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Einleitung Bd. 8 OB 5363 orgel quer320x250 - · PDF fileauch Wolff mag nicht ausschließen, dass sich Johann Sebastian Bach in seinen letzten Lebenstagen mit diesem Choral beschäftigt

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Kaum ein anderer Komponist hat die Kunst der Choralbearbeitung so sehr insZentrum seines Schaffens gestellt wie Johann Sebastian Bach. Dabei ist nicht nur an die Orgelchoräle zu denken, sondern auch an die großen Choralchöre desChoralkantaten-Jahrgangs 1724/25, die Passionen und an die zahllosen Arien, in dieeine Choralmelodie eingewoben ist. Orgelchoräle waren zweifellos schon bei Bachsersten Organistendiensten (in Ohrdruf? oder gar schon in Eisenach?) gefragt. Zu -nächst entstanden Werke im Stil von Johann Pachelbel oder Johann Michael Bach; bis hin zu den komplexen und hoch bedeutsamen Bearbeitungen etwa im Dritten Teil der Clavierübung war es ein weiter Weg.Bis zur (ungnädigen) Entlassung aus dem Weimarer Hofdienst bekleidete BachOrganistenämter (Arnstadt, Mühlhausen, Weimar). Die Weimarer Zeit (1708–1717) „ist eigentlich die Zeitperiode, in welcher er sich nicht nur zu einem so starkenOrgelspieler gebildet, sondern auch den Grund zu seiner so großen Orgelcom -position gelegt hat“.1 Während der Kapellmeisterjahre in Köthen und in den erstenLeipziger Jahren standen andere Pflichten im Vordergrund. Doch schon 1726 wandte sich Bach mit der Publikation der ersten Cembalo-Partita BWV 825 erneutdem Tasteninstrument zu. Die sechs Partiten (Erster Teil der Clavierübung), dieOrgelsonaten und der Zweite Teil der Clavierübung sind der „freien“ Claviermusik(Suite, Sonate, Konzert) gewidmet; doch ab etwa 1736 waren auch Orgelchoral -bearbeitungen wieder ein wesentlicher Teil von Bachs Schaffen. Diese Gattung be -gleitete ihn bis an sein Lebensende. Die im Druck erschienenen Sammlungen(Clavierübung III, Canonische Veränderungen über „Vom Himmel hoch“, Schübler-Choräle –siehe Band 6 der vorliegenden Neuausgabe, im folgenden NA) – konnten so einerbreiten Öffentlichkeit präsentiert werden und belegen deren Bedeutung für Bach.

Die Handschrift P 271Offenbar nach der Drucklegung des Dritten Teils der Clavierübung – erschienen zurHerbstmesse 1739 – fasste Bach den Entschluss, ältere Choralbearbeitungen zu sam-meln. Das Zentrum der vorliegenden Ausgabe bildet Bachs große Handschrift mitOrgelmusik P 271 (Staatsbibliothek zu Berlin, Mus. ms. Bach P 271). Sie enthält inihrem ersten Teil die sechs Orgelsonaten BWV 525–530 (Band 5 der NA), im zweitenTeil 23 Choralbearbeitungen. Die Orgelsonaten hat Bach um 1730 eingetragen, dieChoräle jedoch etwa zehn Jahre später. „Ein auffälliges Merkmal von P 271 ist diedurchgängige Verwendung einer einzigen Papiersorte […] für die beiden großenFaszikel. […] Es hat demnach den Anschein, dass der Komponist bereits bei derNiederschrift der Sonaten einen größeren Papiervorrat reservierte – offenbar in der

Absicht, zu gegebener Zeit weitere Orgelwerke in definitiver Gestalt und kalligraphi-scher Form festzuhalten.“2

Nach Yoshitake Kobayashi3 begann Bach mit der Niederschrift der Choräle „um1739/42“ und trug die ersten 13 Stücke (bis einschließlich Allein Gott in der Höh sei EhrBWV 663) in relativ rascher Folge ein. Offenbar ruhte danach die Arbeit für einigeJahre: die zwei folgenden Choräle, das Trio über Allein Gott in der Höh sei EhrBWV 664 und die Pedaliter-Bearbeitung von Jesus Christus, unser Heiland BWV 665 zeigen ein späteres Schriftstadium, das „um 1746/47“ angesetzt wird. Das Ende derHandschrift, so wie sie uns heute vorliegt, wirft viele Fragen auf. Zunächst ist eigen -artig, dass die zwei folgenden Choräle BWV 666 und 667 die Schrift von BachsSchüler und Schwiegersohn Johann Christoph Altnickol zeigen, dann aber mit derAutograph-Fassung der fünf Kanons über Vom Himmel hoch, da komm ich her BWV769a wieder Bachs vertraute Schriftzüge erscheinen. Noch auf der Seite mit dem Endedes letzten Kanons folgt dann, von der Hand eines nicht namentlich bekanntenKopisten, das Fragment mit der Überschrift Vor deinen Thron tret ich BWV 668 (sieheFaksimiles S. 117 und 156).Bis vor wenigen Jahren war die Meinung, Altnickol habe in Bachs Auftrag geschrieben,unangefochten. Die Schriftzüge Altnickols hatte zuerst Alfred Dürr anhand von über40 Manuskripten beschrieben.4 Peter Wollny konnte aber eine Differenzierung vor-nehmen und etwa 15 Handschriften davon an Johann Christoph Farlau, einen zuvorvöllig unbekannten Schreiber zuweisen.5 Auf Grund dieser Neuerkenntnis mussteauch die Betrachtung von Altnickols Schriftentwicklung nochmals aufgerollt werden.Peter Wollny vertritt heute die Ansicht, die beiden Choräle BWV 666 und 667 seienmöglicherweise erst nach Bachs Tod in P 271 eingetragen worden.6 Diese Überlegun-gen werden im Kommentar noch weiter differenziert.Noch komplexer sind die Fragen rund um den letzten Choral Vor deinen Thron tret ichBWV 668. Hat er zu tun mit Bachs letzten Lebenstagen? Ist also der Ausdruck „BachsSterbechoral“ berechtigt? Gehört er in irgendeiner Weise zur Sammlung P 271 oderwurde er ebenfalls später auf frei gebliebenem Papier nachgetragen? Die Legenden -bildung um „Bachs Sterbechoral“ hat Christoph Wolff scharfsinnig analysiert; doch

Einleitung

1 Johann Nikolaus Forkel, Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, Reprint derErstausgabe Leipzig 1802, hrsg. von Axel Fischer, Kassel etc. 1999, S. 6. Dasselbe, Edition – Quellen– Materialien, vorgelegt und erläutert von Christoph Wolff, Bach-Dokumente Band VII, Kassel etc.2008.

2 Johann Sebastian Bach, Die achtzehn großen Orgelchoräle BWV 651–668 und Canonische Veränderungenüber „Vom Himmel hoch“ BWV 769 – Faksimile der Originalhandschrift, hrsg. von Peter Wollny,Meisterwerke der Musik im Faksimile 5, Laaber 1999 [Wollny Faksimile], S. VII.

