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JOHANNES - EVANGELIUM Übersetzung durch EMIL BOCK

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Bibel, Neues Testament, Christengemeinschaft, Anthroposophie, sieben mystische Stufen, Sterbebegleitung.Emil Bock (1895 - 1959) war Priester und Erzoberlenker der Christengemeinschaft. Er schuf in dieser Übersetzung des Johannesevangeliums ein Werk, welches mehr intentional als wortwörtlich den Geist dieses besonderen Evangeliums zu würdigen versucht. Aus diesem Grund wird es von der herkömmlichen Theologie zumeist abgelehnt. Besonders ist das Johannesevangelium durch die klare Gliederung: in den Zeichentaten des Christus, die bedeutsamen Ich-Bin-Worte (Vgl. Friedrich Rittelmeyer - Meditation - Zwölf Briefe über Selbsterziehung), die Abschiedsreden und vor allem in den klaren sieben mystischen Stufen von der Fußwaschung bis zur Auferstehung. Aus diesem Grunde empfahl Rudolf Steiner das LAUTE VORLESEN dieses Evangeliums bei der Verabschiedung unserer Verstorbenen, um ihnen die Orientierung in die geistige Welt nach dem Tode zu erleichtern - so wie bei den Buddhisten das laute Lesen des Bardo Thödol, das Tibetanische Totenbuch.

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JOHANNES -E V A N G E L I U M

Übersetzung durch

E M I L B O C K

DAS JOHANNES-EVANGELIUM

IN DER ÜBERSETZUNG

VON EMIL BOCK

Dieses ebook ist nur zum

nichtkommerziellen Gebrauch bestimmt!

DAS JOHANNESEVANGELIUM

Prolog

Im Urbeginne war das Wort, und das Wort war bei Gott, und ein göttliches Wesen war das Wort. Dieses war im Urbeginne bei Gott. Durch es sind alle Dinge geworden, und nichts von allem Entstandenen ist anders als durch

das Wort geworden. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis; aber die Finsternis hat es nicht aufgenommen. Es kam ein Mensch, von Gott war er gesandt, sein Name war Johannes. Er kam, um Zeugnis abzulegen. Er sollte von dem Lichte zeugen und so in allen Herzen den Glauben erwecken. Er war nicht selbst das Licht, er sollte ein Zeuge des Lichtes sein. Das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, sollte in die Welt kommen. Es war in der Welt, denn die Welt ist durch es geworden, aber die Welt hat es nicht erkannt. Zu den Ich-Menschen kam es, aber die Ich-Menschen nahmen es nicht auf.

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JOHANNESEVANGELIUM 1

Allen aber, die es aufnahmen, 12 gab es die freie Kraft, Gotteskinder zu werden. Das sind die, die vertrauensvoll seine Kraft in sich auf­

nehmen. Sie empfangen ihr Leben nicht aus dem Blute, 13 auch nicht aus dem Willen des Fleisches und nicht aus menschlichem Willen; denn sie sind aus Gott geboren. Und das Wort ist Fleisch geworden 14 und hat unter uns gewohnt. Und wir haben seine Offenbarung geschaut, die Offenbarung des eingeborenen Sohnes des Vaters, erfüllt von Hingabe und Wahrheit. Johannes legt Zeugnis für ihn ab 15 und verkündet laut: Dieser ist, von dem ich sagte: Nach mir kommt, der vor mir war, denn er ist größer als ich. Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen Gnade über 16

Gnade. Das Gesetz ist durch Moses gegeben. 17 Die Gnade und die Wahrheit sind durch Jesus Christus

entstanden. Den göttlichen Weltengrund hat nie ein Mensch mit 18

Augen geschaut. Der eingeborene Sohn, der im Schoß des Weltenvaters

war, er ist der Führer zu diesem Schauen geworden.

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JOHANNESEVANGELIUM 1

Injudäa

Johannes der Täufer

19 Dies ist das Zeugnis des Johannes, als die Juden aus Jerusa­lem Priester und Leviten zu ihm sandten mit der Frage: Wer

20 bist du? Er legte frei und offen sein Bekenntnis ab. Er be-21 kannte: Ich bin nicht der Christus. Da fragten sie ihn: Werbist

du denn? Bist du Elias? U n d er sprach: Ich bin nicht. - Bist 22 du der Prophet? Er antwortete: Nein. Da sprachen sie: Wer

bist du? Was sollen wir denen antworten, die uns gesandt

23 haben? Was hast du über dich zu sagen? Er sprach: »Ich bin die Stimme des Rufers in der Einsamkeit, der da spricht: Bereitet dem Herrn den Weg!« So hat der Prophet Jesajas

24 • 25 verkündet. U n d die von den Pharisäern Abgesandten fragten ihn: Warum taufst du, wenn du weder der Christus, noch

26 Elias, noch der Prophet bist? Johannes antwortete ihnen: Ich taufe mit Wasser. Aber schon ist in eurer Mitte der, den ihr

27 nicht kennt, der nach mir k o m m t und doch vor mir gewesen ist. Er wird euch mit dem heiligen Geiste und mit Feuer tau­fen. Ich bin zu gering, u m ihm auch nur den Riemen an den

28 Schuhen aufzubinden. Das geschah zu Bethabara am unteren Jordan, w o Johannes taufte.

29 An dem zweiten Tage sieht er Jesus zu ihm kommen und spricht: Siehe, Gottes Lamm, das der Welt Sünde auf sich

30 n immt. Er ist es, von dem ich sagte: Nach mir k o m m t einer, 31 der vor mir gewesen ist, denn er ist größer als ich. Ich kannte

ihn nicht, aber dazu bin ich gekommen und habe mit Wasser getauft, damit in Israel die Menschen fähig würden, die

32 Offenbarung seines Wesens zu erleben. U n d Johannes be­zeugte: Ich habe geschaut, wie der Geist gleich einer Taube vom Himmel auf ihn herniederstieg und mit ihm verbunden

33 blieb. Ich kannte ihn nicht, aber der, der mich gesandt hat, mit Wasser zu taufen, sprach zu mir: Auf wen du den Geist sich herniedersenken siehst, so daß er mit ihm verbunden

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JOHANNESEVANGELIUM 1

bleibt, der ist es, der mit dem heiligen Geiste tauft. Ich habe es 34 geschaut, und so bezeuge ich, daß dieser der Sohn Gottes ist.

Die ersten Jünger

An dem zweiten Tage stand Johannes wieder dort, und 35 zwei seiner Jünger waren bei ihm. U n d als er Jesus vorüber- 36 gehen sah, sprach er: Siehe, Gottes Lamm. U n d als die beiden 37 Jünger ihn so sprechen hörten, folgten sie Jesus nach. Da 38 wandte sich Jesus u m und sah, wie sie ihm folgten, und sprach zu ihnen: Was suchet ihr? Sie antworteten: Rabbi (das heißt übersetzt: Meister), w o lebst du? Er sprach: K o m m t 39 und seht! U n d sie kamen und sahen, w o er lebte, und blieben diesen ganzen Tag bei ihm. Es war u m die zehnte Stunde. Andreas, der Bruder des Simon Petrus, war einer von den 40 beiden, die ihm auf das Wort des Johannes hin gefolgt waren. Der erste, den er traf, war sein Bruder Simon, und er sprach 41 zu ihm: Wir haben ihn gefunden, den Messias (das heißt übersetzt: den Christus). U n d er führte ihn zu Jesus. Jesus 42 schaute ihn an und sprach: Du bist Simon, der Sohn des Jona. Dein N a m e soll Kephas sein (das heißt übersetzt: Petrus, der Fels).

An dem zweiten Tage wollte er sich auf den Weg machen 43 nach Galiläa. Da findet er Philippus und spricht zu ihm: Folge mir nach! Philippus war aus Bethsaida, der Stadt des Andreas 44 und Petrus. Philippus wieder findet Nathanael und spricht zu 45 ihm: Wir haben den gefunden, von dem Moses im Gesetz und von dem die Propheten geschrieben haben. Es ist Jesus, der Sohn Josephs aus Nazareth. Da sprach Nathanael zu ihm: 46 Kann aus Nazareth etwas Gutes kommen? Philippus antwor­tet: K o m m und sieh! Als Jesus Nathanael auf sich zukommen 47 sah, sagte er von ihm: Er ist wirklich v o m Range eines Israeli­ten, in dem keine Verfälschung mehr ist. Da spricht Natha- 48 nael zu ihm: Woher kennst du mich? U n d Jesus antwortete: Bevor dich Philippus rief, als du unter dem Feigenbaum

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JOHANNESEVANGELIUM 2

49 saßest, sah ich dich. Da sprach Nathanael: Meister, du bist jo der Sohn Gottes, du bist der Führergeist Israels. U n d Jesus

erwiderte: Weil ich zu dir sagte: Ich sah dich unter dem Fei­genbaum, hast du Vertrauen gefaßt? Größeres als das wirst

51 du erleben. U n d er sprach zu ihm: Ja, ich sage euch: Ihr wer­det sehen, wie der Himmel sich auftut und wie die Engel Gottes auf- und niedersteigen über dem Menschensohn.

In Galiläa

Erste Zeichentat: Die Hochzeit zu Kana

2 U n d am dritten Tage wurde eine Hochzeit gefeiert zu 2 Kana in Galiläa. U n d die Mutter Jesu war dabei, und auch

Jesus und seine Jünger waren zum Hochzeitsfest eingeladen. 3 Als der Wein zur Neige ging, spricht die Mutter Jesu zu ihm: 4 Sie haben keinen Wein mehr. U n d Jesus antwortet ihr: Achte

auf die Kraft, o Weib, die da webet zwischen mir und dir. 5 Noch ist meine Stunde nicht gekommen. Da spricht seine 6 Mutter zu den Dienern: Tut , was er euch sagen wird! Es stan­

den dort sechs Wasserkrüge, die den jüdischen Reinigungs-7 gebrauchen dienten. Ein jeder faßte zwei oder drei Maß. Und

Jesus spricht zu den Dienern: Füllet die Krüge mit Wasser!

8 U n d sie füllten sie bis an den Rand. U n d er spricht weiter: Schöpfet nun daraus und bringet es dem Leiter des Mahles! U n d sie brachten es ihm. Der Leiter des Mahles wußte nichts vom Ursprung dessen, was man ihm reichte; nur die Diener,

9 die das Wasser geschöpft hatten, wußten davon. U n d als er von dem Wasser kostete, das zu Wein geworden war, ruft er

io den Bräutigam herbei und spricht so zu ihm: Sonst pflegt doch jedermann zuerst den guten Wein zu geben und dann, wenn die Gäste trunken sind, den geringeren. Du aber hast

ii den guten Wein bis jetzt zurückbehalten. - Diesen Urbeginn seiner Zeichentaten vollbrachte Jesus zu Kana in Galiläa. Die strahlende Lichtgewalt seines Wesens machte er dadurch

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offenbar, und in seinen Jüngern entstand ein tiefes Vertrauen zu ihm.

In Judäa

Das erste Passahfest. Reinigung des Tempels

Danach stieg er hinab nach Kapernaum, er selbst und 12 seine Mutter und seine Brüder und Jünger. Dor t blieben sie nur wenige Tage. Das Passahfest der Juden stand nahe bevor. 13 U n d Jesus zog hinauf nach Jerusalem. Dor t fand er im Tem- 14 pel die Händler, welche Ochsen, Lämmer und Tauben ver­kauften, dazu die Wechsler an ihren Tischen. U n d er flocht 15 aus Stricken eine Geißel und trieb sie damit alle aus dem Tempel hinaus samt den Lämmern und Ochsen. Die Geldkä­sten der Wechsler schüttete er aus und stieß ihre Tische um. U n d zu den Taubenverkäufern sprach er: Schafft eure Tiere 16 fort und macht kein Kaufhaus aus dem Hause meines Vaters! Da erinnerten sich seine Jünger an das Schriftwort: »Der 17 Eifer u m dein Haus verzehrt mich.«

U n d die Juden traten ihm mit der Frage entgegen: Wel- 18 ches Zeichen kannst du tun, u m zu beweisen, daß du ein Recht hast, so zu handeln? Jesus antwortete: Brecht diesen 19 Tempel ab, und in drei Tagen will ich ihn neu errichten. Da 20 sprachen die Juden: Sechsundvierzig Jahre lang ist an diesem Tempel gebaut worden, und du willst ihn in drei Tagen bauen? Er aber hatte von dem Tempel seines Leibes gespro- 21 chen. Später, als er vom Tode auferstanden war, erinnerten 22 sich seine Jünger an dieses Wort und schöpften Glaubenssi­cherheit aus der Schrift und aus dem Wort , das Jesus gespro­chen hatte.

Nachtgespräch mit Nikodemus

Während er zum Passahfeste in Jerusalem weilte, gewan- 23 nen viele Vertrauen zu seinem Namen, indem sie die Zei-

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JOHANNESEVANGELIUM 3

24 chen, die er tat, sahen. Jesus selbst aber vertraute sich ihnen 25 nicht an. Er erkannte alle Menschen und bedurfte dessen

nicht, daß jemand ihm das Wesen des Menschen bekundete. Vor seinem Erkennen lag das Innere des Menschen offen da.

3 Nun gab es einen Menschen, der dem Orden der Pharisäer angehörte; sein Name war Nikodemus; er bekleidete unter

2 den Juden einen hohen Rang. Er kam zu ihm im Nachtbe­reich und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, daß du als ein Lehrer von Gott gekommen bist; denn kein Mensch kann solche Geisteszeichen tun wie du, wenn nicht Gott selbst in

3 seinen Taten wirksam ist. Jesus antwortete: Ja, ich sage dir: Wer nicht aus Weltenhöhen neugeboren wird, kann nicht das Reich Gottes schauen.

4 Da sprach Nikodemus: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er schon alt ist? Kann er noch einmal zurück­kehren in den mütterlichen Schoß, um neugeboren zu wer-

5 den? Jesus antwortete: Ja, ich sage es dir: Wer nicht die Neu­geburt erfährt aus des Wassers Bildekraft und aus dem wehenden Hauch des Geistes, kann keinen Zugang finden

6 zum Reiche Gottes. Was aus dem Erdenelement geboren wird, ist selbst nur irdischer Natur; was aber aus dem Atem

7 des Geistes geboren wird, ist selber wehender Geist. Wun­dere dich darüber nicht, daß ich zu dir sprach: Ihr müßt aus

8 den Höhen neugeboren werden. Der Wind weht, wo er will. Du hörst zwar sein Rauschen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht. So auch ist jeder, der aus dem Atem des Geistes geboren ist.

9 Da sprach Nikodemus: Wie kann man dahin gelangen? 10 Und Jesus antwortete: Du bist ein Lehrer unter den Führern 11 des Volkes und weißt das nicht? Ich sage dir, wahrlich: Wir

sprechen aus, was wir wissen, und zu dem bekennen wir uns, was wir geschaut haben. Aber ihr nehmt unser Zeugnis nicht

12 an. Wenn ich zu euch über irdische Dinge sprach, so schenk­tet ihr mir kein Vertrauen; wie wollt ihr mir vertrauen, wenn

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JOHANNESEVANGELIUM 3

ich über himmlische Dinge zu euch spreche? Es ist noch kei- 13 ner in die Geisteswelt emporgestiegen, der nicht auch aus der Geisteswelt herabgestiegen ist; das ist der Menschensohn. U n d wie Moses in der Wüste die Schlange aufgerichtet hat, 14 so muß der Menschensohn aufgerichtet werden, damit jeder, 15 der seine Kraft im Herzen fühlt, Anteil gewinnt an dem zeit­losen Leben. Damit hat der väterliche Weltengrund den 16 Menschen seine Liebe erwiesen, daß er ihnen den aus ihm al­lein geborenen Sohn hingab. Hinfort soll keiner mehr zugrunde gehen, der sich mit seiner Kraft erfüllt; er soll viel­mehr Anteil gewinnen an dem zeitlosen Leben. Nicht, u m 17 die Menschen zu richten, hat der Vater den Sohn in die Welt gesandt, sondern u m sie zu retten. Wer sich mit seiner Kraft 18 erfüllt, wird vor keinen Richter gestellt. Wer sich aber seiner Kraft verschließt, ist schon gerichtet, weil er kein Vertrauen gefaßt hat zum Wesen und der Kraft des aus der Einheit gebo­renen Sohnes Gottes. Das ist bereits das Weltgericht, daß das 19 Licht in die Welt gekommen ist und daß die Menschen die Finsternis mehr liebten als das Licht; denn ihre Taten dienten dem Bösen. Jeder, der mit seinen Taten dem vergänglichen 20 Wesen hingegeben ist, wird zum Gegner des Lichtes. Er wendet sich dem Licht nicht zu, damit sich das wahre Wesen seines Handelns nicht enthüllt. Wer aber mit seinen Taten 21 dem wahren Wesen dient, gelangt zum Lichte hin. An seinen Taten wird leuchtend offenbar, daß sie im Geistgebiete volle Wirklichkeit besitzen.

Das letzte Zeugnis des Täufers

Danach kamen Jesus und seine Jünger in das judäische 22 Land. Dor t verweilte er mit ihnen und taufte. Auch Johannes 23 taufte; er wirkte zu Ainon, nahe bei Salim, denn dort gab es viel Wasser, und die Menschen kamen zu ihm und ließen sich

taufen. Noch hatte man Johannes nicht in den Kerker gewor- 24 fen. Da entstand ein Streitgespräch zwischen den Jüngern des 25

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JOHANNESEVANGELIUM 4

26 Johannes und den Juden über den Weg der Läuterung. Und sie kamen zu Johannes und sprachen zu ihm: Meister, der, der zu dir kam drüben am Jordan, zu dem du dich bekanntest,

27 siehe er tauft, und alle k o m m e n zu ihm. Johannes antwortete: Kein Mensch kann etwas an sich reißen, was ihm nicht aus

28 der höheren Welt gegeben wird. Ihr selbst könnt mir bezeu­gen, daß ich gesagt habe: Ich bin nicht der Christus, sondern

2y vor ihm hergesandt. Wer die Braut hat, der ist der Bräuti­gam. Der Freund aber des Bräutigams, der dabeisteht und ihm zuhört, er ist voll großer Freude über die St imme des

30 Bräutigams. Diese meine Freude ist nun erfüllt. Er muß 31 wachsen; ich aber muß abnehmen. Der von oben kommt ,

überragt alle andern. Der von der Erde ist, dessen Wesen ist irdisch, und seine Worte sind erdgebunden. Der aus der H im-

32 melswelt Kommende überragt alle andern. Was er gesehen und gehört hat, davon legt er Zeugnis ab; aber niemand

33 n immt sein Zeugnis an. Wer aber sein Zeugnis annimmt, der 34 besiegelt damit, daß Gott die Wahrheit ist. Denn der von

Gott Gesandte spricht Worte, die vom Geist durchdrungen sind. Er spendet das Geistige nicht in abgemessener Form.

