2
Der Schmerz (1995) 9:103-104 Springer-Verlag 1995 S. Grond Eingeladener Kommentar zu dem Fallbericht von H. Goeke und G. Herbst: Ambulante selbstbestimmte Schmerzkontrolle bei schweren Tumorschmerzen Der Schmerz (1995) 9:89-92 Der Fallbericht von Goeke und Herbst beschreibt die ambulante Durchftihrung einer kontinuierli- chen subkutanen Opioidinfusion bei einem Patienten mit metastasieren- dem Rektumkarzinom. Zur Supple- mentierung der kontinuierlichen In- fusion konnten bei Bedarf zus~itzli- che Opioidboli appliziert werden. Der Patient ftihrte die Behandlung weitestgehend selbst~indig durch, wozu auch das Aufftillen der Sprit- zen, die Verabreichung von Boli und Anderungen der Pumpeneinstellung geh6rten. Die infundierte Opioid- menge konnte nach regelm~igigen telefonischen Rticksprachen mit der Schmerzambulanz schnell dem ak- tuellen Bedaff angepal3t werden. Durch den intensiven Kontakt mit dem Patienten wurde eine drohende Querschnittsymptomatik rechtzeitig erkannt und die erforderliche Strah- lentherapie eingeleitet. Im weiteren Verlauf gestaltete sich die Schmerz- therapie zufriedenstellend und komplikationslos. Beim Lesen der Kasuistik erge- ben sich eine Reihe von Fragen: 1. Mit welchem Instrument wurde die Schmerzintensit~it gemessen? Eine verbale Analogskala gibt es nicht. Sp/iter im Text wird die nicht eingeftihrte Abktirzung ,,VAS" ver- wendet, die tiblicherweise ftir ,,vi- suelle Analogskala" steht. Auger- dem findet eine ,,verbal rating scale 0-10" der Schmerzreduktion Ver- wendung. Welehe 11 Stufen der Schmerzreduktion enth~ilt diese Skala? Die verwendete Algesi- metrie bleibt somit unklar. 2. War wirklich eine parenterale Schmerztherapie indiziert? Dem Patienten wurde gleichzeitig die orale Einnahme yon Metamizol, Metoclopramid, Natriumpicosulfat und ,,Astronautenkost" empfohlen. 3. Der Patient befand sich nur 1 h und 15 rain in der Schmerzambu- lanz. W~ihrend dieser Zeit wurden Anamnese und Untersuchung durchgeftihrt, die Schmerzmecha- nismen analysiert, ein differenzier- ter Behandlungsplan ausgearbeitet, die Medikamente rezeptiert, die Morphindosis titriert, die Pumpe geftillt und Patient und Ehefrau in der Pumpenbedienung eingewiesen. Ware die schnelle Eskalation der erforderlichen Morphindosis w~ih- rend der ersten 2 Tage auch erfor- derlich gewesen, wenn die initiale Titration der Morphindosis in der Schmerzambulanz tiber mehrere Stunden erfolgt w~ire? In der Diskussion dieser Kasuistik werden sehr weitgehende Schlul3- folgerungen gezogen: ,, Tumorschmerzen erfordern ein un- mittelbares, freiziigiges und uneinge- schriinktes Handeln des Patienten zum Erreichen der gewiinschten An- algesie. ",, Bei alleinigen iirztlichen Anweisungen wiire eine solche Stei- gerung der Morphindosis binnen zwei Tagen kaum erfolgt." ,,Die Angst der Arzte vor zu hohen Opi- oidgaben bewirkt den Leidensdruck der onkologischen Patienten." Ich stimme mit den Autoren darin fiberein, dab Tumorschmerzen eine schnelle Titration der Opioid-Wir- kungsdosis erfordern. Es ist sicher auch richtig, dab )krzte aus vielerlei Grtinden oft zu vorsichtig mit der Gabe yon Opioiden sind. Diese Grtinde sind nach meiner Einsch~it- zung jedoch nicht ausreichend da- for, dab ,, die Festlegung des tiiglichen Morphinbedarfs in unlimitierter HOhe dutch den Betroffenen" er- folgt. Die Tatsache, dab Patienten die Opioiddosis m6glicherweise schneller anpassen als Arzte, be- deutet nicht, dab Tumorschmerzen yon Patienten grunds~itzlich besser behandelt werden und die Kontrolle der Opioiddosis deshalb vollst~indig auf die Patienten tibertragen wer- den mug. Ein erfahrener Arzt kann die kontinuierliche Opioiddosis si- cherlich kompetenter und schneller anpassen als ein Patient ohne phar- makologische und schmerzphysiolo- gische Kenntnisse. Eine durch Fehl- einsch~itzung zu hoch eingestellte kontinuierliche Opioidinfusion kann jedoch, weil keine Rtickkopp- lung mehr besteht, zu ernsten Ne- benwirkungen ftihren. Augerdem daft sich eine verantwortungsvolle Therapie oft komplexer Tumor- schmerzsyndrome nicht auf die al- leinige Steigerung der Morphindosis beschr~inken. Eine engmaschige ~irztliche Kontrolle in Phasen insta- biler Schmerzen ist - wie im Fall ja beschrieben - vielmehr unverzicht- bar. Neue Schmerzursachen mtissen erkannt werden, weil sie oft ent- scheidende Bedeutung fiir die wei- tere Therapie haben. Die wesentliche Ursache ftir die guten Resultate im Fallbericht ist