3 Yoshitake Kobayashi, Zur Chronologie der Spätwerke Johann Sebastian Bachs – Kompositions- undAufführungstätigkeit von 1736 bis 1750, Bach-Jahrbuch 1988, S. 7–72. Vgl. auch Johann Sebastian Bach,Neue Ausgabe sämtlicher Werke, hrsg. vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Kassel etc. 1954–2007 (=NBA) Band IX/2, Die Notenschrift Johann Sebastian Bachs –Dokumentation ihrer Entwicklung, hrsg. von Y. Kobayashi, S. 170–173 und 207.

4 Alfred Dürr, Zur Chronologie der Handschrift Johann Christoph Altnickols und Johann Friedrich Agricolas,Bach-Jahrbuch 1970, S. 44–65.

5 Peter Wollny, Tennstedt, Leipzig, Naumburg, Halle – Neuerkenntnisse zur Bach-Überlieferung in Mittel -deutschland, Bach-Jahrbuch 2002, S. 36–47.

6 Dazu auch Yoshitake Kobayashi und Kirsten Beißwenger, Die Kopisten Johann Sebastian Bachs – Katalogund Dokumentation, NBA IX/3, Textband, S. 172f. (Nr. 233). Zu BWV 666 und 667 ist vermerkt „möglicherweise nach 1750“.

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auch Wolff mag nicht ausschließen, dass sich Johann Sebastian Bach in seinen letzten Lebenstagen mit diesem Choral beschäftigt und vielleicht die in P 271 überlieferten Korrekturen angebracht hat.7

Mit diesen eigenartigen Konstellationen hat auch die unterschiedliche Bezeichnungdes Zyklus zu tun. Wohl zur Eintragung eines Titels hatte Bach eine Seite frei gelas-sen, die jedoch unbeschriftet blieb. Von Wilhelm Rust, dem Herausgeber der AltenBach-Gesamtausgabe, wurde die Bezeichnung „Achtzehn Choräle von verschiedenerArt“8 in Anlehnung an die Schübler-Choräle vorgeschlagen, von Hans Klotz in der NBAaber in „Siebzehn Choräle“ korrigiert.9 Sicher zu Recht kann der letzte Choral eineSonderstellung beanspruchen. Ist man der Ansicht, die Eintragungen von Altnickol(BWV 666 und 667) entsprächen möglicherweise nicht dem Willen Bachs, müssteman gar von „Fünfzehn Chorälen“ sprechen.10 Trotz all dieser Unwägbarkeiten solltedie Anordnung, wie sie durch die für Bachs letztes Lebensjahrzehnt so wichtige QuelleP 271 gegeben ist, beibehalten werden.Fragwürdig ist auch die Bezeichnung „Leipziger Choräle“, die in vielen Konzert -programmen und CD-Aufnahmen Verwendung findet. Für die „Siebzehn Choräle“sind erste Fassungen in Bachs Weimarer Schaffensperiode (oder früher) gesichert; und auch BWV 668 hängt mit dem (Weimarer) Orgelbüchlein zusammen. Den klarsten Hinweis auf eine Entstehung in Weimar gibt uns die Trio-Bearbeitung desAdventsliedes Nun komm der Heiden Heiland BWV 660: In diesem einen Fall steht –neben dem späteren Leipziger Autograph – auch Bachs Niederschrift mit denSchriftformen seiner mittleren Weimarer Periode auf einem in Weimar üblichenPapier zur Verfügung. Doch auch die übrigen Frühfassungen können durchAbschriften im Weimarer Kreis (besonders Johann Gottfried Walther und JohannTobias Krebs) zweifelsfrei der Vor-Leipziger Zeit zugewiesen werden.Das ausdrucksvolle, oft kalligraphisch ausgearbeitete Autograph lässt nur an wenigenStellen Fragen aufkommen. Hans Klotz hatte einige vom Autograph abweichendeLesarten in seine Ausgabe (NBA IV/2) übernommen, dies in der Annahme, es hand-le sich um Bachs letzte Verbesserungen.11 Diese Varianten stammen aus zwei Ab -schriften, deren Zuverlässigkeit von der neueren Forschung weniger hoch eingeschätztwird. Kopist der Handschrift P 1109 ist Christian Friedrich Penzel (1737–1801), der1749 als Externer und 1751 als Alumne in die Thomasschule aufgenommen wurde;Penzels Rolle nach Bachs Tod und nach dem Tod seines Amtsnachfolgers Gottlob

Harrer (1755) ist noch nicht restlos geklärt, ebenso der Hintergrund seiner teils fehler-haften Bach-Abschriften.12 P 1160 trägt den Besitzvermerk „Joh. Christoph Oley,Aschersleben“; Oley (1738–1789) ist jedoch – entgegen Klotz – nicht der Schreibervon P 1160.13 Dieser Band stammt vielmehr aus dem Handel mit handschriftlichenMusikalien des Hauses Breitkopf & Härtel (dazu mehr im Kommentar, S. 171f.). Zuhinterfragen ist auch die These von Hans Klotz, Bach habe als Zwischenstufe zwischen der Weimarer Fassung und dem Autograph P 271 jeweils einen „Entwurf“ zur revidierten Fassung zu Papier gebracht; wiewohl naheliegend, gibt es dazu keine eindeutigen Dokumente. Bachs erhaltene Skizzen und Entwürfe sind inzwischen im Supplement-Band der NBA zugänglich.14 Klotz’ oft so anschaulich wirkendeDarstellung („die Bachschen Entwurfschriften […], die in den Schränken der ,Compo nierstube‘ des Leipziger Thomaskantorats aufbewahrt wurden“15) muss korrigiert oder zumindest relativiert werden.16 Der Weg von den Weimarer Erstschriften zumAutograph P 271 war möglicherweise recht kompliziert; es wird heute die Möglich-keit erwogen, Bach habe bei seiner Entlassung aus dem Weimarer Hofdienst vieleManuskripte zurücklassen müssen.17

Die Sammlung umfasst fast alle Typen der „großen“ Pedaliter-Choralbearbeitung derWeimarer Schaffenszeit. Sie bildet damit eine Ergänzung zum Orgelbüchlein („kleiner“Orgelchoral), zu den Choralfughetten (BWV 696–699 und 701–704) und zu denManualiter-Bearbeitungen (BWV 695, 711, 713, 717, 734). Die Formen reichen vomgroßen Pedal-cantus-firmus (BWV 651, 661) über die für Weimar typischen kolorier-ten Choräle (BWV 653, 654, 659, 662) bis zu motivgeprägten Stücken in Analogie zum Orgelbüchlein (BWV 656, 658). Als relativ frühe Beiträge können die beiden„Choralricercari“ (auch als Choralmotetten bezeichnet) BWV 652 und 665 und dasihnen nahestehende BWV 666 gelten.18 Durch eine besonders reiche abschriftlicheÜberlieferung zeichnen sich die beiden Choraltrios (BWV 655 und 664) aus: offen-sichtlich waren diese moderneren Formen sehr aktuell.

7 Christoph Wolff, Johann Sebastian Bachs „Sterbechoral“: Kritische Fragen zu einem Mythos, in: Studiesin Renaissance and Baroque Music in Honor of Arthur Mendel, ed. Robert L. Marshall, Kassel etc.1974, S. 281–297; Christoph Wolff, Bach – Essays on his life and music, Harvard University Press 1993,S. 282–294 („The Deathbed Chorale: Exposing a Myth“); Christoph Wolff, Johann Sebastian Bach,Frankfurt a. M. 2000, S. 491f.