35 Der Vater liebt den Sohn und hat alles Sein in seine Hand 36 gegeben. Wer sich dem Sohn vertraut, der hat das zeitlose

Leben. Wer dem Sohne nicht vertraut, wird das wahre Leben nicht schauen. Der Zorn Gottes bleibt über ihm.

In Samarien

Mittagsgespräch mit der Samariterin

4 Damals nahm der Herr wahr, wie unter den Pharisäern

das Gerücht umging, Jesus gewinne und taufe mehr Jünger 2 als Johannes. In Wirklichkeit taufte Jesus selber nicht, wohl 3 aber seine Jünger. Daraufhin verließ er Judäa und zog wieder

4 • 5 nach Galiläa. Dabei mußte er Samarien durchqueren und

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kam in eine samaritanische Stadt namens Sichar, nahe bei dem Gelände, das Jakob seinem Sohn Joseph geschenkt hatte. Dor t war auch der Jakobsbrunnen. Jesus war müde von der 6 Wanderung und setzte sich auf den Brunnenrand. Es war um die Mittagsstunde.

D a k o m m t eine samaritanische Frau, u m Wasser zu 7 schöpfen. U n d Jesus spricht zu ihr: Gib mir zu trinken! Seine 8 Jünger waren fortgegangen, u m in der Stadt zu kaufen, was zum Essen nötig war. Da sagt die samaritanische Frau zu 9 ihm: Wie kannst du als Jude von mir, einer Samaritanerin, einen Trunk erbitten? Die Juden mieden nämlich jeden U m g a n g mit den Samaritanern. Jesus antwortete: Wüßtest 10 du etwas von der Kraft, die Gott uns gibt, und kenntest du den, der zu dir spricht: gib mir zu trinken, du würdest ihn bitten, und er würde dir das Wasser des Lebens geben. Da u spricht sie: Herr, du hast nichts zum Schöpfen, und der Brun­nen ist tief. Woher willst du das lebendige Wasser nehmen? Bist du denn größer als unser Vater Jakob, der uns diesen 12 Brunnen gab und selbst mit seinen Söhnen und seinen Her­den daraus trank? Jesus antwortete ihr: Jeden, der von diesem 13 Wasser trinkt, wird von neuem dürsten. Wer aber von dem 14 Wasser trinkt, das Ich ihm gebe, dessen Durst wird für diese Weltenzeit gestillt. Das Wasser, das Ich ihm gebe, wird in ihm zu einem Quell des Wassers werden, das in das wahre Leben strömt. Da spricht die Frau zu ihm: Herr , gib mir die- j 5 ses Wasser, damit mich nie mehr dürste und ich nicht mehr herzukommen brauche, u m zu schöpfen.

Er sagt zu ihr: Geh, rufe deinen Mann, und k o m m dann 16 wieder her. Da sprach die Frau: Ich habe keinen Mann. Jesus 17 spricht: Du sagst mit Recht, du habest keinen Mann. Fünf 18 Männer hattest du, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann. Du hast also wahr gesprochen. Da spricht die Frau zu 19 ihm: Herr, nun sehe ich, daß du ein Prophet bist. Unsere 20 Väter haben auf diesem Berge angebetet; ihr aber sagt, nur in

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JOHANNESEVANGELIUM 4

2i Jerusalem sei die Stätte der Anbetung. Jesus antwortet: O Weib, vertraue mir: Es k o m m t die Stunde, da ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem dem Vater euren Dienst ver-

22 richten werdet. Eure Anbetung gilt einem Wesen, das sich eurem Bewußtsein entzieht. Unser gottesdienstliches Leben geht mit dem erkennenden Bewußtsein Hand in Hand. Des­halb mußte sich unter den Juden das Heil der Menschheit

23 vorbereiten. Einmal k o m m t eine Stunde, und sie ist schon da, dann werden die wahren Gottes verehr er den Vater mit der Kraft des Geistes und in der Erkenntnis der Wahrheit anbeten. U n d der Vater verlangt nach den Menschen, die ihn

24 auf diese Weise anbeten. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen es mit der Kraft des Geistes und in der Erkenntnis der

25 Wahrheit tun. Da sagt die Frau zu ihm: Ich weiß, daß der Messias kommt , den man den Christus nennt. Wenn er

26 kommt , so wird er uns alles verkünden. Jesus sagt zu ihr: Ich bin es, der mit dir spricht.

27 Währenddessen kamen seine Jünger zurück und wunder­ten sich, daß er mit dem Weibe sprach. Aber keiner fragte:

2S Was willst du von ihr, und warum sprichst du mit ihr? Da ließ die Frau ihren Wasserkrug stehen, ging in die Stadt und sprach

29 zu den Leuten: Kommt , ich will euch einen Menschen zeigen, der mir alles, was ich getan habe, gedeutet hat. O b er

30 wohl der Christus ist? Und so strömten die Leute aus der Stadt zu ihm hin.

31 Mittlerweile forderten seine Jünger ihn auf: Meister, iß! 32 Aber er antwortete ihnen: Ich habe eine Speise, u m davon zu 33 zehren, die ihr nicht kennt. Da sprachen die Jünger unterein-34 ander: Hat ihm denn jemand etwas zu essen gebracht? Jesus

antwortete: Meine Speise ist es, aus dem Willen dessen zu wirken, der mich gesandt hat, und sein Werk zu vollenden.

35 Sagt ihr nicht, in vier Monaten k o m m e die Zeit der Ernte? Siehe, ich sage euch, erhebet eure schauenden Seelen! Ihr werdet die Felder sehen, die jetzt schon leuchtend weiß und

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reif zur Ernte sind. Schon lohnt sich des Schnitters Arbeit, die 30 Früchte einzusammeln, die das zeitlose Leben in sich tragen. Miteinander sollen sich freuen der, der gesät hat, und der, der erntet. Das ist der wahre Sinn des Wortes, daß der eine sät 37 und der andere erntet. Ich habe euch ausgesandt, um die 38 Ernte einzubringen, für die ihr keine Arbeit geleistet habt. Andere haben die Arbeit getan, und ihr tretet nun in ihre Arbeit ein.

Viele Samaritaner aus jener Stadt faßten Vertrauen zu ihm 39 auf das Wort hin, mit dem die Frau sich für ihn einsetzte: Er hat mir alles, was ich getan habe, gedeutet. Als nun die Sama- 40 ritaner zu ihm kamen, baten sie ihn, bei ihnen zu bleiben. U n d er blieb zwei Tage dort. U n d immer mehr Menschen 41 gewannen Vertrauen zu ihm aufgrund seiner Lehre und spra- 42 chen zu dem Weibe: Jetzt gründet sich unser Vertrauen nicht mehr nur auf dein Wort. Jetzt haben wir ihn selber gehört und wissen: Er ist wirklich der Christus, er bringt das Heil für die ganze Welt.

In Galiläa

Zweite Zeichentat: Die Heilung des Sohnes eines königlichen Beamten

Nach den beiden Tagen zog er weiter nach Galiläa. Jesus 43 • 44 selbst hat bestätigt, daß ein Prophet in der eigenen Heimat nicht geschätzt wird. Als er nun nach Galiläa kam, fand er 45 Aufnahme bei den Galiläern, die in Jerusalem, wohin sie zum Osterfest gezogen waren, seine Taten miterlebt hatten.

U n d er kam wieder nach Kana in Galiläa, w o er das Was- 40 ser in Wein verwandelt hatte. Dor t war ein königlicher 47 Beamter, dessen Sohn in Kapernaum krank lag. Als er hörte, daß Jesus von Judäa nach Galiläa gekommen sei, ging er zu ihm und bat ihn, hinabzukommen und seinen Sohn, der bereits im Sterben lag, zu heilen. Jesus erwiderte ihm: Wenn 48 ihr keine Zeichen und Wundertaten seht, so habt ihr kein

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JOHANNESEVANGELIUM 5

49 Vertrauen. Da sprach der königliche Beamte zu ihm: Herr, so k o m m herab, ehe mein Kind stirbt! Da sprach Jesus: Gehe

hin, dein Sohn lebt! U n d der Mensch vertraute auf das Wort , ! i das Jesus zu ihm sprach, und ging hin. Als er unterwegs war,

kamen ihm seine Diener mit der Botschaft entgegen, sein 52 Knabe sei wieder am Leben. Als er sie nach der Stunde fragte,

da die Wendung eingetreten sei, antworteten sie ihm: 53 Gestern um die siebte Stunde verließ ihn das Fieber. Da

erkannte der Vater, daß es dieselbe Stunde war, in der Jesus zu ihm sprach: Dein Sohn lebt. U n d er fühlte sich ganz von der Kraft des Glaubens erfüllt, er selbst und sein ganzes Haus.

54 Diese zweite Zeichentat vollbrachte Jesus, als er von Judäa nach Galiläa kam.

In Judäa

Auf dem Laubhüttenfest. Dritte Zeichentat: Die Heilung des Gelähmten

D Ein jüdisches Fest stand bevor, und Jesus zog hinauf nach 2 Jerusalem. In Jerusalem gab es am Schaftor einen Teich, der 3 hieß auf hebräisch Bethesda, mit fünf Hallen. In ihnen lagen

viele Kranke, Blinde, Lahme, Verkrüppelte und Entkräftete,

4 wartend, daß das Wasser in Bewegung geriete. Denn zu bestimmten Zeiten fuhr ein Engel mit seinem Kräftewesen in den Teich, so daß das Wasser emporwallte. Der erste nun, der nach dem Emporwallen des Wassers hineinstieg, wurde

$ geheilt, gleichviel welche Krankheit ihn auch plagte. Unter den Kranken befand sich nun ein Mensch, der bereits seit acht­

re unddreißig Jahren an seiner Krankheit litt. Als Jesus ihn dort liegen sah und innewurde, daß er schon so lange krank war,

7 sprach er zu ihm: Hast du den Willen, gesund zu werden? Da antwortete der Kranke: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich, wenn das Wasser emporwallt , in den Teich hinunter­trägt. Und bis ich selbst h inkomme, steigt immer schon ein

s anderer vor mir hinein. Jesus sprach zu ihm: Steh auf, n i m m

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JOHANNESEVANGELIUM 5

dein Lager und geh! U n d auf der Stelle wurde der Mensch 9 gesund, nahm sein Lager auf und ging.

N u n war aber dieser Tag ein Sabbat, und so sprachen die 10 Juden zu dem Geheilten: Heute ist Sabbat, und da ist es nicht erlaubt, daß du dein Bett trägst. Er aber erwiderte: Der mich n gesund gemacht hat, sprach zu mir: N i m m dein Lager auf und geh! U n d sie fragten ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir 12 sprach: N i m m und geh? Der Geheilte wußte nicht, wer es 13 war. Jesus war der Volksmenge ausgewichen, die sich an jenem Ort befand. Später fand Jesus ihn im Tempel und 14 sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden. Sündige fer­ner nicht, damit nicht ein noch schwereres Schicksal dich treffe! Da ging der Mensch hin und sprach zu den Juden, Jesus t$ sei es, der ihn geheilt habe. U n d die Juden fingen an, Jesus 16 nachzustellen, weil er das an einem Sabbat getan hatte.

Das Wirken des Vaters und das Wirken des Sohnes

Da trat er ihnen selbst entgegen und sprach: Der Vater 17 wirkt bis jetzt, und ich wirke auch. Die Juden waren nur 18 u m so mehr darauf bedacht, ihn zu töten; er hatte jetzt nicht nur den Sabbat entheiligt, sondern sogar Gott als seinen eig­nen Vater bezeichnet und sich dem Vater gleichgestellt. U n d 19 Jesus trat vor sie hin und sprach: Ja, ich sage euch: Der Sohn kann von sich aus nichts tun, als was er den Vater tun sieht. Was der Vater tut, das tut der Sohn ihm nach. Denn der Vater 20 hat den Sohn lieb und zeigt ihm all sein Wirken, und er wird ihm noch größere Werke zeigen, so daß ihr voll Staunen sein werdet. Denn wie der Vater die Toten auferweckt und leben- 21 dig macht, so macht auch der Sohn diejenigen lebendig, wel­che er will. Der Vater fällt über niemand die Entscheidung. 22 Er hat vielmehr alle Schicksalsentscheidung dem Sohne übertragen. Alle sollen den Sohn ehren, so wie sie den Vater 43 ehren. U n d wer den Sohn nicht ehrt, der ehrt auch den Vater nicht, der ihn gesandt hat. Ja, ich sage euch: Wer das Wort 24

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JOHANNESEVANGELIUM 5

hört, das ich spreche, und auf den vertraut, der mich gesandt hat, der hat das zeitlose Leben. Ihn trifft die große Entschei­dung nicht; er ist bereits vom Tod zum Leben durchgedrun-

25 gen. Ja, so ist es: Es kommt die Stunde, und sie ist schon da, da die Toten den Ruf des göttlichen Sohnes hören werden, und die ihn hören, werden Träger des wahren Lebens sein.

26 So wie der Vater das Leben der Welt trägt in seinem Wesen, so hat er auch dem Sohne die Macht gegeben, das Leben der

27 Welt in seinem Wesen zu tragen. Und damit hat er ihm, weil er zugleich der Sohn des Menschen ist, die Vollmacht über-

28 geben, die Entscheidung über das Schicksal zu treffen. Ver­wundert euch nicht: Schon kommt die Stunde, da alle, die in

29 den Gräbern liegen, seinen Ruf vernehmen werden. Die Vollbringer des Guten werden daraus hervorgehen zur Auf­erstehung des Lebens; die aber, deren Taten unbrauchbar

jo waren, zur Auferstehung des Gerichts. Ich kann aus mir selbst nichts tun; nach dem, was ich im Geistgebiet ver­nehme, entscheide ich, und meine Entscheidung ist gerecht. Denn nicht, meinen Willen zu erfüllen, strebe ich, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.

Zeugnis für den Sohn

31 Träte ich nur auf als Zeuge für mich selber, so wäre mein 32 Zeugnis ohne Wahrheit. Aber es ist ein anderer, der für mich

zeugt, und ich weiß, daß das Zeugnis, mit dem er für mich 33 eintritt, volle Wahrheit besitzt. Ihr habt Boten zu Johannes 34 gesandt, und er hat ein gültiges Zeugnis abgelegt. Mir aber

genügt ein menschliches Zeugnis nicht, denn ich will, daß ihr 35 durch mein Wort den Weg zum Heile findet. Jener war die

brennende und scheinende Leuchte, und ihr wolltet weiter

36 nichts, als euch eine Zeitlang wohlfühlen in diesem Licht. Ein gewichtigeres Zeugnis steht mir zur Verfügung als das des Johannes. Die Werke, deren Vollendung der Vater mir über­tragen hat, die Werke, die ich vollbringe, sie bezeugen für

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JOHANNESEVANGELIUM 6

mich, daß der Vater mich gesandt hat. U n d so zeugt der 37 Vater, der mich gesandt hat, selber für mich. Ihr habt nie seine Stimme gehört oder seine Gestalt geschaut; das Welten- 38 wort , das von ihm ausgeht, wohnt nicht in eurer Seele, denn ihr öffnet euer Herz dem nicht, den er gesandt hat. Ihr durch- 39 forschet die heiligen Schriften, weil ihr meint, in ihnen die Kraft des ewigen Lebens zu haben. Sie sind es, die für mich zeugen. Aber euer Wille führt euch nicht zu mir, wo ihr das 40 wahre Leben finden könnt.

Ich stütze mich nicht auf die Meinung der Menschen. Ich 41 • 42 habe selbst erkannt, daß in euren Seelen keine Liebe zu Gott ist. Ich bin gekommen im Namen meines Vaters, und ihr 43 nehmt mich nicht auf. Wenn aber ein anderer in seinem eig­nen Namen kommt , so werdet ihr ihn aufnehmen. Wie 44 könnt ihr zum Glauben kommen, solange ihr an den mensch­lichen Ehren hängt, die ihr untereinander austauscht, statt nach der Lichtgestalt eures höheren Wesens zu streben, die nur in der göttlichen Welt zu finden ist?

Meint nicht, ich würde euer Ankläger sein vor dem Vater. 45 Euer Ankläger ist Moses, auf den ihr eure Hoffnung setzt. Würdet ihr wirklich auf Moses vertrauen, so würdet ihr auch 46 mir vertrauen: denn von mir hat er geschrieben. Vertraut ihr 47 seinen Schriften nicht, wie werdet ihr meinen Worten ver­trauen?

In Galiläa

Vor dem zweiten Passahfest. Vierte Zeichentat: Die Speisung der Fünftausend

Danach begab sich Jesus weit fort an das galiläische Meer D bei Tiberias. Eine große Schar von Menschen folgte ihm, 2 weil sie die Geisteszeichen gesehen hatten, die er an den Kranken tat. Und Jesus ging auf einen Berg und setzte sich 3 dort mit seinen Jüngern nieder. Das Passahfest, das Osterfest 4 der Juden, stand nahe bevor. Als nun Jesus seine Augen zur 5

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JOHANNESEVANGELIUM 6

Schau des Geistes erhob und eine große Volksmenge sah, die zu ihm strömte, sprach er zu Philippus: Wo können wir

6 Brote kaufen, damit sie zu essen haben? Das fragteer, um ihn auf die Probe zu stellen. Er selbst wußte, was er tun würde.