Eingeladener Kommentar zu dem Fallbericht von H. Goeke und G. Herbst: Ambulante selbstbestimmte Schmerzkontrolle bei schweren Tumorschmerzen Der Schmerz (1995) 9:89–92

  • Upload
    s-grond

  • View
    217

  • Download
    2

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Eingeladener Kommentar zu dem Fallbericht von H. Goeke und G. Herbst: Ambulante selbstbestimmte Schmerzkontrolle bei schweren Tumorschmerzen Der Schmerz (1995) 9:89–92

Der Schmerz (1995) 9:103-104 �9 Springer-Verlag 1995

S. Grond

Eingeladener Kommentar zu dem Fallbericht von H. Goeke und G. Herbst: Ambulante selbstbestimmte Schmerzkontrolle bei schweren Tumorschmerzen Der Schmerz (1995) 9:89-92

Der Fallbericht von Goeke und Herbst beschreibt die ambulante Durchftihrung einer kontinuierli- chen subkutanen Opioidinfusion bei einem Patienten mit metastasieren- dem Rektumkarzinom. Zur Supple- mentierung der kontinuierlichen In- fusion konnten bei Bedarf zus~itzli- che Opioidboli appliziert werden. Der Patient ftihrte die Behandlung weitestgehend selbst~indig durch, wozu auch das Aufftillen der Sprit- zen, die Verabreichung von Boli und Anderungen der Pumpeneinstellung geh6rten. Die infundierte Opioid- menge konnte nach regelm~igigen telefonischen Rticksprachen mit der Schmerzambulanz schnell dem ak- tuellen Bedaff angepal3t werden. Durch den intensiven Kontakt mit dem Patienten wurde eine drohende Querschnittsymptomatik rechtzeitig erkannt und die erforderliche Strah- lentherapie eingeleitet. Im weiteren Verlauf gestaltete sich die Schmerz- therapie zufriedenstellend und komplikationslos.

Beim Lesen der Kasuistik erge- ben sich eine Reihe von Fragen:

1. Mit welchem Instrument wurde die Schmerzintensit~it gemessen? Eine verbale Analogskala gibt es nicht. Sp/iter im Text wird die nicht eingeftihrte Abktirzung ,,VAS" ver-

wendet, die tiblicherweise ftir ,,vi- suelle Analogskala" steht. Auger- dem findet eine ,,verbal rating scale 0-10" der Schmerzreduktion Ver- wendung. Welehe 11 Stufen der Schmerzreduktion enth~ilt diese Skala? Die verwendete Algesi- metrie bleibt somit unklar.

