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Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur Gesamtwerk in 7 Bänden inkl. Registerband Bearbeitet von Dan Diner 1. Auflage 2011. Buch. 4200 S. Hardcover ISBN 978 3 476 02500 5 Format (B x L): 15,5 x 23,5 cm Weitere Fachgebiete > Geschichte > Kultur- und Ideengeschichte schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

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Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur

Gesamtwerk in 7 Bänden inkl. Registerband

Bearbeitet vonDan Diner

1. Auflage 2011. Buch. 4200 S. HardcoverISBN 978 3 476 02500 5

Format (B x L): 15,5 x 23,5 cm

Weitere Fachgebiete > Geschichte > Kultur- und Ideengeschichte

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

als 8 Millionen Produkte.

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EJGKEnzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur

Leseprobe

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Inhalt

Die EJGKAutorenverzeichnisEinführungArtikelverzeichnisAusgewählte ArtikelBestellmöglichkeitImpressum

2–3 4–5

6–1718–2122–47

4849

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EJGKEnzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur

Page 5: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur - ReadingSample

HerausgeberDie Enzyklopädie wird im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig herausgegeben von Dan Diner, Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig und Professor für Europäische Zeit-geschichte an der Hebrew University in Jerusalem.

BeiratMarion Aptroot (Düsseldorf) • Jacob Barnai (Haifa) • Israel Bartal (Jerusalem) • Omer Bartov (Providence) • Esther Benbassa (Paris) • Dominique Bourel (Paris) • Michael Brenner (München) • Matti Bunzl (Urbana-Champaign) • Lois C. Dubin (Northampton, MA) • Todd M. Endelman (Ann Arbor) • David Engel (New York) • Shmuel Feiner (Ramat Gan) • Norbert Frei (Jena) • Saul Friedländer (Los Angeles) • Sander L. Gilman (Atlanta) • Frank Golczewski (Hamburg) • Andreas Gotzmann (Erfurt) • Michael Graetz (Heidelberg) • Raphael Gross (London/Frankfurt am Main) • Heiko Haumann (Basel) • Johannes Heil (Heidelberg) • Susannah Heschel (Hanover) • Yosef Kaplan (Jerusalem) • Cilly Kugelmann (Berlin) • Mark Levene (Southampton) • Leonid Luks (Eichstätt) • Ezra Mendelsohn (Jerusalem) • Paul Mendes-Flohr (Chicago/Jerusalem) • Dan Miron (New York) • Gabriel Motzkin (Jerusalem) • David N. Myers (Los Angeles) • Jacques Picard (Basel) • Gertrud Pickhan (Berlin) • Anthony Polonsky (Waltham, MA) • Renée Poznanski (Beer Sheva) • Peter Pulzer (Oxford) • Aron Rodrigue (Stanford) • Manfred Rudersdorf (Leipzig) • Rachel Salamander (München) • Winfried Schulze (München) • Marcos Silber (Haifa) • Gerald Stourzh (Wien) • Feliks Tych (Warschau) • Yfaat Weiss (Jerusalem) • Christian Wiese (Frankfurt am Main) • Carsten L. Wilke (Budapest) • Moshe Zimmermann (Jerusalem) • Steven J. Zipperstein (Stanford)

RedaktionMarkus Kirchhoff (Leitung) • Philipp Graf • Ulrike Kramme • Simon Mahling • Christian Otto • Regina Randhofer • Frauke von Rohden • Philipp von Wussow • Alexandra Schröder, Alexandra Tyrolf (Assistenz)

Von Europa über Amerika bis zum Vorderen Orient, Nordafrika und anderen außer-europäischen jüdischen Siedlungsräumen erschließt die Enzyklopädie in sechs Bänden und einem Registerband die neuere Geschichte der Juden von 1750 bis 1950.

Rund 800 Stichwörter präsentieren den Stand der internationalen Forschung und entwerfen ein viel schichtiges Porträt jüdischer Lebenswelten – illustriert durch viele Karten und Abbildungen. Übergreifende Informationen zu zentralen Themen vermitteln ca. 40 Schlüssel artikel zu Begriffen wie Autonomie, Exil, Emanzipation, Literatur, Liturgie, Musik oder Wissenschaft des Judentums. Zuverlässige Orientierung bei der Arbeit mit dem Nachschlagewerk bieten ausführliche Personen-, Orts- und Sachregister im siebten Band. Die Enzyklopädie stellt Wissen in einen Gesamtkontext und bietet   Wissenschaftlern und Interessierten neue Einblicke in die jüdische Geschichte und Kultur. Ein herausragender Beitrag zum Verständnis des Judentums und der Moderne.

Neuer Blick auf die jüdische Geschichte und Kultur ... 2

Page 6: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur - ReadingSample

Neuer Blick auf die jüdische Geschichte und Kultur ...

Editionsplan:

Band 1: A-Cl (Juni 2011)

Band 2: Co-Ha (Dezember 2011)

Band 3: He-Li (März 2012)

Band 4: Lo-Po (Oktober 2012)

Band 5: Pr-Ta (März 2013)

Band 6: Te-Z (Oktober 2013)

Band 7: Register (März 2014)

Von über 500 internationalen Fach-

wissenschaftlern

Dan Diner (Hrsg.)Enzyklopädie jüdischer Geschichte und KulturGesamtwerk in 7 Bänden inkl. RegisterbandIm Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von Dan DinerCa. 4200 S., 360 s/w Abb., 42 Karten. Geb., Leinen mit Prägung.€ 1.399,65/€ (A) 1.439,20ISBN 978-3-476-02500-5

Das Werk kann nur komplett bezogen wer-den. Die Einzelbände werden automatisch mit Erscheinen bis auf Widerruf zum Fortsetzungspreis von € 199,95 geliefert.

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Page 7: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur - ReadingSample

Marion Aptroot, DüsseldorfKerstin Armborst-Weihs, MainzYaakov Ariel, Chapel HillDolores L. Augustine, Jamaica NYCornelia Aust, Philadelphia

Jacob Barnai, New YorkIsrael Bartal, JerusalemOmer Bartov, Cambridge MASteven Beller, WashingtonGérard Bensussan, StraßburgPierre Birnbaum, ParisAlfred Bodenheimer, BaselAndreas Brämer, HamburgMichael Brenner, MünchenEdward Breuer, JerusalemMicha Brumlik, Frankfurt a. M.

Leonard Dinnerstein, Tucson AZGlenn Dynner, Riverdale NY

John M. Efron, BerkeleyWolfgang Emmerich, BremenTodd M. Endelman, Ann Arbor MIDavid Engel, New York

Anat Feinberg, HeidelbergShmuel Feiner, JerusalemConstantin Floros, HamburgCharlotte Fonrobert, BerlinNorbert Frei, Jena

Yoav Gelber, HaifaFrank Golczewski, HamburgSylvie Anne Goldberg, ParisConstantin Goschler, BochumAndreas Gotzmann, ErfurtJan T. Gross, Princeton NJRaphael Gross, Frankfurt a. M.

Rund 500 renommierte internationale Autoren der EJGK, darunter:

Malachi HaCohen, DurhamFrank Hadler, LeipzigGalit Hasan-Rokem, JerusalemJohannes Heil, HeidelbergRachel Heuberger, Frankfurt a. M.John Hiden, GlasgowChristhard Hoffmann, BergenHans Otto Horch, Aachen

Carol Iancu, MontpellierAndreas Isenschmid, Berlin

Willi Jasper, PotsdamRobert Jütte, Stuttgart

Andreas B. Kilcher, ZürichBirgit Klein, HeidelbergClaudia Kraft, ErfurtDaniel Krochmalnik, HeidelbergAntje Kuchenbecker, Silver SpringPatrick Kury, Bern

Simone Lässig, BraunschweigLisa Moses Leff, WashingtonMark Levene, SouthamptonJulian Levinson, Ann Arbor MIJürgen Lillteicher, LübeckHanno Loewy, Hohenems

Pawel Maciejko, JerusalemMichael R. Marrus, TorontoDalia Marx, PotsdamDoron Mendels, JerusalemDan Miron, New YorkHarvey Mitchell, VancouverAmos Morris-Reich, HaifaDavid Myers, Los Angeles

Stephen N. Norwood, Oklahoma

Autorenverzeichnis 4

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Derek Penslar, TorontoErik Petry, BaselJacques Picard, BaselGertrud Pickhan, BerlinRenée Poznanski, Beer Sheva

Anson Rabinbach, PrincetonStefan C. Reif, CambridgeAndreas Reinke, BerlinDirk Rupnow, Wien

Gerhard Scheit, WienUlrich M. Schumann, KarlsruheYaacov Shavit, Tel AvivDimitry Shumsky, JerusalemMarcos Silber, HaifaReuven Snir, Cambridge MAMichael Studemund-Halévy, Hamburg

Ittai J. Tamari, MünchenEnzo Traverso, AmiensAnthony Travis, Jerusalem

Sigrid Weigel, BerlinYfaat Weiss, JerusalemStephen J. Whitfield, LexingtonChristian Wiese, Frankfurt a. M.Carsten Wilke, BudapestBernd Witte, Düsseldorf

Shelly Zer-Zion, Tel AvivMoshe Zimmermann, JerusalemZvi Zohar, Jerusalem

Autorenverzeichnis 5

Page 9: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur - ReadingSample

Einf�hrung

Enzyklopädien fixieren die Zeitlichkeit des ihnenzur Bewahrung aufgetragenen Wissens. Gemein-hin entstehen sie an Schwellen sich verändernderErkenntnis. An solchen Übergängen kumulierensie systematisch und notwendig selektiv für erhal-tenswert befundene Wissensbestände. Die Enzy-klopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK) reflek-tiert eine Konstellation des Wissens an einemkomplexen Übergang. Seit dem großen Einschnittder gleichsam alle jüdischen Zeiten in ihren Orbitziehenden Katastrophe des Holocaust ist mehr alsein Menschenalter vergangen. In Anerkennungder mit diesem Ereignis verbundenen Krise deshistorischen Verstehens wird in der EJGK dennochversucht, eine der Wucht des Ereignisses angemes-sene historisierende Perspektive einzunehmen.Die jüdische Geschichte, genauer: die Geschichtenund Kulturen der Juden finden sich angesichtsjener einschneidenden Zerstörung und zugleichin Abstand zu ihr auf neuer Grundlage zusam-men. Eine solche Konstellation nährt die Erwar-tung an eine neue Kanonbildung.

Kanonbildung erscheint heute nicht zeitgemäßund die Geltung tradierter Wissensbestände stehtunter Vorbehalt. So wird das Anliegen der Kanon-bildung von einer allgegenwärtigen Tendenz zukultureller Vielfalt und den mit ihr einhergehen-den Deutungsmodi herausgefordert. Eine solcheTendenz untergräbt die Autorität eines wesentlichseit der frühenNeuzeit gewachsenen,wenn auchalswestlich begrenzt erachteten Wissens. Damit ero-diert auch der die Ansammlung von Wissen unddie Gestaltung von Erkenntnis regulierende, demneuzeitlichen Aufklärungsdenken entsprungeneLeit- und Ordnungsbegriff von der Geschichte.

Die EJGK versteht sich als ein kanonisches Vor-haben postkanonischen Charakters. Sie hält an derBedeutung von über die Zeiten erfolgten Verdich-tungen von Wissenstraditionen und ihrer Ver-ankerung in der Moderne ebenso fest, wie sieeine dekonstruierende Verfremdung dieses Wis-sens dort gelten lässt, wo diese einen veritablenErkenntnisgewinn verheißt. Dass ein solcher, zwi-schen Tradition und nachtraditioneller Verfrem-dung vermittelnder Zugang für die enzyklopä-dische Disposition jüdischer Wissensbestände ge-wählt wird, ist nicht dem Einfluss des Zeitgeistsgeschuldet. Vielmehr entspricht er der besonderenNatur des repräsentierten Sujets. So sind die jüdi-

schen Lebenswelten Ausdruck einer eminent dia-sporischen Konstellation, die ihre Substanz tradi-tionell in einer sakral geprägten Textkultur hat.Nicht nur in geographischer, auch in kultur-geschichtlicher Hinsicht wird diese diasporischeKonstellation von Phänomenen räumlicher Auf-hebung und territorialer Überschreitung beglei-tet. Diese Lebenswelten unterscheiden sich signi-fikant von den sie umgebenden, vornehmlichmachtgestützten Mehrheitskulturen. Währendletztere sich in Analogie zum geometrischenAxiom der Fläche generieren, findet die diaspori-sche jüdische Lebenswelt das ihr entsprechendeOrdnungsprinzip in der Axiomatik des unge-schützten Punktes.

Perspektive und Erkenntnis

Der in der EJGK präsentierte enzyklopädische Ka-non jüdischer Geschichte und Kultur ist Ausdruckeiner komplexen Konfiguration dreier ineinanderverschränkter Perspektiven: der Innensicht der jü-dischen Selbstverständigung; der Außensicht mit-tels wissenschaftlicher Disziplinen auf das jüdi-sche Thema; und schließlich einer über Judenund Judentum im engeren Sinn hinausweisendenPerspektive einer universellen Bedeutung jüdi-scher Existenzerfahrung.

Bei der Binnensicht und der Außensicht aufden Gegenstand handelt es sich im Wesentlichenum jeweils verschieden justierte Modi der Verstän-digung über ein und dasselbe. Im Idealfall geht esum eine Unterscheidung zwischen existentiellerBeteiligung einerseits und teilnahmsloser Beob-achtung andererseits. So ist der innerjüdische Dis-kurs vornehmlich Reflex lebendiger jüdischerExistenz, Ausdruck beständigen Aushandelnsvon als obligat erachteten Emblemen der Zugehö-rigkeit, und dies in unterschiedlicher Nähe zu deran die Offenbarung gebundenen Tradition. DerDiskurs der Außensicht thematisiert zwar diesel-ben Inhalte, diszipliniert diese aber wissenschaft-lich. Bei aller Differenz zwischen Beteiligung ei-nerseits und Beobachtung andererseits, von »in-nen« und von »außen«, neigen beide Sichtweisendazu, ineinander überzugehen.

Ein solcher Übergang ist die Folge von Säkula-risierung. Traditionell wird jüdische Zugehörig-keit ebenso wie die lebensweltliche Regulierung

VII Einf�hrungEinführung 6

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Einf�hrung

Enzyklopädien fixieren die Zeitlichkeit des ihnenzur Bewahrung aufgetragenen Wissens. Gemein-hin entstehen sie an Schwellen sich verändernderErkenntnis. An solchen Übergängen kumulierensie systematisch und notwendig selektiv für erhal-tenswert befundene Wissensbestände. Die Enzy-klopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK) reflek-tiert eine Konstellation des Wissens an einemkomplexen Übergang. Seit dem großen Einschnittder gleichsam alle jüdischen Zeiten in ihren Orbitziehenden Katastrophe des Holocaust ist mehr alsein Menschenalter vergangen. In Anerkennungder mit diesem Ereignis verbundenen Krise deshistorischen Verstehens wird in der EJGK dennochversucht, eine der Wucht des Ereignisses angemes-sene historisierende Perspektive einzunehmen.Die jüdische Geschichte, genauer: die Geschichtenund Kulturen der Juden finden sich angesichtsjener einschneidenden Zerstörung und zugleichin Abstand zu ihr auf neuer Grundlage zusam-men. Eine solche Konstellation nährt die Erwar-tung an eine neue Kanonbildung.

Kanonbildung erscheint heute nicht zeitgemäßund die Geltung tradierter Wissensbestände stehtunter Vorbehalt. So wird das Anliegen der Kanon-bildung von einer allgegenwärtigen Tendenz zukultureller Vielfalt und den mit ihr einhergehen-den Deutungsmodi herausgefordert. Eine solcheTendenz untergräbt die Autorität eines wesentlichseit der frühenNeuzeit gewachsenen,wenn auchalswestlich begrenzt erachteten Wissens. Damit ero-diert auch der die Ansammlung von Wissen unddie Gestaltung von Erkenntnis regulierende, demneuzeitlichen Aufklärungsdenken entsprungeneLeit- und Ordnungsbegriff von der Geschichte.

Die EJGK versteht sich als ein kanonisches Vor-haben postkanonischen Charakters. Sie hält an derBedeutung von über die Zeiten erfolgten Verdich-tungen von Wissenstraditionen und ihrer Ver-ankerung in der Moderne ebenso fest, wie sieeine dekonstruierende Verfremdung dieses Wis-sens dort gelten lässt, wo diese einen veritablenErkenntnisgewinn verheißt. Dass ein solcher, zwi-schen Tradition und nachtraditioneller Verfrem-dung vermittelnder Zugang für die enzyklopä-dische Disposition jüdischer Wissensbestände ge-wählt wird, ist nicht dem Einfluss des Zeitgeistsgeschuldet. Vielmehr entspricht er der besonderenNatur des repräsentierten Sujets. So sind die jüdi-

schen Lebenswelten Ausdruck einer eminent dia-sporischen Konstellation, die ihre Substanz tradi-tionell in einer sakral geprägten Textkultur hat.Nicht nur in geographischer, auch in kultur-geschichtlicher Hinsicht wird diese diasporischeKonstellation von Phänomenen räumlicher Auf-hebung und territorialer Überschreitung beglei-tet. Diese Lebenswelten unterscheiden sich signi-fikant von den sie umgebenden, vornehmlichmachtgestützten Mehrheitskulturen. Währendletztere sich in Analogie zum geometrischenAxiom der Fläche generieren, findet die diaspori-sche jüdische Lebenswelt das ihr entsprechendeOrdnungsprinzip in der Axiomatik des unge-schützten Punktes.

Perspektive und Erkenntnis

Der in der EJGK präsentierte enzyklopädische Ka-non jüdischer Geschichte und Kultur ist Ausdruckeiner komplexen Konfiguration dreier ineinanderverschränkter Perspektiven: der Innensicht der jü-dischen Selbstverständigung; der Außensicht mit-tels wissenschaftlicher Disziplinen auf das jüdi-sche Thema; und schließlich einer über Judenund Judentum im engeren Sinn hinausweisendenPerspektive einer universellen Bedeutung jüdi-scher Existenzerfahrung.

Bei der Binnensicht und der Außensicht aufden Gegenstand handelt es sich im Wesentlichenum jeweils verschieden justierte Modi der Verstän-digung über ein und dasselbe. Im Idealfall geht esum eine Unterscheidung zwischen existentiellerBeteiligung einerseits und teilnahmsloser Beob-achtung andererseits. So ist der innerjüdische Dis-kurs vornehmlich Reflex lebendiger jüdischerExistenz, Ausdruck beständigen Aushandelnsvon als obligat erachteten Emblemen der Zugehö-rigkeit, und dies in unterschiedlicher Nähe zu deran die Offenbarung gebundenen Tradition. DerDiskurs der Außensicht thematisiert zwar diesel-ben Inhalte, diszipliniert diese aber wissenschaft-lich. Bei aller Differenz zwischen Beteiligung ei-nerseits und Beobachtung andererseits, von »in-nen« und von »außen«, neigen beide Sichtweisendazu, ineinander überzugehen.

Ein solcher Übergang ist die Folge von Säkula-risierung. Traditionell wird jüdische Zugehörig-keit ebenso wie die lebensweltliche Regulierung

VII Einf�hrung

des Alltags allein auf der Grundlage des Religions-gesetzes und des ihm geltenden, sakral impräg-nierten Textkorpus ausgehandelt. Mit dem Ver-lust transzendentaler Gewissheit kommt dem anderen Stelle sich ausbreitenden, gleichwohl wenigSicherheit verheißenden Geschichtsdenken eineanaloge Bedeutung zu. Der in der Moderne ein-setzende Rekurs auf Geschichte unterhöhlt daherdie Unterscheidung zwischen »innen« und »au-ßen« mit der Folge, dass jeweils verschiedeneSprechweisen miteinander verschmelzen – die be-teiligte innerjüdische Rede über Zugehörigkeitund die des akademisch disziplinierten Beobach-tens derselben. Letzteres wird durch das Sprechenüber Zugehörigkeit ebenso genährt, wie die wis-senschaftlichen Befunde über das Jüdische ihrer-seits in die jüdische Selbstverständigung einge-hen.

Die dritte Perspektive, die das enzyklopädischeWerk einnimmt, überschreitet die Perimeter jüdi-scher Geschichte und Kultur im engeren Sinne. Sienimmt dabei jene Anteile jüdischer Existenzerfah-rung in den Blick, denen eine zutiefst universelle,gleichsam anthropologische Geltung zukommt.Mittels einer solchen Existenzerfahrung wird einbesonderer Blick auf die Verwerfungen der Mo-derne möglich. So lässt sich die ihrer diaspori-schen Natur wegen fragile, durch das Axiom vomPunkt symbolisierte jüdische Konstellation als einüberaus empfindlich reagierender Seismograph ineiner Epoche zunehmender lebensweltlicher Be-schleunigung und der sie begleitenden krisenhaf-ten Erscheinungen verstehen.

Das Wissen über die Existenzerfahrung derverschiedenen Judenheiten bietet sich als Arsenaluniverseller Erkenntnis vor allem deshalb an, weiles bereits in der Moderne jene komplexe, aus viel-fältigen Anteilen komponierte Zugehörigkeit desnachmodernen Menschen vorwegnahm. Der dia-sporischen jüdischen Existenz war bereits in derHochmoderne – wesentlich in der Zeit des aus-gehenden langen 19. Jahrhunderts bis weit in dassich als katastrophisch erweisende kurze 20. Jahr-hundert – eine Spannung inhärent: die in denjüdischen Individuen angelegte Spannung, sichals Einzelne zu Pionieren der Moderne zu verwan-deln und zugleich als Angehörige des jüdischenKollektivs sichtbar residuelle Merkmale der Vor-moderne aufzuweisen. Ein solches Zusammen-treffen ungleichzeitiger lebensweltlicher Modi,vielfach in ein und derselben Person, entspricht

durchaus den sich durchsetzenden nachmodernenLagen der Gegenwart. Zugehörigkeit erstrecktsich damit auf verschiedene Lebenswelten, Kultu-ren und Sprachgemeinschaften. Dabei verweisendie Embleme der Zugehörigkeit auf unterschied-liche Zeitschichten der Erinnerung – eine Konstel-lation, wie sie von Juden in der Moderne vorweg-genommen wurde.

Ausgehend von der jüdischen Existenzerfah-rung in der Moderne wird in der EJGK dem Pro-zess der Verwandlung, Verschiebung, Verflüssi-gung und Auflösung von traditionellen Merkma-len der Zugehörigkeit besondere Aufmerksamkeitgewidmet. Dabei wird dieser Prozess als eine se-kundäre, also jüdische Zugehörigkeit bewahrendeKonversion aus dem sakralen Kernbestand desJudentums in profan präformierte Lebensweltenaufgefasst. Der auf die Modi der Verwandlunggerichtete Blick konzentriert sich daher wenigerauf Phänomene eines von den Zeitläuften unbe-schädigt gebliebenen religiösen Selbstverständnis-ses als auf dessen Nachhall in post-traditionellerZeit. Zugehörigkeit schlägt sich mithin als Anteil,Fragment und Partikel nieder. Dies entspricht derForm nach dem für Enzyklopädien ohnehin gül-tigen kaleidoskopischen Prinzip der ein voraus-gesetztes Ganzes auflösenden alphabetischen Ord-nung, wobei das leitmotivische Element der Auf-lösung sich auch in der Gestaltung der Lemmataselbst wiederfindet. Diese folgen weniger den Vor-gaben eines eher traditionellen jüdischen Wissens-kanons, sondern suchen einer Form der Repräsen-tation zu entsprechen, die ebenjene Phänomeneder Überschreitung, Verschiebung und Verflüssi-gung widerspiegelt. Zwar bietet die EJGK durch-aus auch solchen Einträgen ausreichend Raum,deren Bezeichnung sich mit ihrem Inhalt unmit-telbar deckt. Andere Lemmata, vor allem solche,die in erster Linie Person und Werk thematisieren,mögen ihren eigentlichen Inhalt nicht auf denersten Blick offenbaren – dies vor allem dann,wenn sie Erscheinungen der Verwandlung zu be-zeichnen suchen. Gleichwohl wird damit wederein undurchdringliches Arkanum inszeniert,noch der hinreichend informierte Benutzer vor-ausgesetzt. Letzterem magdie Anlage der Lemmataeinen besonderen Erkenntnisgewinn insofern bie-ten, als die in der Bezeichnung des Lemmas einge-schlossene Emblematik eine Verschiebung der Per-spektive auf einen bislang vertrauten Gegenstanderlaubt.

Einf�hrung VIII7 Einführung

Page 11: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur - ReadingSample

Periodisierung j�discher Zeiten

Die EJGK präsentiert jüdische Lebenswelten be-treffendes Wissen an einer Zeitenschwelle desÜbergangs vom 20. in das 21. Jahrhundert. Dieserkomplexen Epoche des Wandels entsprechen dieerkenntnisleitenden wie darstellerischen Mitteldes enzyklopädischen Werks. Sie suchen in aus-gleichender Weise Motive der Moderne mit jenender Nachmoderne zu verknüpfen. Angewendetwerden sie in der Präsentation des Wissens vor-nehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, fürden Zeitraum zwischen 1750 und 1950. Die diesenZeitraum markierenden Jahreszahlen sind nichtvon ereignisgeschichtlicher Bedeutung. Vielmehrhandelt es sich um symbolische Eckdaten einerdie jüdische Existenzerfahrung in der Neuzeitumschließenden Epoche zwischen der beginnen-den Emanzipation und den Ausläufern der Kata-strophe. In sinnstiftende Beziehung zueinandergesetzt, verhandeln jene periodisierenden Zeit-chiffren die Existenzgeschichte der Juden in derModerne von ihrem Anfang wie von ihrem Endeher.

Die Chiffre 1750 steht für die zu jener Zeiteintretenden tiefgreifenden historischen Verände-rungen. Sie markiert den Übergang von der Vor-moderne in die Moderne. Es handelt sich hierbeiim Wesentlichen um die von den spätabsolutisti-schen Regimes Kontinentaleuropas angestoßenenMaßnahmen der »Verbesserung« der Juden, ihrerVerwandlung in »nützliche« Untertanen – umden Beginn einer von oben dekretierten Akkul-turation an die ihrerseits in einem Zustand tief-greifender Verwandlung befindlichen Mehrheits-kulturen. Während es sich bei diesen spätabsolu-tistischen Vorhaben eher um Maßgaben partiellerModernisierung handelte, die allenfalls graduelleWandlungserfolge zeitigten, sollten die Judendurch die von der Französischen Revolution her-beigeführten einschneidenden Veränderungenmittels der deklarierten universellen Menschen-und Bürgerrechte ultimativ wie absolut zu glei-chen Teilnehmern und Teilhabern am Gemeinwe-sen werden. Verbunden war diese Verheißung mitder Forderung nach Aufhebung der jahrhunderte-langen Tradition der institutionellen jüdischenAutonomie und ihrer weit gefächerten, alle Le-bensbereiche durchdringenden religionsgesetz-lich gestützten Regularien. Dies war eine tiefeZäsur – weg vom Regime vormoderner, vertikal

gerichteter korporativer Kollektivität in eine aufden Prinzipien horizontal verfasster, auf formalerGleichheit beruhende, die Person vereinzelnde(Staats-) Bürgerlichkeit und die sie regulierendepolitische Ordnung. Die im Kontext der Französi-schen Revolution angestoßene Transformationund die von ihr ausgelösten Erschütterungen be-gleiteten die Juden gleichsam epochal und warfendabei alle bekannten jüdischen Fragen der Mo-derne auf. Vom Westen Kontinentaleuropas aus-gehend wirken sie sich auf die Kernbereiche jüdi-scher Lebenswelten in Mittel- und Ostmittel-europa aus, bis nach Russland hinein. Auch imBereich des islamischen Orients waren sie, wennauch abgeschwächt, zu verspüren.

Die sich aus diesem Einschnitt ergebenden Fol-gen bestimmen wesentlich die thematische Anlageder ins Zentrum der enzyklopädischen Darstel-lung gerückten Zeitachse zweihundertjährigerDauer – jene die jüdische Geschichte periodisie-rende Epoche zwischen Emanzipation und Kata-strophe. Ob und wie die Juden als Einzelne undals Bürger, aber auch als Kollektiv in jener »jüdi-schen Epoche« der Moderne wirklich gleich wur-den und wie die jeweilige nichtjüdische Umweltauf jene vorgesehene und wie auch immer ver-wirklichte Gleichheit der Juden reagierte, gehörtzu den zentralen Fragen der nationalstaatlichenModerne.

Im Zentrum des historischen Einzugsbereichsder Zeitmarkierung 1950 amalgamiert sich die Er-fahrung des Holocaust mit dem Ereignis der jüdi-schen Staatswerdung. In diesem Zeitenfeld bildetsich ein mehrfaches Scheitern von Emanzipations-erwartungen ab – von den Maßnahmen der Rück-nahme individueller Gleichheit, dem Entzug desstaatsbürgerlich verfassten Schutzes der Person alsDementi universell begründeter menschenrecht-licher Versprechen bis hin zu der Katastrophe kol-lektiver Vernichtung. Die Chiffre 1950 verschränktereignisgeschichtliche Vorgänge, die vornehmlichvon den Jahreszahlen 1933, 1939/1941, 1945, 1948und 1952 bezeichnet werden – die Zeit der sichetablierenden NS-Herrschaft, den Beginn und dasEnde des Zweiten Weltkriegs, verbunden mit ei-ner zunehmend in das Zentrum des Bewusstseinsrückenden Wahrnehmung der alles verschlingen-den Katastrophe, die Gründung des Staates Israelund das mit Deutschland geschlossene Luxembur-ger Abkommen zur materiellen Wiedergutma-chung.

IX Einf�hrungEinführung 8

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Periodisierung j�discher Zeiten

Die EJGK präsentiert jüdische Lebenswelten be-treffendes Wissen an einer Zeitenschwelle desÜbergangs vom 20. in das 21. Jahrhundert. Dieserkomplexen Epoche des Wandels entsprechen dieerkenntnisleitenden wie darstellerischen Mitteldes enzyklopädischen Werks. Sie suchen in aus-gleichender Weise Motive der Moderne mit jenender Nachmoderne zu verknüpfen. Angewendetwerden sie in der Präsentation des Wissens vor-nehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, fürden Zeitraum zwischen 1750 und 1950. Die diesenZeitraum markierenden Jahreszahlen sind nichtvon ereignisgeschichtlicher Bedeutung. Vielmehrhandelt es sich um symbolische Eckdaten einerdie jüdische Existenzerfahrung in der Neuzeitumschließenden Epoche zwischen der beginnen-den Emanzipation und den Ausläufern der Kata-strophe. In sinnstiftende Beziehung zueinandergesetzt, verhandeln jene periodisierenden Zeit-chiffren die Existenzgeschichte der Juden in derModerne von ihrem Anfang wie von ihrem Endeher.

Die Chiffre 1750 steht für die zu jener Zeiteintretenden tiefgreifenden historischen Verände-rungen. Sie markiert den Übergang von der Vor-moderne in die Moderne. Es handelt sich hierbeiim Wesentlichen um die von den spätabsolutisti-schen Regimes Kontinentaleuropas angestoßenenMaßnahmen der »Verbesserung« der Juden, ihrerVerwandlung in »nützliche« Untertanen – umden Beginn einer von oben dekretierten Akkul-turation an die ihrerseits in einem Zustand tief-greifender Verwandlung befindlichen Mehrheits-kulturen. Während es sich bei diesen spätabsolu-tistischen Vorhaben eher um Maßgaben partiellerModernisierung handelte, die allenfalls graduelleWandlungserfolge zeitigten, sollten die Judendurch die von der Französischen Revolution her-beigeführten einschneidenden Veränderungenmittels der deklarierten universellen Menschen-und Bürgerrechte ultimativ wie absolut zu glei-chen Teilnehmern und Teilhabern am Gemeinwe-sen werden. Verbunden war diese Verheißung mitder Forderung nach Aufhebung der jahrhunderte-langen Tradition der institutionellen jüdischenAutonomie und ihrer weit gefächerten, alle Le-bensbereiche durchdringenden religionsgesetz-lich gestützten Regularien. Dies war eine tiefeZäsur – weg vom Regime vormoderner, vertikal

gerichteter korporativer Kollektivität in eine aufden Prinzipien horizontal verfasster, auf formalerGleichheit beruhende, die Person vereinzelnde(Staats-) Bürgerlichkeit und die sie regulierendepolitische Ordnung. Die im Kontext der Französi-schen Revolution angestoßene Transformationund die von ihr ausgelösten Erschütterungen be-gleiteten die Juden gleichsam epochal und warfendabei alle bekannten jüdischen Fragen der Mo-derne auf. Vom Westen Kontinentaleuropas aus-gehend wirken sie sich auf die Kernbereiche jüdi-scher Lebenswelten in Mittel- und Ostmittel-europa aus, bis nach Russland hinein. Auch imBereich des islamischen Orients waren sie, wennauch abgeschwächt, zu verspüren.

Die sich aus diesem Einschnitt ergebenden Fol-gen bestimmen wesentlich die thematische Anlageder ins Zentrum der enzyklopädischen Darstel-lung gerückten Zeitachse zweihundertjährigerDauer – jene die jüdische Geschichte periodisie-rende Epoche zwischen Emanzipation und Kata-strophe. Ob und wie die Juden als Einzelne undals Bürger, aber auch als Kollektiv in jener »jüdi-schen Epoche« der Moderne wirklich gleich wur-den und wie die jeweilige nichtjüdische Umweltauf jene vorgesehene und wie auch immer ver-wirklichte Gleichheit der Juden reagierte, gehörtzu den zentralen Fragen der nationalstaatlichenModerne.

Im Zentrum des historischen Einzugsbereichsder Zeitmarkierung 1950 amalgamiert sich die Er-fahrung des Holocaust mit dem Ereignis der jüdi-schen Staatswerdung. In diesem Zeitenfeld bildetsich ein mehrfaches Scheitern von Emanzipations-erwartungen ab – von den Maßnahmen der Rück-nahme individueller Gleichheit, dem Entzug desstaatsbürgerlich verfassten Schutzes der Person alsDementi universell begründeter menschenrecht-licher Versprechen bis hin zu der Katastrophe kol-lektiver Vernichtung. Die Chiffre 1950 verschränktereignisgeschichtliche Vorgänge, die vornehmlichvon den Jahreszahlen 1933, 1939/1941, 1945, 1948und 1952 bezeichnet werden – die Zeit der sichetablierenden NS-Herrschaft, den Beginn und dasEnde des Zweiten Weltkriegs, verbunden mit ei-ner zunehmend in das Zentrum des Bewusstseinsrückenden Wahrnehmung der alles verschlingen-den Katastrophe, die Gründung des Staates Israelund das mit Deutschland geschlossene Luxembur-ger Abkommen zur materiellen Wiedergutma-chung.

IX Einf�hrung

Der von diesem Zeitenfeld aus rückwärts ge-richtete Blick geht einher mit zwei sich gegen-seitig verstärkenden Tendenzen der Geschichts-deutung und den von solchen Deutungen beglei-teten Wandlungen des jüdischen Selbstverständ-nisses: Die Existenzerfahrung der Juden färbt diehistorische Rückschau auf die von der Mitte des18. Jahrhunderts ausgehenden, im Verlauf des19. und des 20. Jahrhunderts jeweils unterschied-lich beschädigten und letztendlich enttäuschtenEmanzipationserwartungen notwendig teleolo-gisch ein. Ebenso erfolgt kraft der Katastropheeine (Rück-)Verwandlung von Juden, die sich imZeichen der Moderne individualisiert hatten undstaatsbürgerlich unterschiedlich weit in die jewei-ligen nationalen Kulturen integriert waren, in einnationsähnliches jüdisches Kollektiv.

Zum Verständnis des Gegenstandes jüdischerGeschichte und Kultur finden auch solche Ein-träge Aufnahme in die EJGK, die von ihrem neu-zeitlichen Kernbestand abweichen. Dabei handeltes sich zum einen um Einträge zu Räumen undZeiten, die im binnenjüdischen Diskurs hohenSinn- und Deutungswert aufweisen. So stehtetwa das Lemma »Diaspora« – ein griechischesWort für eine jüdische Kondition – in erster Liniefür die Konstellation der Spätantike – einer Epo-che, die für die damals sich vollziehende Ablösungdes Christentums vom Judentum von ebenso ho-her Relevanz ist wie für die rabbinischen Ver-wandlungen des Judentums selbst; zudem stelltsie einen wichtigen Bezugspunkt für das modernejüdische Selbstverständnis dar. Das Lemma »Asch-kenas« steht für die räumliche Bewegungsrich-tung eines jüdischen Mittelalters vom westlichenEuropa über Mitteleuropa bis tief nach Ostmittel-europa hinein, »Sepharad« für die spätmittelalter-lich-frühneuzeitliche Existenzerfahrung der Ju-den und Conversos, die von der Iberischen Halb-insel kommend in Richtung östliches Mittelmeerund schließlich in das nordwestliche Europa zo-gen.

Die so bezeichneten Zeiten und Räume fügensich in die übliche Periodisierung des allgemeinenGeschichtsverlaufs ein; zugleich ist ihnen ein spe-zifisch jüdisches raumzeitliches Bewusstsein vordem Hintergrund ihrer diasporischen lebenswelt-lichen Konstellation eigen.

Wesentliche Durchbrechungen der das enzy-klopädische Werk umfassenden Periodisierungs-grenzen von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis

zur Mitte des 20. Jahrhunderts erfolgen vor allemdort, wo in der Lemmatisierung auch und geradefür das Judentum als Kanon des Sakralen eminentAußerhistorisches zu berücksichtigen ist. DieserKanon bestimmt bei allem Wandel auch weiterhindie jüdischen Lebenswelten in ihrem Kern. So hatdie EJGK als eine der jüdischen Existenzerfahrungverpflichtete Enzyklopädie dem Judentum in sei-ner sakralen Überzeitlichkeit auf der Grundlageder von der Offenbarung bestimmten Glaubens-welt und der Geltung des jüdischen Religions-gesetzes über alle historischen Zeiten hinweg an-gemessen Raum zu bieten.

Themenkreise j�discher Moderne

Das Wissenskorpus jüdischer Existenzerfahrungin der Moderne ist in der EJGK in vier bzw. fünfverschiedene thematische Bereiche von jeweils un-terschiedlicher jüdischer Konsistenz gegliedert:

– in den Bereich des Judentums als Gesetzesreli-gion und der es verwandelnden Modi von Sä-kularisierung und Profanierung;

– in den Bereich räumlich und ethnisch diverserJudenheiten;

– in den Bereich einzelner staatsbürgerlich eman-zipierter, sich dem Kollektiv entfremdender jü-discher Personen bzw. Personen jüdischer Her-kunft, einzelner Juden, im Prozess der Indivi-dualisierung;

– in den Bereich der von außen an die Judenherangetragenen Projektionen vornehmlichantisemitisierenden bis weltanschaulich anti-semitischen Charakters, mithin der Judenfeind-schaft;

– in einen weiteren, von dem Vorausgehendensich absetzenden Bereich der Ereignis- und Wir-kungsgeschichte des Holocaust.

Zueinander verhalten sich die unterschiedlichenthematischen Bereiche wie von einem sakralenKern ausgehende konzentrische Kreise abnehmen-der Heiligkeit.

Im Zentrum alles Jüdischen steht das Juden-tum als Gesetzesreligion. Dem Gesetz ist göttlicheZeitlosigkeit eingeschrieben. Die das Judentumtragenden, sakral durchdrungenen Begriffsweltengelten zu allen Zeiten und über alle Räume jüdi-scher Existenzerfahrung hinweg. Dabei sind siereligionsgesetzlich begründeten Anpassungen un-terworfen.

Einf�hrung X9 Einführung

Page 13: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur - ReadingSample

Vom Kern des sakralen Kanons setzt sich einerster Kreis von Phänomenen der Säkularisierungab – der eigentliche, das enzyklopädische Werkder EJGK charakterisierende thematische Zusam-menhang. Dabei wird zwischen zwei sich säkula-risierenden Bereichen unterschieden: dem textu-ellen und dem institutionellen. Säkularisierungender Textkultur setzen wesentlich zu Beginn des19. Jahrhunderts ein mit der akademischen Ver-wandlung der sakralen Schriften, vornehmlich indeutscher Sprache. Diese Verwandlung, eine ArtKonversion religiös fundierter Weisheit in auf-geklärtes Wissen, verdichtet sich zur Traditionder Wissenschaft des Judentums. Sie wird von ei-ner ihr vorausgehenden geistigen, vom säkularenDenken der nichtjüdischen Umwelt beeinflussteninnerjüdischen Aufklärungskultur, der Haskala,vorbereitet. Der Haskala kommt die Bedeutung ei-ner vornehmlich intellektuellen, auf profane Bil-dung orientierten Bewegung einer jüdischenSelbstverwandlung in die sich ankündigende Mo-derne zu. Sie geht einher mit dem Einbruch derGeschichte, genauer: des historischen Denkens indie Welt der Offenbarung bzw. in die Herrschaftdes Religionsgesetzes. Diese Tendenz unterspültdie Fundamente des traditionellen Judentums. DieJuden treten aus dem sakralen Text heraus und indie profane Welt ein. Die damit verbundenen Er-schütterungen durchziehen gleichsam leitmoti-visch das jüdische Geistesleben in der Zeit danach.Dieser Transformation als einem kollektiven Aktsäkularisierenden Urgeschehens wird in der enzy-klopädischen Darstellung durch eine umfangreicheZahl von Lemmata Rechnung getragen.

Parallel zur geistigen Bewegung der Transfor-mation von Gesetz in Geschichte erfolgt räumlichungleichzeitig eine von der jeweiligen Obrigkeitverfügte, sukzessiv realisierte Auflösung der kor-porativ verfassten jüdischen Gemeindeautonomie.Eine solche Säkularisierung vormals eigenständi-ger, dem Religionsgesetz verpflichteter Institutio-nen führt zu einer Schwächung der traditionellen,religiös legitimierten jüdischen Autoritäten. Da-bei ist eine doppelte Bewegung zu beobachten:Im westlichen Europa, also dort, wo den Judenstaatsbürgerliche Gleichheit gewährt oder einesolche in Aussicht gestellt wird, emanzipierenund akkulturieren sich die Judenheiten an undin die jeweils sie umgebenden Nationalkulturen.Dabei konfessionalisieren sich die religiösen An-teile ihres Selbstverständnisses. Im östlichen Eu-

ropa, dort, wo vornehmlich im Russischen ReichJuden in weit größerer Zahl und zudem räumlichkompakt, wenn auch nicht zusammenhängend le-ben, erfolgt der Verfall korporativer Institutionen,ohne dass die Folgen dieses Prozesses durch dieGewährung bürgerlicher Gleichheit und eine siebegleitende Freizügigkeit kompensiert würden.Der Niedergang des korporativen Gehäuses derjüdischen Existenz zog eine erkennbare Wand-lung jüdischen Selbstverständnisses nach sich. Sowaren neben der Tendenz zu einer sich konstitu-ierenden Orthodoxie auch Phänomene einer zu-nehmenden Ethnifizierung des jüdischen Selbst-verständnisses zu beobachten. Die Blockade derModernisierung bei gleichzeitiger Stärkung desethnischen Selbstbewusstseins löste Entwicklun-gen aus, in deren Folge Juden entweder zionisti-schen Bestrebungen zuneigten oder in Konkur-renz dazu ihre Anerkennung als Nationalität undeine ihr entsprechende national-kulturelle Auto-nomie anstrebten. In der postimperialen Epoche,nach dem Ersten Weltkrieg und im Rahmen dersich vornehmlich ethnisch homogenisierendenNationalstaaten, forderten sie auch kollektiveRechte als ethnisch-religiöse Minderheit ein oderschlossen sich – in Abgrenzung von jenen jüdisch-nationalen Tendenzen – individuell sozialrevolu-tionären Bewegungen zur Umwälzung der Gesell-schaft als Ganzes an.

Die regionale, ethnische und nationale Ausdif-ferenzierung der Judenheiten in der Emanzipa-tionsepoche kennt verschiedene Voraussetzungen.Dazu gehören nicht zuletzt auch die im Spätabso-lutismus eingeleiteten obrigkeitlichen Maßnah-men kameralistischer »Verbesserung«; dies vor al-lem dann, wenn sie mit der Etablierung staatlichinitiierter Bildungseinrichtungen zum Zweck desSpracherwerbs und anderen erzieherischen Vor-haben im Dienst von Akkulturation und Inte-gration verbunden waren. Dem davon angestoße-nen Prozess jüdischer Verwandlung wird in derEJGK eine herausragende Bedeutung für den Ge-samtgegenstand zugewiesen. Expliziert wird eranhand der räumlichen und kulturellen Verschie-denheit der jeweiligen Judenheiten.

Die Vielfalt der den Juden eigenen Sprachkul-turen ist notorisch: Sie umfasst die sakral impräg-nierte, in Kultus und Textexegese übliche Kom-bination des Hebräischen und Aramäischen, regio-nale jüdische Vernakularsprachen wie das Jid-dische oder Ladino als Mittel der alltäglichen

XI Einf�hrungEinführung 10

Page 14: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur - ReadingSample

Vom Kern des sakralen Kanons setzt sich einerster Kreis von Phänomenen der Säkularisierungab – der eigentliche, das enzyklopädische Werkder EJGK charakterisierende thematische Zusam-menhang. Dabei wird zwischen zwei sich säkula-risierenden Bereichen unterschieden: dem textu-ellen und dem institutionellen. Säkularisierungender Textkultur setzen wesentlich zu Beginn des19. Jahrhunderts ein mit der akademischen Ver-wandlung der sakralen Schriften, vornehmlich indeutscher Sprache. Diese Verwandlung, eine ArtKonversion religiös fundierter Weisheit in auf-geklärtes Wissen, verdichtet sich zur Traditionder Wissenschaft des Judentums. Sie wird von ei-ner ihr vorausgehenden geistigen, vom säkularenDenken der nichtjüdischen Umwelt beeinflussteninnerjüdischen Aufklärungskultur, der Haskala,vorbereitet. Der Haskala kommt die Bedeutung ei-ner vornehmlich intellektuellen, auf profane Bil-dung orientierten Bewegung einer jüdischenSelbstverwandlung in die sich ankündigende Mo-derne zu. Sie geht einher mit dem Einbruch derGeschichte, genauer: des historischen Denkens indie Welt der Offenbarung bzw. in die Herrschaftdes Religionsgesetzes. Diese Tendenz unterspültdie Fundamente des traditionellen Judentums. DieJuden treten aus dem sakralen Text heraus und indie profane Welt ein. Die damit verbundenen Er-schütterungen durchziehen gleichsam leitmoti-visch das jüdische Geistesleben in der Zeit danach.Dieser Transformation als einem kollektiven Aktsäkularisierenden Urgeschehens wird in der enzy-klopädischen Darstellung durch eine umfangreicheZahl von Lemmata Rechnung getragen.