7 Philippus antwortete: Für zweihundert Denare Brot würde für sie nicht ausreichen, selbst wenn jeder nur ganz wenig

8 bekäme. Da sprach einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder 9 des Simon Petrus zu ihm: Hier ist ein Knabe, der hat fünf

Gerstenbrote und zwei gare Fische. Aber was bedeutet das

io angesichts einer so großen Schar? Jesus sprach: Lasset die Menschen sich lagern! Es gab viel grünes Gras an jenem Ort . U n d so lagerten sie sich, an Zahl ungefähr fünftausend

ii Mann. N u n nahm Jesus die Brote, sprach die Segensworte darüber und teilte sie aus an die im Kreise Lagernden; das gleiche tat er mit den Fischen; jeder empfing davon, soviel er

T2 wollte. Als sie gesättigt waren, sprach er zu seinen Jüngern: Sammelt die übriggebliebenen Brocken, damit nichts verlo-

13 rengehe! U n d sie sammelten zwölf Körbe voll Brocken, die beim Essen von den fünf Gerstenbroten übriggeblieben

14 waren. Als nun die Menschen das Zeichen sahen, das er getan hatte, sprachen sie: Dieser ist wirklich der Prophet, der in die

is Welt kommen soll. Da Jesus erkannte, daß sie im Begriffe waren, sich seiner zu bemächtigen und ihn zum König auszu­rufen, entwich er von neuem auf den Berg, er für sich allein.

Fünfte Zeichentat: Das Wandeln auf dem Meer

16 Da der Abend hereingebrochen war, gingen seine Jünger 17 hinunter zum Ufer, stiegen in das Schiff und begannen die

Fahrt über das Meer nach Kapernaum. Es war schon finster geworden, und Jesus war noch nicht zu ihnen gekommen.

18 Das Meer wurde durch einen heftigen Wind mächtig 19 bewegt. Als sie ungefähr fünfundzwanzig oder dreißig Sta­

dien weit gefahren "waren, sahen sie Jesus auf dem Meere wandeln und nahe an das Schiff herankommen. U n d sie

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JOHANNESEVANGELIUM 6

waren voller Furcht. Er aber sprach zu ihnen: Ich Bin, furch- 20 tet euch nicht! Als sie ihn nun in das Schiff aufnehmen woll- 21 ten, war das Schiff sogleich am Lande, an der Stelle, w o sie hinwollten.

Ich Bin das Brot des Lebens

A m folgenden Tage sah das Volk, das noch am anderen 22 Ufer stand, daß es dort kein anderes Schiff gab als das eine. Sie wußten , daß Jesus nicht mit den Jüngern das Schiff bestie­gen hatte und daß die Jünger allein fortgefahren waren. Dann aber kamen andere Schiffe von Tiberias nahe an die 23 Stätte, w o die Speisung stattgefunden hatte mit dem vom Herrn gesegneten Brote. Als nun das Volk sah, daß weder 24 Jesus dort war noch seine Jünger, stiegen sie in ihre Schiffe und fuhren nach Kapernaum, um Jesus zu suchen. Und sie 25 fanden ihn auf der anderen Seite des Sees und sprachen zu ihm: Meister, wann bist du hierhergekommen? Jesus ant- 26 wortete ihnen: Ja, ich sage euch: Ihr sucht mich nicht, weil ihr Taten aus geistiger Kraft gesehen habt, sondern weil ihr von den Broten gegessen habt und satt geworden seid. Erwirket 27 euch nicht die vergängliche Speise, sondern die Speise, die dauernd ist und Anteil verleiht am unvergänglichen Leben. Der Menschensohn wird sie euch geben; ihm hat der Vater­gott sein Siegel aufgedrückt. Da sprachen sie zu ihm: Was 28 sollen wir tun, um im Wirken Gottes mitzuwirken? Jesus 29 antwortete: Das ist das göttliche Wirken, daß ihr auf den ver­traut, den Gott gesandt hat. U n d sie fragten weiter: An wel- 30 chem Zeichen, das du tust, können wir dein eigentliches Wesen sehen und Vertrauen zu dir fassen? Welches ist dein Wirken? Unsere Väter haben in der Wüste das Manna geges- 31 sen, wie es in der Schrift heißt: »Brot aus dem Himmel gab er ihnen zu essen.« Jesus antwortete ihnen: Ja, ich sage euch: 32 Nicht Moses hat euch das Brot aus dem Himmel gegeben, sondern mein Vater ist es, der euch das geistwirkliche Brot

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JOHANNESEVANGELIUM 6

33 aus dem Himmel gibt. Das ist das Brot Gottes, das vom Himmel herniedersteigt und der Welt das wahre Leben gibt.

H Da sprachen sie: Herr, gib uns dieses Brot zu jeder Zeit.

35 Jesus antwortete: Ich Bin das Brot des Lebens. Den, der zu mir kommt , wird nicht mehr hungern, und wer sein Ver-

36 trauen in mich setzt, den wird nicht mehr dürsten. Aber ich habe es euch schon gesagt: Ihr habt mich gesehen, und doch ist

37 euer Herz verschlossen geblieben. Alles, was der Vater mir gibt, wird den Weg zu mir finden. Und den, der zu mir

38 kommt, will ich nicht verstoßen. Ich bin vom Himmel her­niedergestiegen, nicht u m meinen Willen zu tun, sondern

39 den Willen dessen, der mich gesandt hat. U n d das ist der Wille dessen, der mich gesandt hat, daß ich nichts von alle­dem verliere, was er mir gegeben hat, sondern daß ich ihm

40 die Kraft der Auferstehung gebe am Ende der Zeiten. Das ist der Wille des Vaters, daß jeder, der den Sohn sieht und ihm vertraut, Anteil gewinnt am unvergänglichen Leben; und ich werde ihm die Kraft der Auferstehung geben am Ende der Zeiten.

41 Da wurden die Juden unwillig über ihn, weil er gesagt hatte: Ich bin das Brot, das vom Himmel herniedersteigt.

42 Und sie sprachen untereinander: Ist dieser nicht Jesus, der Sohn Josephs, dessen Vater und Mutter wir kennen? Wie kann er sagen: Ich bin vom Himmel herniedergestiegen?

43 Jesus aber trat ihnen entgegen und sprach: Murret nicht 44 untereinander! Keiner kann den Weg zu mir finden, wenn der

Vater, der mich gesandt hat, nicht bewirkt, daß er sich herge­zogen fühlt; und ich gebe ihm die Kraft der Auferstehung am

45 Ende der Zeiten. In den Büchern der Propheten steht geschrieben: »Sie werden alle Schüler Gottes selber sein.« Jeder findet den Weg zu mir, der das Wort und die Lehre des

46 Vaters empfangen hat. Niemand hat den Vatergott j e gese­hen außer dem, der selber aus dem väterlichen Weltengrunde

47 kommt: Er hat den Vater gesehen. Ja, ich sage euch: Wer

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JOHANNESEVANGELIUM 6

Glauben hat, der hat das unvergängliche Leben. Ich Bin das 48 Brot des Lebens. Eure Väter haben in der Wüste das Manna 49 gegessen und sind gestorben. Dieses ist das Brot, das vom 50 Himmel hcrniedcrsteigt. Wer davon ißt, der wird nicht ster­ben. Ich Bin das lebentragende Brot, das aus dem Himmel 51 herniedersteigt. Wer von diesem Brot ißt, wird leben durch alle Zeitenkreise. U n d das Brot, das Ich geben werde, das ist mein irdischer Leib, den ich für das Leben der Welt dahinge­hen werde. Da stritten diejuden untereinander und sprachen: 52 Wie kann er uns seinen irdischen Leib zu essen geben? Jesus 53 antwortete: Ja, ich sage euch: Wenn ihr nicht den irdischen Leib des Menschensohnes eßt und sein Blut trinkt, so habt ihr kein Leben in euch. Wer meinen irdischen Leib ißt und mein 54 Blut trinkt, der hat überzeitliches Leben, und ich gebe ihm die Kraft der Auferstehung am Ende der Zeiten. Denn mein 55 Fleisch ist die wahre Speise, und mein Blut ist der wahre Trank. Wer wirklich mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, 50 der bleibt in mir und ich in ihm. Wie mich der Vater, der das 57 Leben trägt, gesandt hat und wie ich das Leben trage durch des Vaters Willen, so wird auch der, der mich zu seiner Speise macht, durch mich das Leben in sich tragen. Dies ist das 58 Brot, das vom Himmel herniedersteigt. Es wird nicht wieder sein wie bei den Vätern, die davon aßen und starben. Wer dieses Brot ißt, der wird den ganzen Zeitenkreis hindurch leben. Das sprach er lehrend in der Synagoge zu Kaperna- 59 um.

Scheidung im Jüngerkreis und Bekenntnis des Petrus

Viele von seinen Jüngern, die das hörten, sprachen: Diese 60 Rede ist hart und schwer, wer kann sie verstehen? Jesus nahm 61 wahr, daß seine Jünger nicht damit zurechtkamen, und

sprach zu ihnen: Nehmet ihr Anstoß daran? Was werdet ihr 62 sagen, wenn ihr den Menschensohn wieder emporsteigen seht dorthin, wo er vorher war? Der Geist ist es, der das 63

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JOHANNESEVANGEL1UM 7

Leben spendet, das Physische allein hilft nichts. Die Worte, 64 die ich zu euch sprach, sind Geist und sind Leben. Aber es

sind einige unter euch, die kein Vertrauen haben. Jesus wußte ja von Anfang an, wer ihm vertrauen und wer ihn verraten

65 würde. Und er fuhr fort: Da rum habe ich zu euch gesagt: Keiner kann den Weg zu mir finden, wenn es ihm nicht vom

66 Vater gegeben wird. Daraufliin zogen sich viele von seinen Jüngern zurück und gingen nicht mehr mit ihm.

67 Da sprach Jesus zu den Zwölfen: Wollt ihr mich auch ver-68 lassen? Und Simon Petrus antwortete ihm: Herr, zu wem

sollten wir denn gehen? Du hast Worte voll unvergänglichen 69 Lebens. Wir haben mit dem Herzen wahrgenommen und mit 70 dem Denken erkannt, daß du der Heilige Gottes bist. U n d

Jesus sprach zu ihnen: Habe ich nicht euch als die Zwölf erwählt? U n d doch ist einer unter euch ein Widersacher.

71 Damit meinte er Judas, den Sohn Simons des Iskarioten. Dieser war es, der ihn verraten wollte, einer von den Zwölfen.

In Judäa

Das zweite Laubhütlenfest. Der Gatig nach Jerusalem

/ Danach wanderte Jesus durch Galiläa. Er mied Judäa, weil 2 die Juden ihm nach dem Leben trachteten. Das jüdische 3 Laubhüttenfest stand nahe bevor. Da sprachen seine Brüder

zu ihm: Mach dich auf und gehe nach Judäa und laß deine

4 Jünger offen die Taten sehen, die du tust. Es kann doch nie­mand daran hegen, in der Verborgenheit zu wirken, wenn er vor der Öffentlichkeit stehen möchte. Wenn du schon solche

5 Taten tust, so zeige dich damit der Welt! Seine Brüder spra-6 chen so, weil sie kein Vertrauen zu ihm hatten. Aber Jesus

antwortete ihnen: Meine Zeit ist noch nicht gekommen. Für

7 euch ist jede Zeit recht. Euch können die Menschen nicht hassen; mich aber hassen sie; denn durch mich wird offen-

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JOHANNESEVANGELIUM 7

kundig, daß ihr Tun und Treiben den Gegenmächten dient. Ihr möget hinaufgehen zum Fest; ich aber ziehe zu diesem s Fest noch nicht hinauf; denn für mich ist die Zeit noch nicht erfüllt. So sprach er zu ihnen und blieb in Galiläa. 9

Als nun seine Brüder zum Feste hinaufgezogen waren, to zog auch er hinauf, jedoch nicht leiblich sichtbar, sondern auf verborgene Weise. Die Juden suchten ihn auf dem Fest und n sprachen: Wo ist er? Und viel Raunen über ihn ging durch die 12 Menge. Die einen sagten: Er ist gut. Andere dagegen spra­chen: Nein, er ist ein Verführer des Volkes. Keiner jedoch 13 wagte es, öffentlich über ihn zu sprechen, aus Furcht vor den Juden.

Sein Wirken auf dem Fest

Als die Mitte der Festwoche gekommen war, stieg Jesus 14 empor in den Tempel und lehrte. Da verwunderten sich die 15 Juden und sprachen: Wie kommt es, daß er die Schriften beherrscht, da er sie doch nicht studiert hat? Da trat Jesus 16 ihnen entgegen und sprach: Die Lehre, die ich verkündige, ist nicht von mir, sondern von dem, der mich gesandt hat. Wer 17 sich im Wollen und Tun mit seinem Willen erfüllt, der wird erkennen, ob die Lehre aus göttlicher Quelle fließt oder ob ich nur aus mir selber spreche. Wer nur von sich aus spricht, 18 sucht die Verherrlichung des eignen Wesens. Und nur, wer den zur Offenbarung bringen will, der ihn gesandt hat, ist ein Bringer der Wahrheit und ist ohne Verfälschung in seinem Wesen. Hat Moses euch nicht das Gesetz gegeben? Und doch iy handelt keiner von euch wirklich nach dem Gesetz. Warum seid ihr darauf aus, mich zu töten? Da antwortete die Menge: 20 Du bist von einem Dämon besessen. Wer will dich denn töten? U n d Jesus fuhr fort: Eine einzige Tat habe ich getan, 21 und ihr seid darüber verwundert . Moses hat euch die 22 Beschneidung gegeben — ich meine nicht, daß sie von Moses herrührt, sie geht ja auf die Väter zurück—, und so beschnei-

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JOHANNESEVANGELIUM 7

23 det ihr die Menschen am Sabbat. Wenn nun der Mensch am Sabbat die Beschneidung empfängt, damit das Gesetz des Moses nicht ungültig werde, warum seid ihr denn darüber empört, daß ich am Sabbat den ganzen Menschen gesund

24 gemacht habe? Hör t auf, nach dem äußeren Schein zu urtei­len, geht vielmehr den Dingen auf den Grund und bildet dann euer Urteil.

25 Da sprachen einige aus Jerusalem: Ist das nicht der, den sie 26 töten wollen? Siehe, er spricht in aller Öffentlichkeit, und

keiner tritt ihm entgegen. Sind etwa die Obersten wirklich zu

27 der Erkenntnis gekommen, daß er der Christus ist? Wir ken­nen ihn doch und wissen, woher er ist. Wenn aber der Chri-

28 stus kommt , so weiß niemand, woher er ist. Da erhob Jesus, der im Tempel lehrte, seine Stimme und rief: Ihr sagt, daß ihr mich kennt und daß ihr wißt, woher ich bin. Ich komme aber nicht in meinem eignen Auftrag: Derjenige, der die Wahrheit

29 selber ist, der hat mich gesandt. Ihr kennt ihn nicht. Ich aber kenne ihn, denn von ihm k o m m e ich her; er hat mich

30 gesandt. Da versuchten sie, ihn zu greifen; aber keiner ver­mochte Hand an ihn zu legen, denn seine Stunde war noch nicht gekommen.

Der Verhaftungsplan der Hohenpriester und Pharisäer

31 Viele aus der Volksmenge gewannen Vertrauen zu ihm; sie sprachen: Kann der Christus, wenn er k o m m t , noch grö-

32 ßere Geistestaten tun als er? Die Pharisäer hörten, daß man in der Menge so über ihn dachte und sprach, und die Hohen­priester und Pharisäer sandten ihre Diener aus, um ihn in ihre

33 Gewalt zu bringen. Da sprach Jesus: Nur noch eine kurze Zeit werde ich bei euch sein. Dann gehe ich zu dem, der mich

34 gesandt hat. Ihr werdet mich suchen und nicht finden. 35 Dahin, w o ich bin, könnt ihr nicht gelangen. U n d diejuden

sprachen untereinander: Wohin mag er gehen, daß wir ihn dort nicht sollen finden können? Vielleicht hat er vor, zu den

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JOHANNESEVANGELIUM 7

Juden in den griechischen Ländern zu gehen und die Griechen selbst zu lehren. Was mag er meinen mit dem Wort: Ihr wer- 36 det mich suchen und nicht finden; wo Ich sein werde, dahin könnt ihr nicht gelangen?

A m letzten, dem großen Tage des Festes stand Jesus da 37 und rief laut: Wer durstig ist, der k o m m e zu mir und trinke! Wer sich im Glauben mit meiner Kraft erfüllt, von dessen 38 Leibe sollen, wie die Schrift sagt, Ströme v o m Wasser des Lebens ausgehen. Mit diesem Worte deutete er auf den Geist, 39 den die empfangen sollten, die sich im Glauben mit ihm ver­binden würden. Aber noch wirkte dieser Geist nicht, denn Jesus hatte seine Geistgestalt noch nicht offenbart. Einige aus 40 der Menge, die diese Worte gehört hatten, sprachen: Er ist wirklich der Prophet. Andere sprachen: Er ist der Christus. 41 Wieder andere entgegneten: Kann denn der Christus aus Galiläa kommen? Sagt die Schrift nicht, daß der Christus aus 42 dem Samen Davids und aus Bethlehem, der Stadt Davids, k o m m e n soll? Und so entstand u m seinetwillen eine Spal- 43 tung unter der Menge. Einige wollten ihn greifen, keiner 44 aber konnte Hand an ihn legen.

Spaltung im Hohen Rat.

Als nun die Diener zu den Hohenpriestern und Pharisäern 4.5 zurückkehrten, sprachen diese zu ihnen: Warum bringt ihr ihn nicht? Die Diener antworteten: Niemals hat ein Mensch 46 so gesprochen, wie dieser Mensch spricht. Da sprachen die 47 Pharisäer: So seid auch ihr bereits verführt? Hat sich ihm 48 denn je einer von den Führern des Volkes oder von den Phari­säern angeschlossen? N u r diese Volksmenge, die nichts vom 49 Gesetz versteht — verflucht sei sie! Da sprach Nikodemus zu 50 ihnen, der schon einmal zu ihm gekommen war und der zu ihrem Kreis gehörte: Erlaubt unser Gesetz ein Urteil über 51 einen Menschen, bevor man ihn angehört und seine Schuld festgestellt hat? U n d sie antworteten ihm: Bist du etwa auch 52

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JOHANNESEVANGBLIUM 8

aus Galiläa? Forschenach, und du wirst sehen, daß aus Galiläa 53 kein Prophet erstehen kann. Danach gingen alle heim.

Die Ehebrecherin

o 2 U n d Jesus ging auf den Ölberg. Als dann aber der nächste Tag heraufdämmerte, war er schon wieder im Tempel, und das Volk strömte zu ihm, und er setzte sich nieder und lehrte

3 sie. Da brachten die Schriftgelehrten und Pharisäer eine Frau herbei, die beim Ehebruch ergriffen worden war, und stell-

4 ten sie in ihre Mitte. Dann sprachen sie zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden.

