglichen Aktivitäten zuhause, in der Schu- le und auf der Straße. Dabei fotografierte und notierte ich, was die Kinder sagten und taten. Gleichzeitig bekamen die Kinder Gelegenheit, in Interviews, Fragebögen, Diskussionsgruppen, kleinen schauspielerischen Darstellungen, Fotos, Videos, Zeichnungen, schriftlichen Aufzeich- nungen und Tagebüchern selbst über ihr Leben zu erzählen. Die unterschiedlichen Methoden dienten dazu, die Vielfalt der Kindheitserfahrun- gen zu untersuchen und die unterschiedlichen Fähigkeiten, Lebenserfahrungen und sozialen Identitäten der Kinder zu berücksichtigen, die vom Alter, dem Geschlecht, der Familienstruktur und der sozialen Schicht abhängen. Ein komplexes soziales Phänomen Um genauer zu erfahren, was die Kinder, die selber Kinder betreuen, tun und was sie darüber denken, wurden 94 Kinder (45 Mädchen und 49 Jungen) im Alter zwischen zehn und vier- zehn Jahren eingeladen, einen Fragebogen zu beantworten. Zuvor hatten sie einen Dokumen- tarfilm angeschaut, der die Geschichte von vier Waisengeschwistern erzählt, die allein leben, sich ums Haus kümmern und gegenseitig be- treuen. Die Ergebnisse zeigen, dass 89 Prozent der befragten Kinder andere Kinder betreuen. Dabei handelt es sich hauptsächlich um kleinere Geschwister, aber auch um Cousins und Cousi- nen, Neffen oder Nichten und in einigen Fällen Kinder, die Kinder betreuen Während in einigen Teilen der Welt die Kinderbetreuung immer mehr zur Sache von „Erziehungsprofis“ wird, ausgestattet mit theoretischem Wissen über Psychopädagogik und Entwicklungsstadien, mit Stu- dium und Weiterbildung, gibt es noch viele Gegenden auf der Welt, in denen die Kinder selber diese Rolle übernehmen und den größten Teil des Tages auf ihre kleinen Geschwister, andere Kinder aus der Familie oder der Nachbarschaft aufpassen. Die Autorin untersuchte in einem Bairro am Stadtrand von Maputo die familiären Strukturen der Kinderbetreuung. Von Elena Colonna, übersetzt von Ingrid Lorbach Eine Untersuchung in einem Bairro am Stadtrand von Maputo Die Kinder sind bei den meisten Aktivitäten dabei. Foto: Elena Colonna

Eine Untersuchung in einem Bairro am Stadtrand von Maputo ... · die Frau oder den Mann, sondern für uns alle. (Florência, 13 Jahre) Auf der anderen Seite betonen die Kinder, dass

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Page 1: Eine Untersuchung in einem Bairro am Stadtrand von Maputo ... · die Frau oder den Mann, sondern für uns alle. (Florência, 13 Jahre) Auf der anderen Seite betonen die Kinder, dass

Kindheit & Jugend 15

I n den Bairros am Rand von Maputo, wo diese Studie durchgeführt wurde, sind sehr häufig Kinder zu sehen, die unbeauf-

sichtigt von Erwachsenen mit einem Baby auf dem Rücken oder einem Kleinkind an der Hand, das kaum laufen gelernt hat, durch die Straßen gehen.

Dieses Phänomen erweist sich als besonders interessant, wenn es im Licht der Debatte über Kinderrechte betrachtet wird, in der sich Schutz und Partizipation gegenüber stehen. Tatsächlich stellen Kinder, die andere Kinder betreuen, die paternalistische Logik, die sie ausschließlich als Empfänger von Schutzmaßnahmen der Erwach-senen sieht, in Frage, weil sie sich selber für den Schutz anderer verantwortlich zeigen. In diesem Artikel soll ein positives Bild der mosambikani-schen Kindheit aufgezeigt werden, das sich nicht nur – wie die meisten bisherigen Studien – da-rüber definiert, was den Kindern fehlt (Zugang zu Bildung, Gesundheitswesen, Ernährungssi-cherheit und so weiter), sondern vor allem her-vorhebt, über welche Fähigkeiten, Kompetenzen, Autonomie, Rechte und Möglichkeiten die Kin-der verfügen. Ziel ist dabei jedoch nicht, darüber zu entscheiden, ob die Kinder das tun sollten, was sie tun. Es geht vielmehr darum, herauszu-finden, was sie tun und welche Bedeutung es für sie persönlich hat. Der Artikel basiert auf den Ergebnissen einer Untersuchung, die in der Zeit von August 2008 bis Dezember 2009 durchge-führt wurde. Ausgehend von der Annahme der Soziologie der Kindheit, nach der Kinder soziale Akteure mit vollen wissenschaftlichen Rechten sind, wurde eine ethnografisch-partizipative Me-thodik angewendet, um die Kinder selbst zu Wort kommen zu lassen. Ich begleitete die Kinder bei ihren täglichen Aktivitäten zuhause, in der Schu-le und auf der Straße. Dabei fotografierte und notierte ich, was die Kinder sagten und taten. Gleichzeitig bekamen die Kinder Gelegenheit, in Interviews, Fragebögen, Diskussionsgruppen, kleinen schauspielerischen Darstellungen, Fotos, Videos, Zeichnungen, schriftlichen Aufzeich-nungen und Tagebüchern selbst über ihr Leben zu erzählen. Die unterschiedlichen Methoden dienten dazu, die Vielfalt der Kindheitserfahrun-