Parallel zur geistigen Bewegung der Transfor-mation von Gesetz in Geschichte erfolgt räumlichungleichzeitig eine von der jeweiligen Obrigkeitverfügte, sukzessiv realisierte Auflösung der kor-porativ verfassten jüdischen Gemeindeautonomie.Eine solche Säkularisierung vormals eigenständi-ger, dem Religionsgesetz verpflichteter Institutio-nen führt zu einer Schwächung der traditionellen,religiös legitimierten jüdischen Autoritäten. Da-bei ist eine doppelte Bewegung zu beobachten:Im westlichen Europa, also dort, wo den Judenstaatsbürgerliche Gleichheit gewährt oder einesolche in Aussicht gestellt wird, emanzipierenund akkulturieren sich die Judenheiten an undin die jeweils sie umgebenden Nationalkulturen.Dabei konfessionalisieren sich die religiösen An-teile ihres Selbstverständnisses. Im östlichen Eu-

ropa, dort, wo vornehmlich im Russischen ReichJuden in weit größerer Zahl und zudem räumlichkompakt, wenn auch nicht zusammenhängend le-ben, erfolgt der Verfall korporativer Institutionen,ohne dass die Folgen dieses Prozesses durch dieGewährung bürgerlicher Gleichheit und eine siebegleitende Freizügigkeit kompensiert würden.Der Niedergang des korporativen Gehäuses derjüdischen Existenz zog eine erkennbare Wand-lung jüdischen Selbstverständnisses nach sich. Sowaren neben der Tendenz zu einer sich konstitu-ierenden Orthodoxie auch Phänomene einer zu-nehmenden Ethnifizierung des jüdischen Selbst-verständnisses zu beobachten. Die Blockade derModernisierung bei gleichzeitiger Stärkung desethnischen Selbstbewusstseins löste Entwicklun-gen aus, in deren Folge Juden entweder zionisti-schen Bestrebungen zuneigten oder in Konkur-renz dazu ihre Anerkennung als Nationalität undeine ihr entsprechende national-kulturelle Auto-nomie anstrebten. In der postimperialen Epoche,nach dem Ersten Weltkrieg und im Rahmen dersich vornehmlich ethnisch homogenisierendenNationalstaaten, forderten sie auch kollektiveRechte als ethnisch-religiöse Minderheit ein oderschlossen sich – in Abgrenzung von jenen jüdisch-nationalen Tendenzen – individuell sozialrevolu-tionären Bewegungen zur Umwälzung der Gesell-schaft als Ganzes an.

Die regionale, ethnische und nationale Ausdif-ferenzierung der Judenheiten in der Emanzipa-tionsepoche kennt verschiedene Voraussetzungen.Dazu gehören nicht zuletzt auch die im Spätabso-lutismus eingeleiteten obrigkeitlichen Maßnah-men kameralistischer »Verbesserung«; dies vor al-lem dann, wenn sie mit der Etablierung staatlichinitiierter Bildungseinrichtungen zum Zweck desSpracherwerbs und anderen erzieherischen Vor-haben im Dienst von Akkulturation und Inte-gration verbunden waren. Dem davon angestoße-nen Prozess jüdischer Verwandlung wird in derEJGK eine herausragende Bedeutung für den Ge-samtgegenstand zugewiesen. Expliziert wird eranhand der räumlichen und kulturellen Verschie-denheit der jeweiligen Judenheiten.

Die Vielfalt der den Juden eigenen Sprachkul-turen ist notorisch: Sie umfasst die sakral impräg-nierte, in Kultus und Textexegese übliche Kom-bination des Hebräischen und Aramäischen, regio-nale jüdische Vernakularsprachen wie das Jid-dische oder Ladino als Mittel der alltäglichen

XI Einf�hrung

Verständigung, die als jüdische Bildungssprachenadaptierten imperialen oder kosmopolitischenVerwaltungs-, Wissenschafts- und Literaturspra-chen wie das Deutsche und – daran gemesseneher schwächer – auch das Russische, im VorderenOrient in vielfältiger Hinsicht das Arabische undals Akkulturationssprache auch das Französische.Dabei kommt dem Deutschen im 19. Jahrhundertals Sprache der Wissenschaft des Judentums, derAusbildung von Rabbinern und der jüdischen Re-formbewegung in Mitteleuropa, aber auch dar-über hinaus eine gleichsam liturgische Bedeutungzu. Die sich zwischen den verschiedenen Juden-heiten entwickelnden Unterschiede sind insbeson-dere an den Akkulturationserfolgen in den sichnational transformierenden, multinational gefüg-ten imperialen Reichsgebilden abzulesen. In die-sem Prozess des Wandels und der Verwandlungkommt der verwirklichten, der in Aussicht gestell-ten oder aufgeschobenen Gleichheit und Gleichbe-handlung für das jeweilige jüdische Selbstver-ständnis konstitutive Bedeutung zu.

Der dritte, vom sakralen Kern des Judentumssich weiter entfernende konzentrische Kreis bildetin der EJGK ein Cluster von Lemmata aus, das sichvornehmlich Phänomenen der Akkulturation inVerbindung mit Personen und Persönlichkeitenwidmet, die einem eher individuell ausgeprägten,sich vom jüdischen Kollektiv entfernenden Selbst-verständnis zuneigen. Solche Personen sind in al-ler Regel aus Kontexten vertiefter Säkularisierungin Verbindung mit weitgehend erfolgreich verlau-fenden Vorhaben staatsbürgerlicher Emanzipa-tion hervorgegangen. Ihre sich abschwächende jü-dische Zugehörigkeit lässt sich über das religions-gesetzliche Regelwerk des Judentums und seineMarkierungen kaum angemessen fassen. Um derKomplexität und Vieldeutigkeit jüdischer Zuge-hörigkeit in der Moderne zu genügen, wird inder EJGK nicht zuletzt aus diesem Grund auf ex-plizite Personeneinträge verzichtet. Lemmata, dieauf vermittelte Weise Personen thematisieren, be-dienen sich im Titel emblematischer Motive undFormeln, die für Werk und Wirkung der Personsignifikant sind. Ein solcher Zugang kommt derkonzeptionellen Absicht der Enzyklopädie ent-gegen, die durch Säkularisierung und Profanie-rung eingetretenen Verwandlungen jüdischenSelbstverständnisses in der Moderne angemessenherauszustellen. Dabei wird die im Periodisie-rungszeitraum erkennbare Profilierung von Juden

im Bereich geistiger Leistung, vornehmlich in denWissenschaften und Künsten, in die Nähe jüdi-scher Existenzerfahrung gerückt, ohne einen sol-chen Zusammenhang indes kausal engzuführen.

Ein weiterer Kreis der enzyklopädischen Wis-sensordnung unterscheidet sich von den voran-gegangenen erheblich. Recht eigentlich gehörtder große Komplex von Lemmata, der ihn reprä-sentiert, nicht in eine kanonische Zusammenfüh-rung jüdischer Wissensbestände. Dennoch ist derGegenstand dieses thematischen Kreises von er-heblicher, gar existentieller Bedeutung. Hier istvom Phänomen der Judenfeindschaft die Rede,die in unterschiedlichen Ausprägungen den Zeit-raum von der Antike bis zum modernen Antise-mitismus durchzieht. Dass dieser konzentrischeKreis auf jenen folgt, der sich mit der Heraus-lösung von Juden bzw. von Personen jüdischerHerkunft aus dem Kontext kollektiver Zugehörig-keit befasst, ist eine Konsequenz der Überlegung,dass Antisemitismus als moderne weltanschauli-che Verdichtung eines antijüdischen Ressenti-ments wesentlich dazu neigt, vorgeblich unsicht-bare Juden als Agenten eines internationalen jü-dischen Machtstrebens zu imaginieren. In ihrermodernen Formierung als Antisemitismus nimmtdie traditionelle judenfeindliche Einstellung dieBedeutung einer Welterklärung an, in deren Zen-trum sich Vorstellungen von Verschwörung ein-nisten. So bedient sich der Antisemitismus derJuden und des Judentums als Folie einer Bebilde-rung des für die Moderne charakteristischen, in-des unverstanden gebliebenen Phänomens gesell-schaftlich erzeugter Komplexität. Das fehlgelei-tete Verständnis der Moderne ist mit dem Auf-kommen antisemitischer Bilderwelten auf dasEngste verbunden – eine weit über den jüdischenGegenstand hinausweisende Konstellation.

Der im Bild konzentrischer Kreise abnehmen-der Heiligkeit gefassten Systematik jüdischenWissens entzieht sich der Themenbereich des Ho-locaust ebenso, wie er auf diese einwirkt. Als ka-tastrophisches Ereignis der jüngeren Geschichteerfasst seine Tiefenwirkung auch die Modi derRepräsentation der ihm vorausgegangenen Ereig-niswelten. Genau besehen steht die Darstellungder jüdischen Geschichte zwischen der Mitte des18. Jahrhunderts und der Mitte des 20. Jahrhun-derts im Bann des alles erschütternden Zivilisa-tionsbruchs. Die EJGK sucht der Zäsur des Holo-caust sowie seinem Nachhall in einer größeren

Einf�hrung XII11 Einführung

Page 15: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur - ReadingSample

Zahl von Einträgen gerecht zu werden. MancheEinträge nähern sich den Vorgängen der Vernich-tung faktographisch, andere nehmen sichderNach-geschichte des Geschehenen an, viele widmen sichFragen seiner literarischen Repräsentation. DieLemmata, die den Holocaust thematisieren, ver-suchen dem Darstellungsmodus der industriellenVernichtung als einer ständigen Wiederholung desimmer Gleichen dergestalt auszuweichen, dass siedie ikonisch gewordenen Orte der Vernichtung mitden sich in der Folge ins Gedächtnis einschreiben-den Wirkungsgeschichten verknüpfen.

Die universelle Bedeutung des Geschehens fin-det sich zudem dadurch gewürdigt, dass auch sol-che Autoren mit ihren Werken lemmatisiert wer-den, die weder jüdisch sind noch jüdischer Her-kunft waren, aber als humanistisch gesonneneKünstler des Wortes oder als aufgeklärte Virtuosendes Denkens es vermögen, das Ereignis währenddes Geschehens oder aus gegebenem Anlass da-nach in seiner krassen Besonderheit poetisch zuthematisieren oder intellektuell zu verarbeiten.Dies begründet ihre Aufnahme in den jüdischenKanon.

Mittel der Darstellung

Die EJGK zeichnet sich durch einen konzeptionelldoppelten Zugriff auf ihre Themen aus. Zum ei-nen bietet sie eine Vielzahl faktographischer Ein-träge zu Fragen des Judentums, zu verschiedenenJudenheiten und einzelnen Juden wie zu den vonaußen an Juden herangetragenen verzerrendenProjektionen antisemitischen Charakters, zum an-deren bedient sie sich des Modus ikonischer Denk-figuren. Diese greifen im Unterschied zum klassi-schen Zuschnitt faktographischer Artikel thema-tisch und systematisch weiter aus und suchen da-bei eher den für das jüdische Sujet in der Modernecharakteristischen dynamischen Elementen derEntgrenzung, Überschreitung und Verflüssigungvon Emblemen der Zugehörigkeit Rechnung zutragen. Für solche Lemmata zieht die EJGK we-sentlich, wenn auch nicht ausschließlich, das fürden Gegenstand der jüdischen Geschichte undKultur überaus signifikante Konzept des Erinne-rungsorts bzw. des lieu de mémoire heran. Für dieDarstellung jüdischer Geschichte und Kultur ent-faltet das Konzept der Erinnerungsorte insofernein erhebliches Erkenntnispotential, als es demfür die Lebenswelten der Juden als signifikant

erachteten Axiom des Punkts im Unterschied zurAxiomatik der Fläche der nichtjüdischen Umge-bungs- und Mehrheitskulturen entspricht. Hinzutritt der nicht weniger erkenntnisfördernde Um-stand, dass die Kategorie des Erinnerungsorts sichin vielen Fällen nicht nur mit einer tatsächlichengeographischen Bezeichnung deckt, sondern auch– im übertragenen Sinne von Titeln oder Begriffenals Orten der Erinnerung – zur topographischenSymbolisierung von für Juden und das Judentumikonischen Texten Anwendung findet. Als Be-zeichnung eines solchen Lemmas bietet sich eindem Kanon jüdischer Textkultur entnommenerfigürlicher Titel oder eine Denkfigur emblemati-schen Charakters an.

Der Vorzug solcher Werk und Urheber reprä-sentierenden ikonischen Denkfiguren liegt darin,dass nicht nur die durch sie zunächst verdecktePerson in einen erweiterten Kontext integriertwird, sondern mit der emblematischen Wirkungder jeweiligen Denkfigur auch das mit ihr assozi-ierte Sinn- und Bedeutungsfeld aufgerufen wird.Assoziation und Resonanz sind Zugangsweisen,die den der jüdischen Existenzerfahrung in derModerne eigenen Mehrdeutigkeiten und Ambi-guitäten entsprechen – verbunden mit ebenjenenPhänomenen der Entgrenzung, der Überschrei-tung und der Verflüssigung. Ein solch verfrem-dender, möglicherweise irritierender Zugriffwird von der Entscheidung flankiert, bei der Be-nennung der Lemmata grundsätzlich auf die ausder politischen und sozialen Sprachkultur des19. Jahrhunderts stammenden, mit dem Suffixdes »-ismus« herbeigeführten Begriffswelten zuverzichten. Diese erweisen sich als zu wenig flexi-bel, um jene dynamischen Konstellationen desÜbergangs und der ihnen eigenen Zwischenlagenangemessen zu erfassen. Eher neigen sie dazu, aufeinem einmal angenommenen Erkenntniszustandzu verharren, vor allem aber Kollektivabgrenzun-gen zu vergröbern, zu überzeichnen und damitauch zu verschärfen. Als Begriffe, die binäre Un-terscheidbarkeit insinuieren, tragen sie zum Ver-ständnis jüdischer Geschichte und Kultur wenigbei. Dies trifft auch auf den für den Gegenstandder Enzyklopädie fundamentalen, den semanti-schen Welten des 19. Jahrhunderts erwachsenenBegriff Antisemitismus zu. In der EJGK wird dasgemeinhin von ihm bezeichnete Phänomen dermodernen Judenfeindschaft angemessener unterdem Lemma »Verschwörung« abgehandelt.

XIII Einf�hrungEinführung 12

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Zahl von Einträgen gerecht zu werden. MancheEinträge nähern sich den Vorgängen der Vernich-tung faktographisch, andere nehmen sichderNach-geschichte des Geschehenen an, viele widmen sichFragen seiner literarischen Repräsentation. DieLemmata, die den Holocaust thematisieren, ver-suchen dem Darstellungsmodus der industriellenVernichtung als einer ständigen Wiederholung desimmer Gleichen dergestalt auszuweichen, dass siedie ikonisch gewordenen Orte der Vernichtung mitden sich in der Folge ins Gedächtnis einschreiben-den Wirkungsgeschichten verknüpfen.

Die universelle Bedeutung des Geschehens fin-det sich zudem dadurch gewürdigt, dass auch sol-che Autoren mit ihren Werken lemmatisiert wer-den, die weder jüdisch sind noch jüdischer Her-kunft waren, aber als humanistisch gesonneneKünstler des Wortes oder als aufgeklärte Virtuosendes Denkens es vermögen, das Ereignis währenddes Geschehens oder aus gegebenem Anlass da-nach in seiner krassen Besonderheit poetisch zuthematisieren oder intellektuell zu verarbeiten.Dies begründet ihre Aufnahme in den jüdischenKanon.

Mittel der Darstellung

Die EJGK zeichnet sich durch einen konzeptionelldoppelten Zugriff auf ihre Themen aus. Zum ei-nen bietet sie eine Vielzahl faktographischer Ein-träge zu Fragen des Judentums, zu verschiedenenJudenheiten und einzelnen Juden wie zu den vonaußen an Juden herangetragenen verzerrendenProjektionen antisemitischen Charakters, zum an-deren bedient sie sich des Modus ikonischer Denk-figuren. Diese greifen im Unterschied zum klassi-schen Zuschnitt faktographischer Artikel thema-tisch und systematisch weiter aus und suchen da-bei eher den für das jüdische Sujet in der Modernecharakteristischen dynamischen Elementen derEntgrenzung, Überschreitung und Verflüssigungvon Emblemen der Zugehörigkeit Rechnung zutragen. Für solche Lemmata zieht die EJGK we-sentlich, wenn auch nicht ausschließlich, das fürden Gegenstand der jüdischen Geschichte undKultur überaus signifikante Konzept des Erinne-rungsorts bzw. des lieu de mémoire heran. Für dieDarstellung jüdischer Geschichte und Kultur ent-faltet das Konzept der Erinnerungsorte insofernein erhebliches Erkenntnispotential, als es demfür die Lebenswelten der Juden als signifikant

erachteten Axiom des Punkts im Unterschied zurAxiomatik der Fläche der nichtjüdischen Umge-bungs- und Mehrheitskulturen entspricht. Hinzutritt der nicht weniger erkenntnisfördernde Um-stand, dass die Kategorie des Erinnerungsorts sichin vielen Fällen nicht nur mit einer tatsächlichengeographischen Bezeichnung deckt, sondern auch– im übertragenen Sinne von Titeln oder Begriffenals Orten der Erinnerung – zur topographischenSymbolisierung von für Juden und das Judentumikonischen Texten Anwendung findet. Als Be-zeichnung eines solchen Lemmas bietet sich eindem Kanon jüdischer Textkultur entnommenerfigürlicher Titel oder eine Denkfigur emblemati-schen Charakters an.

Der Vorzug solcher Werk und Urheber reprä-sentierenden ikonischen Denkfiguren liegt darin,dass nicht nur die durch sie zunächst verdecktePerson in einen erweiterten Kontext integriertwird, sondern mit der emblematischen Wirkungder jeweiligen Denkfigur auch das mit ihr assozi-ierte Sinn- und Bedeutungsfeld aufgerufen wird.Assoziation und Resonanz sind Zugangsweisen,die den der jüdischen Existenzerfahrung in derModerne eigenen Mehrdeutigkeiten und Ambi-guitäten entsprechen – verbunden mit ebenjenenPhänomenen der Entgrenzung, der Überschrei-tung und der Verflüssigung. Ein solch verfrem-dender, möglicherweise irritierender Zugriffwird von der Entscheidung flankiert, bei der Be-nennung der Lemmata grundsätzlich auf die ausder politischen und sozialen Sprachkultur des19. Jahrhunderts stammenden, mit dem Suffixdes »-ismus« herbeigeführten Begriffswelten zuverzichten. Diese erweisen sich als zu wenig flexi-bel, um jene dynamischen Konstellationen desÜbergangs und der ihnen eigenen Zwischenlagenangemessen zu erfassen. Eher neigen sie dazu, aufeinem einmal angenommenen Erkenntniszustandzu verharren, vor allem aber Kollektivabgrenzun-gen zu vergröbern, zu überzeichnen und damitauch zu verschärfen. Als Begriffe, die binäre Un-terscheidbarkeit insinuieren, tragen sie zum Ver-ständnis jüdischer Geschichte und Kultur wenigbei. Dies trifft auch auf den für den Gegenstandder Enzyklopädie fundamentalen, den semanti-schen Welten des 19. Jahrhunderts erwachsenenBegriff Antisemitismus zu. In der EJGK wird dasgemeinhin von ihm bezeichnete Phänomen dermodernen Judenfeindschaft angemessener unterdem Lemma »Verschwörung« abgehandelt.

XIII Einf�hrung

Einträge zu Denkfiguren sind also offener ge-halten und den Phänomenen des Wandels zugetan– ohne dabei einer substanziellen Aussage zu ent-behren. Eine solche Herangehensweise gilt auchfür in den Status von Lemmata erhobene tradierteund als solche durchweg ausgewiesene jüdischeGedächtnisikonen, aber auch für solche Lemmata,die auf den ersten Blick bloß Faktisches zu prä-sentieren scheinen, die in ihrer Substanz aber dar-über hinausreichen. Statt in die Breite reichen ihreargumentierenden Beschreibungen in die Tiefe.Zuschnitt, Reichweite und Beschränkung der Dar-legung werden weitgehend von der im Lemma-Begriff angelegten Emblematik vorgegeben.

Die Gattung der emblematischen Einträgefolgt insbesondere dem Modus von Erinnerungs-orten. Lieux de mémoire und, in leichter Verschie-bung des Modus, lieux d�œuvre vermögen ineinan-der überzugehen. Beiden, dem Ortsgedächtnis wiedem Textgedächtnis, wird eine emblematische Be-deutung zugeschrieben. Weil jüdische Kultur inihren Ursprüngen wesentlich eine religionsgesetz-lich gestiftete Textkultur ist, aus der Juden durchProfanierung von Schrift und Säkularisierung vonLebenswelt heraus- und in eine geschichtlich be-schleunigte Zeiterfahrung eintreten, gehen Orts-bezeichnung und Textbezeichnung häufig in-einander über. Zudem entspricht das Konzeptdes Erinnerungsorts dem diasporisch formiertenjüdischen raumzeitlichen Verständnis von Weltinsofern, als es die räumlichen und damit herr-schaftlich regulierten Fixierungen territorialenCharakters unterläuft. Stattdessen folgt es jeneraxiomatischen Vorstellung vom Punkt als der geo-metrischen Metapher fragiler jüdischer Existenz-erfahrung bar eines sonst in der territorialen Flä-che verankerten Schutzes. Aus den verschiedenenräumlich disparaten, aber virtuell oder eher textu-ell miteinander verbundenen Punkten lässt dieEJGK mittels der Anlage ihrer Lemmata gleichsameine Landschaft der Erinnerung entstehen. Einesolche durch komplexe raumzeitliche Verknüp-fungen gestaltete Topographie des Gedächtnissesunterläuft die dem geläufigen Geschichtsnarrativangemessene Chronologie. So vermag der emble-matische Ort einem Palimpsest gleich simultaneine Vielfalt verschiedener jüdischer Zeitschichtenaufzurufen.

Bei den Erinnerungsorten topographischenCharakters werden in der EJGK Orte erster, zwei-ter und dritter Ordnung unterschieden. Als Erin-

nerungsorte erster Ordnung werden solche lieuxverstanden, die dem jüdischen Gedächtnis wieselbstverständlich geläufig sind – etwa »Worms«für Raschi und seinen Talmud-Kommentar als dieraumzeitliche Erinnerungsikone für die aschkena-sisch-mittelalterliche jüdische Wissenskultur,oder »Wilna« für den dort wirkenden Gaon undseinen Einfluss auf die Gelehrsamkeit des 18. Jahr-hunderts oder auch »Smyrna« für Sabbatai Zewi,den zum Islam konvertierten »falschen Messias«und seine Bewegung. Als lieux zweiter Ordnungerscheinen Ortsnamen, die zwar als jüdische Ge-dächtnisikonen nicht minder vertraut sind, aberfür verschiedene Zeiten und/oder verschiedene Be-deutungs- oder Ereigniszuweisungen stehen –»Prag« etwa, ein Lemma, das traditionell und imSinne eines lieu erster Ordnung von Rabbi Löwund dem von ihm erzeugten Golem zu erzählenweiß, zugleich aber in zeitlicher Verschiebung indie Moderne hinein (und dadurch als lieu zweiterOrdnung) auch Person und Werk Franz Kafkasaufruft.

Lieux dritter Ordnung sind im Unterschied zuErinnerungsorten erster wie auch zweiter Ord-nung nicht oder noch nicht von einer signifikan-ten Patina des Gedächtnisses überzogen, ihre Ein-setzung als solche liegt aber nahe. Es handelt sichmithin um im Werden begriffene Ereignisikonen,die vornehmlich aus dem Geschehen des 19. und20. Jahrhunderts erwachsen – so etwa die mit derOrtschiffre »Damaskus« verbundene, 1840 die da-malige jüdische Welt in Atem haltende Ritual-mordaffäre oder »Saloniki« mit der von jüdischerSeite angestoßenen Überlegung, die Stadt in derFolge der Balkankriege 1912/1913 zu internationa-lisieren, oder auch »Babi Jar« als Ort der Massen-erschießung der Kiewer Juden durch deutscheEinsatzgruppen – dies aber vermittelt durch dasGedicht von Jewgeni Jewtuschenko und dessenRezeption als Prisma des sowjetischen Diskursesüber den Holocaust, oder genauer: dessen ideo-logisch veranlasster Vermeidung. Oder auch »Sta-lingrad«, das als Erinnerungsort selbstredend fürdie Entscheidungsschlacht des Zweiten Weltkriegssteht, aber anhand des Werks von Wassili Gross-man ikonisiert wird, oder »München«, das für dieGeschichte der jüdischen Displaced Persons aufdeutschem Boden nach 1945 steht.

Das in der Enzyklopädie angewandte Konzeptder lieux de mémoire konstruiert mithin eine Artjüdischer Topographie der Erinnerung, und dies

Einf�hrung XIV13 Einführung

Page 17: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur - ReadingSample

durchaus auch jenseits derart einschneidender Er-eignisse, wie sie vor allem für die Präsentationjüdischer Erfahrungsgeschichte von ZweitemWeltkrieg und Holocaust in außergewöhnlicherDichte naheliegen. So findet das Konzept des Er-innerungsorts auch bei signifikant lebenswelt-lichen Themen Verwendung. In sozialgeschicht-licher Absicht werden etwa mit dem Eintrag»New York« die vornehmlich um die Zeit derWende vom 19. zum 20. Jahrhundert auffälligenLebens- und Arbeitsformen einwandernder Judenin der dortigen Textilindustrie, den sogenanntensweatshops, präsentiert. Der Eintrag zum lieu »Bag-dad« stellt neben einer kursorischen Beschreibungder Geschichte der Juden des Irak den großenBeitrag von Juden zur arabischen Musikkulturheraus.

Dem Gesamtkonzept der EJGK und der zentra-len Bedeutung vonText für die jüdische Lebensweltentsprechend, vermögen Ortsgedächtnis und Text-gedächtnis ebenso ineinander überzugehen, wie siefür sich stehen können. Letzterem entsprechen Ein-träge zu ikonischen Autoren, die naheliegenderWeise mit Titeln oder Fragmenten von Titeln em-blematischer Werke versehen sind – »More Nevu-khim« für Maimonides, »Biªur« für Moses Men-delssohn, »Divre Shalom we-Emet« für NaphtaliWessely, »Angelus Novus« für Walter Benjamin,»Kabbala« für Gershom Scholem, »Gesetz« für LeoStrauss, oder, etwas ferner liegend, »Urteilskraft«für Hannah Arendt. Gleiches gilt für Lemmata ausden Themenfeldern Literatur, Musik, Kunst undArchitektur. So wird Gustav Mahler im Lemma»Auferstehung« präsentiert, Moritz Daniel Oppen-heim gilt der Artikel »Biedermeier«, die Ikone he-bräischer Literatur H.N. Bialik ist unter dem Ein-trag »El ha-z. ippor« zu finden.

Wissensbereiche und Themenfelder

Die Lemmatastruktur der EJGK ist Ergebnis syste-matischen Abgleichens innerhalb des jüdischenWissenskorpus. In diesem Prozess wurde vondrei großen Bereichen jüdischen Wissens aus-gegangen, die sich mit den Bezeichnungen Text,Institution und Lebenswelt fassen lassen. Der histori-schen Dynamik der Epoche des Übergangs von derVormoderne in die Moderne folgend, legte dieLemmatisierung in einem ersten Schritt eine zu-nächst binär codierte Linie zwischen sakralen und

profanen Anteilen nahe. Davon ausgehend, wur-den weitere sinnstiftende Linien der Unterschei-dung in das Korpus jüdischen Wissens gelegt, diezur systematischen Ausdifferenzierung einerkomplexen, durch vielfältige Vernetzungen cha-rakterisierten Topographie beitragen. So wurdeden drei Wissensbereichen Text, Institution undLebenswelt jeweils eine Anzahl von Themenfeldernzugeordnet.

Der Wissensbereich Text ist zentral für einediasporische Kultur, die durch eine innerhalb jü-discher Zugehörigkeit verbleibende Konversiongekennzeichnet ist. »Text« bedeutet sowohl Sub-stanz wie Medium jüdischer Existenz. Dem-zufolge ist der Bereich Textkultur in der EJGKaußerordentlich weit angelegt.

Im Zentrum dieses Wissensbereichs stehen re-ligiöse wie weltliche Schriften. Wohl in kaum ei-nem anderen Wissensbereich der EJGK werden dieUnterscheidung von sakral und profan und dieAbstufungen zwischen diesen Merkmalen derartsinnfällig. Die Lemmata des Sakralen umfassenEinträge zu den verschiedenen Korpora des Juden-tums – ausgehend vom zentralen Eintrag zur he-bräischen Bibel (�Tanach) über Artikel zum �Mi-drasch, zu der zusammen mit dem �Talmud abge-handelten Mischna bis hin zum Schlüsselcharak-ter aufweisenden Artikel �Halacha, der zudemeinen Übergang zu dem Komplex von Recht undInstitution öffnet. In dieses Themengebiet fallenauch Einträge zu Texten, die an der Schwelle zumProfanen stehen, so im Artikel, der der Geschichteder �Bibelübersetzung gewidmet ist. Im Kontextvon Text und Hermeneutik steht auch die Bedeu-tung des hebräischen Alphabets wie der alphabeti-schen Zahl (�Alef-Bet). Der materiellen Welt des�Buchdrucks und der durch sie beschleunigtenÜbergänge von der sakralen zur profanen Text-kultur bis hin zum Verlags- und Zeitungswesenwird angemessen Raum gegeben. Zwischen demText und der vom Religionsgesetz durchdrunge-nen Institution vermitteln Lemmata, die Einrich-tungen sakraler Wissensvermittlung (�Talmudtora) zum Gegenstand haben. Daran schließendie Themenfelder zur jüdischen Gelehrsamkeitan, deren Lemmata ikonische Werke, wesentlichePeriodika sowie Institutionen der �Wissenschaftdes Judentums und der ihr vorausgehenden intel-lektuellen Kultur der �Haskala behandeln.

Der Prozess der Verweltlichung bildet sichnicht zuletzt in Lemmata ab, die religiöse Strö-

XV Einf�hrungEinführung 14

Page 18: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur - ReadingSample

durchaus auch jenseits derart einschneidender Er-eignisse, wie sie vor allem für die Präsentationjüdischer Erfahrungsgeschichte von ZweitemWeltkrieg und Holocaust in außergewöhnlicherDichte naheliegen. So findet das Konzept des Er-innerungsorts auch bei signifikant lebenswelt-lichen Themen Verwendung. In sozialgeschicht-licher Absicht werden etwa mit dem Eintrag»New York« die vornehmlich um die Zeit derWende vom 19. zum 20. Jahrhundert auffälligenLebens- und Arbeitsformen einwandernder Judenin der dortigen Textilindustrie, den sogenanntensweatshops, präsentiert. Der Eintrag zum lieu »Bag-dad« stellt neben einer kursorischen Beschreibungder Geschichte der Juden des Irak den großenBeitrag von Juden zur arabischen Musikkulturheraus.

Dem Gesamtkonzept der EJGK und der zentra-len Bedeutung vonText für die jüdische Lebensweltentsprechend, vermögen Ortsgedächtnis und Text-gedächtnis ebenso ineinander überzugehen, wie siefür sich stehen können. Letzterem entsprechen Ein-träge zu ikonischen Autoren, die naheliegenderWeise mit Titeln oder Fragmenten von Titeln em-blematischer Werke versehen sind – »More Nevu-khim« für Maimonides, »Biªur« für Moses Men-delssohn, »Divre Shalom we-Emet« für NaphtaliWessely, »Angelus Novus« für Walter Benjamin,»Kabbala« für Gershom Scholem, »Gesetz« für LeoStrauss, oder, etwas ferner liegend, »Urteilskraft«für Hannah Arendt. Gleiches gilt für Lemmata ausden Themenfeldern Literatur, Musik, Kunst undArchitektur. So wird Gustav Mahler im Lemma»Auferstehung« präsentiert, Moritz Daniel Oppen-heim gilt der Artikel »Biedermeier«, die Ikone he-bräischer Literatur H.N. Bialik ist unter dem Ein-trag »El ha-z. ippor« zu finden.

Wissensbereiche und Themenfelder

Die Lemmatastruktur der EJGK ist Ergebnis syste-matischen Abgleichens innerhalb des jüdischenWissenskorpus. In diesem Prozess wurde vondrei großen Bereichen jüdischen Wissens aus-gegangen, die sich mit den Bezeichnungen Text,Institution und Lebenswelt fassen lassen. Der histori-schen Dynamik der Epoche des Übergangs von derVormoderne in die Moderne folgend, legte dieLemmatisierung in einem ersten Schritt eine zu-nächst binär codierte Linie zwischen sakralen und

profanen Anteilen nahe. Davon ausgehend, wur-den weitere sinnstiftende Linien der Unterschei-dung in das Korpus jüdischen Wissens gelegt, diezur systematischen Ausdifferenzierung einerkomplexen, durch vielfältige Vernetzungen cha-rakterisierten Topographie beitragen. So wurdeden drei Wissensbereichen Text, Institution undLebenswelt jeweils eine Anzahl von Themenfeldernzugeordnet.

Der Wissensbereich Text ist zentral für einediasporische Kultur, die durch eine innerhalb jü-discher Zugehörigkeit verbleibende Konversiongekennzeichnet ist. »Text« bedeutet sowohl Sub-stanz wie Medium jüdischer Existenz. Dem-zufolge ist der Bereich Textkultur in der EJGKaußerordentlich weit angelegt.

Im Zentrum dieses Wissensbereichs stehen re-ligiöse wie weltliche Schriften. Wohl in kaum ei-nem anderen Wissensbereich der EJGK werden dieUnterscheidung von sakral und profan und dieAbstufungen zwischen diesen Merkmalen derartsinnfällig. Die Lemmata des Sakralen umfassenEinträge zu den verschiedenen Korpora des Juden-tums – ausgehend vom zentralen Eintrag zur he-bräischen Bibel (�Tanach) über Artikel zum �Mi-drasch, zu der zusammen mit dem �Talmud abge-handelten Mischna bis hin zum Schlüsselcharak-ter aufweisenden Artikel �Halacha, der zudemeinen Übergang zu dem Komplex von Recht undInstitution öffnet. In dieses Themengebiet fallenauch Einträge zu Texten, die an der Schwelle zumProfanen stehen, so im Artikel, der der Geschichteder �Bibelübersetzung gewidmet ist. Im Kontextvon Text und Hermeneutik steht auch die Bedeu-tung des hebräischen Alphabets wie der alphabeti-schen Zahl (�Alef-Bet). Der materiellen Welt des�Buchdrucks und der durch sie beschleunigtenÜbergänge von der sakralen zur profanen Text-kultur bis hin zum Verlags- und Zeitungswesenwird angemessen Raum gegeben. Zwischen demText und der vom Religionsgesetz durchdrunge-nen Institution vermitteln Lemmata, die Einrich-tungen sakraler Wissensvermittlung (�Talmudtora) zum Gegenstand haben. Daran schließendie Themenfelder zur jüdischen Gelehrsamkeitan, deren Lemmata ikonische Werke, wesentlichePeriodika sowie Institutionen der �Wissenschaftdes Judentums und der ihr vorausgehenden intel-lektuellen Kultur der �Haskala behandeln.

Der Prozess der Verweltlichung bildet sichnicht zuletzt in Lemmata ab, die religiöse Strö-

XV Einf�hrung

mungen – als durchaus paradoxe Reaktionen aufdie anbrandende Moderne – präsentieren. Diesgilt für Lemmata, die den Unterscheidungen zwi-schen Reformjudentum (�Reform), konservativen(�Conservative Judaism), orthodoxen (�Orthodo-xie) sowie den mystischen Strömungen im Juden-tum folgen und sich mit Phänomenen einer überden �Chassidismus hinausgehenden Devianz wiedem �Frankismus, den �Karäern oder der �Dönmebefassen. Mit Reaktionen auf die als Zumutungempfundenen Forderungen der Moderne befassensich auch Einträge, die Vorgängen wie etwa dem�Beerdigungsstreit oder dem �Hamburger Tem-pelstreit gelten. Prozesse der Säkularisierung undModernisierung werden auch deutlich in denLemmata, die die Welt der jüdischen Bildungskul-tur (�Bildung, �Bürgertum) sowie die Etablierungvon Einrichtungen einer zeitgemäßen Gelehrsam-keit darstellen – auch und gerade in der NeuenWelt (�Hebrew Union College, �Yeshiva Univer-sity, �Brandeis University) und in Palästina/Israel(�Hebräische Universität, �Weizmann Institute).

In den Zusammenhang des Sakralen gehörtauch das Verhältnis von Judentum und Islam,das in Einträgen beschrieben wird, die den Insti-tutionen und lebensweltlichen Konstellationender Existenzerfahrung von Juden unter den Mus-limen gelten (�Ahl al-kitab, �Dhimmah) und da-mit einhergehende Formen letztlich textueller ge-genseitiger Beeinflussung beider Kulturen be-schreiben (�Kalam, �Falsafah). Für das 19. Jahr-hundert tritt die Würdigung der Beschäftigungmit dem Islam durch herausragende Persönlich-keiten des Reformjudentums wie Abraham Geiger(�Koran) oder den Nestor islamwissenschaftlicherGelehrsamkeit Ignaz Goldziher (�Muhammeda-nische Studien) hinzu.

Zum Themenbereich Text und Textkultur ge-hören ganze Cluster von Lemmata, die sich litera-rischen Werken und Autoren von ikonischemRang in der jüdischen Tradition zuwenden. Siediversifizieren sich nach Gattung, Motiven, Räu-men, Sprachen und literarischen Strömungen.Diesen Einträgen, darunter die zahlreichen nachTiteln oder Titelkomponenten bezeichneten Lem-mata, kommt gemäß der Konzeption der Enzyklo-pädie in besonderem Maß die Aufgabe zu, die alsVerschiebung und Verflüssigung von Emblemender Zugehörigkeit bezeichneten Phänomene vonSäkularisierung und Profanierung zu thematisie-ren.

Eine ähnliche Absicht ist mit den Themenfel-dern Philosophie und Theorie verknüpft. Um ihrezentralen Einträge (�Philosophie, �Theorie) ver-sammeln sie zahlreiche weitere Lemmata (etwa�Dekonstruktion, �Denkstil, �Phänomenologie,�Psychoanalyse), in denen sich auch jüdische Er-fahrung und jüdisches Wissen in universale Er-kenntnis überträgt.

Darüber hinaus sind auch den im weiterenSinn textuellen, künstlerischen und medialenAusdrucksformen wie den bildenden Künsten,dem Theater, der Musik sowie Film und Radioeigene Themenfelder gewidmet. Lemmata wie�Architektur und �Fotografie, �Broadway und�Habima, �Badkhn und �Kantor oder �Hollywoodgeben dem spezifischen jüdischen Beitrag in dermateriellen und darstellenden Kultur ebensoRaum wie den Formen der Verwandlung vom Jü-dischen ins Allgemeine.

Der zweite große Wissensbereich der EJGK istden Institutionen des Judentums und der Judenhei-ten in ihren jeweiligen Umwelten von Recht undPolitik gewidmet. Auch hier steht der Übergangvon sakral imprägnierten in profane Phänomeneim Vordergrund der lemmatisierenden Anord-nung. Ausgangspunkt ist das Themenfeld der jü-dischen �Autonomie und ihrer charakteristischenAusdrucksformen und Institutionen. Zentral sindhier die Reglements der Vormoderne mit ihrenweitgehend religionsgesetzlich bestimmten Kör-perschaften von Rechtsetzung und Rechtspflegesowie die nach außen, an die jeweilige Obrigkeitgewandten Einrichtungen der Fürsprache (�Bann,�Bet din, �Kahal, �Shtadlanut).

Der Ablösung der Autonomie in der Ära der�Emanzipation widmet sich zunächst ein The-menfeld, das vorwiegend dem rechtlichen Statusvon Juden gilt. Lemmata wie �Toleranzpatentoder �Sanhédrin sind den initialen Ereignissengewidmet; Einträge wie �Paulskirche, �Duma,�Sejm behandeln signifikante Orte der Emanzipa-tion, es werden aber auch skandalisierende Ereig-nisse der Ära thematisiert wie der �Berliner Anti-semitismusstreit und die �Dreyfus-Affäre; dasLemma �Minderheitenrechte gilt der rechtlichenLage der Judenheiten in den neuen Nationalstaa-ten nach dem Ersten Weltkrieg.

Mit der Perspektive der äußerlichen Recht-setzung korrespondiert ein weiteres, der moder-nen politischen Erfahrung wie auch der jüdischenPolitik gewidmete Themenfeld. Dabei geht es

Einf�hrung XVI15 Einführung

Page 19: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur - ReadingSample

zum einen um stärker den jeweiligen regionalenKontext in den Blick nehmende Lemmata (etwa�Ansiedlungsrayon) sowie signifikante Orte derMigration (�Bremerhaven, �Ellis Island), zum an-deren um jüdische politische Organisationen undParteien wie den �Central-Verein oder den �Bund.Hieran schließt das Themenfeld Diplomatie an,das dem Engagement für jüdische Belange in derSphäre internationaler Politik gilt. Die modernenFormen der Fürsprache etablierten sich als Phäno-mene lebensweltlicher Säkularisierung und Mo-dernisierung zuerst in Gestalt der Tätigkeit sichselbst ermächtigender Notabeln, um sich alsbaldden Formen des Engagements international wir-kender jüdischer Organisationen anzuverwandelnund eine Art jüdischer diplomatischer Traditionauszubilden. Einen solchen Übergang bildet dasLemma zum �Board of Deputies ab, während derEintrag �Alliance israélite universelle jener Insti-tution gilt, die jüdisches diplomatisches Engage-ment im 19. Jahrhundert geradezu emblematischverkörpert. Den Rahmen bildete die Große Poli-tik, deren Verfahrensweisen im Zeitalter der Ba-lance es jüdischen Vertretern erlaubte, auf Kon-gressen und Konferenzen ihre Belange vorzutra-gen (�Wiener Kongress, �Berliner Kongress). Im20. Jahrhundert, nach dem Ersten Weltkrieg undangesichts einer zunehmenden nationalstaatli-chen Parzellierung der internationalen Politik,wurden die Grenzen einer derartigen nichtstaatli-chen Interessenvertretung offenkundig. Innerhalbdieses Kontexts der jüdischen Politik und Diplo-matie wird auch die zionistische Bewegung ver-ortet. Ihre Gründerfigur Theodor Herzl wird mitseiner literarischen Vision �Altneuland lemmati-siert, wesentliche Debatten der zionistischen Kon-gresse werden unter ihrem Gründungs- und Erin-nerungsort �Basel abgehandelt.

Die Lemmata des Wissensbereichs Institution,Recht und Politik nehmen sich analog zu der dia-sporischen Konstellation jüdischer Lebensweltendenkbar vieler kulturgeographischer Bereiche an– und dies unabhängig von der jeweiligen Anzahlder dort lebenden Juden. So wird etwa den Judendes islamischen Orients in der Kernzeit 1750–1950– in Einträgen zu ihrem rechtlichen Status wie zuihrer Lebenswelt (z.B. �Millet) – eine hohe Bedeu-tung zuerkannt, auch wenn sie im Vergleich zuden damaligen aschkenasischen Judenheiten indemographischer Hinsicht eher von geringererBedeutung sind.

Der dritte große Wissensbereich der EJGK um-fasst Phänomene der Lebenswelt. Jüdische Alltags-kulturen weisen auch im Prozess zunehmenderVerweltlichung eine starke Bindung an das Sa-krale auf; in gewisser Hinsicht sind sie Gefäßeder Traditionsbewahrung. Dem gelten die weitangelegten Themenfelder zu Alltag, Ritus und Sa-kralität. Die Spannung zwischen Religionsgesetzund sich profanierender Lebenswelt wird in die-sem Zusammenhang von Einträgen ausgelotet,die sich mit Fragen der �Frömmigkeit, des Speise-gesetzes (�Kashrut), des Ritus des �Schächtens, der�Liturgie und des �Kalenders bis hin zu rites depassages wie der �Beschneidung, der �Bar/Bat-Miz-wa, der �Eheschließung sowie den Regularien vonBestattung und der mit ihrer Durchführung be-trauten heiligen Gesellschaften befassen.

In systematischer Nachbarschaft zu diesen The-menfeldern werden unter dem Begriff der �Meh. i-za, der synagogalen Schranke, Fragen des Ge-schlechts bzw. der Geschlechterdifferenz behan-delt. Der traditionell patriarchalisch aufgeladenereligionsgesetzliche jüdische Kanon fordert einzeitgenössisches enzyklopädisches Projekt inso-fern heraus, als es die im Zeichen des ThemenfeldsGender/Geschlecht stehenden Artikel thematischvon traditionellen, auf die Weiblichkeit fixiertenFestlegungen zu lösen sucht und sie durch dieEinbeziehung von Themen männlicher Körper-lichkeit erweitert. Diesem Themenfeld sind Arti-kel zugeordnet, die sich mit geschlechtsspezi-fischen Zuschreibungen, etwa durch die rituellenMaßgaben der �Kleiderordnung, und mit Fragender Frauenbildung (�Bais Yaakov, �Hochschulefür Frauen) und der Frauenorganisationen (�Jü-discher Frauenbund) befassen.

Jenseits der rituellen Bedeutung von Körperlich-keit werden Phänomene des �Sports behandelt.Dabei werden unterschiedliche, in den jüdischenLebenswelten auffällige Sportarten berücksichtigt,vornehmlich solche, denen in migrantischer Um-gebung der Charakter sozialer Aufstiegsrituale zu-kommt – etwa �Boxen und �Baseball in den Ver-einigten Staaten oder �Fußball in Europa. Auchdas um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundertgepflegte kollektive, zur Nationalisierung derJuden beitragende Turnen und die Etablierungjüdischer Sportvereine (�Bar Kochba Berlin) so-wie der später platzgreifende Kult um heraus-ragende Sportler und Sportlerinnen werden auf-gegriffen.