5 Moses hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. 6 Was sagst du dazu? Das sagten sie, um ihn auf die Probe zu

stellen und u m einen Grund zur Anklage gegen ihn zu finden. Jesus jedoch beugte sich nur nieder und schrieb mit dem Fin-

7 ger in die Erde. Als sie nicht aufhörten, mit Fragen in ihn zu dringen, richtete er sich auf und sprach: Wer von euch von

8 der Sünde frei ist, der werfe als erster den Stein auf sie. Und 9 wieder beugte er sich nieder und schrieb in die Erde. Als sie

seine Worte gehört hatten, gingen sie, zuerst die Ältesten, einer nach dem anderen hinaus. Schließlich blieb er ganz

io allein zurück, und die Frau stand noch in der Mitte. Da rich­tete sich Jesus auf und sprach zu ihr: Weib, wo sind sie nun?

11 Verurteilt dich keiner? Sie sprach: Keiner, Herr. Da sprach Jesus: Ich verurteile dich auch nicht. Geh, und sündige von jetzt an nicht mehr!

Ich Bin das Licht der Weh

12 U n d Jesus begann von neuem, zu ihnen zu sprechen: Ich Bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht im Finstcrn wandeln, sondern das Licht haben, in welchem das

13 Leben ist. Da sprachen die Pharisäer zu ihm: Wie kannst du 14 dein eigener Zeuge sein? Dein Zeugnis ist ungültig. Jesus ant­

wortete ihnen: U n d wenn ich auch für mich selber zeuge, so

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JOHANNESEVANGELIUM 8

ist mein Zeugnis dennoch gültig; denn ich weiß, woher ich k o m m e und wohin ich gehe. Ihr aber wißt nicht, woher ich k o m m e und wohin ich gehe. Ihr urteilt nach dem äußeren 15 Menschen. Ich aber urteile über niemand. Und wenn ich 16 urteilte, so wäre mein Urteil gültig; denn ich bin nicht allein, sondern der ist bei mir, der mich gesandt hat. In eurem 17 Gesetz heißt es, daß das Zeugnis zweier Menschen gültig sei. Ich lege Zeugnis ab von mir, und der Vater, der mich gesandt 18 hat, zeugt auch für mich. Da sprachen sie zu ihm: Wo ist dein iy Vater? U n d Jesus antwortete: Ihr kennet weder mich noch meinen Vater. Kenntet ihr mich, so kenntet ihr auch meinen Vater. Diese Worte sprach er lehrend in der Schatzkammer 20 des Tempels. U n d keiner konnte ihn greifen, denn seine Stunde war noch nicht gekommen.

Abstammung von oben und von unten. Abraham und Christus

U n d er fuhr fort: Ich gehe nun, und ihr werdet mich 21 suchen, und in eurer Sünde werdet ihr dem T o d verfallen. Wohin ich gehe, dahin könnt ihr nicht gelangen. Da sprachen 22 die Juden: Will er sich etwa selber töten, daß er spricht: Wohin ich gehe, dahin könnt ihr nicht gelangen? U n d er 23 sprach zu ihnen: Ihr s tammt von unten her, mein Ich stammt von oben her. Ihr gehört zu dieser Welt, die vergeht, Ich aber s tamme nicht aus dieser Welt. Deshalb habe ich zu euch 24 gesagt: Ihr werdet in euren Sünden dem Tod verfallen. Wenn ihr euch nicht mit der Kraft meines Ich durchdringt, so wer­det ihr in euren Sünden dem Tod verfallen. Da sprachen sie 25 zu ihm: Wer bist du? U n d Jesus antwortete: Was rede ich überhaupt noch zu euch? Vieles hätte ich über euch zu sagen 26 und zu urteilen. Aber der, der mich gesandt hat, ist die Wahr­heit selbst, und so rufe ich das in die Welt hinein, was ich von ihm gehört habe. Aber sie verstanden nicht, daß er vom 27 Vatergotte zu ihnen sprach. U n d Jesus fuhr fort: Wenn ihr 28 den Menschensohn erhöhen werdet, so werdet ihr erkennen,

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JOHANNESEVANGELIUM 8

daß Ich bin der Ich-Bin und daß ich nichts von mir aus tue, 29 sondern das verkündige, was mich der Vater lehrt. Der, der

mich gesandt hat, wirkt mit in meinem Wirken. Er läßt mich nicht allein; was ich tue, ist jederzeit im Einklang mit ihm.

30 Durch diese Worte gewannen viele Vertrauen zu ihm. 31 U n d Jesus sprach zu den Juden, die Vertrauen zu ihm gewon­

nen hatten: Wenn ihr in meinem Wort leben und Dauer fin-32 den könnt, so seid ihr wirklich meine Jünger, und ihr werdet

die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch zur Frei-

33 heit führen. Da antworteten sie ihm: Wir sind Abrahams Same. Niemals sind wir die Knechte eines Menschen gewe­sen. Wie kannst du da sagen: Ihr werdet die Freiheit finden?

34 Jesus antwortete: Ja, ich sage euch: Jeder, der sündigt, ist ein 35 Sklave der Sünde. Der Sklave aber gehört nicht wirklich und

bleibend zum Hause hinzu. Der Sohn ist es, der wirklich und 36 bleibend zum Hause gehört. Wenn euch der Sohn die Freiheit 37 gibt, so werdet ihr wirklich frei sein. Ich weiß, daß ihr Abra­

hams Same seid. Aber ihr wollt mich töten, weil mein Wort 38 keinen Raum in euren Seelen findet. Was ich bei meinem

Vater geschaut habe, das verkündige ich. Ihr handelt ja auch nach dem, was ihr von eurem Vater vernommen habt.

39 Da antworteten sie ihm: Unser Vater ist Abraham. U n d Jesus sprach: Wenn ihr Abrahams Söhne seid, so tuet Abra-

40 hams Werke! Jetzt aber sucht ihr mich zu töten, mich, einen Menschen, der ich euch die Wahrheit verkündigt habe, so wie ich sie von Gott vernehme. So hat Abraham nicht gehan-

41 delt. Tut nur wirklich eures Vaters Werke! Da sprachen sie: Wir sind nicht aus unreiner Vermischung hervorgegangen.

42 Eigentlich haben wir nur einen Vater: Gott selbst. Jesus erwi­derte: Wäre Gott euer Vater, so würdet ihr mich lieben. Denn ich bin aus Gott hervorgegangen und gehe immerfort aus ihm hervor. Ich bin nicht in meinem eigenen Auftrag

43 gekommen, sondern er hat mich gesandt. Warum versteht ihr denn meine Sprache nicht? Ihr könnt euer Ohr meinem

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JOHANNESEVANGELIUM 8

Worte nicht auftun. Von dem Vater des Widersachers 44 stammt ihr, und nach dieses eures Vaters Begierden wollt ihr handeln. V o m Urbeginne her will er das Menschenwesen vernichten. Am -wahren Sein hat er keinen Anteil, weil das wahre Sein nicht in ihm ist. Wenn er den trügenden Schein verkündigt, so spricht er aus seinem eigenen Wesen; denn er ist der Bringer und Vater des Truges. Mir, der ich euch das 45 wahre Sein verkünde, vertraut ihr nicht. Wer von euch kann 46 mich denn einer Irrung überführen? Warum vertraut ihr nicht mir, der ich euch das wahre Sein verkünde? Wer aus 47 Gott ist, der vernimmt die Worte Gottes. Deshalb vernehmt ihr sie nicht, weil ihr nicht aus Gott seid.

Da entgegneten ihm die Juden: Haben wir nicht recht, 48 wenn wir sagen, du seist ein Samaritaner und von einem Dämon besessen? Jesus sprach: Mein Ich ist von Dämonen 49 frei; nichts als Verehrung des Vaters ist in mir; ihr aber ver-unehrt mich. Ich strebe nicht nach einer verklärenden Offen- 50 barung meines Wesens. Es gibt aber einen, der danach strebt und dadurch eine Entscheidung herbeiführen will. Ja, ich $1 sage euch: Wer mein Wort im Herzen trägt, der ist für alle Erdenzeiten vom Anblick des Todes befreit. Da sprachen die 52 Juden: Jetzt erkennen wir erst ganz deutlich, daß du von einem Dämon besessen bist. Abraham ist gestorben, und alle Propheten sind gestorben; und du sprichst: Wer sich an mein Wort hält, der wird den Tod für alle Zeiten nicht mehr schmecken. Bist du denn größer als unser Vater Abraham, $3 der gestorben ist? U n d als die Propheten, die auch gestorben sind? Für wen hältst du dich denn? Jesus antwortete: Wollte 54 ich selbst mein Wesen offenbaren, so wäre diese Offenba­rung wertlos. Aber es ist der Vater, der mich offenbart. Ihr nennt ihn zwar unseren Gott, aber ihr kennt ihn nicht. Ich 55 aber kenne ihn. Würde ich sagen, daß ich ihn nicht kennte, so wäre ich wie ihr dem Trug verfallen. Aber ich kenne ihn und trage seines Wortes Kraft in mir. Abraham, euer Vater, hat 56

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JOHANNESEVANGELIUM 9

darüber frohlockt, daß er den Tagesanbruch meines Ichwe­sens sollte schauen dürfen. Und er hat ihn voller Freude

57 geschaut. Da sprachen die Juden zu ihm: Du bist noch keine fünfzig Jahre alt und willst Abraham gesehen haben? U n d

58 Jesus antwortete: Ja, ich sage euch, von den Zeiten her, als Abraham noch nicht geboren war, bin ich als das Ich schon

59 dagewesen. Da hoben sie Steine auf, um sie gegen ihn zu schleudern. Jesus aber begab sich in das Verborgene und ver­ließ den Tempel.

Sechste Zeichental: Die Heilung des Blindgeborenen

7 Im Vorübergehen sah er einen Menschen, der von Geburt 2 an blind war. U n d seine Jünger fragten ihn: Meister, wer hat

gesündigt, dieser Mensch selbst oder seine Eltern, daß er

3 blind geboren ist? Jesus antwortete: Die Blindheit rührt weder von seiner Sünde her noch von der seiner Eltern; viel­mehr soll dadurch die Wirksamkeit des Göttlichen in ihm zur

4 Offenbarung kommen. Wir haben durch unser Wirken dem Wirken dessen zu dienen, der mich gesandt hat, solange der Tag reicht. Es kommt die Nacht , da niemand wirken kann.

5 Solange ich in der Welt der Menschen bin, solange bin ich ein 6 Licht für die Welt der Menschen. Als er diese Worte gespro­

chen hatte, vermischte er seinen Speichel mit Erde und machte aus dem Speichel einen erdigen Brei; diesen legte er

7 dem Blinden auf die Augen und sprach zu ihm: Geh hin und wasche dich im Teich Siloah! Das heißt übersetzt: die Aus­sendung. U n d er ging hin und wusch sich und kam sehend zurück.

8 Da sprachen die Nachbarn und die ihn vorher als blinden Bettler gesehen hatten: Ist das nicht derselbe, der am Wege

9 saß und bettelte? Andere sagten: Ja, er ist es. Wieder andere sprachen: Nein, er sieht ihm nur ähnlich. Da sprach er selbst:

10 Ich bin's. U n d sie fragten ihn: Wie sind dir denn die Augen 11 aufgetan worden? Er antwortete: Der Mensch, den sie Jesus

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JOHANNESEVANGELIUM 9

nennen, machte einen erdigen Brei und bestrich damit meine Augen und sprach zu mir: Gehe an den Teich Siloah und wasche dich. U n d als ich hinging und mich wusch, wurde ich sehend. Da fragten sie ihn: Wo ist er? U n d er antwortete: 12 Ich weiß es nicht.

Da brachten sie den, der blind gewesen war, zu den Phari- 13 säcrn. Der Tag nämlich, da Jesus mit dem erdigen Brei seine 14 Augen aufgetan hatte, war ein Sabbat gewesen. U n d so rieh- 15 teten denn die Pharisäer die Frage an ihn, wie er sehend geworden sei. Er antwortete: Er legte einen Brei von Erde auf meine Augen, und ich wusch mich. Seitdem kann ich sehen. Da sprachen einige von den Pharisäern: Dieser 16 Mensch ist nicht von Gott gesandt, sonst würde er den Sab­bat heiligen. Andere wieder sprachen: Kann denn ein sündi­ger Mensch solche Geistestaten tun? So entstand eine Spal­tung unter ihnen. U n d sie wandten sich noch einmal an den, 17 der bhnd gewesen war, und fragten: Was hältst du von ihm, nachdem er dir die Augen aufgetan hat? U n d er antwortete: Er ist ein Prophet.

Die Juden wollten nicht glauben, daß er bhnd gewesen 18 und sehend geworden sei und riefen deshalb die Eltern des Sehend-Gewordenen und fragten sie: Ist das euer Sohn, und 19 bestätigt ihr, daß er blind geboren wurde? Wie k o m m t es, daß er jetzt sehend ist? Seine Eltern antworteten: Wir müssen 20 es doch wissen, daß er unser Sohn ist und daß er blind gebo­ren wurde. Wie es aber kommt , daß er jetzt sehend ist, das 21 wissen wir nicht. Wir wissen nicht, wer ihm die Augen auf­getan hat. Fragt ihn selber. Er ist erwachsen und kann selber über sich Auskunft geben. Das sagten seine Eltern, weil sie 22 sich vor den Juden fürchteten. Denn schon stand bei den Juden fest, daß jeder aus ihrer Gemeinschaft würde ausge­schlossen werden, der sich zu ihm als zu dem Christus bekannte. Deshalb sprachen seine Eltern: Er ist erwachsen, 23 und so fragt ihn selbst.

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JOHANNESEVANGELIUM 9

24 Da riefen sie den, der blind gewesen war, ein zweites Mal herbei und sprachen zu ihm: Wir fragen dich jetzt im Ange­sicht der Gottheit. Wir wissen, daß dieser Mensch ein Sünder

25 ist. Darauf erwiderte jener: O b er ein Sünder ist, weiß ich nicht. Eines aber weiß ich: daß ich blind war und sehend

26 geworden bin. U n d sie fragten ihn weiter: Was hat er mit dir 27 gemacht? Wie hat er dir die Augen aufgetan? Er antwortete:

Ich habe es euch bereits gesagt, aber ihr habt nicht darauf gehört. Warum wollt ihr es noch einmal hören? Wollt ihr

28 auch seine Jünger werden? Da fuhren sie ihn an und sprachen: Du bist sein Jünger. Wir aber sind Jünger des Moses. Daß zu Moses die Gottesstimme selbst gesprochen hat, wissen wir; von ihm aber wissen -wir nicht, welches Geistes Kind er ist. Der Geheilte aber sprach: Es ist doch sonderbar, daß ihr nicht wißt, welches Geistes Kind er ist, da er doch meine Augen autgetan hat. Wir wissen doch, daß Gott nicht auf den sündi­gen Menschen hört, wohl aber auf den, der Ehrfurcht hat und

32 nach dem göttlichen Willen handelt. In unserer Weltenzeit hat man noch nicht gehört, daß einer einem Blindgeborenen

33 die Augen aufgetan hat. Wäre er nicht gottgesandt, so hätte 34 er die Kraft zu einer solchen Tat nicht. Aber sie antworteten:

Du bist ganz und gar in Sünden geboren und wagst es, uns zu belehren? U n d sie warfen ihn hinaus.

3.5 Jesus hörte, daß sie ihn hinausgeworfen hatten, und er fand ihn und sprach zu ihm: Vertraust du auf den Menschen-

36 söhn? Jener antwortete: Sage mir, wer es ist, Herr, damit ich 37 mein Vertrauen auf ihn setzen kann. Da sprach Jesus: Du hast 38 ihn gesehen. Der mit dir spricht, der ist es. U n d er sprach: Ich

vertraue, Herr. Und er fiel vor ihm nieder. 39 U n d Jesus sprach: U m eine Entscheidung herbeizufüh­

ren, bin ich in diese Welt gekommen. Die nicht sehen, sollen 40 sehend werden, und die Sehenden sollen erblinden. Das hör­

ten einige Pharisäer, die bei ihm waren, und sie fragten ihn: 41 Sind wir denn auch blind? U n d Jesus antwortete: Wäret ihr

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JOHANNESEVANGELIUM 10

blind, so wäret ihr frei von Sünde. N u n aber behauptet ihr, sehend zu sein, und so bleibet eure Sünde.

Ich Bin die Türe. Ich Bin der gute Hirte

Ja, ich sage euch: Wer nicht durch die Türe zu den Schafen 1 0 hineingeht, sondern anderswo in den Stall eindringt, ist ein Dieb und ein Mörder . Derjenige, der durch die Türe eintritt, 2 ist ein Hir te der Schafe. Ihm tut der Türhüter auf, und die 3 Schafe hören auf seine Stimme, und er ruft sie alle einzeln beim Namen und führt sie hinaus. U n d hat er sie so hinausge- 4 führt, so geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm nach, denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden folgen 5 sie nicht; vor ihm fliehen sie, denn sie kennen die fremde Stimme nicht. Dieses Bildwort sprachJesus zu ihnen, aber sie 6 verstanden nicht, was er zu ihnen sprach.

U n d Jesus fuhr fort: Ja, ich sage euch: Ich Bin die Türe zu 7 den Schafen. Alle, die vor mir gekommen sind, sind Diebe 8 und Mörder. Aber die Schafe hörten nicht auf sie. Ich Bin die 9 Türe. Wer durch mich den Zugang findet, dem wird das Heil zuteil. Er lernt die Schwelle zu überschreiten von liier nach dort und von dort nach hier, und er wird Nahrung finden für seine Seele, wie die Schafe Nahrung finden auf der Weide. Der Dieb kommt nur, u m zu raffen und zu töten und zu ver- 10 nichten. Ich jedoch, ich bin gekommen, damit sie Leben und überströmende Fülle haben.