gen zu untersuchen und die unterschiedlichen Fähigkeiten, Lebenserfahrungen und sozialen Identitäten der Kinder zu berücksichtigen, die vom Alter, dem Geschlecht, der Familienstruktur und der sozialen Schicht abhängen.

Ein komplexes soziales Phänomen

Um genauer zu erfahren, was die Kinder, die selber Kinder betreuen, tun und was sie darüber

denken, wurden 94 Kinder (45 Mädchen und 49 Jungen) im Alter zwischen zehn und vier-zehn Jahren eingeladen, einen Fragebogen zu beantworten. Zuvor hatten sie einen Dokumen-tarfilm angeschaut, der die Geschichte von vier Waisengeschwistern erzählt, die allein leben, sich ums Haus kümmern und gegenseitig be-treuen. Die Ergebnisse zeigen, dass 89 Prozent der befragten Kinder andere Kinder betreuen. Dabei handelt es sich hauptsächlich um kleinere Geschwister, aber auch um Cousins und Cousi-nen, Neffen oder Nichten und in einigen Fällen

Kinder, die Kinder betreuenWährend in einigen Teilen der Welt die Kinderbetreuung immer mehr zur Sache von „Erziehungsprofis“ wird, ausgestattet mit theoretischem Wissen über Psychopädagogik und Entwicklungsstadien, mit Stu-dium und Weiterbildung, gibt es noch viele Gegenden auf der Welt, in denen die Kinder selber diese Rolle übernehmen und den größten Teil des Tages auf ihre kleinen Geschwister, andere Kinder aus der Familie oder der Nachbarschaft aufpassen. Die Autorin untersuchte in einem Bairro am Stadtrand von Maputo die familiären Strukturen der Kinderbetreuung. Von Elena Colonna, übersetzt von Ingrid Lorbach

Eine Untersuchung in einem Bairro am Stadtrand von Maputo

Die Kinder sind bei den meisten Aktivitäten dabei. Foto: Elena Colonna

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Mosambik-Rundbrief Nr. 84 • Juni 201216

Schwerpunkt | Kindheit & Jugend

auch Nachbarskinder oder Freunde. Der größte Teil der betreuenden Kinder, nämlich 71 Pro-zent, haben etwas größere Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren in ihrer Obhut. Doch der Anteil derer, die ganz kleine Kinder betreuen, ist ebenfalls signifikant: 41 Prozent kümmern sich um Babys bis zu zwei Jahren, 47 Prozent um Kleinkinder zwischen drei und fünf Jahren.

Vielfalt von Aufgaben

Wir wollten auch wissen, was die Kinder ma-chen, während sie auf die anderen Kinder aufpassen, und bekamen folgende Antworten: Mit dem Kind spielen (98 Prozent), bei den Hausaufgaben helfen (84 Prozent), füttern (83 Prozent), baden (73 Prozent), das Kind auf den Schoß nehmen (65 Prozent), helfen, die Straße zu überqueren (65 Prozent), zur Schule begleiten (55 Prozent), das Kind im Tuch auf dem Rücken herumtragen (48 Prozent), zusam-men Wäsche waschen oder kochen (47 bzw. 40 Prozent), Windeln wechseln (39 Prozent). Hierbei zeigt sich ein interessanter Unterschied zwischen den Geschlechtern: Während einige Aktivitäten im gleichen Umfang von Mädchen und Jungen ausgeführt werden (spielen, bei den Hausaufgaben und beim Überqueren der Straße helfen), werden andere vornehmlich von Mäd-chen übernommen. Tätigkeiten, die in der Er-wachsenenwelt vor allem Frauensache sind, wie füttern, baden und – ganz besonders – Babys und Kleinkinder auf dem Rücken tragen, für die Kinder kochen und Wäsche waschen, bekom-men schon von Kindheit an eine geschlechts-spezifische Zuordnung. Doch die unter den Erwachsenen sehr rigide Abgrenzung ist in der Welt der Kinder noch flexibel und verhandelbar. Das zeigt die Tatsache, dass es eine signifikan-te Zahl von Jungen gibt, die diese Tätigkeiten übernehmen, auch wenn es weniger sind als bei den Mädchen.