XVII Einf�hrungEinführung 16

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zum einen um stärker den jeweiligen regionalenKontext in den Blick nehmende Lemmata (etwa�Ansiedlungsrayon) sowie signifikante Orte derMigration (�Bremerhaven, �Ellis Island), zum an-deren um jüdische politische Organisationen undParteien wie den �Central-Verein oder den �Bund.Hieran schließt das Themenfeld Diplomatie an,das dem Engagement für jüdische Belange in derSphäre internationaler Politik gilt. Die modernenFormen der Fürsprache etablierten sich als Phäno-mene lebensweltlicher Säkularisierung und Mo-dernisierung zuerst in Gestalt der Tätigkeit sichselbst ermächtigender Notabeln, um sich alsbaldden Formen des Engagements international wir-kender jüdischer Organisationen anzuverwandelnund eine Art jüdischer diplomatischer Traditionauszubilden. Einen solchen Übergang bildet dasLemma zum �Board of Deputies ab, während derEintrag �Alliance israélite universelle jener Insti-tution gilt, die jüdisches diplomatisches Engage-ment im 19. Jahrhundert geradezu emblematischverkörpert. Den Rahmen bildete die Große Poli-tik, deren Verfahrensweisen im Zeitalter der Ba-lance es jüdischen Vertretern erlaubte, auf Kon-gressen und Konferenzen ihre Belange vorzutra-gen (�Wiener Kongress, �Berliner Kongress). Im20. Jahrhundert, nach dem Ersten Weltkrieg undangesichts einer zunehmenden nationalstaatli-chen Parzellierung der internationalen Politik,wurden die Grenzen einer derartigen nichtstaatli-chen Interessenvertretung offenkundig. Innerhalbdieses Kontexts der jüdischen Politik und Diplo-matie wird auch die zionistische Bewegung ver-ortet. Ihre Gründerfigur Theodor Herzl wird mitseiner literarischen Vision �Altneuland lemmati-siert, wesentliche Debatten der zionistischen Kon-gresse werden unter ihrem Gründungs- und Erin-nerungsort �Basel abgehandelt.

Die Lemmata des Wissensbereichs Institution,Recht und Politik nehmen sich analog zu der dia-sporischen Konstellation jüdischer Lebensweltendenkbar vieler kulturgeographischer Bereiche an– und dies unabhängig von der jeweiligen Anzahlder dort lebenden Juden. So wird etwa den Judendes islamischen Orients in der Kernzeit 1750–1950– in Einträgen zu ihrem rechtlichen Status wie zuihrer Lebenswelt (z.B. �Millet) – eine hohe Bedeu-tung zuerkannt, auch wenn sie im Vergleich zuden damaligen aschkenasischen Judenheiten indemographischer Hinsicht eher von geringererBedeutung sind.

Der dritte große Wissensbereich der EJGK um-fasst Phänomene der Lebenswelt. Jüdische Alltags-kulturen weisen auch im Prozess zunehmenderVerweltlichung eine starke Bindung an das Sa-krale auf; in gewisser Hinsicht sind sie Gefäßeder Traditionsbewahrung. Dem gelten die weitangelegten Themenfelder zu Alltag, Ritus und Sa-kralität. Die Spannung zwischen Religionsgesetzund sich profanierender Lebenswelt wird in die-sem Zusammenhang von Einträgen ausgelotet,die sich mit Fragen der �Frömmigkeit, des Speise-gesetzes (�Kashrut), des Ritus des �Schächtens, der�Liturgie und des �Kalenders bis hin zu rites depassages wie der �Beschneidung, der �Bar/Bat-Miz-wa, der �Eheschließung sowie den Regularien vonBestattung und der mit ihrer Durchführung be-trauten heiligen Gesellschaften befassen.

In systematischer Nachbarschaft zu diesen The-menfeldern werden unter dem Begriff der �Meh. i-za, der synagogalen Schranke, Fragen des Ge-schlechts bzw. der Geschlechterdifferenz behan-delt. Der traditionell patriarchalisch aufgeladenereligionsgesetzliche jüdische Kanon fordert einzeitgenössisches enzyklopädisches Projekt inso-fern heraus, als es die im Zeichen des ThemenfeldsGender/Geschlecht stehenden Artikel thematischvon traditionellen, auf die Weiblichkeit fixiertenFestlegungen zu lösen sucht und sie durch dieEinbeziehung von Themen männlicher Körper-lichkeit erweitert. Diesem Themenfeld sind Arti-kel zugeordnet, die sich mit geschlechtsspezi-fischen Zuschreibungen, etwa durch die rituellenMaßgaben der �Kleiderordnung, und mit Fragender Frauenbildung (�Bais Yaakov, �Hochschulefür Frauen) und der Frauenorganisationen (�Jü-discher Frauenbund) befassen.

Jenseits der rituellen Bedeutung von Körperlich-keit werden Phänomene des �Sports behandelt.Dabei werden unterschiedliche, in den jüdischenLebenswelten auffällige Sportarten berücksichtigt,vornehmlich solche, denen in migrantischer Um-gebung der Charakter sozialer Aufstiegsrituale zu-kommt – etwa �Boxen und �Baseball in den Ver-einigten Staaten oder �Fußball in Europa. Auchdas um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundertgepflegte kollektive, zur Nationalisierung derJuden beitragende Turnen und die Etablierungjüdischer Sportvereine (�Bar Kochba Berlin) so-wie der später platzgreifende Kult um heraus-ragende Sportler und Sportlerinnen werden auf-gegriffen.

XVII Einf�hrung

Ein weiteres Themenfeld bilden Berufe undProfessionen. Auch dieses folgt einem an einerbinären Unterscheidung orientiertem Auswahl-prinzip – hier der zwischen vormodernen undmodernen Formen des Produzierens, Wirtschaf-tens und Vermittelns. So stehen Lemmata offenoder mittels lieux verdeckt für �Handwerk undHandel, für �Hoffaktoren und �Bankiers, für�Hausierer und �Uhrmacher, für Pächter (�Pacht)und Gutsverwalter, für die Diamanten- und Tex-tilindustrie (�Antwerpen, �L¡ódz), für das �Eisen-bahnwesen und die �Warenhäuser – aber auch fürandere auffällige Berufe, Funktionen und Rollen.

*Die im Auftrag der Sächsischen Akademie derWissenschaften im Rahmen des Leipziger Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte undKultur erarbeitete Enzyklopädie jüdischer Geschichteund Kultur lehnt sich konzeptionell an dessen un-ter der Direktorenschaft des Herausgebers ent-wickelte Forschungsagenda an, jüdische Ge-schichte als einen integralen Bestandteil der all-gemeinen Geschichte zu verstehen. Auf dieseWeise kann sichtbar gemacht werden, welches Po-tential historisch angeleiteter Erkenntnis dem jü-dischen Sujet als solchem innewohnt. Tatsächlicherweist es sich auch für andere historische Gegen-stände als eine epistemische Sonde, mittels dererdie Zeit über sich selbst Auskunft geben kann. Zuguter Letzt versteht sich das Unternehmen derEJGK auch als ein Projekt, den gegenwärtig er-reichten Stand der Jüdischen Studien nicht nurabzubilden, sondern ihnen auch eine Entwick-lungsrichtung vorzuschlagen.

Die EJGK ist ein deutschsprachiges Vorhaben.Gleichwohl ist sie ein internationales Projekt. Einesolche Orientierung erwächst nicht nur aus derweiten akademischen Vernetzung seines Gegen-stands, sondern ist auch und vor allem der Naturder Sache geschuldet. So sind Autorinnen und

Autoren aus den verschiedensten Wissenschafts-und Sprachkulturen an dem Werk beteiligt – vorallem aus Deutschland, Israel und den VereinigtenStaaten.

Die EJGK ist ein originäres Werk. Frühere Enzy-klopädien jüdischen Wissens werden in ihr nichtfortgeschrieben. Indes zehrt sie bei aller post-kanonischen Innovation von der großen Traditionjüdischer Enzyklopädiekultur in der Moderne, diein der Weimarer Zeit in der deutschsprachig kon-zipierten, wegen der Weltwirtschaftskrise und derNS-Herrschaft nur teilweise realisierten Encyclopae-dia Judaica kulminierte. Sie konnte in den 1970erJahren in Jerusalem in englischer Sprache voll-endet werden und sie gilt unbestritten, seit jüngs-tem in neuer Auflage, als die große jüdische Enzy-klopädie.

Die EJGK bescheidet sich mit einer verhältnis-mäßig geringen Zahl von ca. 800 Artikeln unter-schiedlichen Zuschnitts und Umfangs, der auchderen jeweiligen Rang wiederspiegelt (Schlüssel-artikel, Dachartikel, Einzelartikel), in sechs Bän-den sowie einem Registerband. Die Lemmatalisteund die inhaltlichen Zielvorgaben für die Artikelwurden von der wissenschaftlichen Redaktiondes Akademieprojekts »Europäische Traditionen –Enzyklopädie jüdischer Kulturen« der SächsischenAkademie zu Leipzig am Simon-Dubnow-Institutunter der Leitung des Herausgebers erarbeitet. DerRedaktion oblag auch das Redigieren und Lektorie-ren der Artikel in engem Zusammenwirken mitdem Herausgeber und den ca. 450 Autorinnen undAutoren, des Weiteren auch die Auswahl der Abbil-dungen und die inhaltliche Vorbereitung der Kar-ten.Die redaktionellenArbeitenerfolgten zudem inenger Abstimmung mit dem Verlag.

Der Herausgeber ist der Redaktion in ihrer Pro-fessionalität, Sachkunde wie ihrem Engagementfür das gemeinsame Projekt zu großem Dank ver-pflichtet.

Dan Diner Im Frühjahr 2011

Einf�hrung XVIII17 Einführung

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AAlef-Bet • Adversus-Judaeos-Traktate • Ahasver • Ahavat Ziyon • Ahl al-kitāb • Akademie für die Wissenschaft des Juden-tums • Alexanderplatz • Alexandria • Algier • Alija • Allgemeine Zeitung des Judentums • Alliance israélite universelle • Altalena • Alterität • Altertumswissenschaft • Altneu-land • American Jewish Committee • American Jewish Congress • American Jewish Historical Society • Amerika • Anerkennung • Angelus Novus • Anglo-Jewish Association • Annales • Annoncen-Expedition • Ansied-lungsrayon • Anthologie • Anthropologie • Antwerpen • Apikoros • Arabisch • Aramäisch • Archäologie • Architektur • Armenian Atrocities Committee • Armia Krajowa • Aschkenas • Aschkenasim • Assimilation • Atempause • Aufbau • Auferstehung • Aufklärung • Auschwitz • Auschwitz-Prozess • Ausgleich • Autoeman-cipation • Autonomie • Avodath Hakodesh

BBabel-Bibel • Babi Jar • Badkhn • Bagdad • Bais Yaakov • Balegule • Balfour-Deklaration • Bankiers • Bann • Bar Kochba • Berlin • Bar/Bat Mizwa • Baseball • Basel • Beerdigungs-streit • Berliner Antisemitismusstreit • Berliner Illustrierte Zeitung • Berliner Kon-gress • Bernheim-Petition • Beschneidung • Bet Din • Beta Israel • Bezalel • Bibelkritik • Bibelübersetzung • Bibliographie • Biblio-theca Bodleiana • Bibliotheken • Bieder-meier • Bikkure ha-Ittim • Bilderverbot • Bildung • Bill of Rights • Birobidschan • Bi’ur • Blackface • B’nai B’rith • Board of Deputies • Bobe-Mayse • Bombay • Bontshe • Bordeaux • Borscht Belt • Botwin-Kompanie • Boxen • Brandeis University • Braunbuch • Breendonk • Bremerhaven • Breslau • Brit Shalom • Broadway • Brody • Buchdruck • Buchenwald • Buchmalerei • Buczacz • Budapest • Buenos Aires • Bund • Bürgertum

Artikelverzeichnis

CCampo di Fiori • Central-Verein • Centre de documentation • Českožidovské listy • Chassidismus • Chemie • City College • Civil Rights Movement • Claims Conference • Club Babel • Code Civile • Collegio Rabbinico • Collin • Combray • Comité des délégations juives • Commentary • Comtat Venaissin • Congress for Cultural Freedom • Conjoint Foreign Committee • Conservative Judaism • Consistoire central israélite • Conversos • Córdoba • Czernowitz

DDamaskus • Darda’im • Davar • David-stern • Deborah • Décret Crémieux • Décret infâme • Dekonstruktion • Demographie • Denkstil • Deutsch • Deutsch-Israelitischer Gemeindebund • Dhimmah • Di Shvue • Di Yunge • Dialektik der Aufklärung • Dialog • Diaspora • Dibbuk • Dina de-malk-huta dina • Divre Shalom we-Emet • Dönme • Drancy • Dreyfus-Affäre • Drvar • Duma

EEcclesia et Synagoga • École de Paris • Edom • Ehe • Eichmann-Prozess • Einsteinturm • Eisenbahn • El ha-Zippor • El-Alamein • Ellis Island • Emanzipation • Emden-Eybe-schütz-Kontroverse • Emes, der • Englisch • Entreebillet • Enzyklopädien • Esnoga • Esperanto • Essay • Ethik • Ethos • Ettore • Europa • Europäischer Nationalitäten-kongress • Evian • Exil • Exodus

FFackel, die • Falsafah • Familie • Farbfeld-malerei • Farhud • Februarrevolution • Female Hebrew Benevolent Society • Fettmilch-Auf-stand • Feuilleton • Film • Film Noir • Film musik • Fishke • Folklore • Forverts • Foto grafie • Frankismus • Frank-Rühl-Letter • Franz ösische Revolution • Freies Jüdisches Lehrhaus • Freiheit • Freimann-Sammlung • Frei schule • Frömmigkeit • Fusgeyer • Fußball

.

.

Artikelverzeichnis 18

Page 22: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur - ReadingSample

GGeburt • Gegenwartsarbeit • Geist der Utopie • Geldhandel • Geldwesen • Genf • Genisa • Genozid • George-Kreis • Germania Judaica • Germanomanie • Gesamtarchiv • Geschichte • Gesellschaft für jüdische Volks-musik • Gesetz • Gestalt • Goldbergs, the • Golem • Gottesidee • Grammophon • Groshnbibliotek • Gruppe 47

H Haaretz • Ha’avara-Abkommen • Habima • Hadassah • Hakham Bashi • Hakoah Wien • Halacha • Halukka • Ha-Maggid • Hamburg • Hamburger Tempelstreit • Ha-Me’assef • Handwerk • Harbin • Haskala • Ha-Tekufa • Ha-Tikwa • Hausierer • Hay-Note • Haynt • Hebräerland • Hebräisch • Hebräische Univer -sität • Hebräisch-orientalischer Melodien-schatz • Hebrew Union College • Helvetik • Hep-Hep-Krawalle • Hevra Kaddisha • Hilfs-verein der deutschen Juden • Hilsner-Affäre • Hiob • Hiroshima • Historiographie • Historische Kommissionen • Hochschule für die Wissenschaft des Judentums • Hoch-schule für Frauen • Hoffaktoren • Hollywood • Holocaust • Hoveve Ziyon • Humor

IIasi • Ikkarim • Ikonologie • Institut für Sozialforschung • Institute of Jewish Affairs • Inzikhist • Ish ha-Halakha • Israel • Israelitische Allianz zu Wien • Israelitischer Landeskongress

JJabłonna • Jahreslauf • Januar-Aufstand • Jargon-Bühne • Jazz • Jeckes • Jedwabne • Jew Bill • Jewish Chronicle • Jewish Historical Society of England • Jewish Social Studies • Jiddisch • Jischuw • Jodensavanne • Johannes burg • Joint Distribution Com-mittee • Jud Süß • Judenfeindschaft • Judenforschung • Judenfrage • Juden-mission • Judenrat • Judenzählung •

Jüdische historisch-ethnographische Gesellschaft • Jüdische National- und Uni-versitätsbibliothek • Jüdische Partei • Jüdische Rundschau • Jüdischer Frauenbund • Jüdischer Verlag • Jüdischer Weltkongress • Jüdisches Antifaschistisches Komitee • Jüdisches Historisches Institut • Jugendstil

KKabarett • Kabbala • Kaddisch • Kadosh • Kahal • Kaiserjuden • Kalām • Kalender • Kaminski-Theater • Kantonisten • Kantor • Karäer • Kashrut • Kasztner-Affäre • Ka-Tzetnik • Khurbn • Kielce • Kinder-transporte • Kino • Kischinjow • Klage • Klassenbewusstsein • Kleiderordnung • Klezmer • Kohelet Musar • Kol Nidre • Kolonisation • Komintern • Kommentar • König Lear • Konversion • Koran • Kosaken-Verfolgungen • Kosmopoliten • Kowno • Kozo shel Yud • Krakau • Kritik • Kubismus • Kulturbund Deutscher Juden • Kultur-philosophie • Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg • Kulturzionismus • Kunst • Kunstwart-Debatte • Kupferhaus • Kuzari

LLadino • Landjuden • Lebensgeschichte • Lebensphilosophie • Leipzig • Lemberg • Leo Baeck Institute • Levi’s • Levittown • Liblice • Liliom • Lissabon • Literatur • Liturgie • Litwaken • Livorno • Łódz • London • LTI (Lingua Tertii Imperii) • Luftmensch • Luxemburger Abkommen • Lyrik

MMa’ase Tuviya • Madagaskar-Plan • Magdeburger Recht • Magnum • Mai-gesetze • Manhattan Project • Mantua • Maqam • Marienbad • Marrakesch • Marranismus • Märtyrer • Marx Brothers • Maschhad • Maskila • Maskilim • Masse • Mathematik • Matthäuspassion • Mayufes • Mäzene • Medizin • Megalle Temirin •

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19 Artikelverzeichnis

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Mehiza • Mekka • Melbourne • Mellāh • Melting Pot • Menora • Menschenrechte • Messianismus • Meta-Rabbis • Metropolis • Metz • Mexico-Stadt • Midrasch • Mikwe • Militär • Millet • Mimesis • Minderheiten-rechte • Minhag • Misrach • Misrachim • Misuk • Mittelmeerstil • Mityawnim • Mizwot • More iudaico • More Nevukhe ha-Zeman • More Nevukhim • Morgenthau Commission • Mortara-Affäre • Motke • Muhammedanische Studien • München • Musa Dagh • Musar • Museen • Musik • Muskeljuden • Mystik

NNalewki-Straße • Namensgebung • Nansen-Pass • Nasi • Nathan • Nationalismus • Nationalitätenfrage • Nationalräte • Neolog • Neo-Orthodoxie • Neukantianismus • New Deal • New School for Social Research • New York • Nichtjüdischer Jude • Niggun • Novemberpogrom • Numerus clausus • Nürnberg

OO.R.T. • Odessa • Offenbach Archival Depot • Offene Gesellschaft • Operette • Opojaz • Orgel • Orient • Orient, der • Orthodoxie • Ost und West • Oyneg Shabbes

PPacht • Pacific Palisades • Palästina-Amt • Palestine Orchestra • Panzerkreuzer Potem-kin • Paria-These • Partisanen • Paulskirche • Pesev-Protest • Pfeffermühle • Phänomeno-logie • Philanthropie • Philanthropin • Philosophie • Physiognomik • Pilegesh • Pinkasim • Piscator-Bühne • Piyut • Pletsl • Pluralismus • Pogrom • Politische Religionen • Polnisch • Polytonalität • Pomul verde • Porzellanaffen • Posen • Prag • Predigt • Preußisches Judenedikt • Privileg • Prophetie • Protestantisierung • Protokolle der Weisen von Zion • Psychoanalyse • Purimspiel

QQuerido

RRabbinat • Rabbinerin • Rabbiner-konferenzen • Rabbinerseminar für das orthodoxe Judenthum • Radio • Rasse • Rassvet • Räterepublik • Ravensbrück • Realismus • Reb Henokh • Recife • Re-Education • Reform • Regietheater • Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten • Reichsrat • Reichstag • Reichsvertretung der Deutschen Juden • Reine Rechts-lehre • Reiter armee • Relativitätstheorie • Religions philosophie • Renaissance • Renegaten • Reporter • Résistance • Responsen • Restitution • Reue • Rhapsody in Blue • Rhodos • Riegner-Telegramm • Riga • Risorgimento • Ritualmord • Roman • Romancero • Rosenberg-Prozess • Rote Armee • Rote Kapelle • Rothschilds • Rotwelsch • Russisch

SSachplakat • Safed • Säkularisierung • Salon • Saloniki • Salzsäule • Sanhédrin • S’Brent • Schabbat • Schach • Schächten • Schanghai • Schänke • Scheunenviertel • Schira • Schlemihl • Schmonzes • Schoa • Schocken-Bücherei • Schöpfung • Schtetl • Schwarz-bard-Prozess • Schwarzbuch • Screwball • Second Avenue • Sejm • Selbstbildnis • Selbsthass • Semitistik • Sepharad • Sepha-radim • Sepulkralkunst • Sexualforschung • Shekhina • Shema • Shtadlanut • Shylock • Sibirya • Silbertablett • Skamander • Sklaven handel • Slánský-Prozess • Smyrna • Sobibór • Sonett • Sonntagskreis • Sozial-forschung • Soziologie • Spielmacher • Sport • Sprache • Sprachenkonferenz • Sprachkritik • Staatsangehörigkeit • Stalingrad • Statistik • Stern der Erlösung • Stimmungslandschaft • Struma • Sulamith • Sünde • Superman • Synagoge

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TTafsīr • Talmud • Talmud tora • Tanach • Tancred • Tanger • Tansman-Akkord • Tanz • Tarbut • Tauwetter • Technion • Tekhelet • Tel Aviv • Telegraphie • Tempel • Teshuva • Tewje • Theorie • Theresienstadt • Tiberias • Tikkun olam • Tin Pan Alley • Tish’a be-Av • Tkhinnes • Tłomackie-Synagoge • Tod • Todesfuge • Todesmärsche • Tohuwabohu • Toledo • Toleranzpatent • Toraschmuck • Totenbuch • Tractatus theologico-politicus • Transit • Transportwesen • Trauma • Treblinka • Triest • Tugendbund • Tunis • Tur Malka • Turiner Gruppe • Typographie • Typus

U Überseehandel • Übersetzung • Uhrmacher • Ultraorthodoxie • Ungarisch • Universitäten • Uranium • Urlinie • Urteilskraft

VVaudeville • Venedig • Verbesserung • Verbindungen • Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden • Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba Prag • Vergleichende Musikwissenschaft • Verlagswesen • Verschwörung • Vichy • Vierjahressejm • Völkerpsychologie • Völker-recht • Volksfront • Volksmusik • Voskhod

WWadi Salib • Wahlverwandtschaften • Waren -häuser • Warschau • Weintraub Syncopators • Weizmann Institute of Science • Weltbühne • Weltende • Welttheater • Werkbundsiedlung • Wien • Wesensdebatte • West Side Story • Westerbork • Westminster • White Christmas • Wien • Wiener Kongress • Wiener Library • Wilna • Wilnaer Truppe • Wirklichkeit der Hebräer • Wissenschaft • Wissenschaft des Judentums • Wissenschaftslogik • Wissens-soziologie • Witebsk • Witz • Wolkenbügel • Word • World Union for Progressive Judaism, the • Worms • Wunderrabbi

YYad Vashem • Yankele • Yentl • Yeshiva Uni-versity • Yidishland • YIVO • Yung Yidish

ZZahl • Zakhor • Ze’ena u-Re’ena • Zedaka • Zeit • Zeitungswesen • Zensur • Zentralrat der Juden in Deutschland • Zeremonial-gesetz • Zeugenschaft • Zikhroynes • Zimtläden, die • Zion • Zitat • Zivilisation • Zwölftonmusik • Zydokomuna

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21 Artikelverzeichnis

Page 25: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur - ReadingSample

Autonomie

Unter jüdischer Autonomie wird die Selbstverwal-tung jüdischer Gemeinschaften innerhalb ihrer nicht-jüdischen Umwelt in Antike, Mittelalter und früherNeuzeit verstanden. Autonomie impliziert die Aner-kennung des besonderen religiösen, rechtlichen, or-ganisatorischen, sozialen und kulturellen Status derJuden durch die jeweilige Obrigkeit. In Mittelalterund früher Neuzeit wurde sie jüdischen Gemeindenseitens der Landes- und Schutzherrschaft gewährt,um im Gegenzug die Zahlung der verlangten Abga-ben sicherzustellen. Der »heiligen« jüdischen Ge-meinde (kehilla kedusha) galt Autonomie als erstre-benswert, da sie eine innere Organisation ermöglich-te, die das Leben gemäß den religiösen Vorschriften(�Halacha) gewährleistete (�Kahal). Die vormodernenautonomen, selbstverwalteten jüdischen Gemeinden,die als Territorialkorporationen nach außen ihre In-teressen vertraten, begannen sich seit der Mitte des18. Jahrhunderts unter dem Einfluss und Druck desspätabsolutistischen Zentralstaats sowie der Franzö-sischen Revolution und ihrer Folgen aufzulösen. DerVerlust vormoderner Formen jüdischer Autonomieentspricht in vielerlei Hinsicht der jüdischen Erfah-rung der Herausforderungen der Moderne.

1. Vormoderne1.1 Urspr�nge im Altertum1.2 Interne Regelungsfreiheiten1.3 �bergemeindliche Zusammenschl�sse2. Moderne3. Historiographie

1. Vormoderne

1.1 Urspr�nge im Altertum

Jüdische Selbstverwaltung findet sich seit dem Alter-tum in unterschiedlicher Ausprägung in den Ländernder �Diaspora. Auch im Land Israel (Palästina) lebtenJuden seit dem Verlust eines eigenen jüdischen Staatsunter den Bedingungen weitgehender Autonomie, sounter den Persern, in den Diadochen-Reichen, imrömischen wie byzantinischen Reich und unter mus-limischer Herrschaft.

Die Selbstverwaltung jüdischer Gemeinden wiesin der Antike im Wesentlichen zwei Formen auf:Zum einen handelte es sich um autonome Institutio-nen, wie sie in hellenistischen Städten verbreitet wa-ren. Hier hatten die jüdischen Bewohner einen Statusinne, aufgrund dessen sie den Bürgern der Polisrechtlich gleichgestellt waren (isopoliteia). Die Selbst-verwaltung dieser Gemeinden setzte sich unter derHerrschaft des Römischen Reichs fort und bildete

die Grundlage autonomer Körperschaften, wie sie inder aschkenasischen Diaspora während des Mittel-alters und bis in die frühe Neuzeit üblich waren. InPalästina unter römischer Herrschaft war das Patriar-chat bis zu dessen Aufhebung im 5. Jahrhundert alsVertretung der jüdischen Bevölkerung durch dieObrigkeit anerkannt. Auch im vorislamischen Ägyp-ten bestand ein von der Obrigkeit anerkannter über-gemeindlicher Zusammenschluss mit einem Ethnar-chen an der Spitze.

Zum anderen sind für das Altertum autonomeInstitutionen charakteristisch, wie sie sich in Babylo-nien entwickelten und unter der parthischen, sassani-dischen und muslimischen Oberhoheit heraus-bildeten. Diese erkannten jeweils den Resh Galuta(Exilarch), der den Rang eines Staatsbeamten genoss,als höchsten Repräsentanten aller Juden in ihremHerrschaftsbereich an. In den islamischen Ländernsetzte sich diese Tradition fort. Familien aus der wirt-schaftlichen wie rabbinischen Elite hatten Führungs-positionen inne und trugen die Titel Resh Galuta, Gaonund Nagid.

1.2 Interne Regelungsfreiheiten

Von der Antike bis in die frühe Neuzeit umfasstejüdische Autonomie, abgesehen von jenen Bereichen,die sich die jeweilige Obrigkeit vorbehielt, Gesetz-gebung, Gerichtswesen und in begrenztem Maß aus-führende Gewalt. Die jüdischen Gemeinschaften un-ter muslimischer wie christlicher Herrschaft erfreu-ten sich weitgehender Rechtsautonomie: Fußend aufden rabbinischen Gerichten (�Bet din), fällten sie ihreEntscheidungen nach dem jüdischen Religionsrecht(�Halacha). Die Gemeinschaften gaben sich ihre eige-nen Gesetze (takkanot) auf der Ebene einzelner Ge-meinden (kehillot), Bezirke oder überkommunaler Zu-sammenschlüsse und sorgten für die Durchsetzungihrer Beschlüsse mittels religiös legitimierter Strafan-drohung wie den Ausschluss aus der Gemeinschaft(h. erem, �Bann) oder die Ächtung (niddui). Die auto-nomen Gemeinden sorgten für den Unterhalt jüdi-scher Gebetsstätten und Friedhöfe; sie trieben Steu-ern ein sowohl im Auftrag der Obrigkeit (Kopfsteuer)als auch für eigene Belange zum Unterhalt vonDienstleistungen sowie für die Interventionen beimRegenten (Fürsprache, �shtadlanut) und sonstigenMaßnahmen, die zum Erhalt ihrer Gemeinschaft er-forderlich waren.

Eine solche diasporische Souveränität der Judenhatte verbindlichen Charakter. Wie die Angehörigenanderer Körperschaften der Vormoderne gehörtenauch die Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft einer

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

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geradezu als gemeinsamer Körper verstandenen Ver-bindung an. Wer aus der Gemeinschaft ausschied(entweder durch Konversion oder durch Tod), galtals ein amputierter Körperteil. Diese Verbindung,der etwas Mystisches eigen war, wurde als heilig er-achtet. Die jüdische »heilige Gemeinde« (kehilla kedu-sha) war mithin eine Gemeinschaft von Glaubens-genossen, deren Verbindung weit über das Irdischeund Materielle hinausreichte.

1.3 �bergemeindliche Zusammenschl�sse

Die jüdische Autonomie der aschkenasischen Ge-meinden in Europa (�Aschkenas) zu Beginn der Neu-zeit war, anders als die in den islamischen Länderndes Mittelalters, weniger zentralisiert und brachtekeine Dynastien von Gemeindeoberhäuptern und -re-präsentanten wie dem Exilarch, Gaªon oder Nagidhervor. Allerdings hatten die Juden in Europa wieim Orient eine Kopfsteuer zu entrichten. Sie schlos-sen sich in größeren Verbänden zusammen, aus de-nen sich übergreifende Vereinigungen entwickelten:(1) der Landesverband (kehal medina), dem die Judendes jeweiligen Territoriums angehörten (charakteris-tisch insbesondere für die jüdische Autonomie im»deutschen« Alten Reich); (2) ein Zusammenschlussselbständiger Gemeinden, etwa als »Rat des LandesLitauen« (wa�ad medinat Lita) oder der Rat Mährens; (3)ein Zusammenschluss von großen Einzelgemeindenund Regionalräten, etwa im Vierländerrat (wa�ad arbaaraz.ot) in Polen. Vereinigungen unterschiedlicherGröße, in denen sich jeweils Vertreter von Orts-gemeinden um die Regelung gemeinsamer Angele-genheiten und um die Kontakte zur Obrigkeit küm-merten, entstanden in der frühen Neuzeit zwischendem französischen Elsass im Westen bis nach Litauenim Osten. Diese Räte (we�adim) genannt, entsprachenin mancher Hinsicht vergleichbaren christlichen In-stitutionen.

Die größte Entfaltung jüdischer Autonomie wäh-rend der frühen Neuzeit markieren zwei überregio-nale Zusammenschlüsse, die seit der zweiten Hälftedes 16. Jahrhunderts bis 1764 in der Union des König-reichs Polen und des Großfürstentums Litauen be-standen: Der Vierländerrat, der Großpolen, das west-liche und das östliche Kleinpolen sowie Wolhynienumfasste, und der Länderrat von Litauen waren diegrößten und bedeutendsten unter den gemeinde-übergreifenden Vereinigungen. Sie wiesen großeÜbereinstimmung mit den Landtagen des Adels unddem polnischen Landtag (Sejm) des Königreichs aufund gingen auf Versuche des polnischen Königtumszurück, die Eintreibung der Steuern der jüdischen

Gemeinden zu zentralisieren. Zu diesem Zweck grün-deten jüdische Gemeindevertreter in der zweitenHälfte des 16. Jahrhunderts juristische Körperschaf-ten, die als übergemeindliche Instanzen anerkanntwurden (erstmals 1581 auf den jährlich stattfindendenMessen zu Lublin). Die erste bekannte Verordnungdes Vierländerrats geht auf das Jahr 1580 zurück.

Die jüdischen Länderräte ließen eine hierarchischeStruktur erkennen, in denen sich auch das Kräftever-hältnis der Gemeinden untereinander abbildete. Aus-druck dessen war das Ringen um den jeweiligen An-teil an der aufzubringenden Steuer. Die den beidenVereinigungen zugrunde liegende kleinste Verwal-tungseinheit war die Gemeinde (kehilla) unter Füh-rung der Gemeindevertretung oder -repräsentanz (ka-hal). Besonders einflussreiche und wohlhabende Ge-meinden (»Hauptgemeinden«, kehillot rashiyot) warenim Kreistag (glil) vertreten. Dieser pflegte an Markt-tagen zusammenzutreten; die Kreisgrenzen stimm-ten in der Regel mit denen der Verwaltungseinheitendes Königreichs Polen-Litauen überein. Im Jahr 1717bestand der Vierländerrat aus 18 Kreis- bzw. Haupt-gemeinden. In Litauen stammten die Vertreter aus-schließlich aus den Hauptgemeinden, anfangs Brest,Grodno und Pinsk, später auch Wilna und Sluzk.Beide Vereinigungen wiesen einen ausgesprochenoligarchischen Charakter auf. Neueren Berechnun-gen [5] zufolge waren an den Wahlen zum Vierlän-derrat in der Spätphase seines Bestehens nur einProzent der Wahlberechtigten aus den Ortsgemein-den beteiligt.

Der Aufbau der beiden Länderräte war ähnlichangelegt wie der örtliche kahal (die Gemeindevertre-tung) in Polen-Litauen: Die oberste Leitung hatte derRatsvorsteher (parnas ha-wa'ad; poln. marszal¡ek) inne;für die Finanzen war der Einnehmer oder Treuhän-der (ne'eman; wiernik) zuständig, die Vertretung jüdi-scher Interessen gegenüber der Obrigkeit und Ein-flussnahme auf die Besteuerung oblag dem Rats-Für-sprecher (shtadlan ha-wa'ad; syndyk generalnosci); dieSteuerschätzer (shamma'im; symplarzy) entschiedenüber die Verteilung der Steuern auf die verschiedenenGemeinden; der Ratsschreiber (sofer ha-wa'ad) besorgtedie Aufzeichnung der Verordnungen, der Beschlüsseund richterlichen Entscheidungen der jüdischen Ge-richte. Durch Niederschrift in den Protokollbüchern(pinkasim) der Länderräte wurden deren Beschlüsseund Maßnahmen rechtskräftig.

Beide Länderräte wurden von der polnischen Ob-rigkeit nicht als offizielle Organe jüdischer Selbstver-waltung anerkannt. Die einzige ihnen staatlicherseitszuerkannte Funktion war die Eintreibung der Kopf-steuer, die Mitte des 17. Jahrhunderts in eine Pau-

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23 Autonomie

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schalsteuer umgewandelt wurde. In Absprache mitder polnischen bzw. litauischen Staatskasse wiesensie den Gemeinden die zu entrichtende Summe zu.Bisweilen wurde die Steuer durch die Länderräte inden Staatsschatz überführt; gelegentlich zahlten dieGemeinden direkt an die Staatskasse oder an militä-rische Einheiten, die durch die Kopfsteuer zu finan-zieren waren.

Inoffiziell schützten die beiden Länderräte die re-ligiösen, kulturellen und wirtschaftlichen Belangeder Judenheit Polen-Litauens gegenüber der Obrig-keit, erließen aber ihrerseits auch Verordnungen inBezug auf Moral, Brauchtum, Geschäfts- und Finanz-gebaren sowie das Wohlfahrtswesen. Zudem waren

die Gerichte der Länderräte die oberste richterlicheInstanz; allerdings war die Annahme ihrer Entschei-dungen durch die Vertreter der Hauptgemeinden undder Kreisräte freiwillig. Der Länderrat autorisierteden Druck für in Aschkenas erscheinende jüdischeBücher und schützte die Autorenrechte, schritt gegenketzerische Bewegungen ein (etwa um die Mitte des18. Jahrhunderts gegen die Anhänger des �Frankis-mus) und unterstützte ins Heilige Land ziehende ost-europäische Juden. Die Autorität der Rabbinats-gerichte der Länderräte strahlte weit über Polen-Li-tauen aus und wurde von jüdischen Gemeinden imAusland (z.B. Amsterdam, Hamburg, Jerusalem undFrankfurt) bei der Schlichtung interner Streitigkeiten

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Privileg Vytautas' desGroßen an die Juden vonBrest (1388), lateinischeKopie aus der MetrykaKoronna (Mitte 15. Jahr-hundert, Ausschnitt)

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in Anspruch genommen (�Emden-Eybeschütz-Kon-troverse). Darüber hinaus war es Anliegen der Län-derräte, jüdische Interessen zu wahren – angefangenvon wirtschaftlichen Belangen bis hin zur Zurück-weisung von Ritualmordbeschuldigungen, wie sieim 18. Jahrhundert zunahmen. In einem dieser Fälle,dem Ritualmordvorwurf von 1756, wurde ein Vertre-ter des Vierländerrats nach Rom entsandt. Seine Reisewar so kostspielig, dass die Juden Polens dafür miteiner Sondersteuer belegt wurden.

Die faktisch äußerst beschränkte Vollmacht derLänderräte und ihre letztendlich geringen Möglich-keiten, auf das Verhalten jüdischer Gemeinden oderEinzelpersonen wirklich einzuwirken, stehen der Ide-alvorstellung gegenüber, die sich im Selbstverständ-nis der polnisch-litauischen Judenheit darüber her-ausgebildet hatte. So galten die Länderräte geradezuals jüdische Autorität und als maßgebliche Instanzder moralischen und religiösen Belange der Juden inPolen-Litauen.

2. Moderne

Das Aufkommen des territiorialen Zentralstaats inEuropa beendete die korporative Ordnung, in derenRahmen die jüdische Autonomie bestanden hatte.Vereinheitlichung, Zentralisierung und rationalePlanung waren die Leitlinien der Reformen, dievon der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowiedurch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch zwi-schen Atlantik und Ostgrenze des Russischen Reichsin unterschiedlicher Weise und Intensität vorgenom-men wurden. Dies traf die jüdische Autonomie nichtnur in ihrem administrativen Kern, sondern hatteauch für die jüdischen Lebenswelten weitreichendeKonsequenzen.

So teilte das Jiddische, das muttersprachliche Ele-ment in der bilingualen Kultur der aschkenasischenJudenheit (�Jiddisch), in sich modernisierenden euro-päischen Staaten das Schicksal von Dialekten etlicherSprachen. Die neu eingerichteten staatlichen Schulen,eine wesentliche Institution des zentralisierten Staa-tes zur Vereinheitlichung von Bildung und Kom-munikation, bekämpften das Jiddische ebenso wieandere Sprachen zugunsten der offiziellen Landes-sprache.

Mittel- und ostmitteleuropäische Zentralstaatenlösten jüdische autonome Einrichtungen auf und ord-neten sie der staatlichen Verwaltung unter. Um dieMitte des 18. Jahrhunderts wurde die weitgehendeAutonomie der jüdischen Gemeinden in Preußen auf-gehoben. Das preußische Gesetz wurde auch für dieLandesteile verbindlich, die durch die Teilungen Po-

lens an Preußen gefallenen waren. In den 1780er Jah-ren wurde durch Kaiser Joseph II. der Sonderstatusder jüdischen Gemeinden im Habsburgerreich (ein-schließlich der 1772 von Polen annektierten Gebiete)aufgehoben (�Toleranzpatent). Im Zuge der �Franzö-sischen Revolution büßten die jüdischen Gemeindendes Elsass ihre interne Verwaltungsautorität ein. Inden 1820er Jahren wurde der korporative Status derjüdischen Gemeinden im Königreich Polen (»Kon-gresspolen«) abgeschafft, und im Jahre 1844 verfügteZar Nikolas I. die Auflösung der Gemeindevertretung(kahal) im Russischen Reich. Im Verlauf von nahezuhundert Jahren hatte der zentralisierte Staat den kor-porativen Charakter der jüdischen Gesellschaft aufdem europäischen Kontinent aufgelöst.

Aus Sicht der aschkenasischen Gemeinden in Eu-ropa, später auch aus Sicht der jüdischen Gemeindenim Mittelmeerraum, bestand kein wesentlicher Un-terschied zwischen einer monarchistischen und einerrepublikanischen Herrschaft; die Politik von Fried-rich dem Großen in Preußen, Joseph II. in Österreichund Zar Alexander I. in Russland galt den Repräsen-tanten der jüdischen Autonomie als ebenso schädlichwie die Französische Revolution. In Frankreich wardie offizielle Haltung gegenüber den Juden insofernbesonders radikal, als dort zwischen 1789 und 1815Ideen der europäischen Aufklärung die Politik derzentralisierten Staatsgewalt weit stärker als andern-orts bestimmten. Die vollständige Abschaffung derjüdischen natio, d.h. der Körperschaft, die sich inner-halb der autonomen Gemeinde verwirklichte, wurdezur Vorbedingung für die Aufnahme der Juden in diefranzösische nation (�Französische Revolution). Sowurde die jüdische Selbstverwaltung schrittweisevon der zentralen staatlichen Verwaltung entwederaufgehoben oder von neuen jüdischen Institutionenmit beschränkter Vollmacht, die im Auftrag der staat-lichen Verwaltung handelten, abgelöst – etwa denKonsistorien (�Consistoire central israélite). DieseEntwicklung griff auch auf das östliche Europa sowienach Nordafrika und in den Vorderen Orient über. Soführten Reformen, die das Osmanische Reich im Laufdes 19. Jahrhunderts unternahm, zu ähnlichen Ver-änderungen bei den sephardischen Judengemeindenin Anatolien und auf dem Balkan, wie sie im Westenbereits realisiert waren. Nur die jemenitischen Juden(�Darda'im) lebten noch im frühen 20. Jahrhundertnach den Bestimmungen des Kalifats von Omar(7. Jh.) und genossen rechtliche Autonomie unterdem dort herrschenden muslimischen Imam.

Im 19. Jahrhundert vollzog sich der Auflösungs-prozess der jüdischen Autonomie im östlichen Eu-ropa im Vergleich zum westlichen Teil der aschkena-

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

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sischen Diaspora deutlich langsamer, nicht zuletztaufgrund der wesentlich größeren jüdischen Bevölke-rung. Hinzu kommt, dass in Russland wie auch inÖsterreich-Ungarn die korporative Verwaltungsformgewahrt blieb. Die Stände (russ. sosloviya) behieltenihre korporativen Rechte; die Juden, die rechtlichzum Stand der städtischen Bevölkerung gerechnetwurden, blieben somit weiterhin als korporativ defi-nierte Gruppe anerkannt. Der polnische Adel konnteseine Stellung noch Jahrzehnte über den Verlust derpolnischen Unabhängigkeit hinaus bewahren. Soblieb das wirtschaftliche Beziehungsgefüge zwischendem polnischen Adel und den polnischen Juden bis indie zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts erhalten; diesbegünstigte auch den Erhalt korporativer Elementeim jeweiligen lokalen Kontext. Ein weiterer Faktor,der die organisatorische Auflösung der jüdischenKorporation im Russischen Reich verzögerte, warder Umstand, dass die Regierung des Zaren nach deroffiziellen Aufhebung der Gemeindevertretung (ka-hal) im Jahr 1844 noch gewisser Organisationsformenfür Verwaltung, Kontrolle und Steuereinziehung in-nerhalb der jüdischen Gesellschaft bedurfte. DieseVereinigungen übernahmen manche Aufgaben derfrüheren autonomen Gemeindevertretungen.

Zudem entstanden innerhalb der jüdischen Le-benswelten neue Institutionen, die die traditionellenAufgaben der Gemeindevertretungen im religiös-ethischen Bereich übernahmen oder adaptierten. Sogewährleisteten etwa die innerhalb der Gemeindenfortbestehenden »heiligen Gemeinschaften« (�H. evraKaddisha) den Weiterbestand der »heiligen Gemein-de« in einem mystischen Sinn. Die Mitgliedschaftwar nunmehr freiwillig. Weite Verbreitung fand dievon Litauen ausgehende populäre Bewegung, in de-ren Zentrum die Jeschiwa (�Talmud tora) stand. Mo-dell für die Verbreitung der litauischen Jeschiwa warjene Einrichtung, die Rabbi Chaim ben Isaak, einSchüler von Elia ben Salomo, dem Gaon von �Wilna,1803 in Wolozin etablierte. Auf ihre Weise knüpftendie Höfe der chassidischen Zaddikim, die währenddes 19. Jahrhunderts allenthalben im östlichen Eu-ropa entstanden (�Chassidismus), ein Netzwerk vonübergemeindlichen Beziehungen, die geographischeoder politische Grenzen überschritten. Sowohl dielitauischen Jeschiwot, als auch die sich ausbreitendenchassidischen Höfe waren neue gesellschaftliche Er-scheinungen in der jüdischen Lebenswelt des geteil-ten Polen. Beide entstanden und entfalteten sich zuder Zeit, als die institutionelle Autonomie im Nieder-gang begriffen war. Beide verfügten über religiöseAutorität – aufgrund halachischer Gelehrsamkeitund rabbinischem Ansehen und aufgrund der Persön-

lichkeit des Zaddik, der Kraft seines Charismas Ein-fluss auf die Wahl und Vergabe von Ämtern nahm. Siegalten nicht als Teil der imperialen Bürokratie, diewomöglich den Gemeindeverband schwächen odergar ersetzen wollte. Doch sahen die russischen undösterreichischen Behörden in diesen Einrichtungenfür gewöhnlich konservative Kräfte, die eher zur Auf-rechterhaltung der alten Ordnung beitrugen. In derArt und Weise, wie das jeweilige Oberhaupt einerlitauischen Jeschiwa Aufgaben des annullierten Ge-meindeverbands übernahm, hatte er vieles mit sei-nem Gegenpol, dem chassidischen Zaddik, gemein-sam. Beide suchten auf dem Weg der Fürsprache aufdie staatlichen Autoritäten zugunsten der jüdischenBevölkerung einzuwirken. Als sich in Galizien undim Russischen Reich eine jüdische Orthodoxie her-ausbildete, schlossen sich Chassidismus, die über-regionale Jeschiwa und die »heiligen Gemeinschaf-ten« der neuen Strömung an. So wurden sie zumBindeglied zwischen dem sich rückbildenden Ge-meindeverband und den modernen Formen jüdischerpolitischer Artikulation des 20. Jahrhunderts.

Ungeachtet der zunehmenden Auflösung jüdi-scher Autonomie wurde ihr angebliches Fortbestehenzu einem Topos antisemitischer Literatur. Der Anti-semitismus verbreitete die Vorstellung eines konspi-rativen Netzwerks jüdischer Vereinigungen (�Ver-schwörung). Der konvertierte russische Jude JakobBrafman veröffentlichte 1869 unter dem Titel Buchdes Kahal (russ. Kniga Kagala) entstellte Auszüge ausdem Protokollbuch der jüdischen Gemeinde vonMinsk. Dieses Werk wurde in den 1870er Jahren fürdie Beamtenschaft in den westlichen Teilen des Rus-sischen Reichs zu einer Art Leitfaden der Wahrneh-mung der Juden. Die Protokolle der Weisen von Zion, einberüchtigtes antisemitisches Machwerk ebenfalls rus-sischer Herkunft, gehen noch einen Schritt weiterund unterstellen einem angeblich geheimen jüdi-schen kahal, Drahtzieher einer jüdischen Weltver-schwörung zu sein. In antisemitischer Deutung exis-tierten die aufgelösten vormodernen autonomenjüdischen Institutionen in subversiver Weise in derModerne weiter.