Ich Bin der gute Hirte. Der gute Hirte gibt sein Leben hin n für die Schafe. Der Mietling, der kein wahrer Hirte ist und o der u m die Schafe nicht besorgt ist, läßt, wenn er den Wolf k o m m e n sieht, die Schafe im Stich und entflieht; und der Wolf zerreißt und zerstreut sie. Ein Mietling ist er, er sorgt 13 sich u m die Schafe nicht. Ich Bin der gute Hirte, und ich 14 erkenne, wer zu mir gehört; und die zu mir gehören, erken­nen mich, wie mich der Vater erkennt und ich den Vater 15 erkenne. Ich gebe mein Leben hin für die Schafe. U n d ich 16

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JOHANNESEVANGELIUM 10

habe noch andere Schafe, die nicht aus dieser Herde sind. Auch sie muß ich führen, und sie werden auf meine Stimme hören, und dami wird eine einzige Herde sein und ein Hirte.

17 Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben hingebe, tl auf daß ich es neu empfange. Niemand kann mir mein Leben

rauben; ich selber gebe es frei dahin. Ich habe Vollmacht, es hinzugeben, und auch die Vollmacht, es neu zu empfangen. Dies ist der Auftrag, den mir mein Vater gegeben hat.

19 Da entstand unter den Juden wieder eine Spaltung wegen 20 dieser Worte. Viele von ihnen sagten: Er ist von einem

Dämon besessen und ganz von Sinnen. Warum hört ihr auf

21 ihn? Andere wieder sprachen: Das-sind nicht die Worte eines Besessenen. Oder kann etwa ein Dämon einem Blinden die Augen auftun?

Das Tempelweihfest. Erneute Anschläge der Juden

22 Damals wurde gerade in Jerusalem das Fest der Tempel-23 weihe gefeiert. Es war Winterszeit. Jesus erging sich im 24 Tempel in der Halle Salomos. Da scharten sich die Juden im

Kreise u m ihn und sprachen: Wie lange hältst du unsere Seele hin? Wenn du der Christus bist, so sage es uns frei heraus.

25 Jesus antwortete: Ich habe zu euch gesprochen, aber ihr habt euch meinen Worten nicht aufgeschlossen. Die Werke, die

26 ich tue im Namen meines Vaters, zeugen für mich. Ihr aber verschließt euch diesem Zeugnis, denn ihr gehört nicht zu

27 meinen Schafen. Meine Schafe hören auf meine Stimme, und 28 ich erkenne sie, und sie folgen mir nach, und ich gebe ih­

nen das wahre Leben. Sie sollen in dieser Weltenzeit nicht zugrunde gehen, und niemand soll sie aus meiner Hand rei-

29 ßen. Der Vater, der sie mir zuerteilt hat, ist größer als alles andere, und niemand kann sie je aus des Vaters Hand reißen.

30 Ich und der Vater sind eins. 31 Da trugen die Juden aufs neue Steine herbei, u m ihn zu 32 steinigen. Aber Jesus sprach zu ihnen: Durch viele Taten des

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JOHANNESEVANGELIUM 11

Heiles habe ich erwiesen, daß ich aus der Kraft des Weltenva­ters wirke. U m welcher Tat willen wollt ihr mich steinigen? Da antworteten die Juden: Nicht wegen einer Heilstat, son- 33 dem wegen einer Gotteslästerung steinigen wir dich. Du bist ein Mensch und machst dich selbst zu einem Gott. Jesus aber 34 erwiderte: Steht nicht in eurem Gesetz zu lesen: »Ich habe gesprochen: Ihr seid Götter«? Wenn nun die Schrift, die 35 unauflöslich ist, diejenigen Götter nennt, an die das Gottes­wort gerichtet ist, wie könnt ihr denn zu dem, den der Vater- 36 gott geheiligt und in die Welt gesandt hat, sagen: Du lästerst Gott! weil ich sprach: Ich bin ein Sohn Gottes? Sind es nicht 37 die Werke meines Vaters, die ich tue, so möge euer Herz vor mir verschlossen bleiben. Vollbringe ich sie aber, so schließt 38 euer Herz wenigstens diesen meinen Taten auf, wenn ihr schon mir selber nicht vertrauen könnt. Ihr "werdet dann immer mehr erkemien, daß der Vater in mir ist und daß Ich im Vater bin. U n d wieder suchten sie ihn zu ergreifen, aber er 39 entschlüpfte ihrer Hand.

Lazarus

U n d er begab sich wieder in die Gegend jenseits des Jor- 40 dans, an die Stelle, w o Johannes am Anfang getauft hatte. Dor t blieb er. U n d viele kamen zu ihm und sprachen: Johan- 41 nes hat keine Zeichen getan, aber alles, was Johannes über diesen gesagt hat, das ist wahr. Viele waren es, die dort Ver- 42 trauen zu ihm faßten.

Es war einer krank: Lazarus aus Bethanien, dem Wohnort 1 1 der Maria und ihrer Schwester Martha. Das war die Maria, 2 die den Herrn mit kostbarer Salbe gesalbt und seine Füße mit ihren Haaren getrocknet hatte. Ihr Bruder Lazarus wurde krank. Da schickten die Schwestern zu ihm und ließen ihm 3 sagen: Herr, siehe, der, den du liebhast, ist krank. Als Jesus 4 das hörte, sprach er: Diese Krankheit führt nicht zum Tode, sondern zur Offenbarung Gottes; die Schöpfermacht des

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JOHANNESEVANGELIUM 11

5 Sohnes Gottes soll sich offenbaren durch sie. Jesus liebte 6 Martha und ihre Schwester und Lazarus. Als er nun von sei­

ner Krankheit vernahm, verharrte er zwei Tage an dem Orte, 7 wo er war. Dann sprach er zu seinen Jüngern: Laßt uns wie-s der nach Judäa gehen. Die Jünger erwiderten: Meister, jetzt,

da die Juden dir nachstellten, um dich zu steinigen, willst du 9 dorthin zurückkehren? Jesus sprach: Hat nicht der Tag sein

abgemessenes Maß von zwölf Stunden? Wer am Tage seinen Weg geht, strauchelt nicht, denn er sieht das Licht, das dieser

io Welt leuchtet. Wer aber in der Nacht seinen Weg geht, der ii strauchelt, weil ihm kein Licht leuchtet. So sprach er zu

ihnen. Dann fuhr er fort: Lazarus, unser Freund, schläft; aber 12 ich gehe hin, um ihn aufzuwecken. Da sprachen die Jünger zu 13 ihm: Herr, wenn er schläft, so wird er wieder gesund. Jesus

aber hatte von seinem Tode gesprochen, und sie meinten, er

14 spräche vom Schlafe. Darauf sprach Jesus in aller Offenheit 15 zu ihnen: Lazarus ist gestorben. U n d ich bin froh um euret­

willen, daß ich nicht dort war, auf daß euer Glaube erwache. 16 Aber jetzt laßt uns zu ihm gehen. Da sprach Thomas , den

man den Zwilling nannte, zu den anderen Jüngern: Ja, laßt uns gehen, um mit ihm zu sterben.

Ich Bin die Auferstehung und das Lehen

17 Als Jesus ankam, fand er, daß er schon vier Tage im Grabe is lag. Bethanien lag nahe bei Jerusalem, ungefähr fünfzehn Sta-

19 dien entfernt. Viele Juden waren zu Martha und Maria gekommen, um ihnen wegen ihres Bruders Trost zuzuspre-

20 chen. Als Martha hörte, daß Jesus käme, ging sie ihm entge-2i gen. Maria jedoch blieb in sich versunken zu Hause. U n d

Martha sprach zu Jesus: Herr, wärest du hier gewesen, so 22 wäre mein Bruder nicht gestorben. Aber ich weiß, daß Gott 23 jede Bitte, die du an ihn richtest, erfüllt. Jesus antwortete ihr: 24 Dein Bruder wird auferstehen. Martha sprach zu ihm: Ich

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JOHANNESEVANGELIUM 11

weiß, daß er auferstehen wird bei der großen Auferstehung an der Zeiten Ende.

Da sprach Jesus zu ihr: Ich Bin die Auferstehung und das 25 Leben. Wer sich glaubend mit meiner Kraft erfüllt, wird leben, auch wenn er stirbt; und wer mich als sein Leben in 26 sich aufnimmt, ist von der Macht des Todes befreit im gan­zen irdischen Zeiterikreis. Fühlest du die Wahrheit dieser Worte? U n d sie sprach: Ja, Herr. Ich habe mit meinem Her- 27 zen erkannt, daß du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Erdenwelt kommt . Als sie das gesagt hatte, ging sie hin 28 und rief ihre Schwester Maria und sprach insgeheim zu ihr: Der Meister ist da und läßt dich rufen. Als Maria das hörte, 2y erhob sie sich rasch und ging zu ihm; Jesus war noch nicht in 30 den Or t hineingegangen. Er war an der Stelle gebheben, wo ihm Martha begegnet war. Als die Juden, die bei ihr im 31 Hause waren und ihr Trost zusprachen, sahen, daß Maria eilig aufstand und hinausging, folgten sie ihr. Sie glaubten, sie wolle an das Grab gehen, um dort zu klagen. Maria aber 32 kam an die Stelle, w o Jesus war, und als sie ihn sah, fiel sie zu seinen Füßen nieder und sprach zu ihm: Herr, wärest du hier gewesen, so wäre mir der Bruder nicht gestorben.

Siebte Zeichentat: Die Auferweckung des Lazarus

Als Jesus sie und die mit ihr kommenden Juden weinen 33 sah, bemächtigte sich seines Geistes eine große Erregung, und er sprach voll tiefer Erschütterung: Wo habt ihr ihn 34 bestattet? Sie antworteten: K o m m , Herr, und sieh. Und 35 Jesus weinte. Da sprachen die Juden: Seht, wie er ihn gehebt 36 hat. Einige von ihnen jedoch sprachen: Konnte er, der dem 37 Blinden das Augenlicht gab, diesen nicht vor dem Tode

bewahren? Von neuem ging durch das Innere Jesu eine mäch- 3 8 tige Bewegung, und er trat an das Grab. Das Grab war in einer Felsenhöhle, und ein Stein lag davor. U n d Jesus sprach: 39 Nehmet den Stein weg! Da sprach Martha, die Schwester des

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JOHANNESEVANGELIUM 11

Vollendeten, zu ihm: Herr, er ist schon in Verwesung über-

40 gegangen, denn es ist bereits der vierte Tag. Aber Jesus sprach: Habe ich dir nicht gesagt: Hättest du den Glauben, du

41 würdest das Offenbarwerden Gottes schauen? Da nahmen sie den Stein weg. Da erhob Jesus seine Augen zur Geistesschau

42 und sprach: Vater, ich danke dir, daß du mich erhört hast. Ich wußte, daß du mich jederzeit hörst. Aber wegen der Men­schen, die hier stehen, spreche ich es aus, damit ihr Herz

43 erkennt, daß du mich gesandt hast. Dann rief er mit lauter 44 Stimme: Lazarus, k o m m heraus! U n d der Gestorbene kam

heraus, an Füßen und Händen mit Bändern umbunden, das Antlitz mit einem Schweißtuch bedeckt. U n d Jesus sprach: Löset die Bänder und laßt ihn gehen!

Tötungsbeschluß des Hohen Rates

45 Viele von den Juden, die zu Maria gekommen waren und 46 die Tat sahen, die er tat, gewannen Vertrauen zu ihm. Einige

aber gingen zu den Pharisäern und berichteten ihnen, was 47 Jesus getan hatte. Da beriefen die Hohenpriester und die Pha­

risäer eine Versammlung des Hohen Rates ein und sprachen:

48 Was sollen wir tun? Dieser Mensch tut viele Zeichen. Lassen wir ihn in Ruhe, so werden sich ihm schließlich alle anschlie­ßen, und dann werden die Römer kommen und uns Land

49 und Leute wegnehmen. Da sprach einer von ihnen, Kaja-phas, der in diesem Jahre das Amt des Hohenpriesters inne-

50 hatte: Unwissende seid ihr, sonst würdet ihr sehen, daß es besser für euch ist, wenn ein Mensch für das Volk stirbt, als

51 wenn das ganze Volk zugrunde geht. Das sagte er nicht von sich aus, sondern da er der Hohepriester des Jahres war, deu­tete er prophetisch daraufhin, daß Jesus für das Volk sterben

52 würde, und nicht nur für das Volk allein, sondern für die unter die ganze Menschheit verstreuten Träger der Gottes-

53 kindschaft, die durch ihn eins werden sollten. Von diesem Tage an stand ihr Beschluß fest, ihn zu töten.

260

JOHANNESEVANGELIUM 12

Das letzte Passahfest

Jesus trat nun nicht mehr öffentlich unter den Juden auf, 54 sondern ging fort in die Gegend am Rande der Wüste, in die Stadt Ephraim, und blieb dort mit seinen Jüngern. Das Pas- 55 sahfest der Juden stand nahe bevor, und vor dem Fest zogen viele Menschen aus dem Lande hinauf nach Jerusalem, u m sich zu heiligen. Dor t suchten sie nach Jesus und sprachen, 56 während sie im Tempel standen, untereinander: Was meint ihr, wird er wohl zum Feste kommen? Die Hohenpriester 57 und Pharisäer hatten Weisung gegeben: wer ihn sehen würde, sollte es ihnen anzeigen, damit sie ihn ergreifen könnten.

Salbung in Bethanien

Sechs Tage vor dem Passahfest ging Jesus nach Bethanien, 1 2 wo Lazarus war, den er von den Toten auferweckt hatte. Dort bereiteten sie ihm ein Mahl. Martha diente bei Tisch, 2 und Lazarus war einer von denen, die mit ihm zu Tische saßen. Da nahm Maria ein Gefäß mit kostbarem Nardenöl 3 und salbte die Füße Jesu und trocknete seine Füße mit ihren Haaren ab. U n d das ganze Haus war erfüllt vom Wohlgeruch des Salböls. Da sprach Judas der Iskariote, einer von seinen 4 Jüngern, der im Sinn hatte, ihn zu verraten: Warum hat man 5 die Salbe nicht für dreihundert Denare verkauft und den Ertrag den Armen gegeben? Er sagte das aber nicht deshalb, 6 weil er sich u m die Armen Sorgen machte, sondern weil er für sich beanspruchte, was ihm nicht gehörte. Er führte die Kasse und verwaltete die Gaben. Jesus aber erwiderte: Laß 7 sie; was sie getan hat, soll Geltung behalten für den Tag mei­ner Grablegung. Arme habt ihr immer bei euch, mich jedoch 8 habt ihr nicht immer.

Eine große Schar von Juden hatte herausgebracht, daß er 9 dort war, und so kamen sie; aber sie wollten nicht nur Jesus sehen, sondern auch Lazarus, den er von den Toten aufer-

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JOHANNESEVANGELIUM 12

TO weckt hatte. Die Hohenpriester hatten beschlossen, auch ii Lazarus zu töten, weil viele Juden seinetwegen dorthin gin­

gen und zum Glauben an Jesus kamen.

Einzug in Jerusalem

12 A m folgenden Tage hörte die Volksmenge, die zum Fest 13 kam, Jesus sei auf dem Wege nach Jerusalem. U n d sie nah­

men Zweige von den Palmbäumen, zogen ihm entgegen und riefen:

»Hosianna! Gesegnet sei, der da k o m m t im Namen des Herrn. Er ist der König von Israel.«

14 U n d Jesus fand ein Eselsfüllen und setzte sich darauf, dem 15 Schriftwort entsprechend: »Fürchte dich nicht, Tochter

Zion! Siehe dein König k o m m t , sitzend auf dem Füllen des

16 lastbaren Tieres.« Die Jünger waren sich zuerst dessen, was geschah, nicht bewußt. Später aber, als sich die Geistgestalt Jesu offenbart hatte, erinnerten sie sich daran, daß es in der Schrift bereits vorherverkündigt war und daß sie selbst zur

17 Erfüllung des Schriftwortes beigetragen hatten. Das Volk, das dabei gewesen war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und

18 von den Toten erweckte, bekannte sich zu ihm. Aus diesem Grunde war ihm auch das Volk entgegengezogen: Sie hatten

19 von dem Zeichen gehört, das er vollbracht hatte. Die Phari­säer aber sprachen zueinander: Da seht ihr, daß ihr euch umsonst bemüht. Siehe, alle Welt folgt ihm nach.

Begegnung mit den Griechen

20 Unter denen, die hinaufzogen, u m zum Feste ihre Gebete 21 zu verrichten, waren auch einige Griechen. Diese traten an

Philippus heran, der aus Bethsaida in Galiläa war, und baten 22 ihn: Herr, wir möchten Jesus sehen. Philippus ging hin und

sprach mit Andreas, und so kamen Andreas und Philippus zu

23 Jesus, u m mit ihm zu sprechen. U n d Jesus sprach zu ihnen:

262

JOHANNESEVANGELIUM 12

Die Stunde ist gekommen, da sich der Sohn des Menschen offenbaren soll in seiner Geistgestalt. Ja, ich sage euch: Wenn 24 das Samenkorn, das in die Erde fällt, nicht erstirbt, so bleibt es, was es ist. Erstirbt es aber, so trägt es viele Frucht. Wer die 25 eigne Seele liebt, wird sie verlieren; wer aber das in seiner Seele haßt, was der Vergänglichkeit angehört, bewahrt sie für das todlose wahre Leben. Wer mir dienen will, muß mir 26 auf meinem Wege folgen. Da w o ich bin, muß auch der sein, der mir dienen will; und den, der mir dient, wird mein Vater ehren. Jetzt ist meine Seele voll tiefer Erschütterung. Was soll 27 ich sagen? Vater, rette mich aus dieser Stunde? Aber um die­ses Geschehens willen mußte ich ja in diese Stunde kommen. Vater, offenbare deinen Namen! Da ertönte eine Stimme aus 28 dem Himmel: Ich habe deine Geistgestalt geoffenbart und werde sie von neuem offenbaren. Das Volk, das dabeistand 29 und zuhörte, sprach: Es hat gedonnert. Andere sprachen: Ein Engel hat zu ihm gesprochen. Jesus aber sprach: Nicht um 30 meinetwillen ließ diese Stimme sich vernehmen, sondern um euretwillen. Dies ist die Stunde der Entscheidung für die 31 ganze Welt. Der Herrscher dieser Welt wird ausgestoßen werden. Und wenn ich erhöht bin aus dem Erdensein, so 32 werde ich alle zu mir emporziehen. Dies sagte er, um auf den 33 Tod hinzudeuten, dem er entgegenging. Da antwortete ihm 34 das Volk: Wir haben doch immer, wenn wir im Gesetz unter­wiesen wurden, gehört, der Christus bleibe und führe hin­über in den kommenden Äon. Wie kannst du da sagen, der Sohn des Menschen müsse erhöht werden? Wer ist dieser Menschensohn? U n d Jesus antwortete: Noch eine kurze Zeit 35 ist das Licht in eurer Mitte. Geht euren Pfad, solange ihr das Licht habt, damit die Finsternis euch nicht überwältige. Wer im Finstern geht, weiß nicht, wohin er geht. Solange ihr das 36 Licht habt, schließt euer Herz dem Lichte auf, damit ihr Söhne des Lichtes werdet.