2. War wirklich eine parenterale Schmerztherapie indiziert? Dem Patienten wurde gleichzeitig die orale Einnahme yon Metamizol, Metoclopramid, Natriumpicosulfat und ,,Astronautenkost" empfohlen.

3. Der Patient befand sich nur 1 h und 15 rain in der Schmerzambu- lanz. W~ihrend dieser Zeit wurden Anamnese und Untersuchung durchgeftihrt, die Schmerzmecha- nismen analysiert, ein differenzier- ter Behandlungsplan ausgearbeitet, die Medikamente rezeptiert, die Morphindosis titriert, die Pumpe geftillt und Patient und Ehefrau in der Pumpenbedienung eingewiesen. Ware die schnelle Eskalation der erforderlichen Morphindosis w~ih- rend der ersten 2 Tage auch erfor- derlich gewesen, wenn die initiale Titration der Morphindosis in der Schmerzambulanz tiber mehrere Stunden erfolgt w~ire?

In der Diskussion dieser Kasuistik werden sehr weitgehende Schlul3- folgerungen gezogen:

,, Tumorschmerzen erfordern ein un- mittelbares, freiziigiges und uneinge- schriinktes Handeln des Patienten zum Erreichen der gewiinschten An- algesie. ",, Bei alleinigen iirztlichen Anweisungen wiire eine solche Stei- gerung der Morphindosis binnen zwei Tagen kaum erfolgt." ,,Die Angst der Arzte vor zu hohen Opi-

oidgaben bewirkt den Leidensdruck der onkologischen Patienten."

Ich stimme mit den Autoren darin fiberein, dab Tumorschmerzen eine schnelle Titration der Opioid-Wir- kungsdosis erfordern. Es ist sicher auch richtig, dab )krzte aus vielerlei Grtinden oft zu vorsichtig mit der Gabe yon Opioiden sind. Diese Grtinde sind nach meiner Einsch~it- zung jedoch nicht ausreichend da- for, dab ,, die Festlegung des tiiglichen Morphinbedarfs in unlimitierter HOhe dutch den Betroffenen" er- folgt. Die Tatsache, dab Patienten die Opioiddosis m6glicherweise schneller anpassen als Arzte, be- deutet nicht, dab Tumorschmerzen yon Patienten grunds~itzlich besser behandelt werden und die Kontrolle der Opioiddosis deshalb vollst~indig auf die Patienten tibertragen wer- den mug. Ein erfahrener Arzt kann die kontinuierliche Opioiddosis si- cherlich kompetenter und schneller anpassen als ein Patient ohne phar- makologische und schmerzphysiolo- gische Kenntnisse. Eine durch Fehl- einsch~itzung zu hoch eingestellte kontinuierliche Opioidinfusion kann jedoch, weil keine Rtickkopp- lung mehr besteht, zu ernsten Ne- benwirkungen ftihren. Augerdem daft sich eine verantwortungsvolle Therapie oft komplexer Tumor- schmerzsyndrome nicht auf die al- leinige Steigerung der Morphindosis beschr~inken. Eine engmaschige ~irztliche Kontrolle in Phasen insta- biler Schmerzen ist - wie im Fall ja beschrieben - vielmehr unverzicht- bar. Neue Schmerzursachen mtissen erkannt werden, weil sie oft ent- scheidende Bedeutung fiir die wei- tere Therapie haben.