Auf die Frage nach Beaufsichtigung durch Erwachsene während der Kinderbetreuung, ga-ben die Mädchen und Jungen an, dass in der Mehrzahl der Fälle (64 Prozent) die Eltern oder andere ältere Personen in der Nähe seien und sie beobachten könnten. Doch auch in diesem Zusammenhang macht sich ein Unterschied zwischen den Geschlechtern bemerkbar: Nur etwa halb so viele Jungen wie Mädchen pas-sen auf Kinder auf, während die Erwachsenen weiter entfernt sind (22 im Vergleich zu 40 Pro-zent). Demnach sind es vor allem die Mädchen, die die volle Verantwortung tragen, wenn die Erwachsenen nicht da sind. Die Jungen über-nehmen zwar auch Aufgaben in der Betreuung der Jüngsten, haben aber fast immer eine Person zur Seite oder in der Nähe, die ihnen, falls nötig, innerhalb weniger Minuten helfen könnte.

„Weil wir alle gleich sind …“

Eine spezifische Frage erlaubt es uns, die Fra-gen nach den Geschlechterrollen zu vertiefen:

„Meinst du, auf ein anderes Kind aufzupassen, ist eine Arbeit: Nur für Mädchen? Nur für Jungen? Für Mädchen und Jungen?“ Die Antworten zei-gen, dass die Mehrheit (84 Prozent der Jungen und 62 Prozent der Mädchen) meint, dass es sich nicht um eine Tätigkeit nur für Mädchen oder nur für Jungen handelt, sondern dass die ei-nen wie die anderen diese Aufgabe übernehmen könnten. Die Kinder betonen die Gleichheit von Mädchen und Jungen und lehnen die Idee, dass Kinderbetreuung ausschließlich Mädchensache sein könnte, ab. Den folgenden Aussagen nach zu urteilen, betrachten sie Mädchen wie Jungen dafür als gleichermaßen kompetent.

„Weil für mich alle gleich sind, sehe ich keinen Grund, dass nur Mädchen auf Kinder aufpassen sollten.“ (Apolinária, 13 Jahre)

„Weil wir, egal ob Mädchen oder Junge, ein Kind füttern können, Windeln wechseln, baden, Wä-sche waschen und andere Dinge tun können.“ (Lourenço, 12 Jahre)

Warum es wichtig ist, dass Kinder beiderlei Ge-schlechts auf andere Kinder aufpassen, hat zum einen mit der Vorstellung zu tun, dass alle ihren Beitrag zum Familienleben leisten sollten, wie es auch in der Afrikanischen Charta der Rechte und des Wohlergehens des Kindes festgelegt ist.

„Weil ein Kind zu betreuen der Familie hilft.“ (Anselmo, 11 Jahre)

„Weil wir alle gleich sind, ist das nicht etwas für die Frau oder den Mann, sondern für uns alle. (Florência, 13 Jahre)

Auf der anderen Seite betonen die Kinder, dass die Erfahrung in der Kinderbetreuung für sie wertvoll ist, weil sie etwas für die Zukunft lernen. Mädchen wie Jungen sollten sich um andere Kin-der kümmern, weil sie eines Tages selber Kinder haben könnten und beide Geschlechter wissen sollten, wie man mit dem Nachwuchs umgeht.

„Jungen und Mädchen sollten Kinder betreuen. Damit du weißt, wie du später mit deinem Baby umgehen musst.“ (Neyma, 12 Jahre)

Ein Kind erklärt, dass Kinderbetreuung etwas für Mädchen wie für Jungen ist, weil beide Spaß an dieser Beschäftigung haben und sie gerne übernehmen. Manchmal konkurrieren sie sogar miteinander.