263

JOHANNESEVANGELIUM 12

Der Unglaube der Juden

Als Jesus diese Worte gesprochen hatte, ging er fort und 37 hielt sich vor ihnen verborgen. Soviele Geistestaten er auch

vor ihren Augen getan hatte, sie fanden dennoch nicht die

38 Kraft, ihm zu vertrauen. Das Wort des Propheten Jesajas mußte sich erfüllen: »Herr, wer schließt sich unsrer Botschaft auf? U n d w e m enthüllt sich der schaffende Arm des Herrn?«

39 Sie konnten also wirklich ihre Herzen nicht auftun, und so 40 spricht Jesajas an einer anderen Stelle: »Er hat ihre Augen

blind gemacht und ihre Herzen verhärtet, damit sie trotz ihrer Augen nicht sehen und trotz ihrer Herzen nicht erken­nen; sie sollen nicht zu den alten Geisteskräften zurückkeh-

41 ren. Einmal aber werde ich sie heilen.« Dieses sprach Jesajas, denn er schaute seine Geistgestalt und hat deshalb bereits von

42 ihm gesprochen. Von den Führern des Volkes fanden zwar manche den Zugang zu ihm, aber aus Furcht vor den Phari­säern wagten sie es nicht, sich zu bekennen, damit sie nicht

43 aus der Synagoge ausgeschlossen würden. Sie liebten die menschliche Ehre mehr als die göttliche Offenbarung.

44 Jesus aber rief laut: Wer an mich glaubt, der glaubt nicht 45 an mich, sondern an den, der mich gesandt hat. U n d wer 46 mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat. Ich bin als ein

Licht in die Welt gekommen, damit jeder, der sich mit mir 47 verbindet, frei werde aus dem Bann der Finsternis. Wer

meine Worte hört und sich nicht daran hält, den richte ich nicht. Ich bin nicht gekommen, um die Menschen zu richten,

48 sondern u m sie zu heilen. Wer mich von sich stößt und mei­nen Worten keinen Raum in sich gibt, der hat seinen Richter schon gefunden. Das Wort, das ich gesprochen habe, -wird

49 selbst sein Richter sein an der Zeiten Ende. Denn ich habe nicht aus mir allein gesprochen. Der Vatergott, der mich gesandt hat, er hat mir selbst als Geistesziel gegeben, was ich

50 auszusprechen und was ich zu verkünden habe. U n d ich weiß, daß sein Geistesziel das wahre Leben unseres Zeiten-

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JOHANNESEVANGELIUM 13

kreises ist. Was ich verkünde, das verkünde ich so, wie es der Vater selbst zu mir gesprochen hat.

Die Fußwaschung

Das Osterfest stand vor der Tür. Jesus nahm im Geiste 1 3 wahr, daß für ihn die Stunde gekommen sei, da er aus der Welt des Irdischen übergehen sollte in die Welt des Vaters. Er liebte alle, die aus der Menschheit heraus die Seinen gewor­den waren, und diese Liebe trug er durch bis zur Vollendung. Als das Mahl begann, hatte der Widersacher den Gedanken, 2 ihn zu verraten, Judas, dem Sohne Simons des Iskarioten, bereits ins Herz gelegt.

Jesus wußte, daß der Vater alles in seine Hand gegeben 3 hatte, jetzt, da er, der aus der göttlichen Welt gekommen war, in die göttliche Welt zurückkehren sollte. So stand er 4 vom Mahle auf, legte sein Übergewand ab, nahm einen Schurz und umgürtete sich damit. Dann goß er Wasser in die $ Schale [die für die Waschungen bestimmt war] und fing an, den Jüngern die Füße zu waschen, und trocknete sie ab mit dem Schurz, mit welchem er umgürtet war. So kam er auch 6 zu Simon Petrus. Da sprach dieser: Herr, du wäschest mir die Füße? Jesus antwortete: Was ich tue, verstehst du jetzt noch 7 nicht; später aber wirst du es erkennen. U n d Petrus sprach: 8 Du sollst mir nicht die Füße waschen, weder jetzt noch je in künftigen Zeiten. Da antwortete Jesus: Wenn ich dich nicht wasche, so hast du keinen Teil an mir. U n d Simon Petrus 9 sprach: Herr, nicht die Füße allein, sondern auch die Hände und das Haupt. Jesus erwiderte: An wem die Waschung 10 geschieht, der bedarf nur der Fußwaschung; sie macht sein ganzes Wesen rein. Ihr seid jetzt rein, wenn auch nicht alle. Er n wußte nämlich, wer ihn verraten würde. Darum sagte er: nicht alle seid ihr rein.

Als er ihnen die Füße gewaschen hatte, nahm er sein 12 Gewand und setzte sich wieder zu ihnen und sprach: Versteht

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J O H A N N E S E V A N G E L I U M 13

T3 ihr wohl , was ich jetzt an euch getan habe? Ihr nennt mich Meister und Herr, und ihr habt recht damit, denn ich bin es

14 auch. Wenn nun ich, der ich euer Herr und Meister bin, euch die Füße gewaschen habe, so seid auch ihr schuldig, euch ein-

15 ander die Füße zu waschen. Ich habe euch ein Vorbild gege­ben, damit ihr, was ich an euch getan habe, selber auch einer

16 an dem anderen tun könnt. Ja, ich sage euch: Der Knecht ist nicht größer als sein Herr, und der Sendbote ist nicht größer

17 als der, der ihn gesandt hat. Wenn ihr das versteht: selig seid 18 ihr, wenn ihr es tut. Nicht von euch allen kann ich sagen: ich

nehme das höhere Wesen derer wahr, die ich erwählt habe. Aber es muß sich ja das Schriftwort erfüllen: Wer mein Brot

19 isset, der tritt mich mit Füßen. Jetzt sageich es euch, bevor es geschieht, damit ihr, wenn es geschieht, mit Seelensicherheit

20 erkennt, daß Ich es bin. Ja, ich sage euch: Wer den aufnimmt, den ich sende, der n immt mich auf; und wer mich aufnimmt, der n immt den auf, der mich gesandt hat.

Die Bezeichnung des Verräters

21 Als er das gesagt hatte, überkam ihn eine große Erschütte­rung im Geist, und er bezeugte: Ja, ich sage euch: einer von

22 euch wird mich verraten. Da blickten die Jünger einander an, 23 ratlos vor der Frage, wen er wohl gemeint habe. N u n saß

einer von seinen Jüngern mit zu Tisch, an der Brust Jesu lie-24 gend, der Jünger, den Jesus hebhatte. Ihm winkte Simon 25 Petrus und sprach: Frage, wer es ist, von dem er spricht. Da

fragte dieser, der an der Brust Jesu lag, ihn: Herr , wer ist es?

26 U n d Jesus antwortete: Der ist es, dem ich den Bissen eintau­che und reiche. U n d er tauchte den Bissen ein und gab ihn

27 Judas, dem Sohne Simons des Iskarioten. Und nachdem dieser den Bissen genommen hatte, fuhr die dunkle Macht des Satans in ihn. Und Jesus sprach zu ihm: Was du tun willst,

28 das tue bald! Keiner jedoch von denen, die am Tische saßen, 29 verstand, warum er das zu ihm sagte. Einige glaubten, Jesus

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JOHANNESEVANGBLIUM 14

habe zu Judas als dem Verwalter des Geldes sagen wollen: kaufe, was wir für das Fest nötig haben, oder: er solle den Armen etwas geben. Nachdem jener den Bissen empfangen 30 hatte, ging er sofort hinaus. Es war aber Nacht.

Ankündigung der Verleugnung des Petrus

Als er hinausgegangen war, sprach Jesus: Jetzt ist die 31 Geistgestalt des Menschensohns geoffenbart; der Gott in ihm ist offenbar geworden. U n d da der Gott in ihm offenbar 32 geworden ist, so wird Gott ihn auch in ihm offenbaren, und bald schon wird er ihn so offenbaren. Ihr Kindlein, nur noch 33 eine kurze Spanne Zeit bin ich bei euch, und dann werdet ihr mich suchen. U n d wie ich zu den Juden sagte: Wohin ich gehe, dahin könnt ihr nicht gelangen, so sage ich es jetzt auch zu euch. Einen neuen Auftrag gebe ich euch: Liebet einander! 34 Wie ich euch geliebt habe, so sollt ihr einander lieben. Daran 35 sollen euch alle als meine Jünger erkennen, daß ihr euch untereinander hebet.

Da sprach Simon Petrus zu ihm: Herr, wohin gehst du? 36 U n d Jesus antwortete: Wohin ich gehe, dahin kannst du mir jetzt nicht folgen; später aber wirst du mir folgen. Petrus 37 sprach: Herr, warum kann ich dir jetzt nicht folgen? Ich werde mein Leben für dich hingeben. Jesus antwortete: Du 38 willst dein Leben für mich geben? Ja, ich sage dir: Noch ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.

Abschiedsreden

Ich Bin der Weg und die Wahrheit und das Leben

Nicht schwach soll werden euer Herz. Vertrauet auf die 1 4 Kraft, die euch zu dem Vatergott und die euch zu mir führt. In dem Hause meines Vaters sind viele Wohnungen. Ich hätte 2 sonst nicht zu euch gesprochen: Ich gehe hin, u m euch die

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JOHANNESEVANGELIUM 14

3 Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingehe, um euch die Stätte zu bereiten, so komme ich neu zu euch und will euch aufneh­men und euer Sein mit meinem Sein vereinen, damit, w o

4 mein Ich ist, auch euer Ich sein kann. U n d ihr kennt den Weg dorthin, wohin ich jetzt gehe.

5 Da sprach Thomas zu ihm: Herr, wir wissen nicht, wohin 6 du gehst. Wie sollen wir den Weg kennen? Jesus antwortete:

Ich Bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Keiner 7 findet den Weg zum Vater außer durch mich. Wenn ihr mich

erkannt hättet, so kenntet ihr auch meinen Vater. Von jetzt an erkennt ihr ihn, denn ihr habt ihn gesehen.

8 Da sprach Philippus zu ihm: Herr, zeige uns den Vater, 9 das ist alles, was wir brauchen. Jesus antwortete: So lange bin

ich nun schon bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Phi­lippus? Wer mich gesehen hat, der hat den Vater auch gese­hen. Wie kannst du da noch sagen: Zeige uns den Vater?

io Glaubst du nicht, daß Ich im Vater bin und daß der Vater ist in mir? Die Worte, die ich zu euch spreche, spreche ich nicht von mir aus. Der Vater, der in mir lebt, vollbringt durch

ii mich seine Werke. Glaubet mir, daß mein Ich im Vater und der Vater in meinem Ich lebt. Könnt ihr mir nicht vertrauen,

12 so vertrauet doch auf diese Werke. Ja, ich sage euch: Wer mein Ich in sich aufnimmt, der wird die Werke auch zu tun vermögen, die ich tue, und er wird größere tun, denn ich

13 gehe zum Vater. Was ihr erbitten werdet in meinem Namen: ich werde es vollbringen, damit in des Sohnes Wirken der

14 Vater offenbar werde. Alles, was ihr erbittet in meinem Namen: ich will es vollbringen.

Die Verheißung des heiligen Geistes

15 Wenn ihr mich in Wahrheit liebt, so nehmet meine Wel-i6 tenziele in euren Willen auf. U n d ich will den Vater bitten,

und er wird euch einen anderen Beistand, den Spender des Geistesmutes, senden, der bei euch sein wird für diese ganze

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J O H A N N E S EVANGELIUM 14

Weltenzeit, den Geist der Wahrheit und Erkenntnis. Ihn kön- 17 nen nicht alle Menschen aufnehmen. Sic sehen ihn nicht und erkennen ihn nicht. Ihr aber erkennt ihn, denn er waltet als euer höheres Wesen über euch und wird in euer Inneres ein­ziehen. Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen. Ich m k o m m e zu euch. Noch eine kurze Zeit, so sieht die Welt mich 19 nicht mehr; ihr aber seht mich. Ich lebe, und ihr sollt teilha­ben an diesem Leben. An jenem Tage -werdet ihr erkennen, 20 daß ich im Vater bin und ihr in mir und ich in euch. Wer 21 meine Weltenziele kennt und in seinen Willen aufnimmt, der ist es, der mich in Wahrheit hebt. U n d wer mich liebt, der wird geliebt werden von meinem Vater, und ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren.

Da sprach zu ihm Judas, nicht der Iskariote: Herr, aus 22 welchem Grunde willst du dich uns offenbaren, aber nicht allen Menschen? Jesus antwortete: Wer mich in Wahrheit 23 liebt, der trägt mein Wort in seinem Wesen, und mein Vater wird ihn lieben, und wir -werden zu ihm kommen und dauer­gründend bei ihm wohnen. Wer mich nicht liebt, der trägt 24 mein Wort nicht in sich. U n d das Wort, das ihr vernehmt, ist nicht von mir, sondern v o m Vater, der mich gesandt hat. Das habe ich zu euch gesprochen, weil ich noch bei euch bin. 25 Der Beistand, der Spender des Geistesmutes, der heilige 26 Geist, den der Vater senden wird in meinem Namen, er wird euch alles lehren und in euch die Erinnerung beleben an alles, was ich zu euch sprach.

Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. 27 Ich gebe ihn euch nicht, wie ihn die Welt gibt. Nicht schwach soll werden euer Herz und nicht furchtsam. Ihr habt gehört, 28 wie ich gesagt habe: Ich gehe hin und k o m m e doch zu euch. Wenn ihr mich wirklich liebtet, so würdet ihr euch freuen, daß ich zum Vater gehe, denn der Vater ist größer als ich. Und nun habe ich es euch gesagt, bevor es geschieht, damit 29 ihr Seelensicherheit besitzt, wenn es geschieht. Ich werde 30

269

JOHANNBSEVANGELIUJVt 15

nun nicht mehr viel mit euch reden. Schon kommt der 31 Gebieter dieser Welt, aber mir kann er nichts anhaben. Die

Menschheit soll erkennen, daß ich den väterlichen Welten­grund liebe und wie ich die Sendung erfülle, die mir der Vater gegeben hat. Seid bereit, so können wir ruhig diesen Ort ver­lassen.

Ich Bin der wahre Weinstock

1D Ich Bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der 2 Weingärtner. Jede Rebe an mir, die keine Frucht trägt,

n immt er weg, und jede, die Frucht trägt, reinigt er, damit sie

3 mehr Frucht trage. Ihr seid bereits gereinigt durch die Kraft 4 des Wortes, das ich zu euch sprach. Wohnet dauergründend

in mir, so will ich dauergründend wohnen in euch. Wie die Rebe aus sich selbst heraus keine Frucht tragen kann, sie sei denn durchpulst v o m Leben des Weinstocks, so könnt auch

5 ihr es nicht, ihr habet denn die Dauer gefunden in mir. Ich Bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer mit seinem Wesen wohnt in meinem Wesen und mein Wesen in sich wohnen läßt, wird reiche Früchte tragen. Ohne mich aber

6 könnt ihr nichts vollbringen. Wer nicht wohn t in mir, wird herausgerissen wie die Rebe und muß verdorren. Es geht ihm wie den Reben, die gesammelt und ins Feuer geworfen und

7 verbrannt werden. Wohnet ihr in mir und laßt meine Worte weiterleben in eurem Herzen, so könnt ihr erbitten, was euer

8 Wille sich vorsetzt, und es wird euch zuteil werden. Dadurch wird mein Vater geoffenbart, wenn ihr reiche Früchte tragt und immer mehr zu meinen Jüngern werdet.

9 Wie mich der Vater gehebt hat, so habe ich euch gehebt. 10 Lebet weiter in meiner Liebe. Nehmt ihr meine Weltenziele

in euren Willen auf, so lebet ihr weiter in meiner Liebe; so wie ich die Weltenziele meines Vaters in meinen Willen aufge-

u nommen habe und weiterlebe in seiner Liehe. Diese Worte habe ich zu euch gesprochen, auf daß meine Freude in euch

270

JOHANNESEVANGELIUM 15

lebe und eure Freude sich erfülle. Das ist der Auftrag, den ich 0 euch gebe: Liebet euch untereinander so, wie ich euch geliebt habe. Eine größere Liebe kann niemand haben als die, sein 13 Leben hinzugeben für seine Freunde. Ihr seid meine Freunde, 14 wenn ihr dem Auftrag folgt, den ich euch gebe. Ich kann 15 euch nicht mehr Knechte nennen, denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Ich nenne euch Freunde, weil ich euch alles habe erkennen lassen, was mir durch meinen Vater kundgeworden ist. Ihr habt nicht mich auserwählt, sondern 16 ich habe euch auserwählt. Ich habe euch die Kraft gegeben, wenn ihr die Erde verlaßt, eure Lebensfrüchte durchzutragen und ihnen Dauer zu verleihen, auf daß der Vater euch gebe, was ihr in meinem Namen erbittet. Dies ist das Ziel, das ich 17 euch gebe, daß ihr euch untereinander liebet.