3. Historiographie

Die jüdische Autonomie wird in der modernen jüdi-schen Geschichtsschreibung kontrovers diskutiert.Insbesondere die historische Forschung im Gefolgeder jüdischen Aufklärung (�Haskala) verband mit jü-discher Autonomie eine konservative Gemeinschaft,die sich gegenüber der Außenwelt verschloss und sichjeglichem Fortschritt verweigerte. Dagegen sahen na-

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

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sischen Diaspora deutlich langsamer, nicht zuletztaufgrund der wesentlich größeren jüdischen Bevölke-rung. Hinzu kommt, dass in Russland wie auch inÖsterreich-Ungarn die korporative Verwaltungsformgewahrt blieb. Die Stände (russ. sosloviya) behieltenihre korporativen Rechte; die Juden, die rechtlichzum Stand der städtischen Bevölkerung gerechnetwurden, blieben somit weiterhin als korporativ defi-nierte Gruppe anerkannt. Der polnische Adel konnteseine Stellung noch Jahrzehnte über den Verlust derpolnischen Unabhängigkeit hinaus bewahren. Soblieb das wirtschaftliche Beziehungsgefüge zwischendem polnischen Adel und den polnischen Juden bis indie zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts erhalten; diesbegünstigte auch den Erhalt korporativer Elementeim jeweiligen lokalen Kontext. Ein weiterer Faktor,der die organisatorische Auflösung der jüdischenKorporation im Russischen Reich verzögerte, warder Umstand, dass die Regierung des Zaren nach deroffiziellen Aufhebung der Gemeindevertretung (ka-hal) im Jahr 1844 noch gewisser Organisationsformenfür Verwaltung, Kontrolle und Steuereinziehung in-nerhalb der jüdischen Gesellschaft bedurfte. DieseVereinigungen übernahmen manche Aufgaben derfrüheren autonomen Gemeindevertretungen.

Zudem entstanden innerhalb der jüdischen Le-benswelten neue Institutionen, die die traditionellenAufgaben der Gemeindevertretungen im religiös-ethischen Bereich übernahmen oder adaptierten. Sogewährleisteten etwa die innerhalb der Gemeindenfortbestehenden »heiligen Gemeinschaften« (�H. evraKaddisha) den Weiterbestand der »heiligen Gemein-de« in einem mystischen Sinn. Die Mitgliedschaftwar nunmehr freiwillig. Weite Verbreitung fand dievon Litauen ausgehende populäre Bewegung, in de-ren Zentrum die Jeschiwa (�Talmud tora) stand. Mo-dell für die Verbreitung der litauischen Jeschiwa warjene Einrichtung, die Rabbi Chaim ben Isaak, einSchüler von Elia ben Salomo, dem Gaon von �Wilna,1803 in Wolozin etablierte. Auf ihre Weise knüpftendie Höfe der chassidischen Zaddikim, die währenddes 19. Jahrhunderts allenthalben im östlichen Eu-ropa entstanden (�Chassidismus), ein Netzwerk vonübergemeindlichen Beziehungen, die geographischeoder politische Grenzen überschritten. Sowohl dielitauischen Jeschiwot, als auch die sich ausbreitendenchassidischen Höfe waren neue gesellschaftliche Er-scheinungen in der jüdischen Lebenswelt des geteil-ten Polen. Beide entstanden und entfalteten sich zuder Zeit, als die institutionelle Autonomie im Nieder-gang begriffen war. Beide verfügten über religiöseAutorität – aufgrund halachischer Gelehrsamkeitund rabbinischem Ansehen und aufgrund der Persön-

lichkeit des Zaddik, der Kraft seines Charismas Ein-fluss auf die Wahl und Vergabe von Ämtern nahm. Siegalten nicht als Teil der imperialen Bürokratie, diewomöglich den Gemeindeverband schwächen odergar ersetzen wollte. Doch sahen die russischen undösterreichischen Behörden in diesen Einrichtungenfür gewöhnlich konservative Kräfte, die eher zur Auf-rechterhaltung der alten Ordnung beitrugen. In derArt und Weise, wie das jeweilige Oberhaupt einerlitauischen Jeschiwa Aufgaben des annullierten Ge-meindeverbands übernahm, hatte er vieles mit sei-nem Gegenpol, dem chassidischen Zaddik, gemein-sam. Beide suchten auf dem Weg der Fürsprache aufdie staatlichen Autoritäten zugunsten der jüdischenBevölkerung einzuwirken. Als sich in Galizien undim Russischen Reich eine jüdische Orthodoxie her-ausbildete, schlossen sich Chassidismus, die über-regionale Jeschiwa und die »heiligen Gemeinschaf-ten« der neuen Strömung an. So wurden sie zumBindeglied zwischen dem sich rückbildenden Ge-meindeverband und den modernen Formen jüdischerpolitischer Artikulation des 20. Jahrhunderts.

Ungeachtet der zunehmenden Auflösung jüdi-scher Autonomie wurde ihr angebliches Fortbestehenzu einem Topos antisemitischer Literatur. Der Anti-semitismus verbreitete die Vorstellung eines konspi-rativen Netzwerks jüdischer Vereinigungen (�Ver-schwörung). Der konvertierte russische Jude JakobBrafman veröffentlichte 1869 unter dem Titel Buchdes Kahal (russ. Kniga Kagala) entstellte Auszüge ausdem Protokollbuch der jüdischen Gemeinde vonMinsk. Dieses Werk wurde in den 1870er Jahren fürdie Beamtenschaft in den westlichen Teilen des Rus-sischen Reichs zu einer Art Leitfaden der Wahrneh-mung der Juden. Die Protokolle der Weisen von Zion, einberüchtigtes antisemitisches Machwerk ebenfalls rus-sischer Herkunft, gehen noch einen Schritt weiterund unterstellen einem angeblich geheimen jüdi-schen kahal, Drahtzieher einer jüdischen Weltver-schwörung zu sein. In antisemitischer Deutung exis-tierten die aufgelösten vormodernen autonomenjüdischen Institutionen in subversiver Weise in derModerne weiter.

3. Historiographie

Die jüdische Autonomie wird in der modernen jüdi-schen Geschichtsschreibung kontrovers diskutiert.Insbesondere die historische Forschung im Gefolgeder jüdischen Aufklärung (�Haskala) verband mit jü-discher Autonomie eine konservative Gemeinschaft,die sich gegenüber der Außenwelt verschloss und sichjeglichem Fortschritt verweigerte. Dagegen sahen na-

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

tional eingestellte jüdische Historiker die Einrichtun-gen der jüdischen Autonomie als Ausdruck einer überJahrhunderte bestehenden kollektiven Kraft und Vi-talität.

Der Historiker Salo Baron (1895–1989) wies da-rauf hin, dass hinsichtlich der Autonomie zionisti-sche ebenso wie liberale Historiker darin überein-stimmten, den kahal als Ausdruck überkommener jü-discher Politik abzutun. Zur Kennzeichnung der Hal-tung der Gemeindeangehörigen verwendeten sieBegriffe wie Gnade, Willfährigkeit und Abhängig-keit. Doch hatte sich auch und gerade unter den na-tional orientierten jüdischen Historikern im östlichenEuropa eine vor allem im Werk von Simon Dubnow(1860–1941) zum Ausdruck kommende Strömung ent-wickelt, in der vormodernen jüdischen Autonomieeinen Ausdruck nichtstaatlicher nationaler Existenzzu erkennen. Israel Halperin (1910–1971), der Erfor-scher der jüdischen Selbstverwaltung in Aschkenas,führte diese Linie bis in die zionistische Geschichts-schreibung hinein weiter. Wie Ben-Z. iyon Dinur/Dünaburg (1884–1973) vor und Shmuel Ettinger(1919–1988) nach ihm, sprach Halperin der jüdischenAutonomie regelrecht nationale Qualitäten zu. Dub-now, der die russisch-jüdische historische Schule an-führte, widmete einen erheblichen Teil seines wissen-schaftlichen Schaffens der Veröffentlichung des Pro-tokollbuchs des Länderrats in Litauen. Er schildertedie polnisch-litauischen Länderräte als ein Glied inder Kette der jüdischen Selbstverwaltung, die sichvon den Tagen des biblischen Königtums in Judaund Israel bis hin zur Aufhebung der jüdischen Auto-nomie in der Neuzeit ziehe. Dubnow spürte in denProtokollen des Länderrats das »Wehen des Geistesnationalen Lebens«. Er verglich die Entscheidungendieses Gremiums mit denen einer parlamentarischenInstitution [1. xi–xxiv]. Allerdings nahm Dubnow alssäkularer jüdischer Nationalist weder den ausgespro-chen korporativen Charakter der chassidischen Ge-meinschaft noch den der litauischen Jeschiwa wahr.Aufgrund seines Modernismus übersah er auch, dassder polnische Adel ein wichtiger Faktor für den Er-halt des korporativen Charakters der jüdischen Ge-sellschaft im Russischen Reich wie in der Habsbur-germonarchie gewesen war.

In einem groß angelegten Forschungsprojekt be-gann Israel Halperin in den 1930er Jahren, Quellen-fragmente und rabbinische Dokumente aus Arbeitenvon Historikern, Abhandlungen von Aufklärern undAufzeichnungen von Chronisten zusammenzutragen.Seine Rekonstruktion der Organisation und der Ver-fahrensweisen des Vierländerrats war so sorgfältig,dass seine Monographie zum Thema [3] bald nach

ihrem Erscheinen selbst zu einer Art historischerQuelle wurde. Aus der Rekonstruktion der Unterla-gen lässt sich das nahezu vollständige Bild eines fö-derativen Zusammenschlusses oligarchischen Cha-rakters gewinnen, der in einem weiten geographi-schen Rahmen, dem Königreich Polen, über den Zeit-raum von nahezu zweihundert Jahren (1580–1764)bestand. Die Abrundung und Veröffentlichung desverlorenen Protokollbuchs waren nur ein Teil inner-halb eines breiter angelegten Projekts zur Erfor-schung der Geschichte der jüdischen Autonomie. Hal-perin begleitete das große Unternehmen der Rekon-struktion mit einer Reihe von Einzelforschungen undverfasste zudem ein Begriffslexikon der jüdischenSelbstverwaltung im aschkenasischen Kulturbereich[3. 536–555]. In jüngeren Forschungsarbeiten zur jü-dischen Autonomie im östlichen Europa (Arbeitenu.a. von Jacob Goldberg, Gershon D. Hundert, Mur-ray J. Rosman und Adam Teller) überwiegt die Ten-denz, die »nationalen« Aspekte der jüdischen Selbst-verwaltung eher zurücktreten zu lassen. Die neuereForschung hebt die Einmischung der nichtjüdischenBehörden in den Alltag der jüdischen Gemeinde stär-ker hervor, betont die Besonderheit der polnischenAutonomie (wobei der Stellenwert der gesamt-asch-kenasischen Komponente reduziert wird) und be-trachtet die jüdischen korporativen Instanzen ver-stärkt als generellen Bestandteil des politisch-sozialenGefüges Polen-Litauens.

[1] S. Dubnow (Hg.), Pinkas ha-medina o pinkas waªad ha-kehillot ha-rashiyot bi-medinat Lita o kovez. takkanot u-fesa-kim mi-shnat 383 ad shnat 521, nidpas mi-ketav yad ha-nimz.a be-Horodna [Protokollbuch des Landes oder Proto-kollbuch des Rats der Hauptgemeinden in Litauen oderSammlung von Statuten und Rechtsetzungen von 1623 bis1761, gedruckt nach einer Handschrift in Grodno], Berlin1925. [2] J. Goldberg (Hg.), Jewish Privileges in the PolishCommonwealth. Charters of Rights Granted to Jewish Com-munities in Poland-Lithuania in the Sixteenth to EighteenthCenturies. Critical Edition of Original Latin, Polish and Ger-man Documents, with English Introductions and Notes, 3Bde., Jerusalem 1985–2001. [3] I. Halperin, Pinkas wa'adarba araz.ot, 5341–5524 [Protokollbuch des Vierländerrats,1581–1764], Jerusalem 1945. [4] I. Halperin, Takkanot medi-nat Mehrin, 410–508 [Statuten des Landes Mähren, 1650–1748], Jerusalem 1952. [5] I. Halperin, Yehudim we-yahadutbe-mizrah. Eropa. Meh. karim be-toldotehem [Studien zur Ge-schichte der Juden und des Judentums im östlichen Europa],Jerusalem 1968. [6] I. Halperin, Pinkas wa'ad arba araz.ot,5341–5524 [Protokollbuch des Vierländerrats, 1581–1764], Je-rusalem 1990 [rev. Ausgabe v. I. Bartal].[7] S.W. Baron, The Jewish Community. Its History andStructure to the American Revolution, 3 Bde., Philadelphia1942. [8] I. Bartal, From Corporation to Nation. Jewish Auto-nomy in Eastern Europe, 1772–1881, in: Simon DubnowInstitute Yearbook 5 (2006), 17–31. [9] I. Bartal, Geschichteder Juden im östlichen Europa 1772–1881, Göttingen 2010.

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

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Page 31: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur - ReadingSample

[10] H.H. Ben-Sasson, Waªade ha-araz.ot shebe-mizrah. Eropa[Länderräte im östlichen Europa], in: Y. Haker (Hg.), Rez.ef u-tmura. Iyunim toldot Yisraªel bi-yeme ha-benayim uva-etha-h. adasha [Kontinuität und Wandel. Überlegungen zurjüdischen Geschichte im Mittelalter und in der Neuzeit],Tel Aviv 1984, 239–257. [11] S. Dubnow, History of theJews in Russia and Poland, 3 Bde., Philadelphia 1916–1920.[12] S. Ettinger, The Council of the Four Lands, in:A. Polonsky u.a. (Hg.), The Jews in Old Poland, 1000–1795,London 1993, 93–109. [13] S. Ettinger, Hasidism and the Ka-hal in Eastern Europe, in: A. Rapoport-Albert (Hg.), Hasi-dism Reappraised, London 1996, 63–75. [14] G.D. Hundert,On the Jewish Community in Poland during the SeventeenthCentury. Some Comparative Perspectives, in: Revue des étu-des juives 142 (1983) 3/4, 349–372. [15] G.D. Hundert, Jews inPoland-Lithuania in the Eighteenth Century, Berkeley 2004.[16] Y. Kalik, Ha-oz.ar ha-avud. Reshimot mas ha-gulgolet ha-yehudi ba-meªa ha-18 shebe-arkhiyon ha-z.ava ha-polani [Derverlorene Schatz. Jüdische Kopfsteuerlisten des 18. Jahr-hunderts im Archiv der polnischen Armee], in: Zion 69(2004) 3, 329–356. [17] J. Kalik, Scepter of Judah. The JewishAutonomy in the Eighteenth Century Crown Poland, Leiden2009. [18] I. Levitats, The Jewish Community in Russia, 1772–1844, New York 1943. [19] I. Levitats, The Jewish Communityin Russia, 1844–1917, Jerusalem 1981. [20] L. Lewin, Die Lan-dessynode der großpolnischen Judenschaft, Frankfurt a.M.1926. [21] S. Litt, Geschichte der Juden Mitteleuropas, 1500–1800, Darmstadt 2009. [22] M. J. Rosman, The Lords' Jews.Magnate-Jewish Relations in the Polish-Lithuanian Com-monwealth during the 18th Century, Cambridge (MA) 1990.[23] A. Teller, Rabbis without a Function? The Polish Rabbi-nate and the Council of Four Lands in the 16th–18th Centu-ries, in: J. Wertheimer (Hg.), Jewish Religious Leadership.Image and Reality, Bd. 1, New York 2004, 371–400.

Israel Bartal, Jerusalem

Avodath Hakodesh

Avodath Hakodesh (hebr.; Gottesdienst) ist der Titeleiner Komposition für Soli, Chor und Orchester desschweizerisch-amerikanischen Komponisten ErnestBloch (1880–1959). Dem Werk liegt der reformierteSchabbatgottesdienst des Union Prayer Book for JewishWorship zugrunde. Seine Paradoxie – und ein wesent-licher Grund für seine historische Bedeutung – be-ruht auf seinem Doppelcharakter von »westlicher«Kunstmusik und »jüdischer« Synagogenmusik.

1. Einf�hrung2. Ernest Bloch3. Die Suche nach dem »j�dischen Geist«4. Avodath Hakodesh

1. Einf�hrung

Avodath Hakodesh ist die erste künstlerische Vertonungeines vollständigen jüdischen Gottesdienstes (�Litur-gie). Seit Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die li-

turgische Musik, die traditionell aus mündlich über-lieferten Gesängen bestand, zunehmend moderni-siert und im Sinne der abendländischen Kunstmusikinterpretiert (�Orgel). Anknüpfend an diese Entwick-lung, schuf Ernest Bloch, geschult an der Musikspra-che der Romantik und des Impressionismus, den ers-ten durchkomponierten jüdischen Gottesdienst, dersich sowohl als liturgisches wie als konzertantes Werkversteht.

Bloch hatte sich lange mit dieser Absicht getragen,aber erst 1927, durch die Begegnung mit ReubenR. Rinder (1887–1966), dem Kantor des Reformtem-pels Emanu-El in San Francisco, nahm das VorhabenGestalt an. Auf Veranlassung Rinders wurde Bloch1929 vom New Yorker Philanthropen Gerald Warburgbeauftragt, einen Gottesdienst für den Schabbat aufder Grundlage des Union Prayer Book for Jewish Worship(1894/1895) zu vertonen, das 1922 von der CentralConference of American Rabbis in revidierter Formneu herausgegeben worden war und den universalis-tischen Geist des amerikanischen Reformjudentums(�Reform) widerspiegelt.

Bloch arbeitete vier Jahre lang an der Komposi-tion. Die liturgischen Texte, die er im Union PrayerBook vorfand, sind für einen überwiegend in eng-lischer Sprache gehaltenen Gottesdienst bestimmt,ergänzt durch eine Auswahl der bekanntesten undwichtigsten auf Hebräisch vorgetragenen Gebete. Beider Zusammenstellung der einzelnen Teile des Got-tesdienstes konzentrierte Bloch sich auf die hebräi-schen Texte und verzichtete auf die meisten Gebeteund Lesungen in englischer Sprache; sein Ziel war es,ein Konzertwerk als ästhetische Einheit zu schaffen.

2. Ernest Bloch

Ernest Bloch wurde 1880 als Sohn einer bürgerlichenjüdischen Familie in Genf geboren. Sein GroßvaterIsaak Joseph Bloch war �Kantor der jüdischen Ge-meinde im schweizerischen Lengnau, sein VaterMeier Isaak Bloch zunächst Chorist in der LengnauerSynagoge, bevor er 1856 nach Genf zog und ein Sou-venirgeschäft eröffnete.

Seine musikalischen Lehrjahre in Genf, Brüssel,Frankfurt am Main, München und Paris konfrontier-ten Bloch mit den divergierenden Tendenzen der na-tionalen Schulen in Frankreich und Deutschland,aber auch mit einem verwirrenden Spektrum poten-tieller musikalischer Einflüsse von der Renaissancebis zur russischen Nationalmusik. Seine Ausbildungließ ihn gewissermaßen »zwischen französischer unddeutscher Ästhetik schwanken« [7. 99]. »In Deutsch-land bin ich ›Franzose‹, weil ich für Debussy kämpf-

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

gaben: Er hielt die droshe-geshank (Geschenkpredigt),die offenbar eine Parodie auf die Rede des Bräutigamswar, und kündigte dabei die Geschenke an, wobei dieSchenkenden in satirischer Verzerrungdargestelltwur-den; außerdem forderte er die männlichen Verwandtenund Gäste am Ende des Abends zum mitsve-tants (ob-ligatorischer Tanz) mit der Braut auf. Neben der Hoch-zeit war das andere wichtige Ereignis das seinem Cha-rakter nach fröhliche Purimfest, auf dem der badkhnwährend des Festmahls auftrat und kurze Theaterstü-cke aufführte, die meist einen Bezug auf historischeEreignisse hatten (�Purimspiel).

Die Musik der badkhonim war eklektisch. Das Sin-gen der gramen ähnelte dem formelhaften Gesang vonGebeten, insbesondere von kinot (Klagegesänge fürden Trauertag �Tish�a be-Av; �Klage). Aber die Musiknahm auch Anleihen bei jiddischen, hebräischen oderanderssprachigen religiösen oder säkularen Volkslie-dern, bei Klezmermelodien und bei nichtjüdischenSchäferweisen. Auch die verschiedenen Formen derchassidischen niggunim (�Niggun) konnten in den gra-men verarbeitet werden.

Der badkhn war eine zentrale Figur in der Entwick-lung der jiddischen Lied- und Unterhaltungskultur,die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts etablierte:Viele broder-zinger (populäre Sänger und Liederma-cher), die in den städtischen Kaffeehäusern, Garten-lokalen und Schenken des östlichen Europa auftraten,kamen aus den Reihen der badkhonim. Ehemaligebadkhonim fanden sich auch unter den frühen Sängernund Stückeschreibern des professionellen jiddischenTheaters, das mit den ersten Inszenierungen Abra-ham Goldfadens 1876 in Iasi (Rumänien; �Pomul ver-de) seinen Anfang nahm. Es wird oft angenommen,dass ihr Erbe in säkularen amerikanisch-jüdischenEntertainern wie den tummlers, die in jüdischen Feri-engebieten wie dem �Borscht Belt in den CatskillMountains Gäste unterhielten, und besonders beiden Stand-up-Comedians fortlebt.

Unter dem Einfluss der �Haskala sahen sich einigebadkhonim des späten 19. Jahrhunderts den Zielen derAufklärung verpflichtet und begannen, neben ihrenAuftritten auf Hochzeiten Verse und Lieder aufkläre-rischen Inhalts zu publizieren; der bekannteste unterihnen war Eliakum Zunser (1836–1913).

In der heutigen chassidischen Gesellschaft inNordamerika ist die Funktion des badkhn stärker fest-gelegt. Seine Aufgabe ist in erster Linie die Aufforde-rung der Gäste zum mitsve-tants. Der badkhn tritt oftohne klezmorim auf und kann stattdessen von einemKeyboard begleitet werden. Innerhalb der chassi-dischen Gemeinschaft haben badkhonim häufig einenhohen religiösen Status und können der Familie des

rebbe angehören (oder sogar der rebbe selbst sein).Während der badkhn in der nichtchassidischen Weltzuweilen mit negativen Assoziationen verknüpftwird, scheint er in chassidischen Kreisen keine Vor-behalte hervorzurufen. Zeitgenössische badkhonimsingen nach wie vor im Stil des muser-zogn, aber dasbazetsns findet nicht mehr statt und die Aufmerksam-keit ist eher auf den Bräutigam als auf die Brautgerichtet – vermutlich eine Folge der strikteren Ge-schlechtertrennung in der chassidischen Gesellschaft.

[1] A. Krasney, The Badkhn. From Wedding Stage to WritingDesk, in: Polin. Studies in Polish Jewry 16 (2003), 7–28.[2] E. Lifschutz, Merrymakers and Jesters Among Jews (Ma-terials for a Lexicon), in: YIVO Annual of Jewish SocialScience 7 (1952), 43–83. [3] S. Liptzin, Eliakum Zunser. Poetof His People, New York 1950. [4] Y. Mazor, The Badkhn inContemporary Hasidic Society. Social, Historical, and Musi-cal Observations, in: Polin. Studies in Polish Jewry 16 (2003),279–296. [5] A. Wood, (De)constructing Yiddishland. Solo-mon and SoCalled's HipHopKhasene, in: EthnomusicologyForum 16 (2007) 2, 243–270.

Joel E. Rubin, Charlottesville

Bagdad

Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war Bagdad dasZentrum einer blühenden jüdischen Gemeinschaft.Aufgeschlossen gegenüber kulturellen Impulsen ausEuropa, durchliefen die Bagdader Juden seit Ende des19. Jahrhunderts einen Prozess der Säkularisierung, er-warben einhohes Bildungsniveauundengagierten sichauf eine in der arabischen Welt einzigartige Weise inKultur und Politik des Landes. Ein Ausdruck dieserBesonderheit ist die Musikpraxis: Jüdische Musikergestalteten das Musikleben, waren Träger der klassi-schen arabischen Tradition und zugleich die treiben-den Kräfte musikalischer Innovation und Modernisie-rung. Das Anwachsen von arabischem Nationalismusund Judenfeindlichkeit führte, verbunden mit den Fol-gen des arabisch-israelischenKriegs, Anfang der 1950erJahre zum Exodus der jüdischen Bevölkerung aus demIrak in den neu gegründeten Staat Israel.

1. Bagdad der Juden in der Moderne1.1 Erwartungen der Integration1.2 Erwachendes Nationalbewusstsein1.3 Nationalismus und Nationalsozialismus2. Juden im irakischen Musikleben2.1 Musik im Islam2.2 Klassische Musiktradition2.3 »Moderner Stil«2.4 Die Br�der al-Kuwaity und Salima Murad2.5 Der Kongress f�r arabische Musik in Kairo 19322.6 Daqqaqa-Ensembles3. Exodus

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

gaben: Er hielt die droshe-geshank (Geschenkpredigt),die offenbar eine Parodie auf die Rede des Bräutigamswar, und kündigte dabei die Geschenke an, wobei dieSchenkenden in satirischer Verzerrungdargestelltwur-den; außerdem forderte er die männlichen Verwandtenund Gäste am Ende des Abends zum mitsve-tants (ob-ligatorischer Tanz) mit der Braut auf. Neben der Hoch-zeit war das andere wichtige Ereignis das seinem Cha-rakter nach fröhliche Purimfest, auf dem der badkhnwährend des Festmahls auftrat und kurze Theaterstü-cke aufführte, die meist einen Bezug auf historischeEreignisse hatten (�Purimspiel).

Die Musik der badkhonim war eklektisch. Das Sin-gen der gramen ähnelte dem formelhaften Gesang vonGebeten, insbesondere von kinot (Klagegesänge fürden Trauertag �Tish�a be-Av; �Klage). Aber die Musiknahm auch Anleihen bei jiddischen, hebräischen oderanderssprachigen religiösen oder säkularen Volkslie-dern, bei Klezmermelodien und bei nichtjüdischenSchäferweisen. Auch die verschiedenen Formen derchassidischen niggunim (�Niggun) konnten in den gra-men verarbeitet werden.

Der badkhn war eine zentrale Figur in der Entwick-lung der jiddischen Lied- und Unterhaltungskultur,die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts etablierte:Viele broder-zinger (populäre Sänger und Liederma-cher), die in den städtischen Kaffeehäusern, Garten-lokalen und Schenken des östlichen Europa auftraten,kamen aus den Reihen der badkhonim. Ehemaligebadkhonim fanden sich auch unter den frühen Sängernund Stückeschreibern des professionellen jiddischenTheaters, das mit den ersten Inszenierungen Abra-ham Goldfadens 1876 in Iasi (Rumänien; �Pomul ver-de) seinen Anfang nahm. Es wird oft angenommen,dass ihr Erbe in säkularen amerikanisch-jüdischenEntertainern wie den tummlers, die in jüdischen Feri-engebieten wie dem �Borscht Belt in den CatskillMountains Gäste unterhielten, und besonders beiden Stand-up-Comedians fortlebt.

Unter dem Einfluss der �Haskala sahen sich einigebadkhonim des späten 19. Jahrhunderts den Zielen derAufklärung verpflichtet und begannen, neben ihrenAuftritten auf Hochzeiten Verse und Lieder aufkläre-rischen Inhalts zu publizieren; der bekannteste unterihnen war Eliakum Zunser (1836–1913).

In der heutigen chassidischen Gesellschaft inNordamerika ist die Funktion des badkhn stärker fest-gelegt. Seine Aufgabe ist in erster Linie die Aufforde-rung der Gäste zum mitsve-tants. Der badkhn tritt oftohne klezmorim auf und kann stattdessen von einemKeyboard begleitet werden. Innerhalb der chassi-dischen Gemeinschaft haben badkhonim häufig einenhohen religiösen Status und können der Familie des

rebbe angehören (oder sogar der rebbe selbst sein).Während der badkhn in der nichtchassidischen Weltzuweilen mit negativen Assoziationen verknüpftwird, scheint er in chassidischen Kreisen keine Vor-behalte hervorzurufen. Zeitgenössische badkhonimsingen nach wie vor im Stil des muser-zogn, aber dasbazetsns findet nicht mehr statt und die Aufmerksam-keit ist eher auf den Bräutigam als auf die Brautgerichtet – vermutlich eine Folge der strikteren Ge-schlechtertrennung in der chassidischen Gesellschaft.

[1] A. Krasney, The Badkhn. From Wedding Stage to WritingDesk, in: Polin. Studies in Polish Jewry 16 (2003), 7–28.[2] E. Lifschutz, Merrymakers and Jesters Among Jews (Ma-terials for a Lexicon), in: YIVO Annual of Jewish SocialScience 7 (1952), 43–83. [3] S. Liptzin, Eliakum Zunser. Poetof His People, New York 1950. [4] Y. Mazor, The Badkhn inContemporary Hasidic Society. Social, Historical, and Musi-cal Observations, in: Polin. Studies in Polish Jewry 16 (2003),279–296. [5] A. Wood, (De)constructing Yiddishland. Solo-mon and SoCalled's HipHopKhasene, in: EthnomusicologyForum 16 (2007) 2, 243–270.

Joel E. Rubin, Charlottesville

Bagdad

Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war Bagdad dasZentrum einer blühenden jüdischen Gemeinschaft.Aufgeschlossen gegenüber kulturellen Impulsen ausEuropa, durchliefen die Bagdader Juden seit Ende des19. Jahrhunderts einen Prozess der Säkularisierung, er-warben einhohes Bildungsniveauundengagierten sichauf eine in der arabischen Welt einzigartige Weise inKultur und Politik des Landes. Ein Ausdruck dieserBesonderheit ist die Musikpraxis: Jüdische Musikergestalteten das Musikleben, waren Träger der klassi-schen arabischen Tradition und zugleich die treiben-den Kräfte musikalischer Innovation und Modernisie-rung. Das Anwachsen von arabischem Nationalismusund Judenfeindlichkeit führte, verbunden mit den Fol-gen des arabisch-israelischenKriegs, Anfang der 1950erJahre zum Exodus der jüdischen Bevölkerung aus demIrak in den neu gegründeten Staat Israel.

1. Bagdad der Juden in der Moderne1.1 Erwartungen der Integration1.2 Erwachendes Nationalbewusstsein1.3 Nationalismus und Nationalsozialismus2. Juden im irakischen Musikleben2.1 Musik im Islam2.2 Klassische Musiktradition2.3 »Moderner Stil«2.4 Die Br�der al-Kuwaity und Salima Murad2.5 Der Kongress f�r arabische Musik in Kairo 19322.6 Daqqaqa-Ensembles3. Exodus

Bagdad 232

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

1. Bagdad der Juden in der Moderne

1.1 Erwartungen der Integration

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts öffnetensich die Juden Bagdads für die arabische Umgebungs-kultur. Sie zogen aus den jüdischen Vierteln aus,nahmen an der arabischen Literaturszene teil (�Ara-bisch) und erlangten im städtischen und regionalenMusikleben eine herausragende Bedeutung.

Angestoßen wurde diese Entwicklung durch einenModernisierungs- und Säkularisierungsschub, der im19. Jahrhundert einsetzte. Seit dem babylonischenExil (598–538 v.d.Z.) hatte es über zweitausend Jahrein Mesopotamien trotz wechselnder Herrschaftsver-hältnisse eine ununterbrochene jüdische Siedlungs-kontinuität gegeben. Zur Zeit des OsmanischenReichs (1534–1918) war Bagdad ein Zentrum der vonKonstantinopel ausgehenden Politik. Im Tanzimat1839–1876, einer Periode politischer Reformen derosmanischen Sultane, war versucht worden, das Reichmithilfe der Einführung europäischer Institutionenzu modernisieren. Dabei kam es zu einer Verände-rung des Status nichtmuslimischer Bevölkerungs-gruppen im Land, wobei auch die Chancen der Juden,vor allem in Bezug auf Ausbildung, verbessert wur-den (�Dhimmah; �H. akham Bashi; �Millet; �Nasi).

Von entscheidendem Einfluss war im späten19. Jahrhundert die �Alliance israélite universelle.1860 in Frankreich von einer Gruppe religiös-welt-anschaulich liberal gesinnter Juden gegründet, för-derte sie die rechtliche und kulturelle »Verbes-serung« (regénération) der Juden und führte über ihrSchulwerk die jüdischen Gemeinden des MittlerenOstens und Nordafrikas an europäische Bildung undWissenschaft heran. 1864 eröffnete sie in Bagdad dieerste Knabenschule mit einer vorwiegend säkularenErziehung. Die Unterrichtssprache war Französisch,der Lehrplan umfasste Hebräisch, Arabisch, Türkischund Englisch, Geschichte, Geographie, Rechnen, Phy-sik und Chemie. 1890 eröffnete die Alliance eine Be-rufsschule für Mädchen und 1895 eine Grundschulefür Mädchen, 1913 folgte die Gründung weitererSchulen in den Städten Basra, Mossul, Hilla, Amara,Khanaqin und Kirkuk.

Die Einführung moderner Curricula und einerweltlichen Lebensweise beschleunigten die Moderni-sierung der jüdischen Bevölkerung gegenüber denChristen und Muslimen. Hinzu kam, dass viele Ab-solventen der Alliance-Schulen später europäischeHochschulen besuchten und unter dem Einfluss dervon der europäischen Moderne vermittelten Werteauch das kulturelle und soziale Leben ihrer west-lichen Umgebungskultur schätzen lernten. Zurück

in der Heimat, gelang ihnen häufig der Aufstieg inRegierungskreise. So hatte der frühere Alliance-Schü-ler Sasson Hisqel (Sasson Heskel, 1860–1932) in Wien,Paris und London studiert und wurde unter den Os-manen 1908 als jüdischer Abgeordneter ins türkischeParlament gewählt; als einer der Gründerväter desmodernen Irak wurde er Finanzminister und behieltdiese Stellung während der ersten fünf irakischenKabinette unter dem britischen Mandat (1920–1932)bei. Auch Kinder wohlhabender muslimischer Fami-lien besuchten die Schulen der Alliance, darunterTawfiq al-Suwaydi (1892–1968), Premierminister desunabhängigen Irak in der Zeit der Massenemigrationirakischer Juden nach Israel zu Beginn der 1950erJahre.

Um die Wende zum 20. Jahrhundert kamen jüdi-sche Emigranten aus Europa nach Bagdad und gabendem Prozess der Aufklärung und Modernisierungweitere Impulse. In der Folge nahmen die Juden inMesopotamien westliche Lebensformen und französi-sche Namen an, kleideten sich europäisch und stu-dierten die Literatur der westlichen Welt (oft in ara-bischer Übersetzung), während sie gleichzeitig dieIntegration in die arabische Mehrheitsgesellschaft an-strebten. So entwickelte sich in Bagdad in der erstenHälfte des 20. Jahrhunderts eine enge Verbundenheitzwischen der jüdischen und der arabischen Bevölke-rung. Die meisten Juden fühlten sich der arabischenUmgebungskultur zugehörig – als »arabische Juden«oder »Juden arabischen Glaubens« [6. 381].

1.2 Erwachendes Nationalbewusstsein

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammen-bruch des Osmanischen Reichs geriet Mesopotamienunter die Kontrolle Großbritanniens, das die dreiProvinzen Bagdad, Basra und Mossul zum Irak zu-sammenschloss und 1921 Faisal I. (1883–1933) aus derDynastie der Haschemiten als König einsetzte. Zudieser Zeit stellten die Juden in Bagdad den größtenBevölkerungsanteil, noch vor Sunniten, Schiiten,Christen, Kurden und Persern. Auch wirtschaftlichgalten sie als stärkste Gruppe: Alteingesessene Fami-lien wie die Kadoories, Sassoons oder Ezras verfügtenüber weitverzweigte Finanz- und Handelsbeziehun-gen, die sich neben Europa und der arabischen Weltauch nach Indien (�Bombay), China und Südostasienerstreckten. König Faisal betonte die Gleichheit allerIraker ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit undbeabsichtigte, durch Integration der verschiedenenreligiösen Richtungen ein gemeinsames Nationalbe-wusstsein zu schaffen. Um die zahlreichen Bevölke-rungsgruppen im Irak zusammenzuführen, plante er

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

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1. Bagdad der Juden in der Moderne

1.1 Erwartungen der Integration

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts öffnetensich die Juden Bagdads für die arabische Umgebungs-kultur. Sie zogen aus den jüdischen Vierteln aus,nahmen an der arabischen Literaturszene teil (�Ara-bisch) und erlangten im städtischen und regionalenMusikleben eine herausragende Bedeutung.

Angestoßen wurde diese Entwicklung durch einenModernisierungs- und Säkularisierungsschub, der im19. Jahrhundert einsetzte. Seit dem babylonischenExil (598–538 v.d.Z.) hatte es über zweitausend Jahrein Mesopotamien trotz wechselnder Herrschaftsver-hältnisse eine ununterbrochene jüdische Siedlungs-kontinuität gegeben. Zur Zeit des OsmanischenReichs (1534–1918) war Bagdad ein Zentrum der vonKonstantinopel ausgehenden Politik. Im Tanzimat1839–1876, einer Periode politischer Reformen derosmanischen Sultane, war versucht worden, das Reichmithilfe der Einführung europäischer Institutionenzu modernisieren. Dabei kam es zu einer Verände-rung des Status nichtmuslimischer Bevölkerungs-gruppen im Land, wobei auch die Chancen der Juden,vor allem in Bezug auf Ausbildung, verbessert wur-den (�Dhimmah; �H. akham Bashi; �Millet; �Nasi).

Von entscheidendem Einfluss war im späten19. Jahrhundert die �Alliance israélite universelle.1860 in Frankreich von einer Gruppe religiös-welt-anschaulich liberal gesinnter Juden gegründet, för-derte sie die rechtliche und kulturelle »Verbes-serung« (regénération) der Juden und führte über ihrSchulwerk die jüdischen Gemeinden des MittlerenOstens und Nordafrikas an europäische Bildung undWissenschaft heran. 1864 eröffnete sie in Bagdad dieerste Knabenschule mit einer vorwiegend säkularenErziehung. Die Unterrichtssprache war Französisch,der Lehrplan umfasste Hebräisch, Arabisch, Türkischund Englisch, Geschichte, Geographie, Rechnen, Phy-sik und Chemie. 1890 eröffnete die Alliance eine Be-rufsschule für Mädchen und 1895 eine Grundschulefür Mädchen, 1913 folgte die Gründung weitererSchulen in den Städten Basra, Mossul, Hilla, Amara,Khanaqin und Kirkuk.

Die Einführung moderner Curricula und einerweltlichen Lebensweise beschleunigten die Moderni-sierung der jüdischen Bevölkerung gegenüber denChristen und Muslimen. Hinzu kam, dass viele Ab-solventen der Alliance-Schulen später europäischeHochschulen besuchten und unter dem Einfluss dervon der europäischen Moderne vermittelten Werteauch das kulturelle und soziale Leben ihrer west-lichen Umgebungskultur schätzen lernten. Zurück

in der Heimat, gelang ihnen häufig der Aufstieg inRegierungskreise. So hatte der frühere Alliance-Schü-ler Sasson Hisqel (Sasson Heskel, 1860–1932) in Wien,Paris und London studiert und wurde unter den Os-manen 1908 als jüdischer Abgeordneter ins türkischeParlament gewählt; als einer der Gründerväter desmodernen Irak wurde er Finanzminister und behieltdiese Stellung während der ersten fünf irakischenKabinette unter dem britischen Mandat (1920–1932)bei. Auch Kinder wohlhabender muslimischer Fami-lien besuchten die Schulen der Alliance, darunterTawfiq al-Suwaydi (1892–1968), Premierminister desunabhängigen Irak in der Zeit der Massenemigrationirakischer Juden nach Israel zu Beginn der 1950erJahre.

Um die Wende zum 20. Jahrhundert kamen jüdi-sche Emigranten aus Europa nach Bagdad und gabendem Prozess der Aufklärung und Modernisierungweitere Impulse. In der Folge nahmen die Juden inMesopotamien westliche Lebensformen und französi-sche Namen an, kleideten sich europäisch und stu-dierten die Literatur der westlichen Welt (oft in ara-bischer Übersetzung), während sie gleichzeitig dieIntegration in die arabische Mehrheitsgesellschaft an-strebten. So entwickelte sich in Bagdad in der erstenHälfte des 20. Jahrhunderts eine enge Verbundenheitzwischen der jüdischen und der arabischen Bevölke-rung. Die meisten Juden fühlten sich der arabischenUmgebungskultur zugehörig – als »arabische Juden«oder »Juden arabischen Glaubens« [6. 381].

1.2 Erwachendes Nationalbewusstsein

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammen-bruch des Osmanischen Reichs geriet Mesopotamienunter die Kontrolle Großbritanniens, das die dreiProvinzen Bagdad, Basra und Mossul zum Irak zu-sammenschloss und 1921 Faisal I. (1883–1933) aus derDynastie der Haschemiten als König einsetzte. Zudieser Zeit stellten die Juden in Bagdad den größtenBevölkerungsanteil, noch vor Sunniten, Schiiten,Christen, Kurden und Persern. Auch wirtschaftlichgalten sie als stärkste Gruppe: Alteingesessene Fami-lien wie die Kadoories, Sassoons oder Ezras verfügtenüber weitverzweigte Finanz- und Handelsbeziehun-gen, die sich neben Europa und der arabischen Weltauch nach Indien (�Bombay), China und Südostasienerstreckten. König Faisal betonte die Gleichheit allerIraker ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit undbeabsichtigte, durch Integration der verschiedenenreligiösen Richtungen ein gemeinsames Nationalbe-wusstsein zu schaffen. Um die zahlreichen Bevölke-rungsgruppen im Irak zusammenzuführen, plante er

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1. Bagdad der Juden in der Moderne

1.1 Erwartungen der Integration

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts öffnetensich die Juden Bagdads für die arabische Umgebungs-kultur. Sie zogen aus den jüdischen Vierteln aus,nahmen an der arabischen Literaturszene teil (�Ara-bisch) und erlangten im städtischen und regionalenMusikleben eine herausragende Bedeutung.

Angestoßen wurde diese Entwicklung durch einenModernisierungs- und Säkularisierungsschub, der im19. Jahrhundert einsetzte. Seit dem babylonischenExil (598–538 v.d.Z.) hatte es über zweitausend Jahrein Mesopotamien trotz wechselnder Herrschaftsver-hältnisse eine ununterbrochene jüdische Siedlungs-kontinuität gegeben. Zur Zeit des OsmanischenReichs (1534–1918) war Bagdad ein Zentrum der vonKonstantinopel ausgehenden Politik. Im Tanzimat1839–1876, einer Periode politischer Reformen derosmanischen Sultane, war versucht worden, das Reichmithilfe der Einführung europäischer Institutionenzu modernisieren. Dabei kam es zu einer Verände-rung des Status nichtmuslimischer Bevölkerungs-gruppen im Land, wobei auch die Chancen der Juden,vor allem in Bezug auf Ausbildung, verbessert wur-den (�Dhimmah; �H. akham Bashi; �Millet; �Nasi).

Von entscheidendem Einfluss war im späten19. Jahrhundert die �Alliance israélite universelle.1860 in Frankreich von einer Gruppe religiös-welt-anschaulich liberal gesinnter Juden gegründet, för-derte sie die rechtliche und kulturelle »Verbes-serung« (regénération) der Juden und führte über ihrSchulwerk die jüdischen Gemeinden des MittlerenOstens und Nordafrikas an europäische Bildung undWissenschaft heran. 1864 eröffnete sie in Bagdad dieerste Knabenschule mit einer vorwiegend säkularenErziehung. Die Unterrichtssprache war Französisch,der Lehrplan umfasste Hebräisch, Arabisch, Türkischund Englisch, Geschichte, Geographie, Rechnen, Phy-sik und Chemie. 1890 eröffnete die Alliance eine Be-rufsschule für Mädchen und 1895 eine Grundschulefür Mädchen, 1913 folgte die Gründung weitererSchulen in den Städten Basra, Mossul, Hilla, Amara,Khanaqin und Kirkuk.

Die Einführung moderner Curricula und einerweltlichen Lebensweise beschleunigten die Moderni-sierung der jüdischen Bevölkerung gegenüber denChristen und Muslimen. Hinzu kam, dass viele Ab-solventen der Alliance-Schulen später europäischeHochschulen besuchten und unter dem Einfluss dervon der europäischen Moderne vermittelten Werteauch das kulturelle und soziale Leben ihrer west-lichen Umgebungskultur schätzen lernten. Zurück

in der Heimat, gelang ihnen häufig der Aufstieg inRegierungskreise. So hatte der frühere Alliance-Schü-ler Sasson Hisqel (Sasson Heskel, 1860–1932) in Wien,Paris und London studiert und wurde unter den Os-manen 1908 als jüdischer Abgeordneter ins türkischeParlament gewählt; als einer der Gründerväter desmodernen Irak wurde er Finanzminister und behieltdiese Stellung während der ersten fünf irakischenKabinette unter dem britischen Mandat (1920–1932)bei. Auch Kinder wohlhabender muslimischer Fami-lien besuchten die Schulen der Alliance, darunterTawfiq al-Suwaydi (1892–1968), Premierminister desunabhängigen Irak in der Zeit der Massenemigrationirakischer Juden nach Israel zu Beginn der 1950erJahre.

Um die Wende zum 20. Jahrhundert kamen jüdi-sche Emigranten aus Europa nach Bagdad und gabendem Prozess der Aufklärung und Modernisierungweitere Impulse. In der Folge nahmen die Juden inMesopotamien westliche Lebensformen und französi-sche Namen an, kleideten sich europäisch und stu-dierten die Literatur der westlichen Welt (oft in ara-bischer Übersetzung), während sie gleichzeitig dieIntegration in die arabische Mehrheitsgesellschaft an-strebten. So entwickelte sich in Bagdad in der erstenHälfte des 20. Jahrhunderts eine enge Verbundenheitzwischen der jüdischen und der arabischen Bevölke-rung. Die meisten Juden fühlten sich der arabischenUmgebungskultur zugehörig – als »arabische Juden«oder »Juden arabischen Glaubens« [6. 381].