„Weil die Mädchen wie die Jungen gut darin sind, fühlen alle so eine positive Energie, wenn sie

mit Kindern zusammen sind. Manchmal strei-ten sie sich dann darum.“ (Denilson, 12 Jahre)

Einen weiteren Grund, warum beide Geschlech-ter sich in der Kinderbetreuung betätigen sollten, sehen die Befragten darin, dass die kleinen Kin-der niemanden bevorzugen, sondern Mädchen und Jungen gleichermaßen mögen.

„Weil es für sie keinen Unterschied macht und sie ebenso gerne mit Mädchen wie mit Jungen spielen.“ (Aurora, 11 Jahre) Doch obwohl insgesamt der Trend dahin geht, die Gleichheit zwischen den Geschlechtern zu bestätigen, verweisen die Antworten einiger Mädchen darauf, dass es noch Unterschiede gibt. Dazu möchte ich vor allem eine Aussage zitieren, die etwas Nachdenken erforderte, bevor klar wurde, was das Kind sagen will.

„Kinder betreuen ist Arbeit für Jungen, weil sie keine Kinder mögen und sie schlagen, sobald sie sie sehen.“ (Rita, 12 Jahre)

Im ersten Augenblick erscheint diese Aussage widersprüchlich. Warum sollten Jungen Kinder betreuen, die sie nicht mögen und sogar schla-gen wollen? Sollte sich das Mädchen bei der Antwort geirrt haben? Oder will sie sagen, dass die Jungen, gerade weil sie Kinder nicht mögen, gezwungen werden sollten, sich mit ihnen zu beschäftigen, um sich an sie zu gewöhnen? Erst viel später habe ich die Aussage verstanden. Rita wollte ausdrücken, dass ein Kind zu betreuen für Jungen „Arbeit“ ist, im Sinne von etwas, das mit Mühe verbunden ist und Anstrengung erfordert. Im Gegensatz dazu ist die Kinderbetreuung für Mädchen „normal“. Die Tätigkeit ist Teil ihres Alltags und gilt nicht als Arbeit, weil sie Kinder mögen und sich gerne um sie kümmern.

Wer betreut wann?

Die Gespräche mit den Kindern und die in ei-nigen Familien durchgeführten Beobachtungen bestätigen tendenziell die Idee der Gleichheit in Bezug auf die Betreuung, wie sie von den Kin-dern beschrieben wurde. Die Ergebnisse zeigen, dass alle Kinder irgendwie zum guten Ablauf des Familienlebens beitragen und das Geschlecht nur eines der Kriterien dafür ist, wie die Arbeit im Haushalt verteilt wird. Gleichbedeutend, manch-mal auch wichtiger, sind andere Faktoren, wie die Geschwisterfolge, das Alter, die Zusammen-setzung der Familie und die Unterrichtszeiten in der Schule. Im Folgenden werden kurz einige konkrete Beispiele vorgestellt, um den Einfluss der verschiedenen Faktoren auf die Verteilung der häuslichen Pflichten und insbesondere auf die Kinderbetreuung zu erklären.

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Kindheit & Jugend 17

Beispiel 1

Paulino, zwölf Jahre, Bruder von Cindinha (15), Albino (10), Tica (7), und Mutuzy (1) betreut normalerweise den Jüngsten in der Familie. Die Mutter arbeitet meist vormittags, wenn die ältes-te Schwester und Albino in der Schule sind. Tica hat wie Paulino nachmittags Schulunterricht, aber sie ist jünger und spielt morgens lieber mit ihren Freundinnen, anstatt sich mit dem kleinen Bruder zu beschäftigen. Mutuzy ist es gewöhnt, mit Paulino zusammen zu sein. Selbst wenn die anderen Geschwister zuhause sind, läuft er ihm immer hinterher und fängt sogar zu weinen an, wenn er mitbekommt, dass der Bruder sich für die Schule fertigmacht. So ist Paulino – obwohl nicht der Älteste und ein Junge – der hauptsäch-lich Verantwortliche für den jüngsten Bruder Mutuzy.