Der Haß der Welt

Wenn die Menschen euch hassen, so bedenkt, daß sie 18 mich vor euch gehaßt haben. Gehörtet ihr zu den Menschen 19 im Allgemeinen, so würden die Menschen euch als die Ihri­gen lieben. Nun gehört ihr aber nicht zu ihnen, sondern ich habe euch aus der Menschheit auserwählt, und darum hassen euch die Menschen. Erinnert euch an das Wort, das ich zu 20 euch sprach: Der Knecht ist nicht größer als sein Herr. Haben sie mich verfolgt, so werden sie euch auch verfolgen. Haben sie mein Wort bewahrt, so werden sie auch euer Wort be­wahren. Alles, was sie an euch tun, werden sie tun, als tä- 21 ten sie es an mir; denn sie kennen den nicht, der mich ge­sandt hat. Wäre ich nicht gekommen und hätte ich nicht zu 22 ihnen gesprochen, so wären sie ohne Sünde. Jetzt aber haben sie keine Entschuldigung für ihre Sünde. Wer mich haßt, der 23 haßt auch meinen Vater. Hätte ich nicht unter ihnen solche 24 Werke getan, wie sie nie ein anderer getan hat, so wären sie ohne Schuld. N u n aber haben sie mich gesehen und trotzdem mich und meinen Vater gehaßt. Aber es mußte das Wort aus 25

271

JOHANNESEVANGELIUM 16

ihrem Gesetz in Erfüllung gehen: »Sie haben mich ohne Grund gehaßt.«

Das Wirken des heiligen Geistes

26 Wenn aber der Beistand, der Spender des Geistesmutes kommt , den ich euch vom Vater her senden werde, der Geist der Wahrheit und Erkenntnis, der vom Vater ausgeht, so

27 wird er für mich zeugen. U n d auch ihr werdet meine Zeugen sein, denn vom Urbeginne an seid ihr mit mir verbunden.

1 6 Diese Worte habe ich zu euch gesprochen, damit euer Ich 2 nicht strauchelt. Sie werden euch aus ihrer Gemeinschaft aus­

stoßen, und es wird die Stunde kommen, da die, die euch töten, glauben werden, Gott einen Dienst damit zu erweisen.

3 So werden sie handeln, weil sie weder den Vater noch mich 4 erkannt haben. Ich habe euch das alles gesagt, damit ihr,

wenn die Zeit kommt , euch daran erinnert, daß ich es euch gesagt habe. Solches habe ich euch anfangs nicht zu sagen

5 brauchen, denn ich war selbst bei euch. Jetzt aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und keiner von euch fragt

6 mich: Wohin gehst du? Jetzt, da ich solches zu euch gesagt 7 habe, zieht Traurigkeit in eure Herzen ein. Aber ich sage euch

die Wahrheit: Es ist zu eurem Heil, daß ich hingehe. Denn ginge ich nicht hin, so käme der Beistand, der Spender des Geistesmutes, nicht zu euch. Wenn ich nun hingehe, werde

8 ich ihn zu euch senden. Wenn er kommt , wird er die Mensch­heit zur Rechenschaft ziehen wegen des Verfallenseins in die Sündenkrankheit, wegen der Durchdringung mit dem höhe-

y ren Sein und wegen der großen Welt-Entscheidung. Wegen des Verfallenseins in die Sündenkrankheit, weil sie sich nicht

10 mit meiner Kraft erfüllen. Wegen der Durchdringung mit dem höheren Sein, weil ich zum Vater gehe und ihr mich

11 nicht mehr seht. Wegen der großen Welt-Entscheidung, weil über den Gebieter dieser Welt die Entscheidung bereits gefal-

12 len ist. Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es

272

JOHANNESEVANGELIUM 16

jetzt nicht tragen. Wenn aber jener kommt , der Geist der 13 Wahrheit und Erkenntnis, so wird er euer Führer sein auf dem Wege zu der umfassenden Wahrheit. Er wird nicht aus sich selber sprechen, sondern was er hört , das spricht er aus, und das Kommende wird er euch verkünden. Mein Wesen 14 wird er offenbaren; denn was er aus meinem Wesen schöpft, das wird er euch verkünden. Alles, was der Vater hat, ist auch rj mein. Deshalb habe ich gesagt: Er wird es aus meinem Wesen schöpfen und euch verkündigen.

Das Wiedersehen mit den Jüngern

Noch eine kurze Zeit, und ihr werdet mich nicht mehr tö sehen. U n d wiederum eine kurze Zeit, und ihr werdet mich sehen. Da sprachen einige seiner Jünger untereinander: Was 17 meint er: eine kurze Zeit, und ihr werdet mich nicht sehen, und noch einmal eine kurze Zeit, und ihr werdet mich sehen? und: ich gehe zum Vater? Und so sprachen sie: Was ist damit 18 gemeint, wenn er sagt: eine kurze Zeit? Wir verstehen seine Worte nicht. Jesus erkannte, daß sie ihn fragen wollten, und iy sprach: Ihr macht euch untereinander Gedanken darüber, daß ich gesagt habe: Eine kurze Zeit, und ihr werdet mich nicht sehen, und noch einmal eine kurze Zeit, und ihr werdet mich sehen. Ja, ich sage euch: Ihr werdet weinen und wehklagen, 20 und die Menschen werden sich freuen. Ihr werdet traurig sein, aber eure Traurigkeit wird in Freude verwandelt wer­den. Ein Weib, das gebiert, hat Schmerz zu leiden; denn ihre 21 Stunde ist gekommen. Hat sie aber das Kind geboren, so gedenkt sie der Drangsal nicht mehr vor lauter Freude, daß ein Mensch in die Welt hereingeboren worden ist. So habt 22 auch ihr jetzt Schmerz zu leiden. Aber ich will euch wiederse­hen, und dann wird euer Herz voll Freude sein, und diese Freude kann euch niemand rauben. An diesem Tage werdet 23 ihr mich nichts zu fragen brauchen. Ja, ich sage euch: Was ihr fortan vom Vater erbitten werdet, das wird er euch in mei-

273

JOHANNESEVANGELIUJM 17

24 nem Namen geben. Bisher habt ihr noch nicht in meinem Namen gebeten. Bittet aus dem Herzen, und es wird eurem Herzen gegeben werden, so daß eure Freude Erfüllung finde.

Das unmittelbare Sprechen vom Vater

25 Das alles habe ich in Bildworten zu euch gesprochen. Aber es kommt die Stunde, da ich nicht mehr in Bildworten zu euch sprechen werde. Dann werde ich offen und unmittel-

26 bar zu euch von dem Vater sprechen. An jenem Tage werdet ihr in meinem Namen bitten. Ich sage nicht, daß ich für euch

27 den Vater bitten werde. Denn der Vater selbst liebt euch, weil ihr mich geliebt und weil ihr geglaubt habt, daß ich

28 vom Vater komme. Ich bin aus dem Vater hervorgegangen und in die irdische Welt gekommen. Und nun verlasse ich

29 die Welt der Sinne wieder und gehe zum Vater. Da sagen seine Jünger: Siehe, jetzt sprichst du es offen und unmittel-

30 bar aus und sprichst nicht in Bildworten. Jetzt erkennen wir, daß vor dir alles offen daliegt. Du bedarfst dessen nicht, daß jemand dich fragt. U n d so bekennt sich unser Herz dazu,

31 daß du vom Vater kommst . Und Jesus antwortete: Fühlt 32 ihr jetzt in eurem Herzen meine Kraft? Siehe, es k o m m t die

Stunde, und sie ist schon gekommen, da ihr alle auseinan­dergetrieben werdet, ein jeder in seine Ichheit. Dann werdet auch ihr mich allein lassen. Aber ich bin nicht allein, son-

33 dem der Vater ist bei mir. Diese Worte habe ich zu euch ge­sprochen, damit ihr in mir den Frieden findet. In der Welt werdet ihr hart bedrängt. Aber fasset Mut: Ich habe die Welt überwunden.

Das Hohepriesterliche Gebet

1 / Als er das gesagt hatte, erhob Jesus seine Augen zur Schau des Geistes und sprach: Väterlicher Weltcngrund, die Stunde ist gekommen; offenbare deines Sohnes Wesen, damit dein

2 Sohn dein Wesen offenbare. Du hast ihn zur schaffenden

274

JOHANNESEVANGELIUM 17

Kraft gemacht in allen irdischen Menschenleibern, damit er allen, die durch dich zu ihm kamen, das wahre Leben ver­leihe. Das aber ist das wahre Leben, daß sie dich erkennen als 3 den wahrhaft einigen Weltengrund und Jesus Christus als den, den du zu ihnen gesandt hast. Ich habe auf der Erde dein 4 Wesen geoffenbart und das Werk vollendet, das du mir zu tun auferlegt hast. U n d nun, väterlicher Weltcngrund, lasse 5 du mein Wesen offenbar werden in dem Lichte, das mich bei dir umstrahlte, ehe die Welt noch bestand.

Ich habe deinen Namen zur Erscheinung gebracht für die 6 Menschen, die durch dich aus der Welt zu mir kamen. Dein waren sie, und du gabst sie mir, und sie haben dein Wort in ihrem Inneren bewahrt. So haben sie erkannt, daß alles, was 7 du mir gegeben hast, aus dir ist; denn alle Worteskraft, die du 8 mir gegeben hast, habe ich zu ihnen gebracht. Sic haben sich damit erfüllt und haben wirklich erkannt, daß ich von dir komme, und sind zu dem Glauben gekommen, daß ich von dir gesandt bin. Für sie als einzelne Menschen, nicht für die 9 Menschen im allgemeinen, bitte ich bei dir. N u r für die Men­schen, die du mir gegeben hast, weil sie dir gehören. Alles, PO was mein ist, das ist dein, und was dein ist, ist mein, und meines Wesens Licht kann in ihnen leuchten. Ich bin nun u nicht mehr in der Welt der Sinne; sie aber sind noch in der Welt der Sinne. U n d ich komme zu dir. Heiliger Vater, bewahre sie, die durch dich zu mir kamen, in der Kraft deines Wesens, damit sie eine Einheit seien, so wie wir eine Einheit sind. Solange ich bei ihnen war, habe ich die, die durch dich n zu mir kamen, in der Kraft deines Wesens bewahrt und behü­tet, und keiner von ihnen ist verlorengegangen außer dem, der sich zum Werkzeug des Verderbens macht, und damit ist die Schrift in Erfüllung gegangen. Jetzt k o m m e ich zu dir, 13 und ich spreche diese Worte noch unter den Menschen aus, damit meine Freude sich in ihnen erfüllen kann. Ich habe dein 14 Wort zu ihnen gebracht; die Menschen aber haben sie gehaßt,

275

JOHANNESEVANCELIUM 18

weil sie nicht aus ihrer Welt sind, so wie auch ich nicht aus 15 ihrer Welt bin. Meine Bitte ist nicht, daß du sie heraus­

nimmst aus der Welt des Irdischen, sondern daß du sie vor

16 dem Bösen bewahrst. Sie sind nicht aus der Welt des Irdi-17 sehen, so wie ich auch nicht aus dieser Welt bin. Heilige sie 18 durch die Wahrheit. Dein Wort ist die Wahrheit. Wie du

mich in die Welt gesandt hast, so habe ich jetzt sie in die Welt 19 gesandt. U n d ich heilige mich für sie, damit sie geheiligt

seien in der Wahrheit.

20 U n d nicht nur für sie bitte ich bei dir, sondern auch für die, die sich durch ihre Verkündigung mit mir verbinden

21 werden, damit sie alle eine Einheit seien; so wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen sie in uns sein, damit die Welt

22 zum Glauben komme, daß du mich gesandt hast. Ich habe ihnen die Kraft der Offenbarung gegeben, die du mir gege­ben hast, damit sie eine Einheit seien, wie wir eine Einheit

23 sind. Ich bin in ihnen, und du bist in mir, und so werden sie zu einer vollkommenen Einheit geweiht, damit die Welt erkennt, daß du mich gesandt hast und daß du sie liebst, wie du mich hebst.

24 Väterlicher Weltcngrund, das ist mein Wille, daß sie, die du mir gegeben hast, immer da, wo Ich bin, bei mir sind und daß sie da die Offenbaruno; meines Wesens schauen, die du

25 mir gegeben hast, bevor die Welt war. Erhabener Vater­grund, die Erdenmenschen haben dich nicht erkannt; ich aber erkenne dich, und diese haben erkannt, daß du mich gesandt

20 hast. Ich habe ihnen deinen Namen geoffenbart, und ich will ihn weiterhin offenbaren, auf daß die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen sich bewahre und so mein Ich in ihrem Ich sich offenbare.

Gefangennahme

1 ö Nach diesen Worten verließ Jesus mit seiner Jüngern das Haus und überquerte den tosenden Kidronbach. Auf dem

276

JOHANNESEVANGELIUM 18

anderen Ufer war ein Garten. In diesen Garten trat er mit seinen Jüngern ein. Diesen Ort kannte auch Judas, der ihn 2 verriet; denn oftmals hatte Jesus seine Jünger dort um sich versammelt. So nahm denn Judas eine Abteilung von der 3 römischen Kohorte und dazu einige von den Dienern der Hohenpriester und der Pharisäer und kam an mit Fackeln und Laternen und mit Waffen. Jesus nahm im Geiste alles wahr, 4 was ihm bevorstand, und so trat er heraus und sprach zu ihnen: Wen suchet ihr? Sic antworteten: Jesus von Nazarcth. 5 Er sprach: Ich Bin es! Bei ihnen stand auch Judas, der ihn verriet. Als er nun zu ihnen sprach: Ich bin's, fuhren sie 6 zurück und stürzten zu Boden. Und noch einmal fragte er sie: 7 Wen suchet ihr? Sie antworteten wieder: Jesus von Nazareth. Und Jesus sprach: Ich sagte es euch: Ich Bin es. Wenn ihr 8 mich sucht, so laßt diese ihrer Wege gehen. Es sollte sich das 9 Wort erfüllen, das er gesprochen hatte: Von denen, die du mir gegeben hast, lasse ich nicht einen einzigen verloren­gehen.

Simon Petrus besaß ein Schwert. Das zückte er und schlug 1 o damit auf den Diener des Hohenpriesters ein und hieb ihm das rechte Ohr ab. Der N a m e dieses Dieners war Malchus. Da sprachJesus zu Petrus: Stecke dein Schwert in die Scheide! u Soll ich den Kelch nicht trinken, den mir der Vater gegeben hat? Da ergriffen sie Jesus, die Soldaten und der Befehlshaber 13 und die Diener der Juden, und fesselten ihn und führten ihn 13 zuerst zu Hannas. Dieser war der Schwiegervater des Kaja-phas, der in diesem Jahre das Amt des Hohenpriesters inne­hatte. Kajaphas war es gewesen, der den Juden den Rat gege- 14 ben hatte, es sei gut, wenn ein Mensch für das Volk stürbe.

Verleugnung des Petrus und Anklage vor dem Hohenpriester

Es folgten Jesus nach Simon Petrus und ein anderer Jün- 15 gcr. Dieser Jünger war ein Bekannter des Hohenpriesters und ging mit Jesus hinein in die Halle des hohenpriesterlichen

277

JOHANNESEVANGELIUM 18

16 Hauses. Petrus stand draußen vor dem Tor. Da ging der andere Jünger, der Bekannte des Hohenpriesters, und sprach

17 mit der Türhüterin und führte Petrus hinein. Da sprach die Magd, die das Tor hütete, zu Petrus: Gehörst du nicht auch zu den Jüngern dieses Menschen? Er antwortete: Ich bin es

18 nicht. Dor t standen die Knechte und Diener umher und hat­ten, u m sich zu wärmen, ein Kohlenfeuer gemacht, denn es war kalt. Z u ihnen stellte sich Petrus und wärmte sich.

19 Unterdes fragte der Hohepriester Jesus nach seinen Jün-20 gern und nach seiner Lehre. Jesus antwortete ihm: Ich habe

öffentlich vor aller Welt gesprochen. Allezeit habe ich in der Synagoge und im Tempel gelehrt, wo alle Juden zusammen-

21 kommen. Ich habe nichts im Geheimen verkündigt. Warum fragst du mich? Frage doch die, die gehört haben, was ich zu ihnen sprach. Siehe, sie wissen, was ich, ganz aus mir heraus,

22 verkündigt habe. Als er das sagte, gab einer der dabeistehen­den Diener Jesus einen Backenstreich und sprach: Wagst du

23 es, dem Hohenpriester so zu antworten? Jesus sprach zu ihm: Habe ich unrecht geredet, so beweise, daß es unrecht war. Habe ich aber richtig geredet, warum schlägst du mich denn?

24 Da schickte ihn Hannas gefesselt vor den Hohenpriester Ka-japhas.

25 Simon Petrus stand noch da und wärmte sich. U n d sie sprachen zu ihm: Gehörst du nicht auch zu seinen Jüngern? Er

26 verneinte es und sprach: Ich bin's nicht. Da sprach einer von den Knechten des Hohenpriesters, ein Verwandter dessen, dem Petrus das Ohr abgeschlagen hatte: Habe ich dich nicht

27 im Garten bei ihm gesehen? Wieder verneinte Petrus, und in diesem Augenblicke krähte der Hahn.

Verhandlung vor Pilatus

28 Von Kajaphas führten sie Jesus in das römische Gerichts­haus. Es war in der ersten Morgenfrühe. Sie gingen selbst nicht mit hinein in das Gerichtshaus, um sich nicht zu verun-

JOHANNESEVANGELIUM 19

reinigen, sondern das Passah essen zu können. So trat Pilatus 29 zu ihnen heraus und sprach: Welche Anklage bringt ihr gegen diesen Menschen vor? Sie antworteten: Wäre er nicht ein 30 Übeltäter, so hätten wir ihn nicht zu dir gebracht. Da sprach 31 Pilatus zu ihnen: Nehmet ihn selbst und haltet über ihn Gericht nach eurem Gesetz. Die Juden aber sprachen: Wir haben keine Vollmacht, einen Menschen zu töten. Es sollte 32 sich das Wort Jesu erfüllen, als er auf die Art des Todes deu­tete, der ihm bevorstand. Da ging Pilatus wieder in das 33 Innere des Gerichtshauses, rief Jesus herbei und sprach zu ihm: Bist du der König der Juden? Jesus antwortete: Sagst du 34 das aus dir selber, oder haben dir das andere über mich gesagt? Pilatus sprach: Bin ich denn selbst ein Jude? Dein 35 eigenes Volk und die Hohenpriester haben dich mir überge­ben. Was hast du getan? Jesus antwortete: Mein Reich ist 36 nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, so hätten meine Diener für mich gekämpft und hätten mich nicht in die Hände der Juden fallen lassen. Aber mein Reich ist nicht von hier. Da fragte Pilatus: Bist du denn ein König? 37 Jesus erwiderte: Du mußt es sagen, ob ich ein König bin. Ich bin in die irdische Welt zur Geburt herabgestiegen, um für die Wahrheit zu zeugen. Jeder, der aus der Welt der Wahrheit stammt, hört meine Stimme. Da sprach Pilatus zu ihm: Was 38 ist Wahrheit? U n d als er das gesagt hatte, trat er wieder her­aus zu den Juden und sprach zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm. N u n herrscht aber doch bei euch der Brauch, daß ich 39 euch zum Passahfest einen Gefangenen freigebe. Wenn ihr wollt, so gebe ich euch den König der Juden frei. Aber sie 40 schrien zurück: Nicht diesen, sondern Barabbas! Barabbas aber war ein Mörder .