8 J. S. Bach’s Werke, Gesamtausgabe der Bach-Gesellschaft (BG), Jg. 25.2, hrsg. von Wilhelm Rust, Leipzig1878.

9 Johann Sebastian Bach, Die Orgelchoräle aus der Leipziger Originalhandschrift, hrsg. von Hans Klotz,NBA IV/2, Kassel etc. 1957/58, Kritischer Bericht, S. 13. Dieser Band enthält auch die CanonischenVeränderungen BWV 769/769a.

10 Diese Ansicht vertritt Hans Musch, Freiburg i. Br., in einem Brief an den Herausgeber.11 NBA IV/2, Kritischer Bericht, S. 14.

12 Hans-Joachim Schulze, Studien zur Bach-Überlieferung im 18. Jahrhundert, Leipzig 1984, S. 93f.13 Unzutreffend ist auch Klotz’ Angabe, Oley sei Bach-Schüler gewesen (NBA IV/2, Kritischer Bericht,

S. 50). Zu Oley vgl. Andrew Talle, Nürnberg, Darmstadt, Köthen – Neuerkenntnisse zur Bach-Überliefe-rung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Bach-Jahrbuch 2003, besonders S. 162–165.

14 Beiträge zur Generalbass- und Satzlehre, Kontrapunktstudien, Skizzen und Entwürfe, hrsg. von PeterWollny, NBA Supplement, Kassel etc. 2011.

15 NBA IV/2, Kritischer Bericht, S. 50.16 Die Argumentation von Klotz beruht weitgehend auf einer musikalisch-stilistischen Einschätzung

der Varianten des Notentexts: reicher ausgeschmückte Lesarten gelten als späte oder gar als letzteVerbesserungen Bachs. Der Band IV/2 der NBA gehört zu den frühen Bänden der Neuen Bach-Ausgabe (Notenband 1958, Kritischer Bericht 1957); an eine Neubewertung der Quellen war metho-disch noch nicht zu denken. Sie erforderte Vorarbeiten von vielen Jahren und die Mitarbeit zahl-reicher Forscher. Dennoch sind die Hypothesen von NBA IV/2 bis ins BWV gedrungen. Allenfallskann man bei BWV 664 Spuren einer Entwurfsfassung erwägen (vgl. den Kommentar zu diesemChoral).

17 Weimarer Orgeltabulatur – Die frühesten Notenhandschriften Johann Sebastian Bachs sowie Abschriften seines Schülers Johann Martin Schubart, hrsg. von Michael Maul und Peter Wollny, Kassel etc. 2007,Vorwort, S. XI.

18 Jean-Claude Zehnder, Die frühen Werke Johann Sebastian Bachs – Stil, Chronologie, Satztechnik, ScholaCantorum Basiliensis Scripta 1, Basel 2009, S. 226, 307–311 und 478. Russell Stinson, J. S. Bach’sGreat Eighteen Organ Chorales, Oxford University Press 2001, S. 4–6.

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Die FrühfassungenDas Autograph der Frühfassung des Trios über Nun komm der Heiden Heiland BWV660a besteht aus einem selbständigen Bogen mit Titelseite, zwei beschriebenenInnenseiten und einem Überhang von zwei Takten, die auf der Rückseite platziert wurden (P 271 Anhang, später vereinigt mit dem Hauptcorpus von P 271; sieheFaksimile S. 107). In vergleichbarer Form müssen wir uns die Weimarer Autographe der übrigen Choräle vorstellen. Bachs Schriftzüge in P 271 Anhang werden vonKobayashi auf „1714/17“ datiert.19 Die kräftigen Formen der Noten und Balken sindwohl etwas später als die noch recht zierlichen Schriftzüge des Kantatenschaffens von 1714 einzuordnen; der Weimarer Ursprung wird auch durch das Wasserzeichenbestätigt.20 Der Glücksfall, dass eine Frühfassung in Bachs Autograph erhalten ist,setzt uns in den Stand, die Zuverlässigkeit von Johann Tobias Krebs zu überprüfen.Seine Kopie von BWV 660a in P 802 ist bis in Balkung und Form der Verzierungs -zeichen eine getreue Abschrift nach Bachs Vorlage. Als Hauptquellen der Früh -fassungen müssen demnach die Weimarer Abschriften von Johann Tobias Krebs undJohann Gottfried Walther herangezogen werden (siehe Faksimiles S. 42 und 59). DieMehrzahl dieser Abschriften ist in der umfangreichen Handschrift P 802 überliefert,die abwechselnd die Schriftzüge von Walther, von Johann Tobias Krebs und dessenSohn Johann Ludwig (spätere Nachträge) zeigt. Eine willkommene Ergänzung bietendie Abschriften von Johann Gottlieb Preller, dessen Biographie ebenfalls Beziehungenzu Weimar aufweist (siehe Faksimile S. 63).Mit Ausnahme von BWV 665 und 666 sind die Choräle gleichen Titels in den Früh -fassungen einzeln aufgezeichnet. Bach hat also erst in der Leipziger Zeit die beidenBearbeitungen zu Komm, Heiliger Geist (BWV 651 und 652) zusammengestellt und dieDreier-Gruppen über Nun komm der Heiden Heiland und Allein Gott in der Höh sei Ehr(BWV 659–661, 662–664) gebildet. Dennoch ist anzunehmen, dass Bach bei derKomposition von vornherein an eine bestimmte Strophe gedacht hat. Besonders evi-dent ist dies beim Zyklus zu Nun komm der Heiden Heiland, wo die Trio-Bearbeitungmit ihren oft kanonisch geführten „due bassi“ wohl der Strophe „Der du bist demVater gleich“ zugedacht ist.21 Für Bachs künstlerische Persönlichkeit bezeichnend istdie Tatsache, dass er diese Choräle – mehr als 25 Jahre nach der Komposition – als gültige Werke beglaubigt und ihnen in seiner plastischen Notengraphik eine definiti-ve Gestalt verliehen hat.Die Anordnung der NA bringt den Nachteil mit sich, dass die Werkfolge desAutographs durch Einfügung der Frühfassungen unterbrochen wird. Als Vorteil istjedoch zu verbuchen, dass der unmittelbare Vergleich der Fassungen erleichtert wird:in vielen Fällen sind aus der Frühfassung wertvolle Hinweise zur Spielweise zu gewin-nen.