1.2 Erwachendes Nationalbewusstsein

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammen-bruch des Osmanischen Reichs geriet Mesopotamienunter die Kontrolle Großbritanniens, das die dreiProvinzen Bagdad, Basra und Mossul zum Irak zu-sammenschloss und 1921 Faisal I. (1883–1933) aus derDynastie der Haschemiten als König einsetzte. Zudieser Zeit stellten die Juden in Bagdad den größtenBevölkerungsanteil, noch vor Sunniten, Schiiten,Christen, Kurden und Persern. Auch wirtschaftlichgalten sie als stärkste Gruppe: Alteingesessene Fami-lien wie die Kadoories, Sassoons oder Ezras verfügtenüber weitverzweigte Finanz- und Handelsbeziehun-gen, die sich neben Europa und der arabischen Weltauch nach Indien (�Bombay), China und Südostasienerstreckten. König Faisal betonte die Gleichheit allerIraker ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit undbeabsichtigte, durch Integration der verschiedenenreligiösen Richtungen ein gemeinsames Nationalbe-wusstsein zu schaffen. Um die zahlreichen Bevölke-rungsgruppen im Irak zusammenzuführen, plante er

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

1. Bagdad der Juden in der Moderne

1.1 Erwartungen der Integration

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts öffnetensich die Juden Bagdads für die arabische Umgebungs-kultur. Sie zogen aus den jüdischen Vierteln aus,nahmen an der arabischen Literaturszene teil (�Ara-bisch) und erlangten im städtischen und regionalenMusikleben eine herausragende Bedeutung.

Angestoßen wurde diese Entwicklung durch einenModernisierungs- und Säkularisierungsschub, der im19. Jahrhundert einsetzte. Seit dem babylonischenExil (598–538 v.d.Z.) hatte es über zweitausend Jahrein Mesopotamien trotz wechselnder Herrschaftsver-hältnisse eine ununterbrochene jüdische Siedlungs-kontinuität gegeben. Zur Zeit des OsmanischenReichs (1534–1918) war Bagdad ein Zentrum der vonKonstantinopel ausgehenden Politik. Im Tanzimat1839–1876, einer Periode politischer Reformen derosmanischen Sultane, war versucht worden, das Reichmithilfe der Einführung europäischer Institutionenzu modernisieren. Dabei kam es zu einer Verände-rung des Status nichtmuslimischer Bevölkerungs-gruppen im Land, wobei auch die Chancen der Juden,vor allem in Bezug auf Ausbildung, verbessert wur-den (�Dhimmah; �H. akham Bashi; �Millet; �Nasi).

Von entscheidendem Einfluss war im späten19. Jahrhundert die �Alliance israélite universelle.1860 in Frankreich von einer Gruppe religiös-welt-anschaulich liberal gesinnter Juden gegründet, för-derte sie die rechtliche und kulturelle »Verbes-serung« (regénération) der Juden und führte über ihrSchulwerk die jüdischen Gemeinden des MittlerenOstens und Nordafrikas an europäische Bildung undWissenschaft heran. 1864 eröffnete sie in Bagdad dieerste Knabenschule mit einer vorwiegend säkularenErziehung. Die Unterrichtssprache war Französisch,der Lehrplan umfasste Hebräisch, Arabisch, Türkischund Englisch, Geschichte, Geographie, Rechnen, Phy-sik und Chemie. 1890 eröffnete die Alliance eine Be-rufsschule für Mädchen und 1895 eine Grundschulefür Mädchen, 1913 folgte die Gründung weitererSchulen in den Städten Basra, Mossul, Hilla, Amara,Khanaqin und Kirkuk.

Die Einführung moderner Curricula und einerweltlichen Lebensweise beschleunigten die Moderni-sierung der jüdischen Bevölkerung gegenüber denChristen und Muslimen. Hinzu kam, dass viele Ab-solventen der Alliance-Schulen später europäischeHochschulen besuchten und unter dem Einfluss dervon der europäischen Moderne vermittelten Werteauch das kulturelle und soziale Leben ihrer west-lichen Umgebungskultur schätzen lernten. Zurück

in der Heimat, gelang ihnen häufig der Aufstieg inRegierungskreise. So hatte der frühere Alliance-Schü-ler Sasson Hisqel (Sasson Heskel, 1860–1932) in Wien,Paris und London studiert und wurde unter den Os-manen 1908 als jüdischer Abgeordneter ins türkischeParlament gewählt; als einer der Gründerväter desmodernen Irak wurde er Finanzminister und behieltdiese Stellung während der ersten fünf irakischenKabinette unter dem britischen Mandat (1920–1932)bei. Auch Kinder wohlhabender muslimischer Fami-lien besuchten die Schulen der Alliance, darunterTawfiq al-Suwaydi (1892–1968), Premierminister desunabhängigen Irak in der Zeit der Massenemigrationirakischer Juden nach Israel zu Beginn der 1950erJahre.

Um die Wende zum 20. Jahrhundert kamen jüdi-sche Emigranten aus Europa nach Bagdad und gabendem Prozess der Aufklärung und Modernisierungweitere Impulse. In der Folge nahmen die Juden inMesopotamien westliche Lebensformen und französi-sche Namen an, kleideten sich europäisch und stu-dierten die Literatur der westlichen Welt (oft in ara-bischer Übersetzung), während sie gleichzeitig dieIntegration in die arabische Mehrheitsgesellschaft an-strebten. So entwickelte sich in Bagdad in der erstenHälfte des 20. Jahrhunderts eine enge Verbundenheitzwischen der jüdischen und der arabischen Bevölke-rung. Die meisten Juden fühlten sich der arabischenUmgebungskultur zugehörig – als »arabische Juden«oder »Juden arabischen Glaubens« [6. 381].

1.2 Erwachendes Nationalbewusstsein

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammen-bruch des Osmanischen Reichs geriet Mesopotamienunter die Kontrolle Großbritanniens, das die dreiProvinzen Bagdad, Basra und Mossul zum Irak zu-sammenschloss und 1921 Faisal I. (1883–1933) aus derDynastie der Haschemiten als König einsetzte. Zudieser Zeit stellten die Juden in Bagdad den größtenBevölkerungsanteil, noch vor Sunniten, Schiiten,Christen, Kurden und Persern. Auch wirtschaftlichgalten sie als stärkste Gruppe: Alteingesessene Fami-lien wie die Kadoories, Sassoons oder Ezras verfügtenüber weitverzweigte Finanz- und Handelsbeziehun-gen, die sich neben Europa und der arabischen Weltauch nach Indien (�Bombay), China und Südostasienerstreckten. König Faisal betonte die Gleichheit allerIraker ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit undbeabsichtigte, durch Integration der verschiedenenreligiösen Richtungen ein gemeinsames Nationalbe-wusstsein zu schaffen. Um die zahlreichen Bevölke-rungsgruppen im Irak zusammenzuführen, plante er

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

ein vereinheitlichtes Bildungssystem mit Lehrmetho-den, die neben einem irakischen Nationalgefühl einpanarabisches Bewusstsein herbeiführen sollten.

Die Maßnahmen der Regierung zur Schaffung ei-ner irakischen Nation für alle religiösen und eth-nischen Gruppen förderten den Patriotismus der Ju-den. Jüdische Bildungseinrichtungen lehrten ara-bische Sprache und Literatur, jüdische Abgeordnetegehörten dem irakischen Parlament an. Die neue bri-tische Verwaltung hatte die Bedeutung und das Po-tential der jüdischen Gemeinschaft rasch erkannt undbeschäftigte tausende von gebildeten Juden im Staats-dienst. 1924 erschien das erste irakisch-jüdische Kul-turmagazin in arabischer Sprache, al-Mis.bah. (DerLeuchter) mit der hebräischen Übersetzung Ha-Me-nora als Untertitel. Jüdische Autoren, die fließendArabisch sprachen, wurden zu Pionieren des ara-bischen Journalismus und der irakischen Literatur(�Arabisch). Seit Ende des 19. Jahrhunderts trat zwarauch die zionistische Bewegung in Erscheinung, dochwurden zionistische Aktivitäten von den führendenPersönlichkeiten der jüdischen Gemeinde nicht un-terstützt.

1.3 Nationalismus und Nationalsozialismus

1932 wurde der Irak von Großbritannien formell indie Unabhängigkeit entlassen. Die Briten übten je-doch weiterhin die Kontrolle über das Land aus undbestimmten seinen politischen Kurs. Der Wunschnach Loslösung von britischer Vormundschaft gabeinem panarabischen Nationalismus neue Impulse.Gleichzeitig verschlechterten sich die Lebensum-stände für die jüdische Bevölkerung, die bislang vonder britischen Kolonialpolitik profitiert hatte. Ihr gu-tes Verhältnis zu den Briten und ihre Tendenz, sichden progressiven Sozialisten mit einem eher terri-torial gebundenen Nationalismus anzuschließen,machte die Juden zur Zielscheibe der panarabischenNationalisten. Zu den diskriminierenden Maßnah-men der irakischen Regierung gehörten Zulassungs-beschränkungen für Juden zu Universitäten und po-litischen Ämtern.

Nach Hitlers Machtübernahme verbreitete derdeutsche Gesandte Fritz Grobba in Bagdad NS-Lite-ratur. Mein Kampf wurde in der Tageszeitung al-"Alamal-"Arabı (Die arabische Welt) abgedruckt und der Di-rektor des Bagdader Krankenhauses, Saªib Shawkat,gründete eine pronationalsozialistische Partei al-Mut-hanna mit Ortsgruppen in Mossul und Basra. 1934wurden alle Juden und Nichtmuslime aus dem Wirt-schafts- und Verkehrsministerium entfernt. Im Jahrdarauf mussten die höheren Schulen und Bildungs-

einrichtungen das spezifische Lehrangebot für jüdi-sche Kinder einschränken. Der Hebräischunterrichtin jüdischen Schulen wurde auf Bibellektüre redu-ziert.

Führende jüdische Vertreter, darunter der Ober-rabbiner Sasson Kadoorie, distanzierten sich von zio-nistischen Aktivitäten. Gleichwohl ließen der Ein-fluss des Nationalsozialismus und der anschwellendepanarabische Nationalismus im Irak eine antijüdischeStimmung aufkommen. Sie entlud sich 1941 im Bag-dader Judenpogrom, dem �farhud, der sich unmittel-bar nach dem von den Briten militärisch herbei-geführten Sturz der nationalistischen Regierung desRashid Ali al-Kaylani ereignete. Al-Kaylani, der demHitlerregime freundlich gesonnen war, hatte im April1941 die probritische Regierung des Kronprinzen Abdal-Illah gestürzt und die Macht an sich gerissen. Alsdie Briten das Regime al-Kaylanis ihrerseits stürzten,kam es zu Ausschreitungen, in deren Folge die jüdi-sche Gemeinschaft mit Plünderung, Mord und Ver-gewaltigung überzogen wurde, auch wenn musli-mische Nachbarn in vielen Fällen Schutz boten. Diejüdische Emigration nach Indien und (auf illegalemWeg) nach Palästina nahm zu. Viele jüdische Jugend-liche in Bagdad schlossen sich der KommunistischenPartei oder einem jüdischen Untergrund an, der sichzur Selbstverteidigung formierte. Auch zionistischeIdeen gewannen an Boden; jüdische Emissäre ausdem �Jischuw organisierten die Flucht nach Palästinaund erteilten Ausbildung im Gebrauch von Handfeu-erwaffen.

Nach dem Sturz al-Kaylanis und der Wiederher-stellung der Regentschaft Abd al-Illahs im Juni 1941erlebte die jüdische Gemeinde Bagdads noch einmaleine Phase der Konsolidierung. Das Zusammenlebenmit den muslimischen Irakern normalisierte sich undließ sie optimistisch in die Zukunft blicken. Als imJahr 1948 der Staat Israel gegründet wurde und derarabisch-israelische Krieg begann, stellte die irakischeRegierung Zionismus und Kommunismus unter Stra-fe; Juden wurden aus dem Staatsdienst entlassen. ImSeptember 1948 wurde Shafiq Adas, ein unpolitischerjüdischer Geschäftsmann, der verbotenen Lieferungvon Schrott aus Beständen der britischen Armeenach Israel beschuldigt und nach einem Schauprozessunter dem Beifall von rund 12000 Schaulustigen ausallen Teilen des Irak vor seinem Haus in Basra ge-hängt.

Die illegale jüdische Emigration über die iranischeGrenze stieg daraufhin drastisch an. Ein im März1950 verabschiedetes Gesetz erlaubte irakischen Ju-den schließlich die Ausreise; sie durften dabei nur50 Dinar und 30 Pfund Gepäck mitnehmen und

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ein vereinheitlichtes Bildungssystem mit Lehrmetho-den, die neben einem irakischen Nationalgefühl einpanarabisches Bewusstsein herbeiführen sollten.

Die Maßnahmen der Regierung zur Schaffung ei-ner irakischen Nation für alle religiösen und eth-nischen Gruppen förderten den Patriotismus der Ju-den. Jüdische Bildungseinrichtungen lehrten ara-bische Sprache und Literatur, jüdische Abgeordnetegehörten dem irakischen Parlament an. Die neue bri-tische Verwaltung hatte die Bedeutung und das Po-tential der jüdischen Gemeinschaft rasch erkannt undbeschäftigte tausende von gebildeten Juden im Staats-dienst. 1924 erschien das erste irakisch-jüdische Kul-turmagazin in arabischer Sprache, al-Mis.bah. (DerLeuchter) mit der hebräischen Übersetzung Ha-Me-nora als Untertitel. Jüdische Autoren, die fließendArabisch sprachen, wurden zu Pionieren des ara-bischen Journalismus und der irakischen Literatur(�Arabisch). Seit Ende des 19. Jahrhunderts trat zwarauch die zionistische Bewegung in Erscheinung, dochwurden zionistische Aktivitäten von den führendenPersönlichkeiten der jüdischen Gemeinde nicht un-terstützt.

1.3 Nationalismus und Nationalsozialismus

1932 wurde der Irak von Großbritannien formell indie Unabhängigkeit entlassen. Die Briten übten je-doch weiterhin die Kontrolle über das Land aus undbestimmten seinen politischen Kurs. Der Wunschnach Loslösung von britischer Vormundschaft gabeinem panarabischen Nationalismus neue Impulse.Gleichzeitig verschlechterten sich die Lebensum-stände für die jüdische Bevölkerung, die bislang vonder britischen Kolonialpolitik profitiert hatte. Ihr gu-tes Verhältnis zu den Briten und ihre Tendenz, sichden progressiven Sozialisten mit einem eher terri-torial gebundenen Nationalismus anzuschließen,machte die Juden zur Zielscheibe der panarabischenNationalisten. Zu den diskriminierenden Maßnah-men der irakischen Regierung gehörten Zulassungs-beschränkungen für Juden zu Universitäten und po-litischen Ämtern.

Nach Hitlers Machtübernahme verbreitete derdeutsche Gesandte Fritz Grobba in Bagdad NS-Lite-ratur. Mein Kampf wurde in der Tageszeitung al-"Alamal-"Arabı (Die arabische Welt) abgedruckt und der Di-rektor des Bagdader Krankenhauses, Saªib Shawkat,gründete eine pronationalsozialistische Partei al-Mut-hanna mit Ortsgruppen in Mossul und Basra. 1934wurden alle Juden und Nichtmuslime aus dem Wirt-schafts- und Verkehrsministerium entfernt. Im Jahrdarauf mussten die höheren Schulen und Bildungs-

einrichtungen das spezifische Lehrangebot für jüdi-sche Kinder einschränken. Der Hebräischunterrichtin jüdischen Schulen wurde auf Bibellektüre redu-ziert.

Führende jüdische Vertreter, darunter der Ober-rabbiner Sasson Kadoorie, distanzierten sich von zio-nistischen Aktivitäten. Gleichwohl ließen der Ein-fluss des Nationalsozialismus und der anschwellendepanarabische Nationalismus im Irak eine antijüdischeStimmung aufkommen. Sie entlud sich 1941 im Bag-dader Judenpogrom, dem �farhud, der sich unmittel-bar nach dem von den Briten militärisch herbei-geführten Sturz der nationalistischen Regierung desRashid Ali al-Kaylani ereignete. Al-Kaylani, der demHitlerregime freundlich gesonnen war, hatte im April1941 die probritische Regierung des Kronprinzen Abdal-Illah gestürzt und die Macht an sich gerissen. Alsdie Briten das Regime al-Kaylanis ihrerseits stürzten,kam es zu Ausschreitungen, in deren Folge die jüdi-sche Gemeinschaft mit Plünderung, Mord und Ver-gewaltigung überzogen wurde, auch wenn musli-mische Nachbarn in vielen Fällen Schutz boten. Diejüdische Emigration nach Indien und (auf illegalemWeg) nach Palästina nahm zu. Viele jüdische Jugend-liche in Bagdad schlossen sich der KommunistischenPartei oder einem jüdischen Untergrund an, der sichzur Selbstverteidigung formierte. Auch zionistischeIdeen gewannen an Boden; jüdische Emissäre ausdem �Jischuw organisierten die Flucht nach Palästinaund erteilten Ausbildung im Gebrauch von Handfeu-erwaffen.

Nach dem Sturz al-Kaylanis und der Wiederher-stellung der Regentschaft Abd al-Illahs im Juni 1941erlebte die jüdische Gemeinde Bagdads noch einmaleine Phase der Konsolidierung. Das Zusammenlebenmit den muslimischen Irakern normalisierte sich undließ sie optimistisch in die Zukunft blicken. Als imJahr 1948 der Staat Israel gegründet wurde und derarabisch-israelische Krieg begann, stellte die irakischeRegierung Zionismus und Kommunismus unter Stra-fe; Juden wurden aus dem Staatsdienst entlassen. ImSeptember 1948 wurde Shafiq Adas, ein unpolitischerjüdischer Geschäftsmann, der verbotenen Lieferungvon Schrott aus Beständen der britischen Armeenach Israel beschuldigt und nach einem Schauprozessunter dem Beifall von rund 12000 Schaulustigen ausallen Teilen des Irak vor seinem Haus in Basra ge-hängt.

Die illegale jüdische Emigration über die iranischeGrenze stieg daraufhin drastisch an. Ein im März1950 verabschiedetes Gesetz erlaubte irakischen Ju-den schließlich die Ausreise; sie durften dabei nur50 Dinar und 30 Pfund Gepäck mitnehmen und

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Seite 234 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm

Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

ein vereinheitlichtes Bildungssystem mit Lehrmetho-den, die neben einem irakischen Nationalgefühl einpanarabisches Bewusstsein herbeiführen sollten.

Die Maßnahmen der Regierung zur Schaffung ei-ner irakischen Nation für alle religiösen und eth-nischen Gruppen förderten den Patriotismus der Ju-den. Jüdische Bildungseinrichtungen lehrten ara-bische Sprache und Literatur, jüdische Abgeordnetegehörten dem irakischen Parlament an. Die neue bri-tische Verwaltung hatte die Bedeutung und das Po-tential der jüdischen Gemeinschaft rasch erkannt undbeschäftigte tausende von gebildeten Juden im Staats-dienst. 1924 erschien das erste irakisch-jüdische Kul-turmagazin in arabischer Sprache, al-Mis.bah. (DerLeuchter) mit der hebräischen Übersetzung Ha-Me-nora als Untertitel. Jüdische Autoren, die fließendArabisch sprachen, wurden zu Pionieren des ara-bischen Journalismus und der irakischen Literatur(�Arabisch). Seit Ende des 19. Jahrhunderts trat zwarauch die zionistische Bewegung in Erscheinung, dochwurden zionistische Aktivitäten von den führendenPersönlichkeiten der jüdischen Gemeinde nicht un-terstützt.

1.3 Nationalismus und Nationalsozialismus

1932 wurde der Irak von Großbritannien formell indie Unabhängigkeit entlassen. Die Briten übten je-doch weiterhin die Kontrolle über das Land aus undbestimmten seinen politischen Kurs. Der Wunschnach Loslösung von britischer Vormundschaft gabeinem panarabischen Nationalismus neue Impulse.Gleichzeitig verschlechterten sich die Lebensum-stände für die jüdische Bevölkerung, die bislang vonder britischen Kolonialpolitik profitiert hatte. Ihr gu-tes Verhältnis zu den Briten und ihre Tendenz, sichden progressiven Sozialisten mit einem eher terri-torial gebundenen Nationalismus anzuschließen,machte die Juden zur Zielscheibe der panarabischenNationalisten. Zu den diskriminierenden Maßnah-men der irakischen Regierung gehörten Zulassungs-beschränkungen für Juden zu Universitäten und po-litischen Ämtern.

Nach Hitlers Machtübernahme verbreitete derdeutsche Gesandte Fritz Grobba in Bagdad NS-Lite-ratur. Mein Kampf wurde in der Tageszeitung al-"Alamal-"Arabı (Die arabische Welt) abgedruckt und der Di-rektor des Bagdader Krankenhauses, Saªib Shawkat,gründete eine pronationalsozialistische Partei al-Mut-hanna mit Ortsgruppen in Mossul und Basra. 1934wurden alle Juden und Nichtmuslime aus dem Wirt-schafts- und Verkehrsministerium entfernt. Im Jahrdarauf mussten die höheren Schulen und Bildungs-

einrichtungen das spezifische Lehrangebot für jüdi-sche Kinder einschränken. Der Hebräischunterrichtin jüdischen Schulen wurde auf Bibellektüre redu-ziert.

Führende jüdische Vertreter, darunter der Ober-rabbiner Sasson Kadoorie, distanzierten sich von zio-nistischen Aktivitäten. Gleichwohl ließen der Ein-fluss des Nationalsozialismus und der anschwellendepanarabische Nationalismus im Irak eine antijüdischeStimmung aufkommen. Sie entlud sich 1941 im Bag-dader Judenpogrom, dem �farhud, der sich unmittel-bar nach dem von den Briten militärisch herbei-geführten Sturz der nationalistischen Regierung desRashid Ali al-Kaylani ereignete. Al-Kaylani, der demHitlerregime freundlich gesonnen war, hatte im April1941 die probritische Regierung des Kronprinzen Abdal-Illah gestürzt und die Macht an sich gerissen. Alsdie Briten das Regime al-Kaylanis ihrerseits stürzten,kam es zu Ausschreitungen, in deren Folge die jüdi-sche Gemeinschaft mit Plünderung, Mord und Ver-gewaltigung überzogen wurde, auch wenn musli-mische Nachbarn in vielen Fällen Schutz boten. Diejüdische Emigration nach Indien und (auf illegalemWeg) nach Palästina nahm zu. Viele jüdische Jugend-liche in Bagdad schlossen sich der KommunistischenPartei oder einem jüdischen Untergrund an, der sichzur Selbstverteidigung formierte. Auch zionistischeIdeen gewannen an Boden; jüdische Emissäre ausdem �Jischuw organisierten die Flucht nach Palästinaund erteilten Ausbildung im Gebrauch von Handfeu-erwaffen.

Nach dem Sturz al-Kaylanis und der Wiederher-stellung der Regentschaft Abd al-Illahs im Juni 1941erlebte die jüdische Gemeinde Bagdads noch einmaleine Phase der Konsolidierung. Das Zusammenlebenmit den muslimischen Irakern normalisierte sich undließ sie optimistisch in die Zukunft blicken. Als imJahr 1948 der Staat Israel gegründet wurde und derarabisch-israelische Krieg begann, stellte die irakischeRegierung Zionismus und Kommunismus unter Stra-fe; Juden wurden aus dem Staatsdienst entlassen. ImSeptember 1948 wurde Shafiq Adas, ein unpolitischerjüdischer Geschäftsmann, der verbotenen Lieferungvon Schrott aus Beständen der britischen Armeenach Israel beschuldigt und nach einem Schauprozessunter dem Beifall von rund 12000 Schaulustigen ausallen Teilen des Irak vor seinem Haus in Basra ge-hängt.

Die illegale jüdische Emigration über die iranischeGrenze stieg daraufhin drastisch an. Ein im März1950 verabschiedetes Gesetz erlaubte irakischen Ju-den schließlich die Ausreise; sie durften dabei nur50 Dinar und 30 Pfund Gepäck mitnehmen und

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ein vereinheitlichtes Bildungssystem mit Lehrmetho-den, die neben einem irakischen Nationalgefühl einpanarabisches Bewusstsein herbeiführen sollten.

Die Maßnahmen der Regierung zur Schaffung ei-ner irakischen Nation für alle religiösen und eth-nischen Gruppen förderten den Patriotismus der Ju-den. Jüdische Bildungseinrichtungen lehrten ara-bische Sprache und Literatur, jüdische Abgeordnetegehörten dem irakischen Parlament an. Die neue bri-tische Verwaltung hatte die Bedeutung und das Po-tential der jüdischen Gemeinschaft rasch erkannt undbeschäftigte tausende von gebildeten Juden im Staats-dienst. 1924 erschien das erste irakisch-jüdische Kul-turmagazin in arabischer Sprache, al-Mis.bah. (DerLeuchter) mit der hebräischen Übersetzung Ha-Me-nora als Untertitel. Jüdische Autoren, die fließendArabisch sprachen, wurden zu Pionieren des ara-bischen Journalismus und der irakischen Literatur(�Arabisch). Seit Ende des 19. Jahrhunderts trat zwarauch die zionistische Bewegung in Erscheinung, dochwurden zionistische Aktivitäten von den führendenPersönlichkeiten der jüdischen Gemeinde nicht un-terstützt.

1.3 Nationalismus und Nationalsozialismus

1932 wurde der Irak von Großbritannien formell indie Unabhängigkeit entlassen. Die Briten übten je-doch weiterhin die Kontrolle über das Land aus undbestimmten seinen politischen Kurs. Der Wunschnach Loslösung von britischer Vormundschaft gabeinem panarabischen Nationalismus neue Impulse.Gleichzeitig verschlechterten sich die Lebensum-stände für die jüdische Bevölkerung, die bislang vonder britischen Kolonialpolitik profitiert hatte. Ihr gu-tes Verhältnis zu den Briten und ihre Tendenz, sichden progressiven Sozialisten mit einem eher terri-torial gebundenen Nationalismus anzuschließen,machte die Juden zur Zielscheibe der panarabischenNationalisten. Zu den diskriminierenden Maßnah-men der irakischen Regierung gehörten Zulassungs-beschränkungen für Juden zu Universitäten und po-litischen Ämtern.

Nach Hitlers Machtübernahme verbreitete derdeutsche Gesandte Fritz Grobba in Bagdad NS-Lite-ratur. Mein Kampf wurde in der Tageszeitung al-"Alamal-"Arabı (Die arabische Welt) abgedruckt und der Di-rektor des Bagdader Krankenhauses, Saªib Shawkat,gründete eine pronationalsozialistische Partei al-Mut-hanna mit Ortsgruppen in Mossul und Basra. 1934wurden alle Juden und Nichtmuslime aus dem Wirt-schafts- und Verkehrsministerium entfernt. Im Jahrdarauf mussten die höheren Schulen und Bildungs-

einrichtungen das spezifische Lehrangebot für jüdi-sche Kinder einschränken. Der Hebräischunterrichtin jüdischen Schulen wurde auf Bibellektüre redu-ziert.

Führende jüdische Vertreter, darunter der Ober-rabbiner Sasson Kadoorie, distanzierten sich von zio-nistischen Aktivitäten. Gleichwohl ließen der Ein-fluss des Nationalsozialismus und der anschwellendepanarabische Nationalismus im Irak eine antijüdischeStimmung aufkommen. Sie entlud sich 1941 im Bag-dader Judenpogrom, dem �farhud, der sich unmittel-bar nach dem von den Briten militärisch herbei-geführten Sturz der nationalistischen Regierung desRashid Ali al-Kaylani ereignete. Al-Kaylani, der demHitlerregime freundlich gesonnen war, hatte im April1941 die probritische Regierung des Kronprinzen Abdal-Illah gestürzt und die Macht an sich gerissen. Alsdie Briten das Regime al-Kaylanis ihrerseits stürzten,kam es zu Ausschreitungen, in deren Folge die jüdi-sche Gemeinschaft mit Plünderung, Mord und Ver-gewaltigung überzogen wurde, auch wenn musli-mische Nachbarn in vielen Fällen Schutz boten. Diejüdische Emigration nach Indien und (auf illegalemWeg) nach Palästina nahm zu. Viele jüdische Jugend-liche in Bagdad schlossen sich der KommunistischenPartei oder einem jüdischen Untergrund an, der sichzur Selbstverteidigung formierte. Auch zionistischeIdeen gewannen an Boden; jüdische Emissäre ausdem �Jischuw organisierten die Flucht nach Palästinaund erteilten Ausbildung im Gebrauch von Handfeu-erwaffen.

Nach dem Sturz al-Kaylanis und der Wiederher-stellung der Regentschaft Abd al-Illahs im Juni 1941erlebte die jüdische Gemeinde Bagdads noch einmaleine Phase der Konsolidierung. Das Zusammenlebenmit den muslimischen Irakern normalisierte sich undließ sie optimistisch in die Zukunft blicken. Als imJahr 1948 der Staat Israel gegründet wurde und derarabisch-israelische Krieg begann, stellte die irakischeRegierung Zionismus und Kommunismus unter Stra-fe; Juden wurden aus dem Staatsdienst entlassen. ImSeptember 1948 wurde Shafiq Adas, ein unpolitischerjüdischer Geschäftsmann, der verbotenen Lieferungvon Schrott aus Beständen der britischen Armeenach Israel beschuldigt und nach einem Schauprozessunter dem Beifall von rund 12000 Schaulustigen ausallen Teilen des Irak vor seinem Haus in Basra ge-hängt.

Die illegale jüdische Emigration über die iranischeGrenze stieg daraufhin drastisch an. Ein im März1950 verabschiedetes Gesetz erlaubte irakischen Ju-den schließlich die Ausreise; sie durften dabei nur50 Dinar und 30 Pfund Gepäck mitnehmen und

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mussten ihre irakische Staatsbürgerschaft ablegen.Um der Gefahr eines wirtschaftlichen Zusammen-bruchs aufgrund der jüdischen Emigration zu ent-gehen, ließ das irakische Parlament die jüdischenGuthaben einfrieren. Beim anschließenden Massen-exodus emigrierten über 90 Prozent der rund 115000irakischen Juden nach Israel (�Alija).

2. Juden im irakischen Musikleben

2.1 Musik im Islam

Die Entwicklung, die die jüdische Gemeinde Bagdadsum die Wende zum 20. Jahrhundert durchlief, ist einSchlüssel zum Verständnis der sozialen Organisationder Musik ihrer muslimischen Umgebungskultur, diewesentlich von der Haltung des Islam zur Musikgeprägt war. Da der Koran nur wenige Aussagen zurMusik trifft und sich auch die Hadithen (die Über-lieferungen über den Propheten Muhammad) glei-chermaßen für wie gegen sie aussprechen, stand dieislamische Gesellschaft den Musizierenden ambiva-lent gegenüber. Musik, insbesondere ihre emotionaleWirkung und ihr Unterhaltungswert, war in der isla-mischen Welt immer wieder Gegenstand von Debat-ten. Vor allem wurden Saiteninstrumente abgelehntund Instrumentalisten dementsprechend gering ge-schätzt, während der Gesang als zulässig galt –schließlich wurden auch der Gebetsruf des Muezzinund der Koran von der menschlichen Stimme vor-getragen.

Bei aller Ambivalenz kam der Musik im Gefügeislamischer Gesellschaften immer eine hohe Bedeu-tung zu. Diesem Paradox wurde häufig dadurch be-gegnet, dass bestimmte Funktionen in der Musik-ausübung ethnischen Minderheiten überlassen blie-ben. Im Zweistromland waren es seit Ende des19. Jahrhunderts weitgehend die Juden, die mit demzunehmenden Niedergang ihres spezifischen jüdi-schen Lebensstils und wachsender Integration in diemuslimische Mehrheitsgesellschaft die Pflege undWeitergabe der Musiktradition ihrer Umgebungübernahmen. Als Bagdad um die Wende zum20. Jahrhundert zu einem der größten musikalischenZentren in der arabischen Welt aufstieg, waren dieMehrzahl seiner professionellen InstrumentalistenJuden. Sie spielten, tradierten und bereicherten dasbreite Spektrum an Musik, nach dem die BagdaderBevölkerung verlangte: das klassische arabische Re-pertoire, das traditionelle jüdische Repertoire unddie populäre Musik.

Die Assimilation der Bagdader Juden ging so weit,dass sie gleich ihrenmuslimischenNachbarndenStand

des Musikers gering schätzten und angesehene jüdi-sche Familien es ihren Kindern verwehrten, diesen Be-ruf zu ergreifen. Viele der jüdischen Musiker ent-stammten daher der Unterschicht, waren blind oderkörperbehindert. Die Ende der 1920er Jahre gegrün-dete jüdische Silas-Kadoorie-Blindenschule, inder Kin-der ein Handwerk erlernten, das sie vor dem Schicksaldes Bettelns bewahren sollte, bot auch Instrumental-unterricht an. Die Schule wurde zu einer wichtigenAusbildungsstätte in traditioneller Musik, währenddas 1936 gegründete Bagdader Konservatorium fastausschließlich abendländische Musik lehrte.

2.2 Klassische Musiktradition

Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in den urba-nen Zentren Mesopotamiens zahlreiche Instrumen-talensembles (chalghı), die sich ausschließlich aus jüdi-schen Musikern zusammensetzten. Das Bagdader En-semble chalghı Baghdad bestand aus zwei melodischenInstrumenten (dem Santur, einem trapezförmigenHackbrett mit Schlegeln, und der Kamana-Josa, einerviersaitigen Spießgeige) und zwei Schlaginstrumenten(dem Daff, einer Rahmentrommel mit Schellen, unddem Dumbuk, einer einköpfigen Bechertrommel).

Das anspruchsvollste Genre im Repertoire derchalghı war der irakische Maqam (al-maqam al-"Iraqı)aus der klassischen arabischen Musiktradition. Etwa60 mehrteilige Kompositionen sind überliefert, beste-hend aus Liedern und Instrumentalstücken mit fest-gelegten und improvisierten Abschnitten, deren Auf-führung ein komplexes, mündlich überliefertes Re-gelsystem zugrunde liegt. Die meisten dieser Werkesind vor dem 20. Jahrhundert entstanden – die ältesteSchicht des Repertoires ist über 400 Jahre alt, diejüngeren Werke gehen überwiegend auf jüdischeKomponisten zurück. Die Melodien spiegeln die Viel-falt in der Bevölkerung des Zweistromlands und be-ziehen auch Material aus anderen Teilen der ara-bischen Welt ein. Die Liedtexte handeln von Liebe,Trauer, Sehnsucht, Glück oder Verbundenheit mitder Natur; sie sind in klassischem �Arabisch wie imlokalen arabischen Dialekt, aber auch in anderenSprachen wie Persisch, Türkisch, Kurdisch oder He-bräisch verfasst. Vorgetragen werden sie zu instru-mentaler Begleitung von einem Solisten, dem qari�maqam (Maqam-Rezitator); der letzte Abschnitt desal-maqam al-"Iraqı ist in der Regel der volksliedartigepastah, der von den Musikern gesungen wird und beidem sich das Publikum mit Händeklatschen, Mitsin-gen oder Tanzen beteiligen darf. Der Part des qari�galt in der muslimischen Gesellschaft als der vor-nehmste Musikerberuf, was daran liegen mag, dass

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mussten ihre irakische Staatsbürgerschaft ablegen.Um der Gefahr eines wirtschaftlichen Zusammen-bruchs aufgrund der jüdischen Emigration zu ent-gehen, ließ das irakische Parlament die jüdischenGuthaben einfrieren. Beim anschließenden Massen-exodus emigrierten über 90 Prozent der rund 115000irakischen Juden nach Israel (�Alija).

2. Juden im irakischen Musikleben

2.1 Musik im Islam

Die Entwicklung, die die jüdische Gemeinde Bagdadsum die Wende zum 20. Jahrhundert durchlief, ist einSchlüssel zum Verständnis der sozialen Organisationder Musik ihrer muslimischen Umgebungskultur, diewesentlich von der Haltung des Islam zur Musikgeprägt war. Da der Koran nur wenige Aussagen zurMusik trifft und sich auch die Hadithen (die Über-lieferungen über den Propheten Muhammad) glei-chermaßen für wie gegen sie aussprechen, stand dieislamische Gesellschaft den Musizierenden ambiva-lent gegenüber. Musik, insbesondere ihre emotionaleWirkung und ihr Unterhaltungswert, war in der isla-mischen Welt immer wieder Gegenstand von Debat-ten. Vor allem wurden Saiteninstrumente abgelehntund Instrumentalisten dementsprechend gering ge-schätzt, während der Gesang als zulässig galt –schließlich wurden auch der Gebetsruf des Muezzinund der Koran von der menschlichen Stimme vor-getragen.

Bei aller Ambivalenz kam der Musik im Gefügeislamischer Gesellschaften immer eine hohe Bedeu-tung zu. Diesem Paradox wurde häufig dadurch be-gegnet, dass bestimmte Funktionen in der Musik-ausübung ethnischen Minderheiten überlassen blie-ben. Im Zweistromland waren es seit Ende des19. Jahrhunderts weitgehend die Juden, die mit demzunehmenden Niedergang ihres spezifischen jüdi-schen Lebensstils und wachsender Integration in diemuslimische Mehrheitsgesellschaft die Pflege undWeitergabe der Musiktradition ihrer Umgebungübernahmen. Als Bagdad um die Wende zum20. Jahrhundert zu einem der größten musikalischenZentren in der arabischen Welt aufstieg, waren dieMehrzahl seiner professionellen InstrumentalistenJuden. Sie spielten, tradierten und bereicherten dasbreite Spektrum an Musik, nach dem die BagdaderBevölkerung verlangte: das klassische arabische Re-pertoire, das traditionelle jüdische Repertoire unddie populäre Musik.

Die Assimilation der Bagdader Juden ging so weit,dass sie gleich ihrenmuslimischenNachbarndenStand

des Musikers gering schätzten und angesehene jüdi-sche Familien es ihren Kindern verwehrten, diesen Be-ruf zu ergreifen. Viele der jüdischen Musiker ent-stammten daher der Unterschicht, waren blind oderkörperbehindert. Die Ende der 1920er Jahre gegrün-dete jüdische Silas-Kadoorie-Blindenschule, inder Kin-der ein Handwerk erlernten, das sie vor dem Schicksaldes Bettelns bewahren sollte, bot auch Instrumental-unterricht an. Die Schule wurde zu einer wichtigenAusbildungsstätte in traditioneller Musik, währenddas 1936 gegründete Bagdader Konservatorium fastausschließlich abendländische Musik lehrte.

2.2 Klassische Musiktradition

Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in den urba-nen Zentren Mesopotamiens zahlreiche Instrumen-talensembles (chalghı), die sich ausschließlich aus jüdi-schen Musikern zusammensetzten. Das Bagdader En-semble chalghı Baghdad bestand aus zwei melodischenInstrumenten (dem Santur, einem trapezförmigenHackbrett mit Schlegeln, und der Kamana-Josa, einerviersaitigen Spießgeige) und zwei Schlaginstrumenten(dem Daff, einer Rahmentrommel mit Schellen, unddem Dumbuk, einer einköpfigen Bechertrommel).

Das anspruchsvollste Genre im Repertoire derchalghı war der irakische Maqam (al-maqam al-"Iraqı)aus der klassischen arabischen Musiktradition. Etwa60 mehrteilige Kompositionen sind überliefert, beste-hend aus Liedern und Instrumentalstücken mit fest-gelegten und improvisierten Abschnitten, deren Auf-führung ein komplexes, mündlich überliefertes Re-gelsystem zugrunde liegt. Die meisten dieser Werkesind vor dem 20. Jahrhundert entstanden – die ältesteSchicht des Repertoires ist über 400 Jahre alt, diejüngeren Werke gehen überwiegend auf jüdischeKomponisten zurück. Die Melodien spiegeln die Viel-falt in der Bevölkerung des Zweistromlands und be-ziehen auch Material aus anderen Teilen der ara-bischen Welt ein. Die Liedtexte handeln von Liebe,Trauer, Sehnsucht, Glück oder Verbundenheit mitder Natur; sie sind in klassischem �Arabisch wie imlokalen arabischen Dialekt, aber auch in anderenSprachen wie Persisch, Türkisch, Kurdisch oder He-bräisch verfasst. Vorgetragen werden sie zu instru-mentaler Begleitung von einem Solisten, dem qari�maqam (Maqam-Rezitator); der letzte Abschnitt desal-maqam al-"Iraqı ist in der Regel der volksliedartigepastah, der von den Musikern gesungen wird und beidem sich das Publikum mit Händeklatschen, Mitsin-gen oder Tanzen beteiligen darf. Der Part des qari�galt in der muslimischen Gesellschaft als der vor-nehmste Musikerberuf, was daran liegen mag, dass

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

mussten ihre irakische Staatsbürgerschaft ablegen.Um der Gefahr eines wirtschaftlichen Zusammen-bruchs aufgrund der jüdischen Emigration zu ent-gehen, ließ das irakische Parlament die jüdischenGuthaben einfrieren. Beim anschließenden Massen-exodus emigrierten über 90 Prozent der rund 115000irakischen Juden nach Israel (�Alija).

2. Juden im irakischen Musikleben

2.1 Musik im Islam

Die Entwicklung, die die jüdische Gemeinde Bagdadsum die Wende zum 20. Jahrhundert durchlief, ist einSchlüssel zum Verständnis der sozialen Organisationder Musik ihrer muslimischen Umgebungskultur, diewesentlich von der Haltung des Islam zur Musikgeprägt war. Da der Koran nur wenige Aussagen zurMusik trifft und sich auch die Hadithen (die Über-lieferungen über den Propheten Muhammad) glei-chermaßen für wie gegen sie aussprechen, stand dieislamische Gesellschaft den Musizierenden ambiva-lent gegenüber. Musik, insbesondere ihre emotionaleWirkung und ihr Unterhaltungswert, war in der isla-mischen Welt immer wieder Gegenstand von Debat-ten. Vor allem wurden Saiteninstrumente abgelehntund Instrumentalisten dementsprechend gering ge-schätzt, während der Gesang als zulässig galt –schließlich wurden auch der Gebetsruf des Muezzinund der Koran von der menschlichen Stimme vor-getragen.

Bei aller Ambivalenz kam der Musik im Gefügeislamischer Gesellschaften immer eine hohe Bedeu-tung zu. Diesem Paradox wurde häufig dadurch be-gegnet, dass bestimmte Funktionen in der Musik-ausübung ethnischen Minderheiten überlassen blie-ben. Im Zweistromland waren es seit Ende des19. Jahrhunderts weitgehend die Juden, die mit demzunehmenden Niedergang ihres spezifischen jüdi-schen Lebensstils und wachsender Integration in diemuslimische Mehrheitsgesellschaft die Pflege undWeitergabe der Musiktradition ihrer Umgebungübernahmen. Als Bagdad um die Wende zum20. Jahrhundert zu einem der größten musikalischenZentren in der arabischen Welt aufstieg, waren dieMehrzahl seiner professionellen InstrumentalistenJuden. Sie spielten, tradierten und bereicherten dasbreite Spektrum an Musik, nach dem die BagdaderBevölkerung verlangte: das klassische arabische Re-pertoire, das traditionelle jüdische Repertoire unddie populäre Musik.

Die Assimilation der Bagdader Juden ging so weit,dass sie gleich ihrenmuslimischenNachbarndenStand

des Musikers gering schätzten und angesehene jüdi-sche Familien es ihren Kindern verwehrten, diesen Be-ruf zu ergreifen. Viele der jüdischen Musiker ent-stammten daher der Unterschicht, waren blind oderkörperbehindert. Die Ende der 1920er Jahre gegrün-dete jüdische Silas-Kadoorie-Blindenschule, inder Kin-der ein Handwerk erlernten, das sie vor dem Schicksaldes Bettelns bewahren sollte, bot auch Instrumental-unterricht an. Die Schule wurde zu einer wichtigenAusbildungsstätte in traditioneller Musik, währenddas 1936 gegründete Bagdader Konservatorium fastausschließlich abendländische Musik lehrte.

2.2 Klassische Musiktradition

Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in den urba-nen Zentren Mesopotamiens zahlreiche Instrumen-talensembles (chalghı), die sich ausschließlich aus jüdi-schen Musikern zusammensetzten. Das Bagdader En-semble chalghı Baghdad bestand aus zwei melodischenInstrumenten (dem Santur, einem trapezförmigenHackbrett mit Schlegeln, und der Kamana-Josa, einerviersaitigen Spießgeige) und zwei Schlaginstrumenten(dem Daff, einer Rahmentrommel mit Schellen, unddem Dumbuk, einer einköpfigen Bechertrommel).

Das anspruchsvollste Genre im Repertoire derchalghı war der irakische Maqam (al-maqam al-"Iraqı)aus der klassischen arabischen Musiktradition. Etwa60 mehrteilige Kompositionen sind überliefert, beste-hend aus Liedern und Instrumentalstücken mit fest-gelegten und improvisierten Abschnitten, deren Auf-führung ein komplexes, mündlich überliefertes Re-gelsystem zugrunde liegt. Die meisten dieser Werkesind vor dem 20. Jahrhundert entstanden – die ältesteSchicht des Repertoires ist über 400 Jahre alt, diejüngeren Werke gehen überwiegend auf jüdischeKomponisten zurück. Die Melodien spiegeln die Viel-falt in der Bevölkerung des Zweistromlands und be-ziehen auch Material aus anderen Teilen der ara-bischen Welt ein. Die Liedtexte handeln von Liebe,Trauer, Sehnsucht, Glück oder Verbundenheit mitder Natur; sie sind in klassischem �Arabisch wie imlokalen arabischen Dialekt, aber auch in anderenSprachen wie Persisch, Türkisch, Kurdisch oder He-bräisch verfasst. Vorgetragen werden sie zu instru-mentaler Begleitung von einem Solisten, dem qari�maqam (Maqam-Rezitator); der letzte Abschnitt desal-maqam al-"Iraqı ist in der Regel der volksliedartigepastah, der von den Musikern gesungen wird und beidem sich das Publikum mit Händeklatschen, Mitsin-gen oder Tanzen beteiligen darf. Der Part des qari�galt in der muslimischen Gesellschaft als der vor-nehmste Musikerberuf, was daran liegen mag, dass

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mussten ihre irakische Staatsbürgerschaft ablegen.Um der Gefahr eines wirtschaftlichen Zusammen-bruchs aufgrund der jüdischen Emigration zu ent-gehen, ließ das irakische Parlament die jüdischenGuthaben einfrieren. Beim anschließenden Massen-exodus emigrierten über 90 Prozent der rund 115000irakischen Juden nach Israel (�Alija).