Domenkrönung

Da nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln. U n d die Sol- 1 7 daten flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie ihm auf

279

JOHANNESEVANGELIUM 19

das Haupt und legten ihm einen Purpurmantel um, schritten 3 auf ihn zu und sprachen: Heil dir, König der Juden! Und sie 4 schlugen ihm ins Gesicht. U n d von neuem trat Pilatus hervor

und sprach zu ihnen: Seht, so führe ich ihn zu euch heraus,

i damit ihr erkennt, daß ich keine Schuld an ihm finde. Und Jesus kam heraus, die Dornenkrone und den Purpurmantel tragend. Und er sprach zu ihnen: Siehe, das ist der Mensch.

6 Als ihn die Hohenpriester und die Tempcldiener sahen, schrien sie laut: Kreuzige, kreuzige ihn! Da sprach Pilatus zu ihnen: Nehmet ihr ihn selbst und kreuzigt ihn, denn ich finde

7 keine Schuld an ihm. Da antworteten die Juden: Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetze muß er sterben, denn er hat sich zu einem Gottessohn gemacht.

Verurteilung

8 Als Pilatus dieses Wort vernahm, erschrak er noch mehr y und ging wieder hinein in das Gcrichtshaus und sprach zu

Jesus: Woher hast du deinen Auftrag? Aber Jesus gab ihm io keine Antwort . Da sprach Pilatus zu ihm: Willst du zu mir

nicht sprechen? Weißt du nicht, daß ich Vollmacht habe, dich 11 zu befreien, und auch, dich ans Kreuz zu schlagen? Jesus ant­

wortete: Du hättest keine Macht über mich, wäre sie dir nicht von einem Höheren gegeben. Darum fällt die schwerere

12 Schicksalslast auf den, der mich dir überantwortet hat. Dar­aufhin versuchte Pilatus ihn freizulassen. Die Juden aber schrien: Wenn du ihn freiläßt, so bist du des Cäsars Freund nicht mehr. Denn jeder, der sich selbst zum Könige macht,

i3 widerstreitet dem Cäsar. Als er diese Worte gehört hatte, führte Pilatus Jesus heraus und setzte sich auf den Richter­stuhl an der Stätte, die man das Steinpflaster nannte, auf

14 hebräisch Gabbatha. Es war amRüsttagedes Passahfestes u m die Mittagsstunde. U n d er sprach zu den Juden: Seht, das ist

i> euer König. Jene aber schrien: Weg mit ihm, weg mit ihm, kreuzige ihn! Pilatus fragte: Soll ich euren König kreuzigen?

280

JOHANNESEVANGELIUM 19

U n d die Hohenpriester antworteten: Wir haben keinen König außer dem Cäsar. Da gab er ihnen Jesus preis zur 16 Kreuzigung.

Kreuzigung

U n d sie griffen Jesus, und er trug das Kreuz hinaus zur 17 Schädel-Stätte, auf hebräisch Golgotha. Dor t kreuzigten sie is ihn und mit ihm zwei andere, den einen auf der einen, den andern auf der andern Seite, Jesus aber in der Mitte. Pilatus 19 hatte eine Aufschrift geschrieben und heftete sie an das Kreuz. Darauf stand: JESUS VON NAZARETH, DER K ö N I G DER

JUDEN. Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo 20 Jesus gekreuzigt wurde, lag nahe bei der Stadt. Die Auf­schrift war in hebräischer, lateinischer und griechischer Spra­che geschrieben. Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu 21 Pilatus: Schreibe nicht »der König der Juden«, sondern »jener sprach: Ich bin der König der Juden«. Pilatus aber antwor- 22 tete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.

Als nun die Soldaten Jesus an das Kreuz geschlagen hat- 23 ten, nahmen sie seine Gewänder und teilten sie in vier Teile und gaben jedem Soldaten einen Teil. Dann nahmen sie auch den Mantel. Dieser Mantel war ungenäht, von oben bis unten aus einem Stück gewebt. Da sprachen sie zueinander: 24 Laßt uns den nicht zerteilen, sondern das Los werfen, w e m er gehören soll. Es sollte sich das Wort der Schrift erfüllen: »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt, und u m meinen Man­tel haben sie das Los geworfen.« Die Soldaten nun taten dies.

Es standen bei dem Kreuze Jesu seine Mutter und die 25 Schwester seiner Mutter, die Maria des Kleophas, und Maria von Magdala. Als nun Jesus seine Mutter dastehen sah und 26 den Jünger, den er liebhatte, sprach er zu der Mutter: Weib, siehe, das ist dein Sohn. U n d dann sprach er zu dem Jünger: 27 Siehe, das ist deine Mutter . U n d von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.

281

J O H A N N E S EVANGELIUM 19

Der Tod

28 Danach nahm Jesus im Geiste -wahr: Alles ist der Weihe-Tat-Vollendung nahe, und damit das Wort der Schrift an sein

29 Ziel komme, sprach er: Mich dürstet. Es stand dort ein Gefäß mit Essig. Und sie tränkten einen Schwamm mit Essig, leg­ten ihn u m einen Ysopzweig und hielten ihn ihm an den

30 Mund. U n d als Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Die Vollendung ist da. Dann neigte er sein Haupt und hauchte seinen Atem aus.

31 Da es der Rüsttag war, wollten die Juden nicht, daß die Leiber den Sabbat über am Kreuze blieben, denn dieser Sab­bat war ein hoher Festtag. So baten sie Pilatus, man solle

32 ihnen die Beine brechen und sie vom Kreuze nehmen. So kamen denn die Soldaten und brachen zuerst dem einen,

33 dann dem andern Mitgekreuzigten die Beine. Als sie zu Jesus kamen und sahen, daß er schon gestorben war, brachen sie

34 ihm die Beine nicht. Einer aber von den Soldaten stieß mit der Lanze in seine Seite, und sogleich floß Blut und Wasser

35 heraus. Das hat der, der es sah, selber bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr. U n d er weiß, daß er die Wahrheit spricht,

36 damit auch ihr den Weg des Glaubens findet. Das alles geschah, damit sich das Wort erfüllte: »Man wird ihm die

37 Gebeine nicht zerbrechen«, — und auch die andere Stelle der Schrift: »Schauen werden sie den, den sie durchstochen haben.«

Grablegung

38 Danach kam Joseph von Arimathia zu Pilatus und bat ihn, den Leib Jesu vom Kreuze nehmen zu dürfen. Er war ein Jünger Jesu, blieb jedoch als solcher im verborgenen aus Furcht vor den Juden. Pilatus gab ihm die Erlaubnis. So kam

39 er denn und nahm seinen Leib herab. Auch Nikodemus kam, der zuerst im Nachtbereich zu Jesus gekommen war, und

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JOHANNESEVANGELIUM 20

brachte an die hundert Pfund von einer Mischung aus Myrrhe und Aloe. U n d sie nahmen den Leib Jesu und banden 40 ihn in Bänder ein, die mit Balsamgewürzen getränkt waren, wie man es bei den Juden zur Grablegung zu tun pflegte. An 41 der Stätte der Kreuzigung war ein Garten, und in dem Garten war ein neues Grab, in das noch nie ein Mensch gelegt wor­den war. Dahinein legten sie Jesus aus Rücksicht auf den 42 Rüsttag der Juden, denn das Grab war nahe.

Die Auferstehung

A m ersten Tage nach dem Sabbat kommt Maria von ZU Magdala, als das erste Licht des Morgens die Dunkelheit durchbricht, an das Grab und sieht, daß der Stein abgehoben ist. U n d sie läuft und k o m m t zu Simon Petrus und zu dem 2 anderen Jünger, den Jesus Hebhatte, und spricht zu ihnen: Sie haben den Herrn aus dem Grabe geholt, und wir wissen nicht, wohin sie ihn gebracht. Und so machten sich Petrus 3 und der andere Jünger auf den Weg an das Grab. Sie liefen 4 beide miteinander, und der andere Jünger lief schneller und überholte Petrus und kam als erster an das Grab. Er beugte 5 sich vor und sah die Leichentücher liegen, aber er ging nicht hinein. Dann kam auch Simon Petrus, der ihm folgte, an und 6 ging sogleich hinein in das Grab. U n d er sah die Leinentücher dort hegen, und das Schweißtuch, das auf seinem Haupt 7 gelegen hatte. Es lag aber nicht bei den anderen Tüchern, sondern abseits zusammengeknäuelt an einem besonderen ()rt. Da ging auch der andere Jünger hinein, der zuerst an das 8 (irab gekommen war, und sah, und Seelensicherheit des (Glaubens zog in ihn ein. Denn noch war ihnen der Sinn des 9 Schriftwortes verborgen geblieben, daß er v o m Tode aufer­stehen würde. U n d die Jünger kehrten wieder zurück in ihr 10 I laus.

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J O H A N N E S E V A N G E L I U M 20

Erscheinung vor Maria von Magdala

TT Maria aber stand draußen vor dem Grabe und weinte. 12 Und weinend beugt sie sich vor in das Grab und sieht zwei

Engel in leuchtendhellen Gewändern dasitzen, den einen an der Kopfseite, den andern zu Füßen, da, w o der Leib Jesu

13 gelegen hatte. U n d sie sprechen zu ihr: Weib, warum weinst du? Sie antwortet: Sie haben meinen Herrn weggenommen,

14 und ich weiß nicht, wohin sie ihn gebracht. U n d während sie das sagte, wandte sie sich u m und sieht Jesus stehen, erkennt

15 aber nicht, daß es Jesus ist. Und Jesus spricht zu ihr: Weib, warum weinst du, wen suchest du? Er erschien ihr als der Gärtner, und sie spricht zu ihm: Herr, hast du ihn fortgenom­men, so sage mir, wohin du ihn gebracht, damit ich ihn holen

16 kann. Jesus spricht zu ihr: Maria! U n d wieder -wendet sie sich u m und sagt zu ihm auf hebräisch: Rabbuni, das heißt: Mei-

17 ster. Jesus aber sagt zu ihr: Rühre mich nicht an, denn noch bin ich nicht aufgestiegen zu dem väterlichen Weltengrunde. Gehe jetzt zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich steige empor zum Weltengrunde, der väterlich mir und euch das Dasein gibt, der als göttliche Kraft lebt in mir und auch in

18 euch. Da geht Maria von Magdala und bringt den Jüngern die Botschaft: Ich habe den Herrn gesehen, und diese Worte hat er zu mir gesprochen.

Erscheinung vor den Jüngern

19 A m Abend dieses Tages, des ersten Tages nach dem Sab­bat, hatten die Jünger die Türen des Raumes, in 'welchem sie waren, aus Furcht vor den Juden verschlossen. Da kam Jesus und trat in ihre Mitte und sprach zu ihnen: Friede sei mit

20 euch! U n d -während er diese Worte sprach, zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da erkannten die Jünger voller

21 Freude den Herrn. Und er sprach noch einmal: Friede sei mit 22 euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sendeich euch. U n d

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JOHANNESEVANGELIUM 20

als er das gesagt hatte, hauchte er sie mit seinem Atem an und sprach: Nehmet hin heiligen Geist! Die ihr aus der Sünde 21 löset, sollen aus ihr gelöst sein, und die ihr in ihr verharren laßt, sollen in ihr verharren.

Thomas, einer von den Zwölfen, den man den Zwilling 24 nannte, war nicht dabei, als Jesus kam. Nachher sprachen die %,$ anderen Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht das Mal der Nägel sehen kann in seinen Händen und meinen Finger in die Nägelmale und meine Hand in seine Seite legen kann, so kann ich es nicht glauben.

Erscheinung vor Thomas

U n d nach acht Tagen waren seine Jünger wieder im 26 innern Raum versammelt, und Thomas war dabei. Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte und sprach: Friede sei mit euch! U n d dann sprach er zu Thomas: Reiche 27 deinen Finger her und siehe meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und bleib nicht starr in deinem Herzen; fühle vielmehr in deinem Herzen meine Kraft! Da sprach Thomas zu ihm: Du bist der Herr meiner 28 Seele, du bist der Gott, dem ich diene. U n d Jesus sprach zu 29 ihm: Weil du mich geschaut hast, hast du meine Kraft in dir gefunden? Selig sind, die meine Kraft im Herzen finden, auch wenn ihr Auge mich nicht sieht.

Noch viele andere Zeichen vollbrachte Jesus vor den 30 Augen seiner Jünger. Sie sind in diesem Buch nicht aufge­zeichnet. Was aber in diesem Buche steht, das ist geschrie- 31 ben, damit in euch die Seelensicherheit entsteht, daß Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes. U n d wenn ihr diese Seelensi­cherheit gewinnt, so findet ihr durch seines Namens Kraft das wahre Leben.

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JOHANNESEVANGELIUM 21

Das Frühmahl am See

Z1 Danach offenbarte sich Jesus den Jüngern von neuem am Ufer des Meeres von Tiberias. Diese Offenbarung kam so

2 zustande. Es waren beisammen Simon Petrus, Thomas, den man den Zwilling nannte, Nathanael aus Kana in Galiläa, die Zebedäussöhne und noch zwei andere von seinen Jüngern.

3 Da sagt Simon Petrus zu ihnen: Ich will gehen, um die Netze auszuwerfen. Und sie antworten: Wir wollen mit dir gehen. Und sie verließen das Haus und stiegen in das Schiff. Aber in

4 dieser Nacht fingen sie nichts. Als schon der Morgen herauf­stieg, stand Jesus am Gestade. Die Jünger jedoch erkannten

5 nicht, daß er es war. Da spricht Jesus zu ihnen: Kindlein, habt 6 ihr nichts zu essen? Sie antworten ihm: Nein. Und er sagt zu

ihnen: Werfet auf der rechten Seite des Schiffes euer Netz aus, und ihr werdet zu essen haben. Als sie das Netz auswarfen, vermochten sie es kaum mehr zu ziehen, so groß war die

7 Fülle der Fische. Da sagt jener Jünger, den Jesus liebhatte, zu Petrus: Es ist der Herr! U n d als Simon Petrus hörte, daß es der Herr sei, fuhr er in sein Gewand und gürtete es um, denn

8 er war nackt, und warf sich ins Meer. Die anderen Jünger kamen mit dem Schiffe nach. Sie waren nur noch zweihun­dert Ellen vom Lande entfernt und zogen das Netz mit den

9 Fischen heran. Als sie nun ans Land stiegen, sehen sie ein io Kohlenfeuer angelegt und Fisch und Brot darauf. U n d Jesus

spricht zu ihnen: Bringet herbei von den Fischen, die ihr ii eben gefangen habt. Da stieg Simon Petrus hinauf und

zog das volle Netz ans Land mit hundertdreiundfünfzig großen Fischen. Trotz der großen Zahl zerriß das Netz

i2 nicht. U n d Jesus spricht zu ihnen: Kommt zum Mahle! Kei­ner von den Jüngern wagte es, ihn auszuforschen: Wer bist

13 du? Sehend erkannten sie, daß es der Herr war. U n d Jesus kommt und n immt das Brot und gibt es ihnen. Das gleiche

14 tut er mit den Fischen. Das v a r bereits das dritte Mal, daß

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JOHANNESEVANGELIUM 21

Jesus sich den Jüngern offenbarte als der vom Tode Aufer­standene.

Auftrag an Petrus und Johannes

Als sie das Mahl gehalten hatten, sagt Jesus zu Simon 15 Petrus: Simon, Sohn des Jona, hebst du mich mehr als die andern? Er antwortet: Ja, Herr, du weißt, daß ich dich lieb­habe. U n d er spricht zu ihm: Weide meine Lämmer! U n d er 16 fragt ihn zum zweiten Male: Simon, Sohn des Jona, liebst du mich? U n d er antwortet: Ja, Herr, du weißt, daß ich dich liebhabe. Und er spricht zu ihm: Sei der Hirte meiner Schafe! Und zum dritten Male fragt er ihn: Simon, Sohn des Jona, 17 hast du mich Heb? Da wurde Petrus betrübt, daß er ihn zum dritten Male fragte: Hast du mich lieb? U n d er antwortete: Herr, dein wissendes Auge sieht alles, du weißt, daß ich dich liebhabe. Und Jesus spricht zu ihm: Weide meine Schafe! Ja, 18 ich sage dir: Solange du jung warst, gürtetest du dich selbst und strebtest nach selbstgewählten Zielen. Wenn du aber des Alters Reife erlangst, so wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und dein Führer sein zu Zielen, die du dir nicht selber gibst. Mit diesem Wort gab er 19 ihm ein Bild von der Art des Sterbens, durch die das Göttli­che in ihm zur Offenbarung kommen sollte. U n d er fährt fort und sagt zu ihm: Folge mir nach!

D a wendet sich Petrus u m und sieht, wie der Jünger, den 20 Jesus liebhatte, ihm nachfolgte. Das war der, der beim Mahle an seiner Brust gelegen und gesprochen hatte: Herr, wer ist es, der dich verrät? Als Petrus ihn sieht, sagt er zu Jesus: Herr, 21 welches ist sein Auftrag? Jesus antwortet ihm: Wenn ich ihn 22 dazu bestimme, zu bleiben bis zu meiner Wiederkunft, so stört das deine Wege nicht. Folge du mir nach! Von nun an 23 verbreitete sich unter den Jüngern das Wort: Dieser Jünger wird nicht sterben. Aber Jesus sprach nicht zu Petrus: Er wird nicht sterben, sondern: Wenn ich ihn dazu bestimme, zu blei-

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J O H A N N E S EVANGELIUM 21

ben bis zu meiner Wiederkunft, so stört das deine Wege nicht.

24 Dieses ist der Jünger, der alles dies bezeugt. Er schrieb es nieder, und wir erkennen, daß sein Zeugnis die Wahrheit ist.

25 Noch vieles andere hat Jesus vollbracht. Sollte jedoch alles nacheinander aufgeschrieben -werden, so meine ich, die Welt hätte nicht genügend Raum für die Bücher, die zu schreiben wären.