Zu den WerkenFantasia super Komm, Heiliger Geist BWV 651Peter Williams vertritt die Ansicht, die längere Fassung könnte gleichzeitig mit derFassung BWV 651a entstanden sein.22 Zu bedenken ist aber, dass Bach im DuettKomm, lass mich nicht länger warten der 1714 entstandenen Pfingst-Kantate Erschallet, ihr Lieder BWV 172 ebenfalls einen verkürzten cantus firmus dieses Liedes einge-flochten hat. Russell Stinson meint zu erkennen, dass Bachs Schrift bei den neu komponierten Abschnitten, besonders beim Halleluja (T. 89), „sein ausgewogenes kalligraphisches Erscheinungsbild“ verliere; der Unterschied ist freilich gering. Amüberzeugendsten sind Werner Breigs Argumente, dass die hinzugefügten Takte einespätere stilistische Position Bachs repräsentieren.23

Komm, Heiliger Geist BWV 652Für die Interpretation wichtig ist das Faktum, dass es sich nicht um eine eigentlichecantus firmus-Bearbeitung handelt, sondern um ein „Choralricercar“: Jede Choral -zeile wird imitierend, als Fughette mit vier (einmal fünf) Themen durchgeführt. Die Registrierung der Mittelstimmen sollte also den kontrapunktischen Ansprüchengerecht werden (sprich, nicht zu leise sein), um den langen zweistimmigenAbschnitten genügend klangliches Profil zu geben. In der Frühfassung wird dieKolorierung des Soprans mit kleinen Nötchen notiert; dies erinnert an dieOrnamentierung französischer Sarabanden und weiterer Tanzsätze, insbesondere von Marin Marais und François Couperin.24 Auch Taktart und Charakter von BWV 652 sind Sarabanden-artig. Französisch ist außerdem die Verwendung desDoppelschlagzeichens, das Bach wohl bei seiner Abschrift der Verzierungstabelle vonJean Henry d’Anglebert kennengelernt hat (siehe Faksimile S. 23 und den Abschnitt„Zu den Verzierungen“).

An Wasserflüssen Babylon BWV 653Die Frühfassungen dieses Chorals bieten ein besonderes Problem, handelt es sichdoch um zwei Versionen, die in den Quellen unmittelbar nacheinander notiert sind(sei es durch die Bemerkung „alio modo“ oder gar durch die Bezeichnungen „Vers 1 –Vers 2“).25 Welche von beiden Versionen die Urfassung darstellt, ist umstritten, doch

19 NBA IX/2 (Kobayashi, Die Notenschrift Johann Sebastian Bachs – Dokumentation ihrer Entwicklung), S. 207.

20 NBA IX/1, Katalog der Wasserzeichen in Bachs Originalhandschriften, Textband, S. 46, Wasserzeichen 36. 21 Helene Werthemann, Johann Sebastian Bachs Orgelchoral „Nun komm, der Heiden Heiland“ a due bassi e

canto fermo, Musik und Gottesdienst 1959 [Werthemann 1959], S. 161–167. Vgl. Anm. 32.

22 Peter Williams, Johann Sebastian Bachs Orgelwerke, Bd. 2, Mainz etc. 1998, S. 170; ders. The OrganMusic of J. S. Bach, vol. II, Cambridge University Press 1980 [Williams 1980/1998], S. 131.

23 Stinson, J. S. Bach’s Great Eighteen Organ Chorales (wie Anm. 18), S. 42–45; Werner Breig, Zu BachsUmarbeitungsverfahren in den „Achtzehn Chorälen“, in: Festschrift Georg von Dadelsen zum 60.Geburtstag, hrsg. von Thomas Kohlhase und Volker Scherliess, Neuhausen-Stuttgart 1978, S. 35–37.Erweiterte Fassung: Werner Breig, The „Great Eighteen“ Chorales: Bach’s Revisional Process and theGenesis of the Work, in: J. S. Bach as Organist, ed. by George Stauffer and Ernest May, IndianaUniversity Press 1986, S. 103–110.

24 Thomas Synofzik, Avec les Agréments – Beobachtungen zur Verzierungspraxis des Bachkreises, in: BachsMusik für Tasteninstrumente, Bericht über das 4. Dortmunder Bach-Symposion 2002, hrsg. vonMartin Geck, Dortmund 2003, S. 52.

25 Thomas Synofzik, Neues aus Bachs Werkstatt – Die Choralbearbeitung „O Lamm Gottes unschuldig“ ausder Sammlung Mempell-Preller, kommentiert und hrsg. von Thomas Synofzik, Concerto Jg. 17 (2000),Heft 155, S. 26, bemerkt, Walthers Formulierung Vers 1 – Vers 2 könnte auf einen „aufeinanderfol-genden Vortrag beider Sätze“ hinweisen.

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sei darauf hingewiesen, dass die Verwendung des Doppelpedals um 1710/12 inMitteldeutschland eine extreme spieltechnische Herausforderung darstellte. Nochkaum diskutiert ist zudem der recht experimentelle Satz der fünfstimmigen Version:man sehe etwa den Klang H-c1-a1 (letztes Achtel in T. 70) und dessen unorthodoxeWeiterführung. Manche ungewöhnliche Stellen sind in der Handschrift P 802, wahrscheinlich durch Johann Ludwig Krebs, normalisiert worden (siehe Faksimile S. 59). Vor diesem Hintergrund ist die vierstimmige Version sowohl als spieltechnischeErleichterung wie auch als satztechnische Glättung und deshalb wohl als sekundäreVersion zu betrachten.

Schmücke dich, o liebe Seele BWV 654Das wohl bekannteste Werk der Sammlung wurde berühmt durch Mendelssohnslegendäres Leipziger Orgelkonzert im Jahr 1840. Robert Schumann schreibt in seinen Erinnerungen an Mendelssohn, dieser habe ihm „mit dem innigsten Ausdruck“gesagt, „wenn mir das Leben alles genommen hätte, dies Stück würde mich wiedertrösten“.26 Der im Text geforderte „Schmuck“ wird von Bach musikalisch durch subtile Verzierungen („Ausschmückungen“) umgesetzt. Auch wenn die beidenFassungen nicht stark differieren, lassen sich aus dem Vergleich wertvolle Hinweise zur Ausführung der Ornamente gewinnen. Einige der Feinheiten, die jede Spielerin,jeden Spieler in besonderem Maße herausfordern, werden im Abschnitt „Zu denVerzierungen“ angesprochen.

Trio super Herr Jesu Christ, dich zu uns wend BWV 655Sehr wahrscheinlich sind die beiden Choraltrios BWV 655 und 664 die frühesten konzertanten Orgeltrios „à 2 Clav. et Ped.“ überhaupt. Georg Böhm kennt eher „empfindsame“ Choraltrios, etwa Vers 3 im Zyklus Auf meinen lieben Gott; aber die italienische „Sonata a tre“ auf die Orgel zu transferieren, war wohl Bachs Idee. Einkonzertanter Teil, in dem ein kurzes Ritornell auf mehreren Tonartstationen erklingt,und ein Choral-Teil sind zwar durch das aus dem Anfang der Choralmelodie ge -wonnene Hauptthema verknüpft, stehen aber doch recht isoliert nebeneinander. Manvergleiche dazu die Bemerkungen zur C-dur-Toccata BWV 564.27

O Lamm Gottes, unschuldig BWV 656Eine zweite Frühfassung in einer Kopie von Johann Gottlieb Preller (Ms. 7) wurdedurch Thomas Synofzik bekannt.28 Sie ist auf der CD-ROM greifbar. Vielleicht hatdieses Stück eine längere Vorgeschichte: die drei Verse könnten ursprünglich selbstän-dig gewesen sein. Darauf deuten eine Fermate zu Ende von Vers 1 und die Notationdes Übergangs von Vers 2 zu Vers 3 in der Abschrift von Johann Tobias Krebs (P 802).29

Da die Verse im Ms. 7 zusammenhängend aufgezeichnet sind und dort die Figurationreicher ist, könnte die Fassung P 802 schon vor Bachs Weimarer Schaffenszeit entstan-den sein, und Ms. 7 wäre als „Weimarer Fassung“ zu bezeichnen.