2. Juden im irakischen Musikleben

2.1 Musik im Islam

Die Entwicklung, die die jüdische Gemeinde Bagdadsum die Wende zum 20. Jahrhundert durchlief, ist einSchlüssel zum Verständnis der sozialen Organisationder Musik ihrer muslimischen Umgebungskultur, diewesentlich von der Haltung des Islam zur Musikgeprägt war. Da der Koran nur wenige Aussagen zurMusik trifft und sich auch die Hadithen (die Über-lieferungen über den Propheten Muhammad) glei-chermaßen für wie gegen sie aussprechen, stand dieislamische Gesellschaft den Musizierenden ambiva-lent gegenüber. Musik, insbesondere ihre emotionaleWirkung und ihr Unterhaltungswert, war in der isla-mischen Welt immer wieder Gegenstand von Debat-ten. Vor allem wurden Saiteninstrumente abgelehntund Instrumentalisten dementsprechend gering ge-schätzt, während der Gesang als zulässig galt –schließlich wurden auch der Gebetsruf des Muezzinund der Koran von der menschlichen Stimme vor-getragen.

Bei aller Ambivalenz kam der Musik im Gefügeislamischer Gesellschaften immer eine hohe Bedeu-tung zu. Diesem Paradox wurde häufig dadurch be-gegnet, dass bestimmte Funktionen in der Musik-ausübung ethnischen Minderheiten überlassen blie-ben. Im Zweistromland waren es seit Ende des19. Jahrhunderts weitgehend die Juden, die mit demzunehmenden Niedergang ihres spezifischen jüdi-schen Lebensstils und wachsender Integration in diemuslimische Mehrheitsgesellschaft die Pflege undWeitergabe der Musiktradition ihrer Umgebungübernahmen. Als Bagdad um die Wende zum20. Jahrhundert zu einem der größten musikalischenZentren in der arabischen Welt aufstieg, waren dieMehrzahl seiner professionellen InstrumentalistenJuden. Sie spielten, tradierten und bereicherten dasbreite Spektrum an Musik, nach dem die BagdaderBevölkerung verlangte: das klassische arabische Re-pertoire, das traditionelle jüdische Repertoire unddie populäre Musik.

Die Assimilation der Bagdader Juden ging so weit,dass sie gleich ihrenmuslimischenNachbarndenStand

des Musikers gering schätzten und angesehene jüdi-sche Familien es ihren Kindern verwehrten, diesen Be-ruf zu ergreifen. Viele der jüdischen Musiker ent-stammten daher der Unterschicht, waren blind oderkörperbehindert. Die Ende der 1920er Jahre gegrün-dete jüdische Silas-Kadoorie-Blindenschule, inder Kin-der ein Handwerk erlernten, das sie vor dem Schicksaldes Bettelns bewahren sollte, bot auch Instrumental-unterricht an. Die Schule wurde zu einer wichtigenAusbildungsstätte in traditioneller Musik, währenddas 1936 gegründete Bagdader Konservatorium fastausschließlich abendländische Musik lehrte.

2.2 Klassische Musiktradition

Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in den urba-nen Zentren Mesopotamiens zahlreiche Instrumen-talensembles (chalghı), die sich ausschließlich aus jüdi-schen Musikern zusammensetzten. Das Bagdader En-semble chalghı Baghdad bestand aus zwei melodischenInstrumenten (dem Santur, einem trapezförmigenHackbrett mit Schlegeln, und der Kamana-Josa, einerviersaitigen Spießgeige) und zwei Schlaginstrumenten(dem Daff, einer Rahmentrommel mit Schellen, unddem Dumbuk, einer einköpfigen Bechertrommel).

Das anspruchsvollste Genre im Repertoire derchalghı war der irakische Maqam (al-maqam al-"Iraqı)aus der klassischen arabischen Musiktradition. Etwa60 mehrteilige Kompositionen sind überliefert, beste-hend aus Liedern und Instrumentalstücken mit fest-gelegten und improvisierten Abschnitten, deren Auf-führung ein komplexes, mündlich überliefertes Re-gelsystem zugrunde liegt. Die meisten dieser Werkesind vor dem 20. Jahrhundert entstanden – die ältesteSchicht des Repertoires ist über 400 Jahre alt, diejüngeren Werke gehen überwiegend auf jüdischeKomponisten zurück. Die Melodien spiegeln die Viel-falt in der Bevölkerung des Zweistromlands und be-ziehen auch Material aus anderen Teilen der ara-bischen Welt ein. Die Liedtexte handeln von Liebe,Trauer, Sehnsucht, Glück oder Verbundenheit mitder Natur; sie sind in klassischem �Arabisch wie imlokalen arabischen Dialekt, aber auch in anderenSprachen wie Persisch, Türkisch, Kurdisch oder He-bräisch verfasst. Vorgetragen werden sie zu instru-mentaler Begleitung von einem Solisten, dem qari�maqam (Maqam-Rezitator); der letzte Abschnitt desal-maqam al-"Iraqı ist in der Regel der volksliedartigepastah, der von den Musikern gesungen wird und beidem sich das Publikum mit Händeklatschen, Mitsin-gen oder Tanzen beteiligen darf. Der Part des qari�galt in der muslimischen Gesellschaft als der vor-nehmste Musikerberuf, was daran liegen mag, dass

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

die islamische Religionsausübung mit einer Männer-stimme assoziiert wird. Die meisten Maqam-Sängerwaren daher Muslime; Ahmad Zaidan (1820–1912), derum die Jahrhundertwende bekannteste Maqam-Sän-ger, war gleichzeitig Muezzin und Koranrezitator.

Al-maqam al-"Iraqı wurde ursprünglich ausschließ-lich in Privathäusern zu festlichen Gelegenheitenoder in konzertantem Rahmen gespielt und war fürdie städtische Bevölkerung die wichtigste Form derUnterhaltung. In der Zwischenkriegszeit eroberte erauch die Kaffeehäuser, von denen manche regelmäßigMaqam-Sänger – mit oder ohne chalghı – auftretenließen. Die Kaffeehäuser, die teilweise bis zu tausendMenschen Platz boten, wurden ausschließlich vonMännern aller Konfessionen besucht; so wurde dasGenre einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Im isla-mischen Fastenmonat Ramadan spielten jüdische In-strumentalensembles in den Kaffeehäusern den iraki-schen Maqam zusammen mit muslimischen Sängernnach Sonnenuntergang, wenn das Fasten währendder Tagesstunden vorüber war. Nach 1938 wurdendie allabendlichen öffentlichen Maqam-Aufführun-gen während des Ramadan auf eine pro Woche be-schränkt; zusätzliche Maqam-Darbietungen gab es imRadio und später im Fernsehen [8. 11–12].

2.3 »Moderner Stil«

Der Patriotismus der Juden und ihr Wunsch nachTeilhabe an der irakischen Gesellschaft und der ara-bischen Kultur, gepaart mit einer westlich geprägtenErziehung, war auch in ihren schöpferischen Leistun-gen wirksam. Sie wurden zu den treibenden Kräften,die die Modernisierung des Musiklebens und die Bil-dung eines neuen musikalischen Geschmacks be-schleunigten.

Mitte der 1920er Jahre gründeten jüdische Musi-ker neue Instrumentalgruppen, die typischerweiseaus Violine, Kanun (eine Art Zither), Ud (Kurzhals-laute) und zwei Schlaginstrumenten (Daff und Dum-buk) bestanden. Die neuen Ensembles, die neben diechalghı traten, pflegten nicht den traditionellen,mündlich überlieferten Stil des irakischen Maqam,sondern spielten Kompositionen im »modernen Stil«,der Elemente der klassischen Tradition mit neuenElementen aus der populären und klassischen Musikdes Westens verknüpfte. Der »moderne Stil« (auchMas.rı, »ägyptisch«, genannt) entstand zunächst inden großen Zentren, vor allem in Ägypten und imIrak, verbreitete sich von dort und wurde zur domi-nierenden Musikrichtung des Mittleren Ostens. Ereroberte die Kaffeehäuser Bagdads, in denen er nebendem irakischen Maqam gespielt wurde, und hielt

Einzug in die Nachtclubs, die in den zwanziger Jah-ren als Ableger der Kaffeehäuser entstanden undgleich ihnen die Tradition konzertanter Auftrittepflegten; erst ab den dreißiger Jahren wurden inden Kaffeehäusern auch Schallplatten abgespielt. DieBerühmtheiten unter den jüdischen Instrumental-musikern, die in Bagdad den neuen Musikstil präg-ten, waren Yusuf Zaªrur al-Kabir (der »Senior«) undsein jüngerer Cousin Yusuf Zaªrur (beide Kanun), dieBrüder Salih und Daªud al-Kuwaity (Violine und Ud),Ezra (Azzuri) Haron (Ud), Yusuf al-Imari (die Lang-flöte Ney) und Daªud Akram (Violine), ein Absolventder Silas-Kadoorie-Blindenschule und Leiter des mu-sikalischen Ensembles Ikhwan al-Fann (Brüder derKunst).

»Moderne« Ensembles wurden auch in Privathäu-sern engagiert, oft zur Begleitung eines volkstümli-chen Sängers. Yusuf Zaªrur al-Kabir eröffnete in Bag-dad zwei Nachtclubs, das Alef Laylah (Tausend Näch-te) und den bekanntesten, al-Hilal (Der Neumond),im westlichen Ortsteil Maydan, wo sich auch Kaffee-häuser, Ministerien und Bordelle befanden. Da wederdie jüdische noch die muslimische Gemeinschaft be-reit war, eine Frau aus ihren Familienkreisen öffent-lich auftreten zu lassen, sei es als Tänzerin, Sängerinoder Instrumentalistin, wurden die Tänzerinnen ausden Bordellen rekrutiert, wobei jede, die etwas Ge-sangstalent aufwies, zur Sängerin aufstieg.

2.4 Die Br�der al-Kuwaity und Salima Murad

Am nachhaltigsten wurde die moderne irakische Mu-sik von den Brüdern Salih und Daªud al-Kuwaitygeprägt, deren Kompositionen im Irak bis heutezum Standardrepertoire zählen. Die al-Kuwaitys, ei-nes der am meisten gefeierten Duos der arabischenWelt, waren in Kuwait in einer jüdisch-irakischenFamilie geboren und galten dort als musikalischeWunderkinder, Salih als Violinist und Komponist,Daªud als Ud-Spieler und Sänger. In den späten1920ern zog die Familie zurück in die alte HeimatIrak. In Bagdad setzten die Brüder ihre musikalischeKarriere fort; Salih begann zusätzlich arabische undwestliche Musik zu studieren. Mit einem neuen Stil,der traditionelle arabische Musik mit europäischenElementen verschmolz, gewannen sie bald eine großeAnhängerschaft und avancierten zu den Lieblings-musikern König Faisals, für den sie spielten undeine Reihe von Werken zu feierlichen Anlässen kom-ponierten. Bedeutende Künstler aus dem arabischenAusland kamen nach Bagdad, um mit ihnen zusam-menzuarbeiten. Die Brüder schrieben Lieder für dieführenden Sängerinnen ihrer Zeit: für die irakische

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

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Jüdin Salima Murad, die Libanesin Zakiyya Georgeund die legendäre ägyptische Diva Umm Kulthum,die populärste Sängerin der arabischen Welt im20. Jahrhundert. Sie schrieben auch die Musik zumersten irakischen Film "Aliyah wa-"Is.am (Alia und Is-sam, 1948), eine Liebesgeschichte à la Romeo undJulia im Bagdader Milieu, in dem auch Salima Muradspielte und sang.

Als Radio Irak 1936 auf Sendung ging, wurde Salihal-Kuwaity mit dem Aufbau eines modernen Rund-funk-Ensembles beauftragt, das Instrumentalmusikspielte und Sänger begleitete. Die Gruppe, die er insLeben rief, bestand aus sechs Musikern, fünf Judenund einem Muslim. Das Ensemble spielte täglich inden Live-Musiksendungen von Radio Irak außer anden beiden wichtigsten Fasttagen im jüdischen Ka-lender, dem Trauertag Tish�a be-Av und dem Versöh-nungstag Jom Kippur. Auch wenn die jüdische Ge-meinschaft einen starken Säkularisierungsschub er-fahren hatte, wurden bestimmte Bräuche immernoch von vielen respektiert – jüdische Ensembleshielten sich an das Gebot, an diesen Tagen nicht zumusizieren.

Wenngleich sich mit der Unabhängigkeit des Irak1932 und dem Anstieg des panarabischen Nationalis-

mus die Lebensbedingungen der jüdischen Bevölke-rung verschlechterten, erfreuten sich in den 1930erJahren jüdische Musiker ungebrochener Beliebtheit.Zur irakischen Starsängerin wurde in dieser Zeit Sa-lima Murad (ursprünglich Salima Pasha, 1907–1973),die bei ihrer Heirat mit dem Sänger Nadham (Nazam)al-Ghazali (1920–1963) zum Islam übertrat. Als »dieUmm Kulthum des Irak« und »die singende Nachti-gall« wurde sie im Irak verehrt und in der gesamtenarabischen Welt geschätzt. Sie war jeden Abend imBagdader Nachtclub Jawahari zu hören und erhieltspäter in Radio Bagdad eine eigene wöchentlicheRundfunksendung. Salih und Daªud al-Kuwaity kom-ponierten für sie über vierhundert Lieder. Nach demMassenexodus der Juden wurden diese jahrelang alsanonyme »Folklore« gehandelt oder als Musik musli-mischer Komponisten ausgegeben.

2.5 Der Kongress f�r arabische Musikin Kairo 1932

Das Jahr 1932 markiert nicht nur die Unabhängigkeitdes Irak von Großbritannien, sondern auch den Auf-bruch zu neuen Wegen in der arabischen Musikkul-tur. Unter der Schirmherrschaft von König Fuad I.

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

Mitglieder des Irakischen Rundfunk-Ensembles, 1938

Jüdin Salima Murad, die Libanesin Zakiyya Georgeund die legendäre ägyptische Diva Umm Kulthum,die populärste Sängerin der arabischen Welt im20. Jahrhundert. Sie schrieben auch die Musik zumersten irakischen Film "Aliyah wa-"Is.am (Alia und Is-sam, 1948), eine Liebesgeschichte à la Romeo undJulia im Bagdader Milieu, in dem auch Salima Muradspielte und sang.

Als Radio Irak 1936 auf Sendung ging, wurde Salihal-Kuwaity mit dem Aufbau eines modernen Rund-funk-Ensembles beauftragt, das Instrumentalmusikspielte und Sänger begleitete. Die Gruppe, die er insLeben rief, bestand aus sechs Musikern, fünf Judenund einem Muslim. Das Ensemble spielte täglich inden Live-Musiksendungen von Radio Irak außer anden beiden wichtigsten Fasttagen im jüdischen Ka-lender, dem Trauertag Tish�a be-Av und dem Versöh-nungstag Jom Kippur. Auch wenn die jüdische Ge-meinschaft einen starken Säkularisierungsschub er-fahren hatte, wurden bestimmte Bräuche immernoch von vielen respektiert – jüdische Ensembleshielten sich an das Gebot, an diesen Tagen nicht zumusizieren.

Wenngleich sich mit der Unabhängigkeit des Irak1932 und dem Anstieg des panarabischen Nationalis-

mus die Lebensbedingungen der jüdischen Bevölke-rung verschlechterten, erfreuten sich in den 1930erJahren jüdische Musiker ungebrochener Beliebtheit.Zur irakischen Starsängerin wurde in dieser Zeit Sa-lima Murad (ursprünglich Salima Pasha, 1907–1973),die bei ihrer Heirat mit dem Sänger Nadham (Nazam)al-Ghazali (1920–1963) zum Islam übertrat. Als »dieUmm Kulthum des Irak« und »die singende Nachti-gall« wurde sie im Irak verehrt und in der gesamtenarabischen Welt geschätzt. Sie war jeden Abend imBagdader Nachtclub Jawahari zu hören und erhieltspäter in Radio Bagdad eine eigene wöchentlicheRundfunksendung. Salih und Daªud al-Kuwaity kom-ponierten für sie über vierhundert Lieder. Nach demMassenexodus der Juden wurden diese jahrelang alsanonyme »Folklore« gehandelt oder als Musik musli-mischer Komponisten ausgegeben.

2.5 Der Kongress f�r arabische Musikin Kairo 1932

Das Jahr 1932 markiert nicht nur die Unabhängigkeitdes Irak von Großbritannien, sondern auch den Auf-bruch zu neuen Wegen in der arabischen Musikkul-tur. Unter der Schirmherrschaft von König Fuad I.

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

Mitglieder des Irakischen Rundfunk-Ensembles, 1938

die islamische Religionsausübung mit einer Männer-stimme assoziiert wird. Die meisten Maqam-Sängerwaren daher Muslime; Ahmad Zaidan (1820–1912), derum die Jahrhundertwende bekannteste Maqam-Sän-ger, war gleichzeitig Muezzin und Koranrezitator.

Al-maqam al-"Iraqı wurde ursprünglich ausschließ-lich in Privathäusern zu festlichen Gelegenheitenoder in konzertantem Rahmen gespielt und war fürdie städtische Bevölkerung die wichtigste Form derUnterhaltung. In der Zwischenkriegszeit eroberte erauch die Kaffeehäuser, von denen manche regelmäßigMaqam-Sänger – mit oder ohne chalghı – auftretenließen. Die Kaffeehäuser, die teilweise bis zu tausendMenschen Platz boten, wurden ausschließlich vonMännern aller Konfessionen besucht; so wurde dasGenre einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Im isla-mischen Fastenmonat Ramadan spielten jüdische In-strumentalensembles in den Kaffeehäusern den iraki-schen Maqam zusammen mit muslimischen Sängernnach Sonnenuntergang, wenn das Fasten währendder Tagesstunden vorüber war. Nach 1938 wurdendie allabendlichen öffentlichen Maqam-Aufführun-gen während des Ramadan auf eine pro Woche be-schränkt; zusätzliche Maqam-Darbietungen gab es imRadio und später im Fernsehen [8. 11–12].

2.3 »Moderner Stil«

Der Patriotismus der Juden und ihr Wunsch nachTeilhabe an der irakischen Gesellschaft und der ara-bischen Kultur, gepaart mit einer westlich geprägtenErziehung, war auch in ihren schöpferischen Leistun-gen wirksam. Sie wurden zu den treibenden Kräften,die die Modernisierung des Musiklebens und die Bil-dung eines neuen musikalischen Geschmacks be-schleunigten.

Mitte der 1920er Jahre gründeten jüdische Musi-ker neue Instrumentalgruppen, die typischerweiseaus Violine, Kanun (eine Art Zither), Ud (Kurzhals-laute) und zwei Schlaginstrumenten (Daff und Dum-buk) bestanden. Die neuen Ensembles, die neben diechalghı traten, pflegten nicht den traditionellen,mündlich überlieferten Stil des irakischen Maqam,sondern spielten Kompositionen im »modernen Stil«,der Elemente der klassischen Tradition mit neuenElementen aus der populären und klassischen Musikdes Westens verknüpfte. Der »moderne Stil« (auchMas.rı, »ägyptisch«, genannt) entstand zunächst inden großen Zentren, vor allem in Ägypten und imIrak, verbreitete sich von dort und wurde zur domi-nierenden Musikrichtung des Mittleren Ostens. Ereroberte die Kaffeehäuser Bagdads, in denen er nebendem irakischen Maqam gespielt wurde, und hielt

Einzug in die Nachtclubs, die in den zwanziger Jah-ren als Ableger der Kaffeehäuser entstanden undgleich ihnen die Tradition konzertanter Auftrittepflegten; erst ab den dreißiger Jahren wurden inden Kaffeehäusern auch Schallplatten abgespielt. DieBerühmtheiten unter den jüdischen Instrumental-musikern, die in Bagdad den neuen Musikstil präg-ten, waren Yusuf Zaªrur al-Kabir (der »Senior«) undsein jüngerer Cousin Yusuf Zaªrur (beide Kanun), dieBrüder Salih und Daªud al-Kuwaity (Violine und Ud),Ezra (Azzuri) Haron (Ud), Yusuf al-Imari (die Lang-flöte Ney) und Daªud Akram (Violine), ein Absolventder Silas-Kadoorie-Blindenschule und Leiter des mu-sikalischen Ensembles Ikhwan al-Fann (Brüder derKunst).

»Moderne« Ensembles wurden auch in Privathäu-sern engagiert, oft zur Begleitung eines volkstümli-chen Sängers. Yusuf Zaªrur al-Kabir eröffnete in Bag-dad zwei Nachtclubs, das Alef Laylah (Tausend Näch-te) und den bekanntesten, al-Hilal (Der Neumond),im westlichen Ortsteil Maydan, wo sich auch Kaffee-häuser, Ministerien und Bordelle befanden. Da wederdie jüdische noch die muslimische Gemeinschaft be-reit war, eine Frau aus ihren Familienkreisen öffent-lich auftreten zu lassen, sei es als Tänzerin, Sängerinoder Instrumentalistin, wurden die Tänzerinnen ausden Bordellen rekrutiert, wobei jede, die etwas Ge-sangstalent aufwies, zur Sängerin aufstieg.

2.4 Die Br�der al-Kuwaity und Salima Murad

Am nachhaltigsten wurde die moderne irakische Mu-sik von den Brüdern Salih und Daªud al-Kuwaitygeprägt, deren Kompositionen im Irak bis heutezum Standardrepertoire zählen. Die al-Kuwaitys, ei-nes der am meisten gefeierten Duos der arabischenWelt, waren in Kuwait in einer jüdisch-irakischenFamilie geboren und galten dort als musikalischeWunderkinder, Salih als Violinist und Komponist,Daªud als Ud-Spieler und Sänger. In den späten1920ern zog die Familie zurück in die alte HeimatIrak. In Bagdad setzten die Brüder ihre musikalischeKarriere fort; Salih begann zusätzlich arabische undwestliche Musik zu studieren. Mit einem neuen Stil,der traditionelle arabische Musik mit europäischenElementen verschmolz, gewannen sie bald eine großeAnhängerschaft und avancierten zu den Lieblings-musikern König Faisals, für den sie spielten undeine Reihe von Werken zu feierlichen Anlässen kom-ponierten. Bedeutende Künstler aus dem arabischenAusland kamen nach Bagdad, um mit ihnen zusam-menzuarbeiten. Die Brüder schrieben Lieder für dieführenden Sängerinnen ihrer Zeit: für die irakische

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

die islamische Religionsausübung mit einer Männer-stimme assoziiert wird. Die meisten Maqam-Sängerwaren daher Muslime; Ahmad Zaidan (1820–1912), derum die Jahrhundertwende bekannteste Maqam-Sän-ger, war gleichzeitig Muezzin und Koranrezitator.

Al-maqam al-"Iraqı wurde ursprünglich ausschließ-lich in Privathäusern zu festlichen Gelegenheitenoder in konzertantem Rahmen gespielt und war fürdie städtische Bevölkerung die wichtigste Form derUnterhaltung. In der Zwischenkriegszeit eroberte erauch die Kaffeehäuser, von denen manche regelmäßigMaqam-Sänger – mit oder ohne chalghı – auftretenließen. Die Kaffeehäuser, die teilweise bis zu tausendMenschen Platz boten, wurden ausschließlich vonMännern aller Konfessionen besucht; so wurde dasGenre einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Im isla-mischen Fastenmonat Ramadan spielten jüdische In-strumentalensembles in den Kaffeehäusern den iraki-schen Maqam zusammen mit muslimischen Sängernnach Sonnenuntergang, wenn das Fasten währendder Tagesstunden vorüber war. Nach 1938 wurdendie allabendlichen öffentlichen Maqam-Aufführun-gen während des Ramadan auf eine pro Woche be-schränkt; zusätzliche Maqam-Darbietungen gab es imRadio und später im Fernsehen [8. 11–12].

2.3 »Moderner Stil«

Der Patriotismus der Juden und ihr Wunsch nachTeilhabe an der irakischen Gesellschaft und der ara-bischen Kultur, gepaart mit einer westlich geprägtenErziehung, war auch in ihren schöpferischen Leistun-gen wirksam. Sie wurden zu den treibenden Kräften,die die Modernisierung des Musiklebens und die Bil-dung eines neuen musikalischen Geschmacks be-schleunigten.

Mitte der 1920er Jahre gründeten jüdische Musi-ker neue Instrumentalgruppen, die typischerweiseaus Violine, Kanun (eine Art Zither), Ud (Kurzhals-laute) und zwei Schlaginstrumenten (Daff und Dum-buk) bestanden. Die neuen Ensembles, die neben diechalghı traten, pflegten nicht den traditionellen,mündlich überlieferten Stil des irakischen Maqam,sondern spielten Kompositionen im »modernen Stil«,der Elemente der klassischen Tradition mit neuenElementen aus der populären und klassischen Musikdes Westens verknüpfte. Der »moderne Stil« (auchMas.rı, »ägyptisch«, genannt) entstand zunächst inden großen Zentren, vor allem in Ägypten und imIrak, verbreitete sich von dort und wurde zur domi-nierenden Musikrichtung des Mittleren Ostens. Ereroberte die Kaffeehäuser Bagdads, in denen er nebendem irakischen Maqam gespielt wurde, und hielt

Einzug in die Nachtclubs, die in den zwanziger Jah-ren als Ableger der Kaffeehäuser entstanden undgleich ihnen die Tradition konzertanter Auftrittepflegten; erst ab den dreißiger Jahren wurden inden Kaffeehäusern auch Schallplatten abgespielt. DieBerühmtheiten unter den jüdischen Instrumental-musikern, die in Bagdad den neuen Musikstil präg-ten, waren Yusuf Zaªrur al-Kabir (der »Senior«) undsein jüngerer Cousin Yusuf Zaªrur (beide Kanun), dieBrüder Salih und Daªud al-Kuwaity (Violine und Ud),Ezra (Azzuri) Haron (Ud), Yusuf al-Imari (die Lang-flöte Ney) und Daªud Akram (Violine), ein Absolventder Silas-Kadoorie-Blindenschule und Leiter des mu-sikalischen Ensembles Ikhwan al-Fann (Brüder derKunst).

»Moderne« Ensembles wurden auch in Privathäu-sern engagiert, oft zur Begleitung eines volkstümli-chen Sängers. Yusuf Zaªrur al-Kabir eröffnete in Bag-dad zwei Nachtclubs, das Alef Laylah (Tausend Näch-te) und den bekanntesten, al-Hilal (Der Neumond),im westlichen Ortsteil Maydan, wo sich auch Kaffee-häuser, Ministerien und Bordelle befanden. Da wederdie jüdische noch die muslimische Gemeinschaft be-reit war, eine Frau aus ihren Familienkreisen öffent-lich auftreten zu lassen, sei es als Tänzerin, Sängerinoder Instrumentalistin, wurden die Tänzerinnen ausden Bordellen rekrutiert, wobei jede, die etwas Ge-sangstalent aufwies, zur Sängerin aufstieg.

2.4 Die Br�der al-Kuwaity und Salima Murad

Am nachhaltigsten wurde die moderne irakische Mu-sik von den Brüdern Salih und Daªud al-Kuwaitygeprägt, deren Kompositionen im Irak bis heutezum Standardrepertoire zählen. Die al-Kuwaitys, ei-nes der am meisten gefeierten Duos der arabischenWelt, waren in Kuwait in einer jüdisch-irakischenFamilie geboren und galten dort als musikalischeWunderkinder, Salih als Violinist und Komponist,Daªud als Ud-Spieler und Sänger. In den späten1920ern zog die Familie zurück in die alte HeimatIrak. In Bagdad setzten die Brüder ihre musikalischeKarriere fort; Salih begann zusätzlich arabische undwestliche Musik zu studieren. Mit einem neuen Stil,der traditionelle arabische Musik mit europäischenElementen verschmolz, gewannen sie bald eine großeAnhängerschaft und avancierten zu den Lieblings-musikern König Faisals, für den sie spielten undeine Reihe von Werken zu feierlichen Anlässen kom-ponierten. Bedeutende Künstler aus dem arabischenAusland kamen nach Bagdad, um mit ihnen zusam-menzuarbeiten. Die Brüder schrieben Lieder für dieführenden Sängerinnen ihrer Zeit: für die irakische

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

die islamische Religionsausübung mit einer Männer-stimme assoziiert wird. Die meisten Maqam-Sängerwaren daher Muslime; Ahmad Zaidan (1820–1912), derum die Jahrhundertwende bekannteste Maqam-Sän-ger, war gleichzeitig Muezzin und Koranrezitator.

Al-maqam al-"Iraqı wurde ursprünglich ausschließ-lich in Privathäusern zu festlichen Gelegenheitenoder in konzertantem Rahmen gespielt und war fürdie städtische Bevölkerung die wichtigste Form derUnterhaltung. In der Zwischenkriegszeit eroberte erauch die Kaffeehäuser, von denen manche regelmäßigMaqam-Sänger – mit oder ohne chalghı – auftretenließen. Die Kaffeehäuser, die teilweise bis zu tausendMenschen Platz boten, wurden ausschließlich vonMännern aller Konfessionen besucht; so wurde dasGenre einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Im isla-mischen Fastenmonat Ramadan spielten jüdische In-strumentalensembles in den Kaffeehäusern den iraki-schen Maqam zusammen mit muslimischen Sängernnach Sonnenuntergang, wenn das Fasten währendder Tagesstunden vorüber war. Nach 1938 wurdendie allabendlichen öffentlichen Maqam-Aufführun-gen während des Ramadan auf eine pro Woche be-schränkt; zusätzliche Maqam-Darbietungen gab es imRadio und später im Fernsehen [8. 11–12].

2.3 »Moderner Stil«

Der Patriotismus der Juden und ihr Wunsch nachTeilhabe an der irakischen Gesellschaft und der ara-bischen Kultur, gepaart mit einer westlich geprägtenErziehung, war auch in ihren schöpferischen Leistun-gen wirksam. Sie wurden zu den treibenden Kräften,die die Modernisierung des Musiklebens und die Bil-dung eines neuen musikalischen Geschmacks be-schleunigten.

Mitte der 1920er Jahre gründeten jüdische Musi-ker neue Instrumentalgruppen, die typischerweiseaus Violine, Kanun (eine Art Zither), Ud (Kurzhals-laute) und zwei Schlaginstrumenten (Daff und Dum-buk) bestanden. Die neuen Ensembles, die neben diechalghı traten, pflegten nicht den traditionellen,mündlich überlieferten Stil des irakischen Maqam,sondern spielten Kompositionen im »modernen Stil«,der Elemente der klassischen Tradition mit neuenElementen aus der populären und klassischen Musikdes Westens verknüpfte. Der »moderne Stil« (auchMas.rı, »ägyptisch«, genannt) entstand zunächst inden großen Zentren, vor allem in Ägypten und imIrak, verbreitete sich von dort und wurde zur domi-nierenden Musikrichtung des Mittleren Ostens. Ereroberte die Kaffeehäuser Bagdads, in denen er nebendem irakischen Maqam gespielt wurde, und hielt

Einzug in die Nachtclubs, die in den zwanziger Jah-ren als Ableger der Kaffeehäuser entstanden undgleich ihnen die Tradition konzertanter Auftrittepflegten; erst ab den dreißiger Jahren wurden inden Kaffeehäusern auch Schallplatten abgespielt. DieBerühmtheiten unter den jüdischen Instrumental-musikern, die in Bagdad den neuen Musikstil präg-ten, waren Yusuf Zaªrur al-Kabir (der »Senior«) undsein jüngerer Cousin Yusuf Zaªrur (beide Kanun), dieBrüder Salih und Daªud al-Kuwaity (Violine und Ud),Ezra (Azzuri) Haron (Ud), Yusuf al-Imari (die Lang-flöte Ney) und Daªud Akram (Violine), ein Absolventder Silas-Kadoorie-Blindenschule und Leiter des mu-sikalischen Ensembles Ikhwan al-Fann (Brüder derKunst).

»Moderne« Ensembles wurden auch in Privathäu-sern engagiert, oft zur Begleitung eines volkstümli-chen Sängers. Yusuf Zaªrur al-Kabir eröffnete in Bag-dad zwei Nachtclubs, das Alef Laylah (Tausend Näch-te) und den bekanntesten, al-Hilal (Der Neumond),im westlichen Ortsteil Maydan, wo sich auch Kaffee-häuser, Ministerien und Bordelle befanden. Da wederdie jüdische noch die muslimische Gemeinschaft be-reit war, eine Frau aus ihren Familienkreisen öffent-lich auftreten zu lassen, sei es als Tänzerin, Sängerinoder Instrumentalistin, wurden die Tänzerinnen ausden Bordellen rekrutiert, wobei jede, die etwas Ge-sangstalent aufwies, zur Sängerin aufstieg.

2.4 Die Br�der al-Kuwaity und Salima Murad

Am nachhaltigsten wurde die moderne irakische Mu-sik von den Brüdern Salih und Daªud al-Kuwaitygeprägt, deren Kompositionen im Irak bis heutezum Standardrepertoire zählen. Die al-Kuwaitys, ei-nes der am meisten gefeierten Duos der arabischenWelt, waren in Kuwait in einer jüdisch-irakischenFamilie geboren und galten dort als musikalischeWunderkinder, Salih als Violinist und Komponist,Daªud als Ud-Spieler und Sänger. In den späten1920ern zog die Familie zurück in die alte HeimatIrak. In Bagdad setzten die Brüder ihre musikalischeKarriere fort; Salih begann zusätzlich arabische undwestliche Musik zu studieren. Mit einem neuen Stil,der traditionelle arabische Musik mit europäischenElementen verschmolz, gewannen sie bald eine großeAnhängerschaft und avancierten zu den Lieblings-musikern König Faisals, für den sie spielten undeine Reihe von Werken zu feierlichen Anlässen kom-ponierten. Bedeutende Künstler aus dem arabischenAusland kamen nach Bagdad, um mit ihnen zusam-menzuarbeiten. Die Brüder schrieben Lieder für dieführenden Sängerinnen ihrer Zeit: für die irakische

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Jüdin Salima Murad, die Libanesin Zakiyya Georgeund die legendäre ägyptische Diva Umm Kulthum,die populärste Sängerin der arabischen Welt im20. Jahrhundert. Sie schrieben auch die Musik zumersten irakischen Film "Aliyah wa-"Is.am (Alia und Is-sam, 1948), eine Liebesgeschichte à la Romeo undJulia im Bagdader Milieu, in dem auch Salima Muradspielte und sang.

Als Radio Irak 1936 auf Sendung ging, wurde Salihal-Kuwaity mit dem Aufbau eines modernen Rund-funk-Ensembles beauftragt, das Instrumentalmusikspielte und Sänger begleitete. Die Gruppe, die er insLeben rief, bestand aus sechs Musikern, fünf Judenund einem Muslim. Das Ensemble spielte täglich inden Live-Musiksendungen von Radio Irak außer anden beiden wichtigsten Fasttagen im jüdischen Ka-lender, dem Trauertag Tish�a be-Av und dem Versöh-nungstag Jom Kippur. Auch wenn die jüdische Ge-meinschaft einen starken Säkularisierungsschub er-fahren hatte, wurden bestimmte Bräuche immernoch von vielen respektiert – jüdische Ensembleshielten sich an das Gebot, an diesen Tagen nicht zumusizieren.

Wenngleich sich mit der Unabhängigkeit des Irak1932 und dem Anstieg des panarabischen Nationalis-

mus die Lebensbedingungen der jüdischen Bevölke-rung verschlechterten, erfreuten sich in den 1930erJahren jüdische Musiker ungebrochener Beliebtheit.Zur irakischen Starsängerin wurde in dieser Zeit Sa-lima Murad (ursprünglich Salima Pasha, 1907–1973),die bei ihrer Heirat mit dem Sänger Nadham (Nazam)al-Ghazali (1920–1963) zum Islam übertrat. Als »dieUmm Kulthum des Irak« und »die singende Nachti-gall« wurde sie im Irak verehrt und in der gesamtenarabischen Welt geschätzt. Sie war jeden Abend imBagdader Nachtclub Jawahari zu hören und erhieltspäter in Radio Bagdad eine eigene wöchentlicheRundfunksendung. Salih und Daªud al-Kuwaity kom-ponierten für sie über vierhundert Lieder. Nach demMassenexodus der Juden wurden diese jahrelang alsanonyme »Folklore« gehandelt oder als Musik musli-mischer Komponisten ausgegeben.

2.5 Der Kongress f�r arabische Musikin Kairo 1932

Das Jahr 1932 markiert nicht nur die Unabhängigkeitdes Irak von Großbritannien, sondern auch den Auf-bruch zu neuen Wegen in der arabischen Musikkul-tur. Unter der Schirmherrschaft von König Fuad I.

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

Mitglieder des Irakischen Rundfunk-Ensembles, 1938

Jüdin Salima Murad, die Libanesin Zakiyya Georgeund die legendäre ägyptische Diva Umm Kulthum,die populärste Sängerin der arabischen Welt im20. Jahrhundert. Sie schrieben auch die Musik zumersten irakischen Film "Aliyah wa-"Is.am (Alia und Is-sam, 1948), eine Liebesgeschichte à la Romeo undJulia im Bagdader Milieu, in dem auch Salima Muradspielte und sang.

Als Radio Irak 1936 auf Sendung ging, wurde Salihal-Kuwaity mit dem Aufbau eines modernen Rund-funk-Ensembles beauftragt, das Instrumentalmusikspielte und Sänger begleitete. Die Gruppe, die er insLeben rief, bestand aus sechs Musikern, fünf Judenund einem Muslim. Das Ensemble spielte täglich inden Live-Musiksendungen von Radio Irak außer anden beiden wichtigsten Fasttagen im jüdischen Ka-lender, dem Trauertag Tish�a be-Av und dem Versöh-nungstag Jom Kippur. Auch wenn die jüdische Ge-meinschaft einen starken Säkularisierungsschub er-fahren hatte, wurden bestimmte Bräuche immernoch von vielen respektiert – jüdische Ensembleshielten sich an das Gebot, an diesen Tagen nicht zumusizieren.

Wenngleich sich mit der Unabhängigkeit des Irak1932 und dem Anstieg des panarabischen Nationalis-

mus die Lebensbedingungen der jüdischen Bevölke-rung verschlechterten, erfreuten sich in den 1930erJahren jüdische Musiker ungebrochener Beliebtheit.Zur irakischen Starsängerin wurde in dieser Zeit Sa-lima Murad (ursprünglich Salima Pasha, 1907–1973),die bei ihrer Heirat mit dem Sänger Nadham (Nazam)al-Ghazali (1920–1963) zum Islam übertrat. Als »dieUmm Kulthum des Irak« und »die singende Nachti-gall« wurde sie im Irak verehrt und in der gesamtenarabischen Welt geschätzt. Sie war jeden Abend imBagdader Nachtclub Jawahari zu hören und erhieltspäter in Radio Bagdad eine eigene wöchentlicheRundfunksendung. Salih und Daªud al-Kuwaity kom-ponierten für sie über vierhundert Lieder. Nach demMassenexodus der Juden wurden diese jahrelang alsanonyme »Folklore« gehandelt oder als Musik musli-mischer Komponisten ausgegeben.

2.5 Der Kongress f�r arabische Musikin Kairo 1932

Das Jahr 1932 markiert nicht nur die Unabhängigkeitdes Irak von Großbritannien, sondern auch den Auf-bruch zu neuen Wegen in der arabischen Musikkul-tur. Unter der Schirmherrschaft von König Fuad I.

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

Mitglieder des Irakischen Rundfunk-Ensembles, 1938

wurde 1932 vom ägyptischen Kultusministerium derinternationale »Kongress für arabische Musik« inKairo veranstaltet. Die Teilnehmenden waren Musi-ker, Komponisten und Musikwissenschaftler aus ara-bischen Ländern und der Türkei sowie – in geringerZahl – Vertreter aus Europa. Zu den europäischenGästen gehörten die Spezialisten für arabische MusikRodolphe dªErlanger (der die Veranstaltung mitorga-nisierte) und Henry George Farmer, die Musikwissen-schaftler Erich Moritz von Hornbostel (�Verglei-chende Musikwissenschaft) und Robert Lachmann so-wie die Komponisten Béla Bartók und Paul Hinde-mith. Das den Irak vertretende Musikensemblebestand aus dem Maqam-Sänger Muhammad al-Qubbanchi, einem Muslim, und einem chalghı mitsechs jüdischen Instrumentalisten. Man spielte dasangesehnste landestypische Genre, den al-maqamal-"Iraqı, der damals wahrscheinlich zum ersten Malaußerhalb des Irak zu hören war. Das Ensemblewurde von König Fuad mit dem ersten Preis aus-gezeichnet.

Eines der Ziele des Kongresses war die Präsenta-tion und Dokumentation der verschiedenen Musik-richtungen aus mehreren arabischen Ländern, die inKairo zum ersten Mal miteinander verglichen wur-den. 360 der aufgeführten Stücke wurden aufgenom-men, um sie für die Nachwelt zu erhalten; der größteTeil der Aufnahmen lagert heute in der Bibliothèquenationale de France in Paris. Folgenreich für die Mu-sikkultur der arabischen Welt war der Versuch, sichüber zwei gegensätzliche Positionen zu verständigen:die Forderung nachBewahrung alter arabischerMusik-traditionen gegenüber dem Wunsch der Neuorientie-rung an der Musik des Westens, die von Künstlern wieUmm Kulthum, Salima Murad oder den al-Kuwaity-Brüdern bereits vollzogen worden war. In der Diskus-sion überwogen die Kräfte, die eine Modernisierungforderten. So ebnete der Kongress der »modernen«Musik in der arabischen Welt den Weg, während diePflege der »alten« Musik zusehends zurückging.

2.6 Daqqaqa-Ensembles

Eines der traditionellen jüdisch-irakischen Ensem-bles, die im Zuge der Modernisierung verdrängt wur-de, war die daqqaqah (Pl. daqqaqat), eine Gruppe vonvier oder fünf Frauen, die sangen und dazu verschie-dene Trommeln spielten. Der Beruf der Daqqaqa-Mu-sikerin wurde innerhalb der Familie weitergegeben.Obwohl es sich um Frauenensembles handelte, galtensie als ehrbar und wurden vom Rabbinat gebilligt,zumal es ältere (nicht mehr gebärfähige) Frauen wa-ren, die züchtig gekleidet auftraten und in der Regel

nur zu häuslichen Festlichkeiten mit weiblichem Pu-blikum musizierten. Die daqqaqat werden vor allemmit der Hennazeremonie (leilt al-h. innı) am Abend vorder Hochzeit verbunden, traten aber auch bei anderenEreignissen wie der Geburt eines Kindes oder ders.bah. ı (der durchfeierten siebten Hochzeitsnacht) aufund spielten gelegentlich auch in muslimischen Häu-sern bei Frauenpartys vor einer Hochzeit oder zurGeburt eines Sohnes.

Zu den bekanntesten daqqaqat der 1920er und1930er Jahre gehörten Masªuda al-Bambayliyyi(Masªuda aus Bombay) und Farha bit Shamma. Inden 1930er Jahren entstanden kommerzielle Aufnah-men einiger Daqqaqa-Lieder, darunter Ya dar wya dar(Oh Haus!), gesungen von Masªuda und ihrem Chor,und "Afakı (Bravo!), das beliebteste Hennalied. Von"Afakı gibt es eine vielgerühmte Aufnahme, die jedochnicht von einer Daqqaqa-Gruppe eingespielt wurde,sondern von Rashid al-Qundarchi (gest. 1945), demseinerzeit herausragendsten muslimischen Maqam-Sänger, der von einem chalghı begleitet wurde. DerText des Lieds ist zwar Judäo-Arabisch (�Arabisch),doch geschah es nicht selten, dass Juden berühmtemuslimische Sänger engagierten, um mit ihnen tra-ditionelle jüdische Lieder in judäo-arabischer Spracheaufzunehmen; offenbar zogen sie sie wegen ihrerStimmen und ihrer hohen Reputation in der iraki-schen Gesellschaft den jüdischen Sängern vor. Rashidal-Qundarchi, der keine religiösen Vorbehalte hatteund das Judäo-Arabische beherrschte, wurde daherauch gern als Sänger zu privaten jüdischen Festeneingeladen [8. 13].

In den 1940er Jahren galten die daqqaqat infolgedes zunehmenden Modernisierungstrends als pri-mitiv und altmodisch. Die musikalischen Darbietun-gen für Hennafeste übernahmen nun niveauvollereEnsembles wie die chalghı oder »moderne« Instru-mentalensembles mit einem Sänger, wenn sie nichtsogar von den neuesten 78er-Platten mit lateiname-rikanischen Rhythmen ersetzt wurden.

3. Exodus

Mit der Massenemigration der irakischen Juden nachIsrael zu Beginn der 1950er Jahre verlor das Landnahezu all jene Musiker, die als Säulen der irakischenMusiktraditionen galten. Nur wenige wie Salima Mu-rad blieben und gingen weiter ihrem Beruf nach. Umdas Musikleben aufrechtzuerhalten, behalf man sichim Irak vorübergehend damit, Musiker aus anderenarabischen Ländern zu gewinnen. Zwei Musiker deschalghı Baghdad, Salih Shummel (Kamana-Josa) undYusuf Patao (Santur), wurden mit ihren Familien

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

wurde 1932 vom ägyptischen Kultusministerium derinternationale »Kongress für arabische Musik« inKairo veranstaltet. Die Teilnehmenden waren Musi-ker, Komponisten und Musikwissenschaftler aus ara-bischen Ländern und der Türkei sowie – in geringerZahl – Vertreter aus Europa. Zu den europäischenGästen gehörten die Spezialisten für arabische MusikRodolphe dªErlanger (der die Veranstaltung mitorga-nisierte) und Henry George Farmer, die Musikwissen-schaftler Erich Moritz von Hornbostel (�Verglei-chende Musikwissenschaft) und Robert Lachmann so-wie die Komponisten Béla Bartók und Paul Hinde-mith. Das den Irak vertretende Musikensemblebestand aus dem Maqam-Sänger Muhammad al-Qubbanchi, einem Muslim, und einem chalghı mitsechs jüdischen Instrumentalisten. Man spielte dasangesehnste landestypische Genre, den al-maqamal-"Iraqı, der damals wahrscheinlich zum ersten Malaußerhalb des Irak zu hören war. Das Ensemblewurde von König Fuad mit dem ersten Preis aus-gezeichnet.

Eines der Ziele des Kongresses war die Präsenta-tion und Dokumentation der verschiedenen Musik-richtungen aus mehreren arabischen Ländern, die inKairo zum ersten Mal miteinander verglichen wur-den. 360 der aufgeführten Stücke wurden aufgenom-men, um sie für die Nachwelt zu erhalten; der größteTeil der Aufnahmen lagert heute in der Bibliothèquenationale de France in Paris. Folgenreich für die Mu-sikkultur der arabischen Welt war der Versuch, sichüber zwei gegensätzliche Positionen zu verständigen:die Forderung nachBewahrung alter arabischerMusik-traditionen gegenüber dem Wunsch der Neuorientie-rung an der Musik des Westens, die von Künstlern wieUmm Kulthum, Salima Murad oder den al-Kuwaity-Brüdern bereits vollzogen worden war. In der Diskus-sion überwogen die Kräfte, die eine Modernisierungforderten. So ebnete der Kongress der »modernen«Musik in der arabischen Welt den Weg, während diePflege der »alten« Musik zusehends zurückging.