Die wesentliche Ursache ftir die guten Resultate im Fallbericht ist

Page 2: Eingeladener Kommentar zu dem Fallbericht von H. Goeke und G. Herbst: Ambulante selbstbestimmte Schmerzkontrolle bei schweren Tumorschmerzen Der Schmerz (1995) 9:89–92

104

nicht, wie von den A u t o r e n postu- liert, die freie Opioidverf iagbarkei t fiir den Pat ienten , sondern die enge und vorbi ldl iche Z u s a m m e n a r b e i t zwischen Pat ient , Hausa rz t und Schmerzambulanz . Diese enge R i i ckkopp lung erm6gl ichte die schnelle Dosis t i t ra t ion, aber auch das rechtzei t ige E r k e n n e n der dro- h e n d e n Querschn i t t symptomat ik . Wer le tz tendl ich die P u m p e fiillt

und einstellt, ist sicher zweitrangig. Dies k a n n die Schmerzambulanz , der Hausa rz t oder ein mediz in ischer Be t reuungsd iens t gew~ihrleisten. In Einzelf~illen kann diese Aufgabe si- cher auch, wie im besch r i ebenen Fall, auf Pat ient oder A n g e h 6 r i g e t iber t ragen werden. H ie rzu ist je- doch eine sorgf~iltige Einf t ihrung und Schulung erforderl ich. D e r Fal lbericht zeigt, wie durch kont inu-

ierliche A d a p t i o n der Therap ie an den Pa t i en ten ein h e r v o r r a g e n d e r Behand lungse r fo lg erzielt wurde.

Dr. S. Grond Klinik ftir Anaesthesiologie und Operative Intensivmedizin Universitat zu K61n Joseph-Stelzmann-Stral3e 9 D-50924 K61n

H. Giil~l: Kopl~hmer~n. Berlin, Heidelberg, New York: Springer 1994. 344 S., 98 Abb., geb., (ISBN 3-540-57897-8), DM 29,80

Unter dem Titel ,,Kopfschmerzen - Leiden die man nicht hinnehmen muf3" stellt Hartmut G/3bel (Universit~it Kiel) einen neuen Patientenratgeber vor. Das tiber- sichtlich gegliederte, insgesamt tiber drei- hundert Seiten starke Buch behandelt in acht umfassenden Kapiteln alle klinischen und pathophysiologischen Aspekte der h~iufigsten Kopfschmerzformen mit den Schwerpunktbereichen Migraine und Span- nungskopfschmerz. Es wendet sich in sei- ner anschaulichen Schreibweise in erster Linie an differenzierte Kopfschmerzpa- tienten, bietet aber dartiber hinaus auch

wissenswerte Details ftir nicht prim.gr mit dem Thema Kopfschmerz befal3te Arzte. Freundliche Karikaturen sollen dem Leser den Weg durch die zum Teil sehr ausftihrli- chen, am neuesten Stand der Kopf- schmerzforschung orientierten Erkl~irun- gen tiber Pathophysiologie und Pharmako- logie erleichtern. Als einer der ftihrenden Wissenschaftler in der deutschen Kopf- schmerzforschung diskutiert der Autor nicht nur die zum Tell kontroversen prim~ir vaskul~iren bzw. neurogenen Hypothesen zur Migr~inepathophysiologie, sondern stellt auch eine eigene Synopsis fiber den Ablauf des akuten Migr~ineanfalls vor. Aus didaktischen Grtinden werden viele Hypo- thesen vereinfachend als bewiesen darge- stellt. Therapieverfahren zur Behandlung

der Migraine und des Spannungskopf- schmerzes werden entsprechend den Emp- fehlungen der Deutschen Migraine- und Kopfschmerzgesellschaft vorgestellt und alle Substanzgruppen einschliel31ich ihrer Nebenwirkungen eingehend besprochen. Dartiber hinaus werden alternative Heil- verfahren nach ihrer klinischen Einsetz- barkeit kritisch gewtirdigt. Das Buch will nicht den Arztbesuch ersetzen, sondern dem Patienten die MOglichkeit zu einer um- fassenden Information tiber prim~ire Kopf- schmerzen verschaffen und eine mtindige Diskussion mit dem behandelnden Arzt erleichtern.

H. Kaube, H. C. Diener (Essen)