Nun danket alle Gott BWV 657Bei den zweimanualigen Chorälen mit koloriertem cantus firmus (BWV 652, 653, 654,659, 660, 662 und 663) verwendet Bach drei Systeme, hier dagegen nur zwei. Anlassdafür war wohl die Tradition des mitteldeutschen Orgelchorals mit unverziertem can-tus firmus im Sopran (Pachelbel, Johann Michael Bach), in dem der „cantus planus“nicht auf solistischem Manual gespielt wurde; diese Stücke verzichten freilich auch auf das Pedal. BWV 657 lässt sich ohne Probleme auf einem Manual (natürlich mitPedal) aufführen, was auf kleineren Orgeln dem kraftvollen Lobcharakter diesesChorals entgegenkommen mag.

Von Gott will ich nicht lassen BWV 658In P 1160 (Breitkopf-Kopist) wird beim Pedaleinsatz (c. f., T. 4) vermerkt „Pedal 4 Fuss“,vielleicht in Analogie zu den Schübler-Chorälen. Für die 4’-Registrierung spricht die Beobachtung von Bernhard Haas, dass bei einer achtfüßigen Pedal registrierungQuintparallelen entstehen (T. 19, zwischen Pedal und Alt).30

Nun komm der Heiden Heiland BWV 659Das weite Ausspinnen der Choralmelodie schließt sich an Modelle von Georg Böhman: Jeweils nach den ersten Tönen einer Choralzeile wird ein Intervall in freier Weisesequenziert, was den eigenartig schweifenden Charakter und damit den Affekt derErwartung (Advent) hervorruft. Beachtung verdient auch der in Achteln schreitendeandante-Bass („nun komm“), der nach der zeitgenössischen Lehre marcato zu spielenist.31

Trio super Nun komm der Heiden Heiland BWV 660Die beiden sich ständig kreuzenden Bass-Stimmen verlangen eine Registrierung ingleicher Lage (in den meisten Fällen 8’). Einen Bezug zur Strophe „Der du bist demVater gleich, führ hinaus den Sieg im Fleisch“ hat Helene Werthemann wahrschein-lich gemacht.32 Diese wenig bekannt gewordene Deutung stützt sich auf die Analogiezu Duetten mit christologischem Text in der h-moll-Messe. Roswitha Bruggaier undPieter Dirksen haben über Urfassungen für Sopran, Gambe und Basso continuo

26 Zitiert nach Matthias Pape, Mendelssohns Leipziger Orgelkonzert 1840, Wiesbaden 1988, S. 22. DerProgrammzettel des Orgelkonzerts ist faksimiliert im Band 4 der NA, S. 26.

27 NA, Bd. 4, S. 10.28 Synofzik, Neues aus Bachs Werkstatt (wie Anm. 25).29 So schon Williams, Bachs Orgelwerke (wie Anm. 22), Bd. 2, S. 187.

30 Bernhard Haas, Zur Registrierung der canonischen Veränderungen über „Vom Himmel hoch da komm ichher“ BWV 769/769a von J. S. Bach, Ars Organi 2008 [Haas 2008], S. 165.

31 Gerhart Darmstadt, Andante und Mystik – Zur Symbolik des Weges in der Barockmusik, in: Symbolon,Jahrbuch für Symbolforschung, Neue Folge, Bd. 12, Frankfurt a. M. etc. 1995, S. 43–104, besondersS. 55.

32 Werthemann 1959 (wie Anm. 21). Diese Strophe findet sich auch in Satz 6 der AdventskantateSchwingt freudig euch empor (BWV 36, spätere Fassung). Zusammen mit der ersten Strophe (Satz 2)und der Schlussstrophe (Satz 8) erhalten wir ein plausibles Textmodell für die Orgelchoräle BWV 659, 660 und 661.

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beziehungsweise Oboe, Gambe und Basso continuo nachgedacht.33 In diesemZusammenhang kann zudem auf die Arie Lass mein Herz die Münze sein in der 1715komponierten Kantate Nur jedem das Seine BWV 163/3 verwiesen werden; mit zweiobligaten Celli – nebst der vom Bass gesungenen Vokalstimme – wird in dieser Ariedie tiefe Klanglichkeit noch deutlicher favorisiert. Beide Werke werden durchRitornelle eröffnet, deren Struktur vergleichbar ist; BWV 660a kann innerhalb der„Leipziger Choräle“ als besonders später Beitrag gelten.

Nun komm der Heiden Heiland BWV 661Eine Umschrift vom Á-Takt (mit Sechzehnteln) zum Notenbild des „Allabreve“ À(Achtel als schnellster Notenwert) ist auch in einigen Stücken der Kunst der Fugezwischen der Autograph-Fassung (um 1742) und der Druckfassung (um 1749) zu be -obachten. Offenbar ging es Bach darum, dem Ausführenden die Idee des „schwerenVortrags“ zu vermitteln.34

Allein Gott in der Höh sei Ehr BWV 662Die Verwendung des Häkchens als Zeichen für den Vorschlag (von Bach „accent“genannt) könnte auf die Verzierungstabelle von Jean Henry d’Anglebert oder dieSuiten von Charles Dieupart zurückgehen, die Bach abgeschrieben hat. Siehe dazuden Abschnitt „Zu den Verzierungen“ weiter unten.

Allein Gott in der Höh sei Ehr BWV 663Auch diese Bearbeitung hat wahrscheinlich etwas mit Bachs Abschriften französischerOrgelmusik zu tun: in Nicolas de Grignys Pange lingua wird im dritten Vers die verzierte Melodie dieses gregorianischen cantus firmus im Tenor vorgetragen.35

Eigenartig ist der Übergang der Tenorstimme vom „Begleitmanual“ in den auf demSolo-Manual gespielten cantus firmus (vgl. besonders T. 15–16 und T. 44–45); dieswird meist als Zeichen relativ früher Entstehung von BWV 663a aufgefasst.36

Trio super Allein Gott in der Höh sei Ehr BWV 664Wieder, wie bei BWV 655, dokumentiert eine breit gefächerte Überlieferung dieBeliebtheit der modernen Gattung Choraltrio. Bei der Frühfassung ergibt sich eine

neue Sicht. Seit der Alten Bach-Gesamtausgabe37 wird eine eigenartig korrumpierteVersion (BWV 664b) als früheste Fassung bezeichnet. Angesichts der bearbeitetenVersionen des Trios Herr Jesu Christ, dich zu uns wend BWV 655 ist jedoch auch hier aneine spätere Redaktion zu denken; genauer wird darüber im Kommentar berichtet.Die Überlieferung der Frühfassung durch Johann Tobias Krebs und Johann GottliebPreller zeichnet sich durch violinistische Legatobögen aus. Es handelt sich um einenfrühen Hinweis darauf, ein Orgel-Trio nicht großflächig wie ein Organo-pleno-Werk,sondern mit kammermusikalischen Feinheiten wiederzugeben.