2.6 Daqqaqa-Ensembles

Eines der traditionellen jüdisch-irakischen Ensem-bles, die im Zuge der Modernisierung verdrängt wur-de, war die daqqaqah (Pl. daqqaqat), eine Gruppe vonvier oder fünf Frauen, die sangen und dazu verschie-dene Trommeln spielten. Der Beruf der Daqqaqa-Mu-sikerin wurde innerhalb der Familie weitergegeben.Obwohl es sich um Frauenensembles handelte, galtensie als ehrbar und wurden vom Rabbinat gebilligt,zumal es ältere (nicht mehr gebärfähige) Frauen wa-ren, die züchtig gekleidet auftraten und in der Regel

nur zu häuslichen Festlichkeiten mit weiblichem Pu-blikum musizierten. Die daqqaqat werden vor allemmit der Hennazeremonie (leilt al-h. innı) am Abend vorder Hochzeit verbunden, traten aber auch bei anderenEreignissen wie der Geburt eines Kindes oder ders.bah. ı (der durchfeierten siebten Hochzeitsnacht) aufund spielten gelegentlich auch in muslimischen Häu-sern bei Frauenpartys vor einer Hochzeit oder zurGeburt eines Sohnes.

Zu den bekanntesten daqqaqat der 1920er und1930er Jahre gehörten Masªuda al-Bambayliyyi(Masªuda aus Bombay) und Farha bit Shamma. Inden 1930er Jahren entstanden kommerzielle Aufnah-men einiger Daqqaqa-Lieder, darunter Ya dar wya dar(Oh Haus!), gesungen von Masªuda und ihrem Chor,und "Afakı (Bravo!), das beliebteste Hennalied. Von"Afakı gibt es eine vielgerühmte Aufnahme, die jedochnicht von einer Daqqaqa-Gruppe eingespielt wurde,sondern von Rashid al-Qundarchi (gest. 1945), demseinerzeit herausragendsten muslimischen Maqam-Sänger, der von einem chalghı begleitet wurde. DerText des Lieds ist zwar Judäo-Arabisch (�Arabisch),doch geschah es nicht selten, dass Juden berühmtemuslimische Sänger engagierten, um mit ihnen tra-ditionelle jüdische Lieder in judäo-arabischer Spracheaufzunehmen; offenbar zogen sie sie wegen ihrerStimmen und ihrer hohen Reputation in der iraki-schen Gesellschaft den jüdischen Sängern vor. Rashidal-Qundarchi, der keine religiösen Vorbehalte hatteund das Judäo-Arabische beherrschte, wurde daherauch gern als Sänger zu privaten jüdischen Festeneingeladen [8. 13].

In den 1940er Jahren galten die daqqaqat infolgedes zunehmenden Modernisierungstrends als pri-mitiv und altmodisch. Die musikalischen Darbietun-gen für Hennafeste übernahmen nun niveauvollereEnsembles wie die chalghı oder »moderne« Instru-mentalensembles mit einem Sänger, wenn sie nichtsogar von den neuesten 78er-Platten mit lateiname-rikanischen Rhythmen ersetzt wurden.

3. Exodus

Mit der Massenemigration der irakischen Juden nachIsrael zu Beginn der 1950er Jahre verlor das Landnahezu all jene Musiker, die als Säulen der irakischenMusiktraditionen galten. Nur wenige wie Salima Mu-rad blieben und gingen weiter ihrem Beruf nach. Umdas Musikleben aufrechtzuerhalten, behalf man sichim Irak vorübergehend damit, Musiker aus anderenarabischen Ländern zu gewinnen. Zwei Musiker deschalghı Baghdad, Salih Shummel (Kamana-Josa) undYusuf Patao (Santur), wurden mit ihren Familien

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

33 Badgad

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noch so lange in Bagdad festgehalten, bis sie ihreKunst zwei Muslime gelehrt hatten, Ibrahim Sha'ubiund Hashim al-Rajab. Diese halfen, im Irak eine neueTradition des al-maqam al-"Iraqı zu begründen.

Die irakischen Musiker in Israel versuchten ver-geblich, an ihren einstigen Ruhm anzuknüpfen. Inder neuen Gesellschaft, die das »klassische« Reper-toire Europas bevorzugte, wurde ihre Kunst kaumgeschätzt. Ezra Haron, ein Mitglied der Truppe, dieauf dem Kairoer Kongress den Irak vertreten hatte,begründete das arabische Orchester von Kol Yisra�el,dem israelischen Rundfunk, in dem auch viele andereirakische Musiker unterkamen, die meisten von ih-nen ehemalige Absolventen der Silas-Kadoorie-Blin-denschule. Die al-Kuwaitys, die einst vor hohenWürdenträgern und in königlichen Palästen gespielthatten, musizierten nun auf Hochzeiten und �BarMizwas; später gaben sie wöchentlich Konzerte ineiner Sendung im arabischen Programm von Kol Yis-ra�el. Sie alle spielten nun für ein kleines Publikumein Repertoire, das in der neuen Heimat als exotischgalt. Im Irak hatten sie ein Millionenpublikum ge-habt.

[1] A. Z. Idelsohn, Hebräisch-orientalischer Melodienschatz,Bd. 2: Gesänge der babylonischen Juden, Leipzig 1922.[2] Y. Kojaman, The Maqam Music Tradition of Iraq, London2001 [inkl. 2 CDs]. [3] T. Morad u.a. (Hg.), Iraqªs Last Jews.Stories of Daily Life, Upheaval, and Escape from ModernBabylon, New York 2008. [4] D. S. Sassoon, A History of theJews in Baghdad, Letchworth 1949. [5] A. Shiloah, The Musi-cal Tradition of Iraqi Jews. Selection of Piyyutim and Songs,Or Yehuda 1983. [6] R. Snir, »Religion Is for God, the Father-land Is for Everyone«. Arab-Jewish Writers in Modern Iraqand the Clash of Narratives after Their Immigration to Israel,in: Journal of the American Oriental Society 126 (2006) 3,379–399. [7] N.A. Stillman, The Jews of Arab Lands. A His-tory and Source Book, Philadelphia 1979. [8] E. Warkov, Re-vitalization of Iraqi-Jewish Instrumental Traditions in Israel.The Persistent Centrality of an Outsider Tradition, in: AsianMusic 17 (1986) 2, 9–31.

Sara Manasseh, London

Bais Yaakov

Bais Yaakov (auch Beys Yaªakov, Beys Yankev oder BetYa'akov) ist die Bezeichnung für ein Netzwerk ortho-doxer Mädchenschulen, das in der Zwischenkriegszeitin Ostmitteleuropa wirkte. Die Bais-Yaakov-Schulen,die unter der Schirmherrschaft von Agudat Yisra'el, einerpolitischen Sammlungsbewegung orthodoxer Juden,standen, institutionalisiertendie religiöse Mädchenbil-dung. Sie sind als Reaktion der Orthodoxie auf die sichmodernisierende Gesellschaft in Ostmitteleuropa, ins-besondere in Polen, zu verstehen.

Die erste Schule von Bais Yaakov wurde im November1917 auf Initiative der Pädagogin Sarah Schenirer(1883–1935) in Krakau gegründet. In ihrer Privatwoh-nung erteilte Schenirer zunächst 25 Mädchen auschassidischen Familien im Anschluss an deren öffent-lichen Schulbesuch Religionsunterricht. Die für dieSchule gewählte hebräische Namensgebung in jid-discher Aussprache leitet sich von dem in Jes 2,5und Ex 19,3 erwähnten bet Ya�akov (Haus Jakobs) ab.In spätantiken und mittelalterlichen Bibelauslegun-gen (�Midrasch) wurde diese Wendung als bat Ya'akov(Tochter Jakobs) gedeutet und mit der Verpflichtungverbunden, auch Töchter in den religiösen Pflichtenund den Grundlagen der Tora zu unterweisen. Vielespätere rabbinische Kommentatoren folgerten ausdieser klassischen Auslegung, dass Mädchen grund-sätzlich zum Tora-Studium zuzulassen seien – eineAnsicht, die seitens der �Orthodoxie bis ins 20. Jahr-hundert weitgehend abgelehnt wurde. Mit ihrer Na-menswahl unterstrich Schenirer somit den Anspruch,dass Mädchen und Frauen Zugang zum Tora-Stu-dium haben sollten. Zugleich brachte sie zum Aus-druck, dass sie gründliche religiöse Unterweisung fürFrauen als Voraussetzung für das Fortbestehen derjüdischen Tradition im 20. Jahrhundert ansah.

Schenirer wurde 1883 in Krakau in einer Familieder Belzer-Dynastie geboren, eine der einflussreichs-ten chassidischen Dynastien Galiziens (�Chassidis-mus). Bis zu ihrem 14. Lebensjahr besuchte sie eineöffentliche Schule; gleichzeitig wurde sie zu Hause inder Bibel unterrichtet und las verschiedene religiöseMoralwerke. Nach eigenen Angaben fühlte sie sichschon in dieser Zeit zum Studium jüdischer Textehingezogen. Die finanzielle Notlage ihrer Familiezwang sie jedoch dazu, ihre Schulausbildung zu un-terbrechen und den Beruf der Näherin zu erlernen.

Zur Gründung einer religiösen Mädchenschulewurde Schenirer in Wien inspiriert, wohin sie 1914,noch vor dem Ersten Weltkrieg, gelangt war. Dortbesuchte sie die Predigten und Vorträge des neo-or-thodoxen Rabbiners David Moritz Flesch (1879–1944)und entwickelte unter seinem Einfluss ihr Konzeptder religiösen Mädchenbildung. Anlass war ihre Be-obachtung, dass viele junge Jüdinnen Krakaus sichvon der religiösen Tradition entfernt hatten undetwa das Gebot der �Schabbat-Ruhe nicht mehr ein-hielten. Dieser Tendenz suchte sie durch die Vermitt-lung religiösen Wissens entgegenzuwirken. Geradebei Mädchen erschien ihr dies sinnvoll, da diese demEinfluss der säkularen Gesellschaft noch nicht sostark ausgesetzt gewesen seien.

Von Schenirer angeregt, verbreitete sich die Bewe-gung der Bais-Yaakov-Schulen rasch. 1937 gab es in

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

wurde 1932 vom ägyptischen Kultusministerium derinternationale »Kongress für arabische Musik« inKairo veranstaltet. Die Teilnehmenden waren Musi-ker, Komponisten und Musikwissenschaftler aus ara-bischen Ländern und der Türkei sowie – in geringerZahl – Vertreter aus Europa. Zu den europäischenGästen gehörten die Spezialisten für arabische MusikRodolphe dªErlanger (der die Veranstaltung mitorga-nisierte) und Henry George Farmer, die Musikwissen-schaftler Erich Moritz von Hornbostel (�Verglei-chende Musikwissenschaft) und Robert Lachmann so-wie die Komponisten Béla Bartók und Paul Hinde-mith. Das den Irak vertretende Musikensemblebestand aus dem Maqam-Sänger Muhammad al-Qubbanchi, einem Muslim, und einem chalghı mitsechs jüdischen Instrumentalisten. Man spielte dasangesehnste landestypische Genre, den al-maqamal-"Iraqı, der damals wahrscheinlich zum ersten Malaußerhalb des Irak zu hören war. Das Ensemblewurde von König Fuad mit dem ersten Preis aus-gezeichnet.

Eines der Ziele des Kongresses war die Präsenta-tion und Dokumentation der verschiedenen Musik-richtungen aus mehreren arabischen Ländern, die inKairo zum ersten Mal miteinander verglichen wur-den. 360 der aufgeführten Stücke wurden aufgenom-men, um sie für die Nachwelt zu erhalten; der größteTeil der Aufnahmen lagert heute in der Bibliothèquenationale de France in Paris. Folgenreich für die Mu-sikkultur der arabischen Welt war der Versuch, sichüber zwei gegensätzliche Positionen zu verständigen:die Forderung nachBewahrung alter arabischerMusik-traditionen gegenüber dem Wunsch der Neuorientie-rung an der Musik des Westens, die von Künstlern wieUmm Kulthum, Salima Murad oder den al-Kuwaity-Brüdern bereits vollzogen worden war. In der Diskus-sion überwogen die Kräfte, die eine Modernisierungforderten. So ebnete der Kongress der »modernen«Musik in der arabischen Welt den Weg, während diePflege der »alten« Musik zusehends zurückging.

2.6 Daqqaqa-Ensembles

Eines der traditionellen jüdisch-irakischen Ensem-bles, die im Zuge der Modernisierung verdrängt wur-de, war die daqqaqah (Pl. daqqaqat), eine Gruppe vonvier oder fünf Frauen, die sangen und dazu verschie-dene Trommeln spielten. Der Beruf der Daqqaqa-Mu-sikerin wurde innerhalb der Familie weitergegeben.Obwohl es sich um Frauenensembles handelte, galtensie als ehrbar und wurden vom Rabbinat gebilligt,zumal es ältere (nicht mehr gebärfähige) Frauen wa-ren, die züchtig gekleidet auftraten und in der Regel

nur zu häuslichen Festlichkeiten mit weiblichem Pu-blikum musizierten. Die daqqaqat werden vor allemmit der Hennazeremonie (leilt al-h. innı) am Abend vorder Hochzeit verbunden, traten aber auch bei anderenEreignissen wie der Geburt eines Kindes oder ders.bah. ı (der durchfeierten siebten Hochzeitsnacht) aufund spielten gelegentlich auch in muslimischen Häu-sern bei Frauenpartys vor einer Hochzeit oder zurGeburt eines Sohnes.

Zu den bekanntesten daqqaqat der 1920er und1930er Jahre gehörten Masªuda al-Bambayliyyi(Masªuda aus Bombay) und Farha bit Shamma. Inden 1930er Jahren entstanden kommerzielle Aufnah-men einiger Daqqaqa-Lieder, darunter Ya dar wya dar(Oh Haus!), gesungen von Masªuda und ihrem Chor,und "Afakı (Bravo!), das beliebteste Hennalied. Von"Afakı gibt es eine vielgerühmte Aufnahme, die jedochnicht von einer Daqqaqa-Gruppe eingespielt wurde,sondern von Rashid al-Qundarchi (gest. 1945), demseinerzeit herausragendsten muslimischen Maqam-Sänger, der von einem chalghı begleitet wurde. DerText des Lieds ist zwar Judäo-Arabisch (�Arabisch),doch geschah es nicht selten, dass Juden berühmtemuslimische Sänger engagierten, um mit ihnen tra-ditionelle jüdische Lieder in judäo-arabischer Spracheaufzunehmen; offenbar zogen sie sie wegen ihrerStimmen und ihrer hohen Reputation in der iraki-schen Gesellschaft den jüdischen Sängern vor. Rashidal-Qundarchi, der keine religiösen Vorbehalte hatteund das Judäo-Arabische beherrschte, wurde daherauch gern als Sänger zu privaten jüdischen Festeneingeladen [8. 13].

In den 1940er Jahren galten die daqqaqat infolgedes zunehmenden Modernisierungstrends als pri-mitiv und altmodisch. Die musikalischen Darbietun-gen für Hennafeste übernahmen nun niveauvollereEnsembles wie die chalghı oder »moderne« Instru-mentalensembles mit einem Sänger, wenn sie nichtsogar von den neuesten 78er-Platten mit lateiname-rikanischen Rhythmen ersetzt wurden.

3. Exodus

Mit der Massenemigration der irakischen Juden nachIsrael zu Beginn der 1950er Jahre verlor das Landnahezu all jene Musiker, die als Säulen der irakischenMusiktraditionen galten. Nur wenige wie Salima Mu-rad blieben und gingen weiter ihrem Beruf nach. Umdas Musikleben aufrechtzuerhalten, behalf man sichim Irak vorübergehend damit, Musiker aus anderenarabischen Ländern zu gewinnen. Zwei Musiker deschalghı Baghdad, Salih Shummel (Kamana-Josa) undYusuf Patao (Santur), wurden mit ihren Familien

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

wurde 1932 vom ägyptischen Kultusministerium derinternationale »Kongress für arabische Musik« inKairo veranstaltet. Die Teilnehmenden waren Musi-ker, Komponisten und Musikwissenschaftler aus ara-bischen Ländern und der Türkei sowie – in geringerZahl – Vertreter aus Europa. Zu den europäischenGästen gehörten die Spezialisten für arabische MusikRodolphe dªErlanger (der die Veranstaltung mitorga-nisierte) und Henry George Farmer, die Musikwissen-schaftler Erich Moritz von Hornbostel (�Verglei-chende Musikwissenschaft) und Robert Lachmann so-wie die Komponisten Béla Bartók und Paul Hinde-mith. Das den Irak vertretende Musikensemblebestand aus dem Maqam-Sänger Muhammad al-Qubbanchi, einem Muslim, und einem chalghı mitsechs jüdischen Instrumentalisten. Man spielte dasangesehnste landestypische Genre, den al-maqamal-"Iraqı, der damals wahrscheinlich zum ersten Malaußerhalb des Irak zu hören war. Das Ensemblewurde von König Fuad mit dem ersten Preis aus-gezeichnet.

Eines der Ziele des Kongresses war die Präsenta-tion und Dokumentation der verschiedenen Musik-richtungen aus mehreren arabischen Ländern, die inKairo zum ersten Mal miteinander verglichen wur-den. 360 der aufgeführten Stücke wurden aufgenom-men, um sie für die Nachwelt zu erhalten; der größteTeil der Aufnahmen lagert heute in der Bibliothèquenationale de France in Paris. Folgenreich für die Mu-sikkultur der arabischen Welt war der Versuch, sichüber zwei gegensätzliche Positionen zu verständigen:die Forderung nachBewahrung alter arabischerMusik-traditionen gegenüber dem Wunsch der Neuorientie-rung an der Musik des Westens, die von Künstlern wieUmm Kulthum, Salima Murad oder den al-Kuwaity-Brüdern bereits vollzogen worden war. In der Diskus-sion überwogen die Kräfte, die eine Modernisierungforderten. So ebnete der Kongress der »modernen«Musik in der arabischen Welt den Weg, während diePflege der »alten« Musik zusehends zurückging.

2.6 Daqqaqa-Ensembles

Eines der traditionellen jüdisch-irakischen Ensem-bles, die im Zuge der Modernisierung verdrängt wur-de, war die daqqaqah (Pl. daqqaqat), eine Gruppe vonvier oder fünf Frauen, die sangen und dazu verschie-dene Trommeln spielten. Der Beruf der Daqqaqa-Mu-sikerin wurde innerhalb der Familie weitergegeben.Obwohl es sich um Frauenensembles handelte, galtensie als ehrbar und wurden vom Rabbinat gebilligt,zumal es ältere (nicht mehr gebärfähige) Frauen wa-ren, die züchtig gekleidet auftraten und in der Regel

nur zu häuslichen Festlichkeiten mit weiblichem Pu-blikum musizierten. Die daqqaqat werden vor allemmit der Hennazeremonie (leilt al-h. innı) am Abend vorder Hochzeit verbunden, traten aber auch bei anderenEreignissen wie der Geburt eines Kindes oder ders.bah. ı (der durchfeierten siebten Hochzeitsnacht) aufund spielten gelegentlich auch in muslimischen Häu-sern bei Frauenpartys vor einer Hochzeit oder zurGeburt eines Sohnes.

Zu den bekanntesten daqqaqat der 1920er und1930er Jahre gehörten Masªuda al-Bambayliyyi(Masªuda aus Bombay) und Farha bit Shamma. Inden 1930er Jahren entstanden kommerzielle Aufnah-men einiger Daqqaqa-Lieder, darunter Ya dar wya dar(Oh Haus!), gesungen von Masªuda und ihrem Chor,und "Afakı (Bravo!), das beliebteste Hennalied. Von"Afakı gibt es eine vielgerühmte Aufnahme, die jedochnicht von einer Daqqaqa-Gruppe eingespielt wurde,sondern von Rashid al-Qundarchi (gest. 1945), demseinerzeit herausragendsten muslimischen Maqam-Sänger, der von einem chalghı begleitet wurde. DerText des Lieds ist zwar Judäo-Arabisch (�Arabisch),doch geschah es nicht selten, dass Juden berühmtemuslimische Sänger engagierten, um mit ihnen tra-ditionelle jüdische Lieder in judäo-arabischer Spracheaufzunehmen; offenbar zogen sie sie wegen ihrerStimmen und ihrer hohen Reputation in der iraki-schen Gesellschaft den jüdischen Sängern vor. Rashidal-Qundarchi, der keine religiösen Vorbehalte hatteund das Judäo-Arabische beherrschte, wurde daherauch gern als Sänger zu privaten jüdischen Festeneingeladen [8. 13].

In den 1940er Jahren galten die daqqaqat infolgedes zunehmenden Modernisierungstrends als pri-mitiv und altmodisch. Die musikalischen Darbietun-gen für Hennafeste übernahmen nun niveauvollereEnsembles wie die chalghı oder »moderne« Instru-mentalensembles mit einem Sänger, wenn sie nichtsogar von den neuesten 78er-Platten mit lateiname-rikanischen Rhythmen ersetzt wurden.

3. Exodus

Mit der Massenemigration der irakischen Juden nachIsrael zu Beginn der 1950er Jahre verlor das Landnahezu all jene Musiker, die als Säulen der irakischenMusiktraditionen galten. Nur wenige wie Salima Mu-rad blieben und gingen weiter ihrem Beruf nach. Umdas Musikleben aufrechtzuerhalten, behalf man sichim Irak vorübergehend damit, Musiker aus anderenarabischen Ländern zu gewinnen. Zwei Musiker deschalghı Baghdad, Salih Shummel (Kamana-Josa) undYusuf Patao (Santur), wurden mit ihren Familien

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

wurde 1932 vom ägyptischen Kultusministerium derinternationale »Kongress für arabische Musik« inKairo veranstaltet. Die Teilnehmenden waren Musi-ker, Komponisten und Musikwissenschaftler aus ara-bischen Ländern und der Türkei sowie – in geringerZahl – Vertreter aus Europa. Zu den europäischenGästen gehörten die Spezialisten für arabische MusikRodolphe dªErlanger (der die Veranstaltung mitorga-nisierte) und Henry George Farmer, die Musikwissen-schaftler Erich Moritz von Hornbostel (�Verglei-chende Musikwissenschaft) und Robert Lachmann so-wie die Komponisten Béla Bartók und Paul Hinde-mith. Das den Irak vertretende Musikensemblebestand aus dem Maqam-Sänger Muhammad al-Qubbanchi, einem Muslim, und einem chalghı mitsechs jüdischen Instrumentalisten. Man spielte dasangesehnste landestypische Genre, den al-maqamal-"Iraqı, der damals wahrscheinlich zum ersten Malaußerhalb des Irak zu hören war. Das Ensemblewurde von König Fuad mit dem ersten Preis aus-gezeichnet.

Eines der Ziele des Kongresses war die Präsenta-tion und Dokumentation der verschiedenen Musik-richtungen aus mehreren arabischen Ländern, die inKairo zum ersten Mal miteinander verglichen wur-den. 360 der aufgeführten Stücke wurden aufgenom-men, um sie für die Nachwelt zu erhalten; der größteTeil der Aufnahmen lagert heute in der Bibliothèquenationale de France in Paris. Folgenreich für die Mu-sikkultur der arabischen Welt war der Versuch, sichüber zwei gegensätzliche Positionen zu verständigen:die Forderung nachBewahrung alter arabischerMusik-traditionen gegenüber dem Wunsch der Neuorientie-rung an der Musik des Westens, die von Künstlern wieUmm Kulthum, Salima Murad oder den al-Kuwaity-Brüdern bereits vollzogen worden war. In der Diskus-sion überwogen die Kräfte, die eine Modernisierungforderten. So ebnete der Kongress der »modernen«Musik in der arabischen Welt den Weg, während diePflege der »alten« Musik zusehends zurückging.

2.6 Daqqaqa-Ensembles

Eines der traditionellen jüdisch-irakischen Ensem-bles, die im Zuge der Modernisierung verdrängt wur-de, war die daqqaqah (Pl. daqqaqat), eine Gruppe vonvier oder fünf Frauen, die sangen und dazu verschie-dene Trommeln spielten. Der Beruf der Daqqaqa-Mu-sikerin wurde innerhalb der Familie weitergegeben.Obwohl es sich um Frauenensembles handelte, galtensie als ehrbar und wurden vom Rabbinat gebilligt,zumal es ältere (nicht mehr gebärfähige) Frauen wa-ren, die züchtig gekleidet auftraten und in der Regel

nur zu häuslichen Festlichkeiten mit weiblichem Pu-blikum musizierten. Die daqqaqat werden vor allemmit der Hennazeremonie (leilt al-h. innı) am Abend vorder Hochzeit verbunden, traten aber auch bei anderenEreignissen wie der Geburt eines Kindes oder ders.bah. ı (der durchfeierten siebten Hochzeitsnacht) aufund spielten gelegentlich auch in muslimischen Häu-sern bei Frauenpartys vor einer Hochzeit oder zurGeburt eines Sohnes.

Zu den bekanntesten daqqaqat der 1920er und1930er Jahre gehörten Masªuda al-Bambayliyyi(Masªuda aus Bombay) und Farha bit Shamma. Inden 1930er Jahren entstanden kommerzielle Aufnah-men einiger Daqqaqa-Lieder, darunter Ya dar wya dar(Oh Haus!), gesungen von Masªuda und ihrem Chor,und "Afakı (Bravo!), das beliebteste Hennalied. Von"Afakı gibt es eine vielgerühmte Aufnahme, die jedochnicht von einer Daqqaqa-Gruppe eingespielt wurde,sondern von Rashid al-Qundarchi (gest. 1945), demseinerzeit herausragendsten muslimischen Maqam-Sänger, der von einem chalghı begleitet wurde. DerText des Lieds ist zwar Judäo-Arabisch (�Arabisch),doch geschah es nicht selten, dass Juden berühmtemuslimische Sänger engagierten, um mit ihnen tra-ditionelle jüdische Lieder in judäo-arabischer Spracheaufzunehmen; offenbar zogen sie sie wegen ihrerStimmen und ihrer hohen Reputation in der iraki-schen Gesellschaft den jüdischen Sängern vor. Rashidal-Qundarchi, der keine religiösen Vorbehalte hatteund das Judäo-Arabische beherrschte, wurde daherauch gern als Sänger zu privaten jüdischen Festeneingeladen [8. 13].

In den 1940er Jahren galten die daqqaqat infolgedes zunehmenden Modernisierungstrends als pri-mitiv und altmodisch. Die musikalischen Darbietun-gen für Hennafeste übernahmen nun niveauvollereEnsembles wie die chalghı oder »moderne« Instru-mentalensembles mit einem Sänger, wenn sie nichtsogar von den neuesten 78er-Platten mit lateiname-rikanischen Rhythmen ersetzt wurden.

3. Exodus

Mit der Massenemigration der irakischen Juden nachIsrael zu Beginn der 1950er Jahre verlor das Landnahezu all jene Musiker, die als Säulen der irakischenMusiktraditionen galten. Nur wenige wie Salima Mu-rad blieben und gingen weiter ihrem Beruf nach. Umdas Musikleben aufrechtzuerhalten, behalf man sichim Irak vorübergehend damit, Musiker aus anderenarabischen Ländern zu gewinnen. Zwei Musiker deschalghı Baghdad, Salih Shummel (Kamana-Josa) undYusuf Patao (Santur), wurden mit ihren Familien

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kannte Rabbi Israel Meªir ha-Kohen (genannt H. afez.H. ayim, 1838–1933), der Leiter der bedeutenden Je-schiwa in Radin und eine der einflussreichsten reli-giösen Autoritäten der osteuropäischen Juden, Sche-nirers Schulen als orthodoxe Mädchenschulen offi-ziell an.

Die systematische religiöse Ausbildung von jüdi-schen Mädchen und jungen Frauen in den Bais-Yaa-kov-Schulen förderte ihre Teilnahme am religiösenLeben und eine eigenständige Wahrnehmung ihrerReligiosität. Das angeeignete Wissen ermöglichteden Absolventinnen eine aktive und bewusste Mit-gestaltung ihres sozialen Umfelds, indem sie bei-spielsweise als Lehrerinnen an den Schulen der Pro-vinzstädte tätig wurden oder selbst neue Schulengründeten. Als Lehrerinnen an einer Bais-Yaakov-Schule hatten die jungen orthodoxen Frauen einenangesehenen Beruf, der angesichts der für die pol-nischen Juden schwierigen ökonomischen Lage (�Na-lewki-Straße) zugleich die finanzielle Situation ihrerFamilien verbesserte.

Die Einrichtung der Bais-Yaakov-Schulen übte so-mit einen gewissen modernisierenden Effekt auf dasLeben der orthodoxen jüdischen Frauen aus. Einge-bunden in die orthodoxen Überzeugungen des ost-europäischen Judentums und geleitet von ihrer tiefenReligiosität, beabsichtigte Schenirer keineswegs, diesozialen und religiösen Geschlechterrollen (�Meh. iz.a)zu verändern, sondern orthodoxen Mädchen undjungen Frauen religiöses Wissen und moralischeWerte wie Frömmigkeit und Züchtigkeit zu vermit-teln. Das damit verbundene Frauenbild verkörperteSchenirer selbst, die nach ihrem Tod in der orthodoxenHistoriographie als eine charismatische Figur dar-gestellt wurde undals Symbol weiblicher Frömmigkeitgalt. In dieser Weise wurde auch von den Schülerinnendie Achtung der Tradition erwartet, während siegleichzeitig vor den Gefahren, die die Abweichungvon jüdischen Geboten mit sich brächten, gewarntwurden. Die Orthodoxie betrachtete Bais Yaakov des-halb auch nicht als eine Bedrohung, sondern verstanddie Idee Schenirers eher als eine notwendige, denErfordernissen der Zeit geschuldete Erweiterung derTradition. Weniger orthodox ausgerichtete Aufkläre-rinnen der Zeit kritisierten die Schulen hingegen alsRückschritt hinsichtlich der Bestrebungen um dieGleichberechtigung jüdischer Frauen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Traditionder Bais-Yaakov-Schulen vor allem in Israel, Nord-amerika und Großbritannien fortgeführt. In den Zen-tren orthodoxen jüdischen Lebens erfreuen sich diereligiösen Mädchenschulen nach Schenirers Vorbildbis heute ungebrochener Beliebtheit.

[1] S. Schenirer, Em be-Yisraªel. Kitve Sarah Schenirer [MutterIsraels. Schriften von S. Schenirer], 3 Bde., Tel Aviv 1955.[2] S. Schenirer, Gezamlte Shriftn, L¡ódz 1933.[3] G. Bacon, The Politics of Tradition. Agudat Yisrael in Po-land, 1916–1939, Jerusalem 1996. [4] P. Benisch, Carry Me InYour Heart. The Life and Legacy of Sarah Schenirer, Founderand Visionary of the Bais Yaakov Movement, Jerusalem 2003.[5] N. Loewenthal, »Daughter/Wife of Hasid« or »HasidicWoman«?, in: Jewish Studies 40 (2000), 21–28.[6] R. Manekin, Mashehu h. adash le-gamre. Hitpath. uto shelraªayon ha-h. innukh ha-dati le-banot ba-et ha-h. adasha [Etwasvöllig Neues. Die Entwicklung der religiösen Erziehung fürMädchen in der Neuzeit], in: Masekhet 2 (2004), 63–85.[7] D.R. Weissmann, Bais Yaªakov as an Innovation in JewishWomenªs Education. A Contribution to the Study of Educa-tion and Social Change, in: Studies in Jewish Education 7(1995), 278–299.

Agnieszka Oleszak, London

Balegule

Jiddische Bezeichnung (auch balagole, Pl. balegules) für»Fuhrmann«, abgeleitet von hebr. ba�al agala (Wagen-besitzer, Kutscher). Unter Juden im östlichen Europawar der Beruf des Fuhrmanns, als Teil der signifi-kanten Präsenz im �Transportwesen, weit verbreitet.Heute ist der balegule als literarische Figur jüdischenLebens im �Schtetl bekannt.

Bereits in der polnisch-litauischen Adelsrepublik(1569–1791) übten Juden den Beruf des Fuhrmannsoder Kutschers, der Reisende, Kaufleute und derenWaren sowie Post transportierte, aus. Im KönigreichPolen waren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun-derts zwei bis vier Prozent der jüdischen Bevölkerungim Transportwesen, das auch Träger, Wasserträgerund Bierkutscher einschloss, beschäftigt [7. 114f.].Durch ihre Präsenz im regionalen Handel und Fern-handel verfügten Juden oft über gute Kenntnisse derTransportwege. Jüdische Fuhrleute galten als derartschnell und zuverlässig, dass die preußischen Behör-den nach der zweiten Teilung Polens 1793 Über-legungen anstellten, Juden in Süd- und Neuost-preußen zur Übernahme des staatlichen Fuhrwesensheranzuziehen und sie im preußischen Heer als Ka-valleristen und Fahrer einzusetzen [6. 65; 49f.]. Im19. Jahrhundert wuchs der Berufszweig im Zuge derUrbanisierung schnell an, da er ungelernten KräftenArbeit bot. Viele Fuhrleute in den großen Städten des�Ansiedlungsrayons (z.B. Grodno, Wilna, Mogiljow),des Königreichs Polen (z.B. Warschau) und in Gali-zien waren Juden; in �Budapest stellten sie im19. Jahrhundert einen Großteil der Kutscher. In vielenkleineren Städten und Schtetlech (�Schtetl), in denenJuden die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten,

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

kannte Rabbi Israel Meªir ha-Kohen (genannt H. afez.H. ayim, 1838–1933), der Leiter der bedeutenden Je-schiwa in Radin und eine der einflussreichsten reli-giösen Autoritäten der osteuropäischen Juden, Sche-nirers Schulen als orthodoxe Mädchenschulen offi-ziell an.

Die systematische religiöse Ausbildung von jüdi-schen Mädchen und jungen Frauen in den Bais-Yaa-kov-Schulen förderte ihre Teilnahme am religiösenLeben und eine eigenständige Wahrnehmung ihrerReligiosität. Das angeeignete Wissen ermöglichteden Absolventinnen eine aktive und bewusste Mit-gestaltung ihres sozialen Umfelds, indem sie bei-spielsweise als Lehrerinnen an den Schulen der Pro-vinzstädte tätig wurden oder selbst neue Schulengründeten. Als Lehrerinnen an einer Bais-Yaakov-Schule hatten die jungen orthodoxen Frauen einenangesehenen Beruf, der angesichts der für die pol-nischen Juden schwierigen ökonomischen Lage (�Na-lewki-Straße) zugleich die finanzielle Situation ihrerFamilien verbesserte.

Die Einrichtung der Bais-Yaakov-Schulen übte so-mit einen gewissen modernisierenden Effekt auf dasLeben der orthodoxen jüdischen Frauen aus. Einge-bunden in die orthodoxen Überzeugungen des ost-europäischen Judentums und geleitet von ihrer tiefenReligiosität, beabsichtigte Schenirer keineswegs, diesozialen und religiösen Geschlechterrollen (�Meh. iz.a)zu verändern, sondern orthodoxen Mädchen undjungen Frauen religiöses Wissen und moralischeWerte wie Frömmigkeit und Züchtigkeit zu vermit-teln. Das damit verbundene Frauenbild verkörperteSchenirer selbst, die nach ihrem Tod in der orthodoxenHistoriographie als eine charismatische Figur dar-gestellt wurde undals Symbol weiblicher Frömmigkeitgalt. In dieser Weise wurde auch von den Schülerinnendie Achtung der Tradition erwartet, während siegleichzeitig vor den Gefahren, die die Abweichungvon jüdischen Geboten mit sich brächten, gewarntwurden. Die Orthodoxie betrachtete Bais Yaakov des-halb auch nicht als eine Bedrohung, sondern verstanddie Idee Schenirers eher als eine notwendige, denErfordernissen der Zeit geschuldete Erweiterung derTradition. Weniger orthodox ausgerichtete Aufkläre-rinnen der Zeit kritisierten die Schulen hingegen alsRückschritt hinsichtlich der Bestrebungen um dieGleichberechtigung jüdischer Frauen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Traditionder Bais-Yaakov-Schulen vor allem in Israel, Nord-amerika und Großbritannien fortgeführt. In den Zen-tren orthodoxen jüdischen Lebens erfreuen sich diereligiösen Mädchenschulen nach Schenirers Vorbildbis heute ungebrochener Beliebtheit.

[1] S. Schenirer, Em be-Yisraªel. Kitve Sarah Schenirer [MutterIsraels. Schriften von S. Schenirer], 3 Bde., Tel Aviv 1955.[2] S. Schenirer, Gezamlte Shriftn, L¡ódz 1933.[3] G. Bacon, The Politics of Tradition. Agudat Yisrael in Po-land, 1916–1939, Jerusalem 1996. [4] P. Benisch, Carry Me InYour Heart. The Life and Legacy of Sarah Schenirer, Founderand Visionary of the Bais Yaakov Movement, Jerusalem 2003.[5] N. Loewenthal, »Daughter/Wife of Hasid« or »HasidicWoman«?, in: Jewish Studies 40 (2000), 21–28.[6] R. Manekin, Mashehu h. adash le-gamre. Hitpath. uto shelraªayon ha-h. innukh ha-dati le-banot ba-et ha-h. adasha [Etwasvöllig Neues. Die Entwicklung der religiösen Erziehung fürMädchen in der Neuzeit], in: Masekhet 2 (2004), 63–85.[7] D.R. Weissmann, Bais Yaªakov as an Innovation in JewishWomenªs Education. A Contribution to the Study of Educa-tion and Social Change, in: Studies in Jewish Education 7(1995), 278–299.

Agnieszka Oleszak, London

Balegule

Jiddische Bezeichnung (auch balagole, Pl. balegules) für»Fuhrmann«, abgeleitet von hebr. ba�al agala (Wagen-besitzer, Kutscher). Unter Juden im östlichen Europawar der Beruf des Fuhrmanns, als Teil der signifi-kanten Präsenz im �Transportwesen, weit verbreitet.Heute ist der balegule als literarische Figur jüdischenLebens im �Schtetl bekannt.

Bereits in der polnisch-litauischen Adelsrepublik(1569–1791) übten Juden den Beruf des Fuhrmannsoder Kutschers, der Reisende, Kaufleute und derenWaren sowie Post transportierte, aus. Im KönigreichPolen waren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun-derts zwei bis vier Prozent der jüdischen Bevölkerungim Transportwesen, das auch Träger, Wasserträgerund Bierkutscher einschloss, beschäftigt [7. 114f.].Durch ihre Präsenz im regionalen Handel und Fern-handel verfügten Juden oft über gute Kenntnisse derTransportwege. Jüdische Fuhrleute galten als derartschnell und zuverlässig, dass die preußischen Behör-den nach der zweiten Teilung Polens 1793 Über-legungen anstellten, Juden in Süd- und Neuost-preußen zur Übernahme des staatlichen Fuhrwesensheranzuziehen und sie im preußischen Heer als Ka-valleristen und Fahrer einzusetzen [6. 65; 49f.]. Im19. Jahrhundert wuchs der Berufszweig im Zuge derUrbanisierung schnell an, da er ungelernten KräftenArbeit bot. Viele Fuhrleute in den großen Städten des�Ansiedlungsrayons (z.B. Grodno, Wilna, Mogiljow),des Königreichs Polen (z.B. Warschau) und in Gali-zien waren Juden; in �Budapest stellten sie im19. Jahrhundert einen Großteil der Kutscher. In vielenkleineren Städten und Schtetlech (�Schtetl), in denenJuden die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten,

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dominierten sie auch das Fuhrwesen. Im Ansied-lungsrayon gab es 1897 über 25000 jüdische Kut-scher; sie stellten damit ungefähr 20 Prozent der selb-ständigen Fuhrleute [8. 13].

Die Beschäftigung als Fuhrmann wurde oft inner-halb der Familie weitergegeben. Einen Wandel erfuhrder Sektor gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit demAusbau des Schienennetzes im Russischen Reich, daseine zunehmende Konkurrenz zu den Fuhrgeschäf-ten darstellte. Die Kutscher wichen auf abgelegeneStrecken sowie den Transport von und zur �Eisen-bahn aus; innerhalb der Städte blieb ihre Bedeutungjedoch ungebrochen. Die Motorisierung des Straßen-verkehrs in der Zwischenkriegszeit führte letztlichzum Niedergang des traditionellen jüdischen Fuhr-wesens. Auf kürzeren Strecken ersetzten nun auchFahrräder den Kutscher. Doch blieben Juden, vor al-lem als Unternehmer, im sich modernisierenden ost-europäischen Transportwesen präsent. Mit dem �Ho-locaust kam dieser Transformationsprozess zu einemvorzeitigen Ende.

Aufgrund seiner Prominenz im Transportwesenwurde der Balegule als Angehöriger einer eigenensozialen Gruppe wahrgenommen. Dazu trug auchbei, dass jüdische Kutscher einen eigenen Soziolektim Jiddischen verwendeten (balegule-loshn), der Wörterder Umgangssprache mit neuen, berufsspezifischenBedeutungen versah. Dazu zählten Wörter für Pferde(odler, wörtl.: Adler; khaye, wörtl.: Tier oder neveyle,wörtl.: Kadaver, was ein faules Tier beschrieb); Stutenwurden Mutter (mame) oder Schwester (shvester) ge-nannt. Der Balegule brachte auch Neuschöpfungenhervor. Der Fuhrmann selbst wurde durch eine Reihevon Wörtern (ferdman, furer, furman) bezeichnet, wäh-rend Fuchsland (fuksland) eine Wortprägung für einenweit entfernten Ort war. Ebenso dürften Redewen-dungen wie »Wenn man schmiert, dann fährt man«(Az me shmirt fort men) dieser Umgangssprache ent-stammen [9. 242]. Außerdem unterhielten Fuhrleuteoft gesonderte heilige Gesellschaften (h. evrot, �H. evraKaddisha) und �Synagogen.

In der jüdischen �Literatur, aber auch in Werkennichtjüdischer osteuropäischer Autoren ist der Ba-legule eine häufig präsente Figur. Simon Dubnowerwähnt in seinen Memoiren häufig Fahrten miteinem Balegule. Auch viele andere zeitgenössischeBeschreibungen und Erinnerungen thematisierendie starke Präsenz von Juden im Fuhrwesen, wobeisowohl positive wie negative Stereotypen herangezo-gen werden. Die romantisierende Beschreibung desgroßen, kräftigen, mit hohen Stiefeln, Pelzhut undPeitsche ausgestatteten jüdischen Fuhrmanns, derkeine physische Auseinandersetzung scheut, stellt

dabei auch ein Gegenbild zum schwachen, wehr-losen Talmudstudenten dar. Der polnische National-dichter Adam Mickiewicz erinnert sich in seinenMemoiren an Volkserzählungen, die ihm ein jüdi-scher Kutscher auf der Fahrt erzählte. Der Ethnologeund Schriftsteller Stanisl¡aw Vincenz beschreibt denBalegule im östlichen Galizien als sprachgewandtund die Fahrten mit ihm als zwar langsame, abergünstigste Art des Reisens. Dem steht die Charakte-risierung des Fuhrmanns als grob, ungebildet undignorant gegenüber, wie sie sich im 19. Jahrhundertunter Juden und Nichtjuden mit der steigenden Zahljüdischer Kutscher durchzusetzen begann. Der Kut-scherberuf wurde nun vor allem als ungelernte Be-schäftigung angesehen. Bisweilen wurden den jüdi-schen Fuhrleuten ein Hang zur Trunkenheit undVerbindungen zum organisierten Verbrechen nach-gesagt [5. 303 f.].

Der Balegule begegnet häufig in der jüdischen�Folklore, in Sprichwörtern und Volksliedern. In derErzählung Der rov un der balegule (Der Rabbiner undder Kutscher) tauschen ein ungebildeter Kutscherund sein Fahrgast, ein Rabbiner, die Kleider. Voneinem später hinzugestiegenen Fahrgast nach der Er-klärung einer Talmud-Passage gefragt, antwortet derfalsche Rabbiner, dass diese ja so einfach sei, dass siesogar der Balegule erläutern könne [10. 53]. Auch beimodernen Autoren tritt der literarische Typus desKutschers in Erscheinung, so in Scholem AlejchemsErzählungen Der farkishefter shnayder (dt. Der behexteSchneider, 1900) und Der gliklekhster in Kodne (dt.: Derglücklichste Mann in Kodno, 1909), aber auch in ei-nem Artikel Israel Joshua Singers, den er 1928 imamerikanischen �Forverts veröffentlichte [4]. Mit derMigration osteuropäischer Juden in die VereinigtenStaaten lebte die Figur des Balegule (nicht jedoch derBerufszweig) in der Literatur, im Theater und in Lie-dern auch im amerikanisch-jüdischen Kontext fort, soz.B. bei Abraham Cahan, der in seiner 1892 entstan-denen Erzählung Mottke Arbel un zayn shidekh (MottkeArbel und seine Heirat, engl. A Providential Match,1895) einen jüdischen Kutscher als ungebildete, grobePerson von niedriger sozialer Herkunft beschreibt.

[1] S. Aleichem, Der gliklekhster in Kodne, in: Ale Verk funSholem-Aleichem, Bd. 26: Ayzenbahn-Geshikhtes, New York1937, 23–38. [2] S. Aleichem, Der behexte Schneider, Berlin1969. [3] A. Cahan, A Providential Match, in: A. Cahan, TheImported Bridegroom, and other Stories of the New YorkGhetto, Boston/New York 1898. [4] G. Kuper [I. J. Singer],Der balegule un di boyd punkt wi mit hunderte johren zurik[Der Balegule und der Wagen genau wie vor 100 Jahren], in:Forverts, 24. Juni 1928.[5] Y. Eliach, There Once Was A World. A Nine-Hundred-Year Chronicle of the Shtetl of Eishyshok, Boston 1998.

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dominierten sie auch das Fuhrwesen. Im Ansied-lungsrayon gab es 1897 über 25000 jüdische Kut-scher; sie stellten damit ungefähr 20 Prozent der selb-ständigen Fuhrleute [8. 13].

Die Beschäftigung als Fuhrmann wurde oft inner-halb der Familie weitergegeben. Einen Wandel erfuhrder Sektor gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit demAusbau des Schienennetzes im Russischen Reich, daseine zunehmende Konkurrenz zu den Fuhrgeschäf-ten darstellte. Die Kutscher wichen auf abgelegeneStrecken sowie den Transport von und zur �Eisen-bahn aus; innerhalb der Städte blieb ihre Bedeutungjedoch ungebrochen. Die Motorisierung des Straßen-verkehrs in der Zwischenkriegszeit führte letztlichzum Niedergang des traditionellen jüdischen Fuhr-wesens. Auf kürzeren Strecken ersetzten nun auchFahrräder den Kutscher. Doch blieben Juden, vor al-lem als Unternehmer, im sich modernisierenden ost-europäischen Transportwesen präsent. Mit dem �Ho-locaust kam dieser Transformationsprozess zu einemvorzeitigen Ende.