Beispiel 2

Die zwölfjährige Atalina ist die jüngste von sieben Geschwistern, von denen fünf zuhause leben. Es sind alles Jungen, außer der ältesten Schwester, die eine einjährige Tochter namens Ulani hat. Außerdem lebt noch eine Cousine in gleichem Alter wie Atalina bei ihnen. Die älteste Schwester arbeitet den ganzen Tag außer Haus und geht abends zur Schule, deshalb wird das Baby von den Geschwistern betreut. Morgens

teilen sich die Geschwister, die zuhause sind, die Hausarbeiten: Atalina wäscht das Geschirr ab und putzt die Küche, die Cousine macht die Töpfe sauber und putzt das Badezimmer, einer der Brüder kocht, und so weiter. Ulani bewegt sich durchs Haus und kann sich aussuchen, bei wem sie sein möchte. Das sind meistens Atali-na und ihre Cousine, die ihr auch am meisten Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen scheinen. Doch wenn es Zeit ist, dass die beiden zur Schule gehen, dann übernehmen die Brüder die Verant-wortung für das Baby. Am 1. Juni, dem Tag des Kindes, an dem statt Unterricht ein Fest für die Schüler stattfindet, bringt Atalina ihre Nichte mit in die Schule. Ihren Schulkameradinnen macht es Spaß, das Kind auf den Arm zu nehmen und mit ihr zu spielen. Atalina aber beklagt sich, dass sie ihre Nichte mitnehmen musste, weil niemand zuhause war, der auf sie hätte aufpas-sen können. In diesem Fall fiel die Aufgabe, das Kind zu hüten, auf Atalina, nicht weil sie ein Mädchen ist, sondern weil sie die einzige war, die zu einer Veranstaltung ging, zu der sie das Kleinkind mitnehmen konnte.

Beispiel 3

Das letzte Beispiel ist Samito, zwölf Jahre alt und der älteste von drei Brüdern. Das sind außer ihm noch der neunjährige Valter und der dreijährige Marino. Wenn die Mutter während des Tages

das Haus verlässt, dann passt derjenige Bruder auf Marino auf, der gerade im Haus ist, weil Val-ter am Vormittag und Samito am Nachmittag zur Schule geht. Abends, wenn die Mutter selber die Schule besucht, bleiben die drei Brüder gemein-sam allein zuhause. Weil er der Älteste ist, aber auch der Verantwortungsvollste, ist es Samitos Aufgabe, sich um das Abendessen für alle zu kümmern. Hier richtet sich die Aufgabenvertei-lung in erster Linie nach dem Stundenplan, in zweiter Linie nach dem Alter und dem Verhalten der einzelnen Kinder.

Alle diese Beispiele zeigen, dass in der Praxis bei der täglichen Organisation des Familienle-bens nicht das Geschlecht der entscheidende Faktor für die Verteilung der häuslichen Aufga-ben ist, sondern die Frage, wer für bestimmte Aufgaben verfügbar ist. Vor allem im Falle der Kinderbetreuung spielen außer der Anwesenheit der älteren Kinder im Haus (abhängig von den Unterrichtszeiten in der Schule), auch Bezie-hung und Nähe eine Rolle.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Kinder in Mosambik, besonders aber in dem von uns untersuchten Bairro am Rande von Ma-puto, eine zentrale Rolle in der Betreuung kleine-rer Kinder übernehmen. Aber wie bewerten sie die ihnen übertragene Aufgabe? Verstehen sich die Kinder als eine Art „Notlösung“ in Abwe-senheit der Erwachsenen? Oder sehen sie sich als Personen, versehen mit der Kompetenz, Ver-antwortung für die Jüngeren zu übernehmen? Die Antworten der Kinder sind überraschend. Fast die gesamte Gruppe (87 Prozent) ist sich einig darin, dass die kleineren Kinder am besten bei den älteren Geschwistern aufgehoben sind, wenn die Eltern arbeiten gehen. Erst danach nennen die Kinder die Großeltern (57 Prozent), andere Verwandte (56 Prozent) und Hausange-stellte (39 Prozent). Die Botschaft der Kinder ist klar: Sie beanspruchen ihre Rolle als Hüter der kleinen Geschwister, weil sie sich für die dafür am besten geeigneten Personen halten, wenn die Eltern nicht da sind.

Ohne die möglichen Risiken bestreiten zu wollen, die für die Kinder bestehen, wenn sie allein aufeinander aufpassen, sehe ich die mo-sambikanische Realität als einen Anstoß, die Din-ge aus einer anderen Perspektive zu betrachten und wertzuschätzen, was die Kinder „gewinnen“

– nämlich Verantwortung, Kompetenz, Geschick-lichkeit und Selbstvertrauen. Damit können sie ihr Recht auf aktive Teilhabe am Leben ihrer Fa-milien und Gemeinschaften wahrnehmen.

Elena Colonna hat an der Universität Minho in Portugal am Institut für Erziehung im Bereich „Estudos da Criança – Sociologia da Infância“ promoviert. Die Untersuchung war Teil ihrer Dissertation.

Gemeinsames Lesen. Foto: Elena Colonna