Jesus Christus, unser Heiland BWV 665Dies ist das letzte von Bach selbst eingetragene Stück. Wie Komm, Heiliger GeistBWV 652 ist dieses Werk ein Choralricercar; die übergeordnete Struktur ist die imi-tierende Gestaltung jeder einzelnen Liedzeile. Das Pedal nimmt an dieser Imitationteil, sollte aber nicht wie ein cantus firmus klingen; den Rang eines solchen nimmteher die zuletzt eintretende Sopranstimme ein, wie besonders bei der 4. Zeile (T. 47f.)deutlich zu hören ist. Wie bei Allein Gott in der Höh sei Ehr BWV 663 ist die Positioneiner Stimme nicht genau fixiert; hier ist es die Bassstimme, die teils vom Manual, teilsvom Pedal gespielt wird (siehe etwa in T. 5). Diese spezielle Situation ist Anlass dafür,Bachs Notation auf zwei Systemen ausnahmsweise in die NA zu übernehmen. BWV665 ist eines der wenigen Orgelwerke Bachs, dessen Textbezug so klar zutage tritt, dassablehnende Kommentare meines Wissens bisher nicht geäußert worden sind. Dieherbe Chromatik der 3. Choralzeile bezieht sich auf den Text „durch das bittre Leidensein“, der plötzliche Aufschwung der 4. Zeile auf „half er uns aus der Höllenpein“.

Jesus Christus, unser Heiland BWV 666Als einziges Werk ohne obligates Pedal, aber auch durch manche stilistische Detailsgibt sich BWV 666 als frühes, vielleicht als das früheste Stück der Sammlung zu erken-nen.38 Wie oben dargelegt, hat Johann Christoph Altnickol die Eintragung in P 271vorgenommen, möglicherweise erst nach Bachs Tod. Da aber schon in der AbschriftJ. G. Walthers die Frühfassungen beider Bearbeitungen BWV 665a und 666a als Paarüberliefert sind, besteht eine recht große Wahrscheinlichkeit, dass die EintragungBachs Willen entspricht.

Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist BWV 667Weniger klar ist dies bei BWV 667: der Bezug zum gleichnamigen Choral BWV631/631a im Orgelbüchlein lässt sogleich die Frage aufkommen, was die in Bachs Œuvresonst sehr seltene Zusammenführung zweier Choraldarstellungen zu bedeuten habe.Nur im Neumeister-Choral Du Friedefürst, Herr Jesu Christ BWV 1102, einem Frühwerk,ist eine vergleichbare Kombination zu finden. Die oft genannte Rahmen-Funktion derPfingst-Choräle BWV 651, 652 und 667 erklärt meines Erachtens die Situation nichtrestlos. Bach hätte beispielsweise ein Werk wie das große Valet will ich dir geben (D-dur,

33 Roswitha Bruggaier, Das Urbild von Johann Sebastian Bachs Choralbearbeitung „Nun komm, der HeidenHeiland“ (BWV 660) – eine Komposition mit Viola da Gamba?, Bach-Jahrbuch 1987, S. 165–168; PieterDirksen, Ein verschollenes Weimarer Kammermusikwerk Johann Sebastian Bachs? Zur Vorgeschichte derSonate e-Moll für Orgel (BWV 528), Bach-Jahrbuch 2003, S. 7–36, besonders S. 34.

34 Eine Übersicht über Bachs Umschriften von Á zu À gibt Pieter Dirksen, Studien zur Kunst der Fugevon Joh. Seb. Bach – Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte, Struktur und Aufführungspraxis, Wilhelms -haven 1994, S. 103–107. Zu den Begriffen „schwerer Vortrag“ und „leichter Vortrag“ vergleiche manJohann Philipp Kirnberger, Die Kunst des reinen Satzes in der Musik, Berlin und Königsberg 1776–79(Reprint Hildesheim 1968). Zweiter Teil, erste Abteilung, S. 118; Daniel Gottlob Türk, Klavierschule,Leipzig und Halle 1789 (Reprint Kassel etc. 1967), S. 360.

35 Nicolas de Grigny, Premier Livre d’Orgue – Edition originale 1699, Copie manuscrite de J. S. Bach, Copiemanuscrite de J. G. Walther; présentation par P. Hardouin, P. Lescat, J. Saint-Arroman et J. C. Tosi,Editions J. M. Fuzeau, Courlay 2001.

36 NBA IV/2, Kritischer Bericht, S. 81; Williams 1980/1998 (wie Anm. 22), Bd. 2, S. 206.37 BG, Jg. 25.2 (Wilhelm Rust, 1878).38 Zehnder, Die frühen Werke (wie Anm. 18), S. 226.

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39 Denkbar wäre folgendes Szenario: für die Eintragung von BWV 666 war Platz reserviert. Danachstanden noch die Rückseite desselben Blattes und die wohl für einen Titel zu Vom Himmel hochBWV 769a vorgesehene Recto-Seite zur Verfügung.

40 Persönliche Mitteilung von Peter Wollny.41 Siehe das vollständige Zitat im Kommentar, S. 182, und die in Anm. 7 genannte Literatur.42 Wohl um die Mitte der 1740er Jahre hat sich Bach erneut mit dem Orgelbüchlein beschäftigt und im

Autograph P 283 den Choral Helft mir Gotts Güte preisen BWV 613 nachgetragen. Siehe dazu WollnyFaksimile (wie Anm. 2), Vorwort, S. VI.

43 Choral-Kolorierung hat Bach aus norddeutschen Quellen (Buxtehude, Böhm) aufgegriffen. Dochab etwa 1730 scheint sie nicht mehr „à la mode“ gewesen zu sein: sie fehlt in Clavierübung III, in denCanonischen Veränderungen BWV 769 und bei den Leipziger Bach-Schülern.

44 Diese Deutung verdanke ich meinem Lehrer Anton Heiller, Wien (1923–1979).45 Frederick Neumann, Ornamentation in Baroque and Post-Baroque Music – with Special Emphasis on J. S.

Bach, Princeton University Press 1978 [Neumann 1978]. Hans Klotz, Die Ornamentik der Klavier- undOrgelwerke von Johann Sebastian Bach – Bedeutung der Zeichen, Möglichkeiten der Ausführung, Kassel etc.1984 [Klotz 1984].

46 NBA V/5, Klavierbüchlein für Wilhelm Friedemann Bach, hrsg. von Wolfgang Plath, Kassel etc. 1962, S. 3.

47 Frankfurt am Main, Stadt- und Universitätsbibliothek, Mus. Hs. 1538.

BWV 736) als Abschluss wählen können. Sollte freilich BWV 667 erst nach Bachs Todvon Altnickol eingetragen worden sein (siehe dazu oben), so musste der Schreiber einnicht zu langes Stück wählen, da ja die fünf Kanons über Vom Himmel hoch schonnotiert waren.39

Vor deinen Thron tret ich / Wenn wir in höchsten Nöten BWV 668/668aWie oben schon dargelegt, kommt diesem Choral eine Sonderstellung zu. Er folgt inP 271 auf die von Bach selbst geschriebenen fünf Kanons über Vom Himmel hoch, dakomm ich her BWV 769a, von einem unbekannten Schreiber eingetragen (siehe dazuden Kommentar). Hier trägt er den Titel „Vor deinen Thron tret ich“; da das letzteBlatt des Faszikels abhanden gekommen ist, bricht die Niederschrift in der Mitte von T. 26 ab. Der Blattverlust scheint schon früh eingetreten zu sein: die Zahlen amunteren Blattrand stammen von der Hand Anna Carolina Philippina Bachs, derTochter Carl Philipp Emanuels, und beziehen sich offenbar auf den Verkauf desManuskripts.40 In vollständiger Fassung wurde BWV 668a, mit der Überschrift „Wennwir in höchsten Nöten“, zu Ende des Originaldrucks der Kunst der Fuge BWV 1080 von den Herausgebern als Ersatz für den fehlenden Schluss von Contrapunctus 14zugefügt, um die Käufer „schadlos zu halten“ (siehe Faksimile S. 156). Die Vorlage fürdie Druckfassung ist nicht bekannt. Im Vorwort findet sich erstmals die eigenartigeBemerkung, Bach habe dieses Stück „in seiner Blindheit einem seiner Freunde ausdem Stegereif in die Feder dictiret“.41

Zur Formulierung „aus dem Stegereif“ ist ein Fragezeichen zu setzen, denn eigen artig,vielleicht sogar einmalig ist das Faktum, dass die vierstimmigen Abschnitte (währenddes Erklingens der Choralmelodie im Sopran) dem Orgelbüchlein-Choral Wenn wir inhöchsten Nöten sein BWV 641 entnommen sind. Die in BWV 641 reich kolorierteChoralmelodie wird aber in BWV 668/668a auf die Kerntöne reduziert. Die ausge-weitete Fassung BWV 668/668a dürfte Bachs letztem Lebensjahrzehnt angehören;42

jedenfalls gibt es keinen Hinweis auf Weimarer Quellen. Es ist auch unwahrscheinlich,dass Bach kurz nach der Komposition des Orgelbüchlein-Chorals BWV 641 eineFassung erstellt hätte, in der die ausdrucksstarken Umspielungen der Melodie wiederentfernt wurden. Der Verzicht auf die Kolorierung passt jedoch zu den spätenLeipziger Choralbearbeitungen, repräsentiert vor allem durch den Dritten Teil derClavierübung.43 Eine Parallele zur Clavierübung III ist zudem der Choral Aus tiefer Notschrei ich zu dir BWV 687: auch hier arbeiten die Vorimitationen mit der Technik der

„Fuga contraria“, in der jeweils ein Thema in Normalform von seiner Umkehrunggefolgt wird. Möglicherweise ist dies als Antwort Gottes auf den Ruf des Menschen zuverstehen.44

Zwischen den Fassungen BWV 668 und 668a bestehen vier Varianten, die sämtlich als rhythmische Profilierung bzw. harmonische Bereicherung gelten dürfen (vgl.Kommentar, S. 183). Sollten diese Verbesserungen Bachs letzte Arbeit, sein letztesStreben nach Vollkommenheit in seiner Kunst gewesen sein? Dass er in diesemMoment den Titel „Vor deinen Thron tret ich“ gesetzt hätte, wäre ein eindrücklichesZeugnis seines christlichen Glaubens.

Zu den VerzierungenDas Autograph P 271 zeichnet sich durch eine besonders subtile Zeichensetzung bei den Verzierungen aus; ein zweiter Faktor kommt dazu: der Vergleich mit denFrühfassungen erlaubt oft einen zusätzlichen Einblick in die Werkstatt derInterpretation, sei es durch konkretere Angaben zur Ausführung, sei es durchAlternativen. Die folgenden Bemerkungen möchten die Besonderheiten derOrnament-Setzung in den „Achtzehn Chorälen“ hervorheben; für das Basis-Wissen zurVerzierungslehre sei auf Frederick Neumanns umfassende Darstellung derVerzierungen von etwa 1600 bis 1800 und auf das Buch über Bachs Ornamentik von Hans Klotz verwiesen.45

Ein oft diskutiertes, in Bachs Leipziger Zeit häufiger vorkommendes Ornament ist derVorschlag, von Bach „accent“ genannt (in Frankreich meist „port de voix“), ange deutetentweder durch ein kleines Nötchen oder durch ein Häkchen. Dieses zeigt Bach inder Verzierungstabelle für Wilhelm Friedemann (1720)46 in folgender Form:

Höchstwahrscheinlich nach dem Vorbild der opulentesten französischen Verzierungs -tabelle von Jean Henry d’Anglebert, die Bach etwa 1709 eigenhändig kopiert hat (siehe Faksimiles S. 23 und 24).47 In Allein Gott in der Höh sei Ehr BWV 662 erscheintdieser „accent“ schon in der Frühfassung. Sowohl bei d’Anglebert als auch in BachsTabelle wird die Ausführung auf den Schlag angegeben; die Ansichten darüber sindaber damals wie heute kontrovers. Den „port de voix“ vor dem Schlag zu spielen, hatin der französischen Tastenmusik eine starke Tradition, die von Nivers über Raison

accent accentsteigend fallend

c c

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und Gigault bis zu Nicolas de Grigny reicht.48 Und auch in der Generation der Bach-Söhne und -Schüler wird über „Vorschläge“ und „Nachschläge“ diskutiert. Nimmtman aber hinzu, dass Bachs zweitältester Sohn die von ihm so genannten Nachschläge

als hässlich bezeichnet, so gewinnt die Ausführung „auf den Schlag“ auch für dieWerke seines Vaters an Wahrscheinlichkeit.49

Eine besondere Facette des „accent“ lassen die beiden Fassungen des koloriertenChorals Nun komm der Heiden Heiland BWV 659/659a hervortreten. Während in derFrühfassung bei der 1. und 4. Choralzeile (sie sind melodisch identisch) nur dasZeichen N notiert ist (T. 5), differenziert Bach in der Leipziger Fassung so, dass in der1. Zeile anstelle des Trillers ein kleines Nötchen erscheint (BWV 659, T. 5, Sopran). Esist wohl klar, dass Bach in der 1. Zeile ein sanfteres Ornament, sozusagen einen „hal-ben Triller“50 (einen „kurzen Vorschlag“) wünscht. Kurze Vorschläge werden auch vonCarl Philipp Emanuel Bach beschrieben. Sie gehören seit dem Ersten Teil derClavierübung (1726–1731) zum Repertoire.Verzierungen durch kleine Nötchen zu notieren, hat den Vorteil, dass auch unge-wöhnliche Umspielungen dargestellt werden können. Die Notation in Komm, HeiligerGeist BWV 652a (siehe Faksimile S. 42) mag so entstanden sein, dass zunächst dieeigentlichen (großen) Noten niedergeschrieben, danach die Möglichkeiten der Aus -zierung mit kleinen (nicht in den Takt eingeteilten) Nötchen hinzugefügt wurden (amdeutlichsten in T. 116–118).51 In der Leipziger Fassung BWV 652 ist die Zahl derOrnamente leicht reduziert, die verbliebenen sind nun in eine metrisch verbindlicheForm gebracht (zu den Doppelschlägen siehe unten). Die komplizierteren Formen des Trillers sind in der Verzierungstabelle für WilhelmFriedemann anschaulich dargestellt, wiederum basierend auf d’Anglebert. Für die vonBach „accent und trillo“ genannte Verzierung stehen zwei Schreibweisen zur Wahl: dieerste mit dem Häkchen ist unmittelbar verständlich, die zweite (siehe Komm, HeiligerGeist BWV 652, T. 1) war manchen späteren Kopisten nicht mehr geläufig, sodass nurnoch ein normaler Triller geschrieben wurde. Die Triller mit „Vorschleife“ („doppelt-cadence“) scheint Bach zunächst mit zwei aufeinanderfolgenden Zeichen (Schleifer +Triller) geschrieben zu haben: man vergleiche Allein Gott in der Höh sei Ehr BWV 663in den beiden Fassungen:

Schmücke dich, o liebe Seele BWV 654 lädt zu einem Studium der Triller-Nachschlägeein. Die längeren Triller (eine halbe Note umfassend) sind immer gleich notiert. Beiden nur einen Viertelwert umfassenden Trillern dagegen kann der Nachschlag mitzwei Sechzehnteln oder mit zwei 32steln geschrieben werden:

Wollte Bach zum Ausdruck bringen, der Nachschlag sei in einigen Fällen langsamerzu spielen? Johann Gottfried Walther gibt folgende Trilleranleitung:

Wichtig scheint mir dabei, dass vor den beiden Nachschlagsnoten kein Stopp ein -gelegt wird; der fließende Charakter soll erhalten bleiben. Allerdings sei nicht verschwiegen, dass einige Autoren den Haltepunkt vor dem Nachschlag ausdrücklichfordern (so besonders G. G. Nivers im ersten Orgelbuch aus dem Jahr 1665).Im weiteren Sinn zu den Nachschlägen gehört der „trillo und mordant“ (beid’Anglebert „tremblement et pincé“):

Leider sieht Bachs Erklärung in der Tabelle für Wilhelm Friedemann so aus, als hand-le es sich um einen normalen Triller mit Nachschlag (siehe Faksimile S. 24). DiePositionierung dieses Ornaments und mehrere Hinweise aus der französischen Praxismachen aber deutlich, dass der untere Nebenton nur ganz kurz berührt und danachdie Hauptnote (die notierte Note) noch einen Moment ausgehalten werden soll.52

Eine besonders raffinierte Ausführung suggeriert die Tabelle von André Raison (1688):

Man kann daraus entnehmen, dass das Berühren der unteren Nebennote nur wie einSchatten klingen soll und es sogar möglich ist, die Hauptnote nicht erneut anzu-schlagen (die drittletzte Note also liegen zu lassen).53

48 Sie stammt aus der „anticipazione della syllaba“ und wird denn auch bei André Raison mit einemtextierten Lehrbeispiel demonstriert, vgl. Neumann 1978 (wie Anm. 45), S. 52–96. Klotz 1984 (wieAnm. 45) klammert diese französische Tradition völlig aus.

49 Carl Philipp Emanuel Bach, Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, Erster Teil (ReprintLeipzig 1957 u. a.), S. 70 und Figur XX (a).

50 Nach Marpurg ist der Triller „im Grunde nichts anders, als eine Reihe in der größten Ge -schwindigkeit hintereinander wiederhohlter fallender Vorschläge“; Friedrich Wilhelm Marpurg,Anleitung zum Clavierspielen, Berlin 1755 (Reprint der zweiten verbesserten Auflage von 1765,Hildesheim 1970), S. 53.

51 In ähnlicher Art notierte J. G. Walther den kolorierten Orgelchoral Vater unser im Himmelreich vonGeorg Böhm (Klavier- und Orgelwerke, Bd. 2, hrsg. von Johannes Wolgast [Edition Breitkopf 6635],Nr. 12/2, S. 138; Quelle ist P 802, S. 90).

BWV 663a, T. 33 BWV 663, T. 33

52 Klotz 1984 (wie Anm. 45), S. 126f.53 André Raison, Livre d’Orgue contenant cinq Messes (1688), Reprint J. M. Fuzeau, Courlay 1993,

Vorwort „Au Lecteur“, S. 2.

trillo und mordant

BWV 654, T. 3 T. 29 T. 90

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55 Peter Wollny, Eine Klaviersonate von C. P. E. Bach aus dem Besitz J. S. Bachs, Bach-Jahrbuch 2012, S. 191.

56 Siehe dazu die verzierten Fassungen einiger Stücke in Band 4 der NA (CD-ROM).57 C. Ph. E. Bach, Versuch (wie Anm. 49), S. 51.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat also Bach in Allein Gott in der Höh sei Ehr BWV 662zwei verschiedene Ausführungen intendiert: in T. 14 einen normalen Triller mitNachschlag, in T. 13 den beschriebenen „trillo und mordant“. Im ersten Fall resultierteine deutliche Schlusswirkung im Rahmen einer V-I-Kadenz, im zweiten soll dieSchlusswirkung weniger stark sein, weil die Verzierung mitten in der Choralzeile steht.

Das Doppelschlag-Zeichen kommt erst in Bachs späten Orgelwerken häufiger vor: imDruck der Clavierübung III und in den Chorälen von P 271, noch nicht aber in denOrgelsonaten (Ausnahme: BWV 652a54). Die handschriftliche Wiedergabe diesesZeichens ist weder horizontal noch vertikal, sondern in elegantem Schwung leichtgeneigt (siehe Faksimile S. 42). In der NA wird es in der normalen Form gedruckt.Meistens handelt es sich um ein verbindendes Ornament, das zu einer folgenden,akzentuierten Note hinführt. Gelegentlich bieten die Frühfassungen Hilfen zurAusführung an:

Ein Doppelschlag kann aber auch bei der Kadenz einen Leitton umspielen; er nimmtdamit die Position ein, die in der Frühfassung einem Triller zugedacht war:

Man beachte, dass nur ein Ton differiert, wobei der Doppelschlag schmiegsamer alsder kurze Triller klingt. Peter Wollny hat darauf hingewiesen, dass J. S. Bach zahlreiche „Manieren“ eigen -händig in eine Sonate seines Sohnes Carl Philipp Emanuel eingetragen hat. Dies legt es nahe, „die subtile und ausgefeilte Verzierungspraxis des alten Bach“ – in unserem Fall diejenige der Handschrift P 271 – „in diesem fortschrittlichen Sinne zu deuten und sie als zentrales Bindeglied zwischen barocker und galanter Spiel -technik zu verstehen“,55 dies im Unterschied zur überbordenden Brillanz jugendlicherOrnamentierung.56 C. Ph. E. Bach schreibt den Ornamenten eine zentrale Funktionzu: „Sie hängen die Noten zusammen; sie beleben sie; sie geben ihnen, wenn esnöthig ist, einen besondern Nachdruck und Gewicht; sie machen sie gefällig, underwecken folglich eine besondere Aufmerksamkeit; sie helffen ihren Jnhalt erklären; es mag dieser traurig oder fröhlich oder sonst beschaffen seyn wie er will, so tragen sie allezeit das ihrige darzu bey.“57

Im Umgang mit den Quellen waren die Gespräche mit Peter Wollny und ChristineBlanken im Bach-Archiv Leipzig eine unschätzbare Hilfe. Ebenso herzlich sei für dieZusammenarbeit mit der Editionsleitung, besonders mit Pieter Dirksen gedankt,und – last but not least – der Lektorin Eva-Maria Hodel für die vielen kenntnisreichenBeiträge.

Basel, Herbst 2014 Jean-Claude Zehnder

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BWV 659, T. 28

BWV 659a, T. 4 (Ms. 7)BWV 654a, T. 66

BWV 654, T. 66

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BWV 660, T. 7

54 Wahrscheinlich eine direkte Übernahme aus der genannten Tabelle von d’Anglebert.

BWV 660a, T. 7