Aufgrund seiner Prominenz im Transportwesenwurde der Balegule als Angehöriger einer eigenensozialen Gruppe wahrgenommen. Dazu trug auchbei, dass jüdische Kutscher einen eigenen Soziolektim Jiddischen verwendeten (balegule-loshn), der Wörterder Umgangssprache mit neuen, berufsspezifischenBedeutungen versah. Dazu zählten Wörter für Pferde(odler, wörtl.: Adler; khaye, wörtl.: Tier oder neveyle,wörtl.: Kadaver, was ein faules Tier beschrieb); Stutenwurden Mutter (mame) oder Schwester (shvester) ge-nannt. Der Balegule brachte auch Neuschöpfungenhervor. Der Fuhrmann selbst wurde durch eine Reihevon Wörtern (ferdman, furer, furman) bezeichnet, wäh-rend Fuchsland (fuksland) eine Wortprägung für einenweit entfernten Ort war. Ebenso dürften Redewen-dungen wie »Wenn man schmiert, dann fährt man«(Az me shmirt fort men) dieser Umgangssprache ent-stammen [9. 242]. Außerdem unterhielten Fuhrleuteoft gesonderte heilige Gesellschaften (h. evrot, �H. evraKaddisha) und �Synagogen.

In der jüdischen �Literatur, aber auch in Werkennichtjüdischer osteuropäischer Autoren ist der Ba-legule eine häufig präsente Figur. Simon Dubnowerwähnt in seinen Memoiren häufig Fahrten miteinem Balegule. Auch viele andere zeitgenössischeBeschreibungen und Erinnerungen thematisierendie starke Präsenz von Juden im Fuhrwesen, wobeisowohl positive wie negative Stereotypen herangezo-gen werden. Die romantisierende Beschreibung desgroßen, kräftigen, mit hohen Stiefeln, Pelzhut undPeitsche ausgestatteten jüdischen Fuhrmanns, derkeine physische Auseinandersetzung scheut, stellt

dabei auch ein Gegenbild zum schwachen, wehr-losen Talmudstudenten dar. Der polnische National-dichter Adam Mickiewicz erinnert sich in seinenMemoiren an Volkserzählungen, die ihm ein jüdi-scher Kutscher auf der Fahrt erzählte. Der Ethnologeund Schriftsteller Stanisl¡aw Vincenz beschreibt denBalegule im östlichen Galizien als sprachgewandtund die Fahrten mit ihm als zwar langsame, abergünstigste Art des Reisens. Dem steht die Charakte-risierung des Fuhrmanns als grob, ungebildet undignorant gegenüber, wie sie sich im 19. Jahrhundertunter Juden und Nichtjuden mit der steigenden Zahljüdischer Kutscher durchzusetzen begann. Der Kut-scherberuf wurde nun vor allem als ungelernte Be-schäftigung angesehen. Bisweilen wurden den jüdi-schen Fuhrleuten ein Hang zur Trunkenheit undVerbindungen zum organisierten Verbrechen nach-gesagt [5. 303 f.].

Der Balegule begegnet häufig in der jüdischen�Folklore, in Sprichwörtern und Volksliedern. In derErzählung Der rov un der balegule (Der Rabbiner undder Kutscher) tauschen ein ungebildeter Kutscherund sein Fahrgast, ein Rabbiner, die Kleider. Voneinem später hinzugestiegenen Fahrgast nach der Er-klärung einer Talmud-Passage gefragt, antwortet derfalsche Rabbiner, dass diese ja so einfach sei, dass siesogar der Balegule erläutern könne [10. 53]. Auch beimodernen Autoren tritt der literarische Typus desKutschers in Erscheinung, so in Scholem AlejchemsErzählungen Der farkishefter shnayder (dt. Der behexteSchneider, 1900) und Der gliklekhster in Kodne (dt.: Derglücklichste Mann in Kodno, 1909), aber auch in ei-nem Artikel Israel Joshua Singers, den er 1928 imamerikanischen �Forverts veröffentlichte [4]. Mit derMigration osteuropäischer Juden in die VereinigtenStaaten lebte die Figur des Balegule (nicht jedoch derBerufszweig) in der Literatur, im Theater und in Lie-dern auch im amerikanisch-jüdischen Kontext fort, soz.B. bei Abraham Cahan, der in seiner 1892 entstan-denen Erzählung Mottke Arbel un zayn shidekh (MottkeArbel und seine Heirat, engl. A Providential Match,1895) einen jüdischen Kutscher als ungebildete, grobePerson von niedriger sozialer Herkunft beschreibt.

[1] S. Aleichem, Der gliklekhster in Kodne, in: Ale Verk funSholem-Aleichem, Bd. 26: Ayzenbahn-Geshikhtes, New York1937, 23–38. [2] S. Aleichem, Der behexte Schneider, Berlin1969. [3] A. Cahan, A Providential Match, in: A. Cahan, TheImported Bridegroom, and other Stories of the New YorkGhetto, Boston/New York 1898. [4] G. Kuper [I. J. Singer],Der balegule un di boyd punkt wi mit hunderte johren zurik[Der Balegule und der Wagen genau wie vor 100 Jahren], in:Forverts, 24. Juni 1928.[5] Y. Eliach, There Once Was A World. A Nine-Hundred-Year Chronicle of the Shtetl of Eishyshok, Boston 1998.

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dominierten sie auch das Fuhrwesen. Im Ansied-lungsrayon gab es 1897 über 25000 jüdische Kut-scher; sie stellten damit ungefähr 20 Prozent der selb-ständigen Fuhrleute [8. 13].

Die Beschäftigung als Fuhrmann wurde oft inner-halb der Familie weitergegeben. Einen Wandel erfuhrder Sektor gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit demAusbau des Schienennetzes im Russischen Reich, daseine zunehmende Konkurrenz zu den Fuhrgeschäf-ten darstellte. Die Kutscher wichen auf abgelegeneStrecken sowie den Transport von und zur �Eisen-bahn aus; innerhalb der Städte blieb ihre Bedeutungjedoch ungebrochen. Die Motorisierung des Straßen-verkehrs in der Zwischenkriegszeit führte letztlichzum Niedergang des traditionellen jüdischen Fuhr-wesens. Auf kürzeren Strecken ersetzten nun auchFahrräder den Kutscher. Doch blieben Juden, vor al-lem als Unternehmer, im sich modernisierenden ost-europäischen Transportwesen präsent. Mit dem �Ho-locaust kam dieser Transformationsprozess zu einemvorzeitigen Ende.

Aufgrund seiner Prominenz im Transportwesenwurde der Balegule als Angehöriger einer eigenensozialen Gruppe wahrgenommen. Dazu trug auchbei, dass jüdische Kutscher einen eigenen Soziolektim Jiddischen verwendeten (balegule-loshn), der Wörterder Umgangssprache mit neuen, berufsspezifischenBedeutungen versah. Dazu zählten Wörter für Pferde(odler, wörtl.: Adler; khaye, wörtl.: Tier oder neveyle,wörtl.: Kadaver, was ein faules Tier beschrieb); Stutenwurden Mutter (mame) oder Schwester (shvester) ge-nannt. Der Balegule brachte auch Neuschöpfungenhervor. Der Fuhrmann selbst wurde durch eine Reihevon Wörtern (ferdman, furer, furman) bezeichnet, wäh-rend Fuchsland (fuksland) eine Wortprägung für einenweit entfernten Ort war. Ebenso dürften Redewen-dungen wie »Wenn man schmiert, dann fährt man«(Az me shmirt fort men) dieser Umgangssprache ent-stammen [9. 242]. Außerdem unterhielten Fuhrleuteoft gesonderte heilige Gesellschaften (h. evrot, �H. evraKaddisha) und �Synagogen.

In der jüdischen �Literatur, aber auch in Werkennichtjüdischer osteuropäischer Autoren ist der Ba-legule eine häufig präsente Figur. Simon Dubnowerwähnt in seinen Memoiren häufig Fahrten miteinem Balegule. Auch viele andere zeitgenössischeBeschreibungen und Erinnerungen thematisierendie starke Präsenz von Juden im Fuhrwesen, wobeisowohl positive wie negative Stereotypen herangezo-gen werden. Die romantisierende Beschreibung desgroßen, kräftigen, mit hohen Stiefeln, Pelzhut undPeitsche ausgestatteten jüdischen Fuhrmanns, derkeine physische Auseinandersetzung scheut, stellt

dabei auch ein Gegenbild zum schwachen, wehr-losen Talmudstudenten dar. Der polnische National-dichter Adam Mickiewicz erinnert sich in seinenMemoiren an Volkserzählungen, die ihm ein jüdi-scher Kutscher auf der Fahrt erzählte. Der Ethnologeund Schriftsteller Stanisl¡aw Vincenz beschreibt denBalegule im östlichen Galizien als sprachgewandtund die Fahrten mit ihm als zwar langsame, abergünstigste Art des Reisens. Dem steht die Charakte-risierung des Fuhrmanns als grob, ungebildet undignorant gegenüber, wie sie sich im 19. Jahrhundertunter Juden und Nichtjuden mit der steigenden Zahljüdischer Kutscher durchzusetzen begann. Der Kut-scherberuf wurde nun vor allem als ungelernte Be-schäftigung angesehen. Bisweilen wurden den jüdi-schen Fuhrleuten ein Hang zur Trunkenheit undVerbindungen zum organisierten Verbrechen nach-gesagt [5. 303 f.].

Der Balegule begegnet häufig in der jüdischen�Folklore, in Sprichwörtern und Volksliedern. In derErzählung Der rov un der balegule (Der Rabbiner undder Kutscher) tauschen ein ungebildeter Kutscherund sein Fahrgast, ein Rabbiner, die Kleider. Voneinem später hinzugestiegenen Fahrgast nach der Er-klärung einer Talmud-Passage gefragt, antwortet derfalsche Rabbiner, dass diese ja so einfach sei, dass siesogar der Balegule erläutern könne [10. 53]. Auch beimodernen Autoren tritt der literarische Typus desKutschers in Erscheinung, so in Scholem AlejchemsErzählungen Der farkishefter shnayder (dt. Der behexteSchneider, 1900) und Der gliklekhster in Kodne (dt.: Derglücklichste Mann in Kodno, 1909), aber auch in ei-nem Artikel Israel Joshua Singers, den er 1928 imamerikanischen �Forverts veröffentlichte [4]. Mit derMigration osteuropäischer Juden in die VereinigtenStaaten lebte die Figur des Balegule (nicht jedoch derBerufszweig) in der Literatur, im Theater und in Lie-dern auch im amerikanisch-jüdischen Kontext fort, soz.B. bei Abraham Cahan, der in seiner 1892 entstan-denen Erzählung Mottke Arbel un zayn shidekh (MottkeArbel und seine Heirat, engl. A Providential Match,1895) einen jüdischen Kutscher als ungebildete, grobePerson von niedriger sozialer Herkunft beschreibt.

[1] S. Aleichem, Der gliklekhster in Kodne, in: Ale Verk funSholem-Aleichem, Bd. 26: Ayzenbahn-Geshikhtes, New York1937, 23–38. [2] S. Aleichem, Der behexte Schneider, Berlin1969. [3] A. Cahan, A Providential Match, in: A. Cahan, TheImported Bridegroom, and other Stories of the New YorkGhetto, Boston/New York 1898. [4] G. Kuper [I. J. Singer],Der balegule un di boyd punkt wi mit hunderte johren zurik[Der Balegule und der Wagen genau wie vor 100 Jahren], in:Forverts, 24. Juni 1928.[5] Y. Eliach, There Once Was A World. A Nine-Hundred-Year Chronicle of the Shtetl of Eishyshok, Boston 1998.

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

35 Balegule Balegule

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seeligen Herrn Moses Mendelssohn, Berlin 1926 [Nachdruckd. Ausg. Berlin 1786]. [3] Jüdische Lesehalle und BibliothekBerlin (Hg.), Rückblick auf das erste Jahrzehnt der Lesehalle1895–1905, Berlin 1905. [4] Jüdische Lesehalle und BibliothekBerlin (Hg.), Bericht für das Jahr 1910, Berlin 1910. [5] I. Elbo-gen, Die Hochschule, ihre Entstehung und Entwicklung, in:Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums (Hg.), Fest-schrift zur Einweihung des eigenen Heims, Berlin am 22.Oktober 1907, Berlin 1902, 1–98. [6] G. Herlitz, Jüdische Ge-meindebibliotheken, in: Der Orden Bne Briss, Mitteilungender Großloge für Deutschland VIII U. O. B. B., Berlin 1928,170–173. [7] G. Herlitz, Jüdische Privatbibliotheken, in: DerOrden Bne Briss, Mitteilungen der Großloge für DeutschlandVIII U. O. B. B., Berlin 1929, 181–184. [8] H. Loewe, Jüdi-sches Bibliothekswesen im Lande Israel, Jerusalem 1922.[9] Soncino-Blätter. Beiträge zur Kunde des jüdischen Bu-ches, hg. v. der Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdi-schen Buches, Bd. 1: Berlin 1925 /26, Bd. 2: Berlin 1927,Bd. 3: Berlin 1929/30.[10] Art. »Bibliotheken«, in: Encyclopaedia Judaica, Bd. 4,Berlin 1929, 770–775. [11] V. Dahm, Das jüdische Buch imDritten Reich, München 21993. [12] P. Friedman, The Fate ofthe Jewish Book during the Nazi Era, in: Essays on JewishBooklore. Articles from the Jewish Book Annual, selected byP. Goodman, New York 1972, 112–122. [13] F. J. Hoogewoud,The Nazi Looting of Books and its American ›Antithesis‹.Selected Pictures from the Offenbach Archival Depotªs Photo-grahic History and its Supplement, in: Studia Rosenthaliana26 (1992), 158–192. [14] M. Kirchhoff, Häuser des Buches. Bil-der jüdischer Bibliotheken, Leipzig 2002. [15] M. Kirchhoff,Das Gedächtnis der »lost books«. Zu Raub und Restitutionjüdischer Bücher und Bibliotheken, in: Koordinierungsstellefür Kulturgutverluste (Hg.), Entehrt. Ausgeplündert. Ari-siert. Entrechtung und Enteignung der Juden, Magdeburg2005, 41–66. [16] K.-D. Lehmann, Es war der Versuch, eineganze Kultur zu beschlagnahmen. Beuteschriften: Zur Dis-kussion um Bücher aus jüdischem Eigentum in deutschenBibliotheken, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. April2003. [17] D. Miron, A Traveler Disguised. The Rise ofModern Yiddish Fiction in the Nineteenth Century, NewYork 1996. [18] G. Pickhan, »Gegen den Strom«. Der Allge-meine Jüdische Arbeiterbund »Bund« in Polen 1918–1939,Stuttgart/München 2001. [19] N.H. Roemer, Jewish Scholar-ship and Culture in Nineteenth-Century Germany. BetweenHistory and Faith, Madison 2005. [20] D. Schidorsky, DasSchicksal jüdischer Bibliotheken im Dritten Reich, in:P. Vodosek/M. Komorowski (Hg.), Bibliotheken währenddes Nationalsozialismus, Teil 2, Wiesbaden 1992, 189–222.[21] D. Schidorsky, The Emergence of Jewish Public Librariesin Nineteenth-Century Palestine, in: Libri 32 (1982), 1–40.[22] D. Schidorsky, The Origins of Jewish Workers' Librariesin Palestine, 1880–1920, in: Libraries & Culture 23 (1988), 39–60. [23] D. Shavit, The Emergence of Jewish Public Librariesin Tsarist Russia, in: Journal of Library History 20 (1985),239–252. [24] D. Shavit, Hunger for the Printed Word. Booksand Libraries in the Jewish Ghettos of Nazi-occupied Europe,Jefferson/London 1997. [25] I. Sonder u.a. (Hg.), »Wie würdeich ohne Bücher leben und arbeiten können?« Privatbiblio-theken jüdischer Intellektueller im 20. Jahrhundert, Berlin2008. [26] S. Werses, Portrait of the Maskil as a Young Man,in: S. Feiner /D. Sorkin (Hg.), New Perspektives on the Has-kalah, London/Portland 2001, 128–143.

Markus Kirchhoff, Leipzig

Biedermeier

Die Epoche des Biedermeier (1815–1848/1849) fiel mitdem Entstehen eines jüdischen Bürgertums imdeutschsprachigen Raum zusammen, dessen neuesSelbstverständnis sich auch in der bildenden Kunstartikulierte. Zu den bekanntesten jüdischen Malerndieser Zeit zählt Moritz Daniel Oppenheim (1800–1882). In seinem Werk spiegeln sich die Heraus-forderungen, denen sich die jüdische Gemeinschaftseit Beginn des 19. Jahrhunderts ausgesetzt sah, wo-bei ihm das Biedermeier mit seiner bevorzugten Dar-stellung der häuslichen Idylle im bürgerlichen MilieuGelegenheit zum künstlerischen Ausdruck bot.

Der für die Kunst und Literatur des Biedermeier ty-pische Rückzug ins Private und Häusliche entsprachdem politischen Klima, das seit dem �Wiener Kon-gress 1815 im Zeichen der Restauration der vornapo-leonischen Ordnung stand. In dieser Zeit entwickeltesich ein aufstrebendes, ökonomisch erfolgreiches�Bürgertum, in dem Juden überproportional zu ih-rem Anteil an der Gesamtbevölkerung vertreten wa-ren. Das neue jüdische Selbstbewusstsein fand seineVisualisierung in der bildenden Kunst der Epoche:Die typischen Alltagsdarstellungen des Biedermeier– zumeist Porträts und Genrebilder, in denen Szenenaus dem täglichen Leben mit moralischen Botschaftenzu Sittenbildern überhöht werden – brachten auchdie jüdische Innensicht vor dem Hintergrund derneu erworbenen bürgerlichen Zugehörigkeit zumAusdruck.

Seit dem 17. Jahrhundert begannen in den Gesell-schaften Europas, die Juden größere Freiheiten ein-räumten, auch jüdische Künstler sich zu entfalten. InAmsterdam wirkte in der ersten Hälfte des 17. Jahr-hunderts Salom Italia, der für seine Gravuren be-kannt war; in England machte sich zu Beginn des18. Jahrhunderts die Miniaturenmalerin Catherineda Costa einen Namen. Angesehene Maler im deut-schen Sprachgebiet waren seit der Mitte des 18. Jahr-hunderts Leo Pinhas, Hofmaler des Markgrafen vonAnsbach, Leos Sohn Salomo, der den preußischenKönig und dessen Familie porträtierte, oder Alexan-der Fiorino, der als Hofmaler in Dresden tätig war.Die Mehrzahl der bekannten deutsch-jüdischenKünstler beugte sich noch bis zur Mitte des 19. Jahr-hunderts dem gesellschaftlichen Druck und konver-tierte zum Christentum, so etwa die Brüder Philippund Jonas Veit, Eduard Julius Friedrich Bendemann,Eduard Magnus und Julius Muhr. Der Maler undGraphiker Moritz Daniel Oppenheim verweigertesich diesem Schritt. Er war der erste ungetaufte Jude,

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

dominierten sie auch das Fuhrwesen. Im Ansied-lungsrayon gab es 1897 über 25000 jüdische Kut-scher; sie stellten damit ungefähr 20 Prozent der selb-ständigen Fuhrleute [8. 13].

Die Beschäftigung als Fuhrmann wurde oft inner-halb der Familie weitergegeben. Einen Wandel erfuhrder Sektor gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit demAusbau des Schienennetzes im Russischen Reich, daseine zunehmende Konkurrenz zu den Fuhrgeschäf-ten darstellte. Die Kutscher wichen auf abgelegeneStrecken sowie den Transport von und zur �Eisen-bahn aus; innerhalb der Städte blieb ihre Bedeutungjedoch ungebrochen. Die Motorisierung des Straßen-verkehrs in der Zwischenkriegszeit führte letztlichzum Niedergang des traditionellen jüdischen Fuhr-wesens. Auf kürzeren Strecken ersetzten nun auchFahrräder den Kutscher. Doch blieben Juden, vor al-lem als Unternehmer, im sich modernisierenden ost-europäischen Transportwesen präsent. Mit dem �Ho-locaust kam dieser Transformationsprozess zu einemvorzeitigen Ende.

Aufgrund seiner Prominenz im Transportwesenwurde der Balegule als Angehöriger einer eigenensozialen Gruppe wahrgenommen. Dazu trug auchbei, dass jüdische Kutscher einen eigenen Soziolektim Jiddischen verwendeten (balegule-loshn), der Wörterder Umgangssprache mit neuen, berufsspezifischenBedeutungen versah. Dazu zählten Wörter für Pferde(odler, wörtl.: Adler; khaye, wörtl.: Tier oder neveyle,wörtl.: Kadaver, was ein faules Tier beschrieb); Stutenwurden Mutter (mame) oder Schwester (shvester) ge-nannt. Der Balegule brachte auch Neuschöpfungenhervor. Der Fuhrmann selbst wurde durch eine Reihevon Wörtern (ferdman, furer, furman) bezeichnet, wäh-rend Fuchsland (fuksland) eine Wortprägung für einenweit entfernten Ort war. Ebenso dürften Redewen-dungen wie »Wenn man schmiert, dann fährt man«(Az me shmirt fort men) dieser Umgangssprache ent-stammen [9. 242]. Außerdem unterhielten Fuhrleuteoft gesonderte heilige Gesellschaften (h. evrot, �H. evraKaddisha) und �Synagogen.

In der jüdischen �Literatur, aber auch in Werkennichtjüdischer osteuropäischer Autoren ist der Ba-legule eine häufig präsente Figur. Simon Dubnowerwähnt in seinen Memoiren häufig Fahrten miteinem Balegule. Auch viele andere zeitgenössischeBeschreibungen und Erinnerungen thematisierendie starke Präsenz von Juden im Fuhrwesen, wobeisowohl positive wie negative Stereotypen herangezo-gen werden. Die romantisierende Beschreibung desgroßen, kräftigen, mit hohen Stiefeln, Pelzhut undPeitsche ausgestatteten jüdischen Fuhrmanns, derkeine physische Auseinandersetzung scheut, stellt

dabei auch ein Gegenbild zum schwachen, wehr-losen Talmudstudenten dar. Der polnische National-dichter Adam Mickiewicz erinnert sich in seinenMemoiren an Volkserzählungen, die ihm ein jüdi-scher Kutscher auf der Fahrt erzählte. Der Ethnologeund Schriftsteller Stanisl¡aw Vincenz beschreibt denBalegule im östlichen Galizien als sprachgewandtund die Fahrten mit ihm als zwar langsame, abergünstigste Art des Reisens. Dem steht die Charakte-risierung des Fuhrmanns als grob, ungebildet undignorant gegenüber, wie sie sich im 19. Jahrhundertunter Juden und Nichtjuden mit der steigenden Zahljüdischer Kutscher durchzusetzen begann. Der Kut-scherberuf wurde nun vor allem als ungelernte Be-schäftigung angesehen. Bisweilen wurden den jüdi-schen Fuhrleuten ein Hang zur Trunkenheit undVerbindungen zum organisierten Verbrechen nach-gesagt [5. 303 f.].

Der Balegule begegnet häufig in der jüdischen�Folklore, in Sprichwörtern und Volksliedern. In derErzählung Der rov un der balegule (Der Rabbiner undder Kutscher) tauschen ein ungebildeter Kutscherund sein Fahrgast, ein Rabbiner, die Kleider. Voneinem später hinzugestiegenen Fahrgast nach der Er-klärung einer Talmud-Passage gefragt, antwortet derfalsche Rabbiner, dass diese ja so einfach sei, dass siesogar der Balegule erläutern könne [10. 53]. Auch beimodernen Autoren tritt der literarische Typus desKutschers in Erscheinung, so in Scholem AlejchemsErzählungen Der farkishefter shnayder (dt. Der behexteSchneider, 1900) und Der gliklekhster in Kodne (dt.: Derglücklichste Mann in Kodno, 1909), aber auch in ei-nem Artikel Israel Joshua Singers, den er 1928 imamerikanischen �Forverts veröffentlichte [4]. Mit derMigration osteuropäischer Juden in die VereinigtenStaaten lebte die Figur des Balegule (nicht jedoch derBerufszweig) in der Literatur, im Theater und in Lie-dern auch im amerikanisch-jüdischen Kontext fort, soz.B. bei Abraham Cahan, der in seiner 1892 entstan-denen Erzählung Mottke Arbel un zayn shidekh (MottkeArbel und seine Heirat, engl. A Providential Match,1895) einen jüdischen Kutscher als ungebildete, grobePerson von niedriger sozialer Herkunft beschreibt.

[1] S. Aleichem, Der gliklekhster in Kodne, in: Ale Verk funSholem-Aleichem, Bd. 26: Ayzenbahn-Geshikhtes, New York1937, 23–38. [2] S. Aleichem, Der behexte Schneider, Berlin1969. [3] A. Cahan, A Providential Match, in: A. Cahan, TheImported Bridegroom, and other Stories of the New YorkGhetto, Boston/New York 1898. [4] G. Kuper [I. J. Singer],Der balegule un di boyd punkt wi mit hunderte johren zurik[Der Balegule und der Wagen genau wie vor 100 Jahren], in:Forverts, 24. Juni 1928.[5] Y. Eliach, There Once Was A World. A Nine-Hundred-Year Chronicle of the Shtetl of Eishyshok, Boston 1998.

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

[6] J. Jacobson, Die Stellung der Juden in den 1793 und 1795von Preußen erworbenen polnischen Provinzen zur Zeit derBesitznahme, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissen-schaft des Judentums 64/65 (1920/21), 64: 209–226, 283–304;65: 42–70, 151–163, 221–245. [7] R. Mahler, Yidn in amoliknPoyln in likht fun tsifern. Di demografishe un sotsial-ekono-mishe struktur fun yidn in Kroyn-Poyln in xviii yorhundert[Die Juden im früheren Polen im Licht der Zahlen. Diedemographische und sozial-ökonomische Struktur derJuden in Kronpolen im 18. Jahrhundert], Warschau 1958.[8] R. Mahler, Yehude Polin ben shte milkhamot olam. His-torya kalkalit-sotsialit le-or statistika [Die polnischen Judenzwischen den Weltkriegen. Wirtschafts- und Sozialge-schichte im Licht der Statistik], Tel Aviv 1968.[9] M. Samuel, In Praise of Yiddish, New York 1971.[10] H. Schwarzbaum, Studies in Jewish and World Folklore,Berlin 1968.

Cornelia Aust, Jerusalem

Balfour-Deklaration

Die im November 1917 veröffentlichte Balfour-Dekla-ration ist Ausdruck der Mächtekonstellation des Ers-ten Weltkriegs. In der nach dem britischen Außen-minister benannten Erklärung sprach die britischeRegierung ihre Unterstützung des zionistischen Zielsaus, in Palästina eine »jüdische nationale Heimstätte«zu etablieren. Der zionistischen Bewegung galt dieErklärung als die lange ersehnte internationale Aner-kennung ihrer Bestrebungen. Dabei profitierte siedavon, dass die Kontrahenten des Ersten Weltkriegs,vor allem Großbritannien und Deutschland, in derAnnahme agierten, dem jüdischen Einfluss kämeweltweite Bedeutung zu. Insbesondere die britischePolitik maß dem Zionismus Gewicht für kurzfristigekriegstaktische wie langfristige imperiale Ziele bei.

1. Text und vçlkerrechtliche Relevanz2. J�dische Fragen im Ersten Weltkrieg3. Imperiale Erw�gungen4. J�dische und britische Zionisten

1. Text und vçlkerrechtliche Relevanz

Die Balfour-Deklaration wurde in Form eines Briefsdes britischen Außenministeriums erlassen. Daskurze Schreiben vom 2. November 1917 ist von Au-ßenminister Arthur James Balfour unterzeichnet undan Lord Lionel Walter Rothschild adressiert. Eröffnetwird der Brief mit der Mitteilung, dass die folgendeErklärung der »Sympathie mit jüdischen zionisti-schen Bestrebungen« dem britischen Kabinett vor-gelegen habe und von diesem bestätigt worden sei:»Die Regierung seiner Majestät betrachtet die Eta-blierung einer nationalen Heimstätte für das jüdischeVolk in Palästina mit Wohlwollen und wird ihre bes-

ten Bemühungen einsetzen, um das Erreichen diesesZiels zu fördern« [1. 143].

Die Deklaration vermied Festlegungen, die überdiese Zusage hinausgingen. Zwar war Großbritan-nien zu dieser Zeit im Begriff, Palästina zu erobern,vermochte aber nicht legitimerweise Ansprüche aufdieses Gebiet zu erheben. In Erwartung möglicherVerstimmungen unter den Alliierten traf die britischeRegierung in ihrer Erklärung keine Aussage über einezukünftige Herrschaft über Palästina. Vielmehrschränkte sie ihre Zusage noch im gleichen Satz inzweifacher Hinsicht ein: Mit der Etablierung der »jü-dischen nationalen Heimstätte« solle keinerlei Beein-trächtigung der bürgerlichen wie religiösen Rechteder ortsansässigen nichtjüdischen Einwohner einher-gehen. Des Weiteren dürfe aus der Unterstützung derAnsiedlung in Palästina keinerlei Beeinträchtigungder Rechte und des politischen Status der Juden an-dernorts resultieren.

Mit solchen vagen Formulierungen korrespondie-ren die formalen Eigenwilligkeiten der Deklaration.Für eine prozionistische Erklärung fehlte der briti-schen Politik ein Ansprechpartner, der als Repräsen-tant eines Staates oder einer Regierung hätte geltenkönnen. Die zionistische Bewegung wies keinen in-ternational anerkannten Status auf und hatte sichzudem zu Beginn des Weltkriegs für neutral erklärt.So wandte sich die britische Erklärung in einer An-gelegenheit von höchster politischer und internatio-naler Bedeutung an einen Angehörigen des eigenenStaats. Zwar war Lord Rothschild die dem Namennach wohl einflussreichste englisch-jüdische Persön-lichkeit, doch konnte er keineswegs als Sprecher allerbritischer Juden, geschweige denn der Juden weltweitgelten. Auch wenn Balfour den ihm freundschaftlichvertrauten Rothschild abschließend bat, die Erklä-rung zur Kenntnis der »Zionist Federation« zu brin-gen, ist damit nicht gänzlich klar, wer gemeint war.Dem Namen nach handelte es sich nicht um die Zio-nistische Organisation (�Basel), sondern um den Ver-band der britischen Zionisten (English Zionist Fede-ration) – demnach auch in dieser Hinsicht um eineinnerbritische Angelegenheit.

Gleichwohl war die internationale Wirkung derDeklaration immens: Indem die britische Regierungauch ihren Abdruck in der Presse, zuerst am 9. No-vember 1917, veranlasste, sprach sich erstmalig eineGroßmacht offiziell wie öffentlich für die Unterstüt-zung eines jüdischen Gemeinwesens in Palästina aus.Zionisten aller Länder reagierten euphorisch. Die De-klaration wurde als die lange ersehnte internationale,völkerrechtlich wirksame Anerkennung einer zionis-tischen Körperschaft gewertet, die bereits Theodor

243 Balfour-Deklaration

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

Biedermeier 36

Page 40: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur - ReadingSample

der es in der nichtjüdischen Welt des Biedermeier alsMaler zu Ansehen brachte.

Oppenheim wurde 1800 als Sohn einer ortho-doxen Familie in Hanau geboren. Eine künstlerischeAusbildung erhielt er zuerst in seiner Geburtsstadt,danach an der Akademie der Bildenden Künste inMünchen, von der er 17-jährig als »Wunderkind«aufgenommen wurde. Für einen ungetauften Judenwar die Zulassung zu einem solchen Studium in jenerZeit noch immer sehr ungewöhnlich. Es folgten Lehr-jahre in Paris und Rom. In Rom, wo er sich länger alsvier Jahre aufhielt, gehörte er zum Kreis der roman-tischen Schule der Nazarener. Während die vorwie-gend katholischen Mitglieder dieser Künstlergruppebevorzugt das »christliche« Rom studierten, verfer-tigte Oppenheim Zeichnungen und Studien aus demzeitgenössischen Alltagsleben im jüdischen Ghetto.1825 ließ er sich in Frankfurt am Main nieder, wo er1882 hoch geachtet starb. Ausdruck seines Ansehenswar unter anderem, dass er 1832 auf Betreiben Goe-thes von Erzherzog Karl Friedrich von Sachsen-Wei-mar-Eisenach zum Honorarprofessor ernannt wurde.

Oppenheim brachte es bereits als junger Mann mitseinen Porträts prominenter zeitgenössischer Judenund Christen zu großem Erfolg. Dieses Sujet genossAnfang des 19. Jahrhunderts hohe Wertschätzungund entsprach dem zunehmenden Wunsch des Bür-gertums nach Darstellung ihres Aufstiegs. In den1830er Jahren wurde Oppenheim offizieller Porträtistder �Rothschilds und führte fortan den Namen »Ma-ler der Rothschilds und Rothschild der Maler« [3. 75].Mit der wachsenden Zahl jüdischer Angehöriger desBürgertums, in dessen Umfeld das Biedermeier zurBlüte gelangte, nahmen auch Oppenheims Aufträgezu. Die Porträts jüdischer Persönlichkeiten erstreck-ten sich von mehr als 30 Gemälden und Zeichnungender Rothschilds über das strahlende, aber dennochernste Bildnis des berühmten Gelehrten und Grün-ders der �Wissenschaft des Judentums Leopold Zunz(um 1830) bis zu mehreren Porträts von HeinrichHeine (1830, 1831; �Entreebillet), Ludwig Börne (1827,1831, 1840; �Feuilleton), Gabriel Riesser (1838/1839,1840; �Paulskirche) und anderen. Zu den von Oppen-heim Porträtierten zählten auch die Kaiser Otto IV.(1840) und Joseph II. (1839/1840), von denen er jeweilsein Gemälde für den Kaisersaal im Frankfurter Römeranfertigte.

Während Oppenheims Porträts ihm zu Ruhm undeinem ständigen Einkommen verhalfen, war es seineGenremalerei, die bis heute über den Geist der Zeitund die Stellung der Juden Aufschluss gibt. SeineZeichnungen und Gemälde reichen von biblischenüber historische bis zu zeitgenössischen Motiven.

Seine frühe Darstellung David vor Saul, die Harfe spie-lend (1825/1826) erregte internationales Interesse. Diefrühe Zeichnung Die Rückkehr des verlorenen Sohnes(1824), für die er von der Accademia di San Luca inRom ausgezeichnet wurde, zeugt von seiner Offen-heit gegenüber unterschiedlichen Quellen – siestammten nicht nur aus der hebräischen Bibel (�Ta-nach), sondern auch aus dem Neuen Testament. DieseOffenheit steht für die Hoffnung, die Betonung derDifferenzen zwischen der jüdischen und der christli-chen Kultur könne einer aufgeklärten Haltung wei-chen. Das Bild Hauslehrer mit seinen Schülern (um 1828;vgl. Abb. S. 344) erfasst einenAspekt des aufstrebendenBürgertums: Zwei korrekt und gut gekleidete Brüderstehenneben ihrem elegantenHauslehrer, der einBün-del Papiere in einer Hand hält, möglicherweise seineUnterlagen für den Unterricht. Die Abgebildeten sindnicht eindeutig als Christen oder Juden zu identifizie-ren; so kann die Szene als Entwurf einer an �Bildungorientierten Gesellschaft gelesen werden, die keinenUnterschied zwischen Juden und Christen macht.Oppenheim übersah jedoch nicht den Druck, unterdem Juden standen, wenn sie in der christlichenGesell-schaft anerkannt werden wollten. Davon zeugt das1856 gemalte und auch als Kupferstich angefertigteBild Lavater und Lessing bei Moses Mendelssohn. Der gän-gige Titel und ein erster Blick auf das Bild legen nahe,dass Lessing mit Mendelssohn in angeregte, vielleichtdas Schachspiel betreffende Konversation vertieft amTisch sitzt. Die Anordnung der drei Personen bildetjedoch ein Spannungsverhältnis ab: WährendMendels-sohn etwas gebeugt auf der linken Seite sitzt, ist esLessing, der steht, und der protestantische TheologeLavater, der gegenüber Mendelssohn Platz genommenhat. Lavater berührt mit seiner Rechten Mendelssohnslinken Arm und versucht dessen Aufmerksamkeit aufeine Textstelle in einem offenen Buch zwischen ihnen– zweifelsohne eine Bibel – zu lenken. Es scheint sichum Lavaters berühmten Versuch zu handeln, Mendels-sohn zum »wahren Glauben« zu bekehren – eine Epi-sode, die als Lavater-Streit von 1769 bekannt wurde(�Biªur).

Ein weiteres Bild Oppenheims, Die Heimkehr desFreiwilligen aus den Befreiungskriegen zu den nach alterSitte lebenden Seinen (1833/1834), weist auf die Heraus-forderungen des modernen Lebens hin, mit denendas deutschsprachige Judentum konfrontiert war.Der visuelle Kontext, innerhalb dessen sich die Auf-merksamkeit fast aller Personen ehrerbietig auf denaus den Befreiungskriegen heimgekehrten unifor-mierten Soldaten richtet, ist eine behagliche bürger-liche Stube; ihre Wände sind mit Gegenständen ge-schmückt, die auch jedes andere christliche oder jü-

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

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Biedermeier

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dische Haus hätten zieren können. Auch das zentraleBleiglasfenster und der Leuchter verweisen auf eineassimilierte Umgebung.

Dennoch erinnern einige Details daran, dass essich hier um eine »nach alter Sitte« lebende Familiehandelt. Im Bücherregal auf der rechten, dem sitzen-den Soldaten gegenüberliegenden Seite stehen Bände,die ein Jude sogleich als �Talmud erkennt: großfor-matig, bräunlich und alt. Auf dem Bücherregal liegtetwas, das einem Palmwedel ähnelt und nahelegt,dass der Soldat zu Sukkot, dem herbstlichen Laub-hüttenfest (�Jahreslauf), nach Hause gekommen ist.Die einzige Figur, deren Aufmerksamkeit sich nichtdirekt auf den Soldaten richtet, ist ein Junge nebendem Bücherregal, dessen Kopf mit einer leuchtendroten Kippa bedeckt ist (er interessiert sich mehr fürden abseits an einen Stuhl gehängten Säbel des Sol-daten). Im Mittelpunkt des Bilds steht ein Kelch,wahrscheinlich für den Kiddusch-Wein, und beimBuch auf dem Tisch handelt es sich um einen Siddur

(Gebetbuch), einen Machsor (Festtagsgebetbuch) odereine Feiertagslektüre. All diese religiösen Gegen-stände bilden einen Kontrast zu der militärischenAuszeichnung an der Brust des Soldaten, die demEisernen Kreuz nachempfunden ist und die der Vaterargwöhnisch betrachtet. Das Gemälde bildet denKonflikt ab, in den jüdische Familien gerieten, wennihre Kinder Mitglieder der bisher gemiedenen christ-lichen Mehrheitsgesellschaft wurden; gleichzeitigwürdigt es den Beitrag deutscher Juden als aktiveTeilnehmer an den Befreiungskriegen. Fragen derTradition und �Assimilation, von Loyalität (zum Na-tionalstaat) und Verrat (an der Tradition) sind aufdem Bild ineinander verwoben. Die von Oppenheimgewählte Bildsprache folgt der biedermeierlichenPräferenz für häusliche und private Szenen, über-schreitet mit ihrem Inhalt aber zugleich das Gebotder Enthaltung von politischer Stellungnahme.

Oppenheims Sabbath-Nachmittag (um 1850; s. Abb.)bietet eine weitere genaue Betrachtung des Aufeinan-

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

Sabbath-Nachmittag, Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim (um 1850)

derprallens alter und neuer Welten. Der Schauplatzist erneut eine bürgerliche Stube. Ein Junge trägtseinem Großvater etwas vor, vielleicht seine Bar-Mizwa-Rede (�Bar/Bat Mizwa), während ein jungerMann der traditionellen Tätigkeit eines Schabbat-nachmittags, der Auslegung einer Seite aus der Ge-mara, nachgeht und darüber mit zwei jungen, eben-falls in ein Buch vertieften Frauen ins Gesprächkommt. Sowohl in der Bildkomposition als auch inder Liniengestaltung hat der Künstler das Gemäldein zwei Hälften aufgeteilt: Ein Bogen mit dunklerenFarben umschließt die dargestellten jungen Leute,während der Großvater sich aus diesem Halbkreiszurücklehnt und – im Kontrast dazu – helle Klei-dung trägt. Das Zurücklehnen des Großvaters wirdzusätzlich durch das Licht betont, das durch dasFenster fällt und den alten Mann in eine diffuseAura taucht. Aus dieser Perspektive scheint es eher,dass der kompositorisch vom Rest der Familie ge-trennte Großvater seinen Nachmittagsträumen überdie Vergangenheit nachhängt und nur wenig Zu-gang zur modernen Welt hat, wie sie von den Jungenrepräsentiert wird.

Dass es sich um die moderne Welt handelt, ver-deutlicht nicht nur der Schauplatz, der nicht dasLehrhaus oder das private Studierzimmer des jungenManns ist, sondern das auch Frauen zugänglicheWohnzimmer. Noch erstaunlicher: Die Gesprächs-partner des Studenten sind nicht etwa gelehrte oderzumindest männliche Kollegen, sondern Frauen, diesich in bürgerlicher Manier bilden. Während die Tra-dition die Anwesenheit von Frauen während des Stu-diums am �Schabbat ablehnte, bestand eine der In-novationen der im 19. Jahrhundert von Deutschlandausgehenden �Reform darin, Männer und Frauen amSchabbat zusammenzuführen, wie es überhaupt An-liegen der Reformbewegung war, die Geschlechter-schranken im Judentum abzubauen (�Meh. iza). Op-penheim hat einen Moment im Leben des jüdischenBürgertums seiner Zeit eingefangen, der die heimli-che Spannung zwischen der noch nicht vergessenen,auf das Ghetto zentrierten mittelalterlichen Welt undder verheißungsvollen Moderne wiedergibt, nach derso viele Juden strebten.

Der Erfolg dieses Gemäldes regte Oppenheim zueiner Reihe von Bildern zu Aspekten des jüdischenLebens seiner Zeit an, die ab 1866 als Reproduktionenunter dem Titel Bilder aus dem altjüdischen Familienlebenverlegt wurden [2]. Der Zyklus aus 20 Bildern, die alleaus der Zeit nach dem klassischen Biedermeier stam-men, aber sich weiterhin an dessen Bildsprache ori-entieren, behandelt in vier Themenkreisen (Lebens-lauf, Schabbat, Feiertage, Lebenssituationen) Szenen

der jüdischen Tradition. Als Oppenheim 1882 starb,hatte der Zyklus Eingang in viele Häuser des deutsch-jüdischen Bürgertums gefunden. Er erlebte mehrereAuflagen und avancierte bis zum Ersten Weltkrieg zueinem der am meisten gekauften Bücher unter dendeutschsprachigen Juden. Offensichtlich dienten Op-penheims Bilder dem nostalgischen Wunsch spätererGenerationen, sich an der zurückgelassenen traditio-nellen Lebenswelt zu erfreuen. Heute sind sie zu ei-nem Zeugnis geworden für die Spannung zwischenjüdischer Tradition und der Moderne, der sich diedeutschsprachigen Juden in der ersten Hälfte des19. Jahrhunderts ausgesetzt sahen.

[1] E. Cohen (Hg.), Moritz Oppenheim, The First JewishPainter, Jerusalem 1983. [2] R. Dröse u.a. (Hg.), DerZyklus »Bilder aus dem altjüdischen Familienleben« undsein Maler Moritz Daniel Oppenheim, Hanau 1996.[3] M.D. Oppenheim, Erinnerungen eines deutsch-jüdischenMalers, Heidelberg 1999.[4] G. Heuberger /A. Merk (Hg.), Moritz Daniel Oppenheim,Die Entdeckung des jüdischen Selbstbewusstseins in derKunst, Köln 1999. [5] I. Schorsch, Art as Social History.Moritz Oppenheim and the German Jewish Vision of Eman-cipation, in: I. Twersky (Hg.), Danzig, Between East andWest. Aspects of Modern Jewish History, Cambridge (MA)1985, 141–172.

Ori Z. Soltes, Washington D.C.

Bikkure ha-Ittim

Bikkure ha-Ittim (Die Erstlingsfrüchte) war ein hebrä-isches Jahrbuch der �Haskala aus Wien, das von 1820bis 1831 in zwölf Bänden erschien. Sein Erscheinenmarkiert die Verlagerung des Zentrums der hebrä-ischen Haskala-Literatur von Deutschland in dasHabsburgerreich. Bikkure ha-Ittim war das wichtigstehebräischsprachige Publikationsorgan seiner Zeitund entwickelte nachhaltigen Einfluss auf andere inhebräischer Sprache erscheinende Periodika der Ha-skala.

Die Initiative zum Druck einer Zeitschrift für dasaufgeklärte jüdische Lesepublikum ging von dem ka-tholischen Wiener Druckerei- und Schriftgießerei-besitzer Anton Schmid (1765–1855) aus. Schmid hatteeines der beiden großen Wiener Verlagshäuser über-nommen, die nach der Reglementierung des Buch-druckgewerbes (�Buchdruck) durch Erlass Kaiser Jo-sephs II. im November 1790 übrig geblieben waren.1800 wurde zudem zum Schutz vor ausländischerKonkurrenz die Einfuhr hebräischer Bücher nach Ös-terreich verboten. Für den Druck hebräischer Bücherbestand jedoch keine Beschränkung und so lag esnahe, dass Schmid ein unternehmerisches Interesse

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

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derprallens alter und neuer Welten. Der Schauplatzist erneut eine bürgerliche Stube. Ein Junge trägtseinem Großvater etwas vor, vielleicht seine Bar-Mizwa-Rede (�Bar/Bat Mizwa), während ein jungerMann der traditionellen Tätigkeit eines Schabbat-nachmittags, der Auslegung einer Seite aus der Ge-mara, nachgeht und darüber mit zwei jungen, eben-falls in ein Buch vertieften Frauen ins Gesprächkommt. Sowohl in der Bildkomposition als auch inder Liniengestaltung hat der Künstler das Gemäldein zwei Hälften aufgeteilt: Ein Bogen mit dunklerenFarben umschließt die dargestellten jungen Leute,während der Großvater sich aus diesem Halbkreiszurücklehnt und – im Kontrast dazu – helle Klei-dung trägt. Das Zurücklehnen des Großvaters wirdzusätzlich durch das Licht betont, das durch dasFenster fällt und den alten Mann in eine diffuseAura taucht. Aus dieser Perspektive scheint es eher,dass der kompositorisch vom Rest der Familie ge-trennte Großvater seinen Nachmittagsträumen überdie Vergangenheit nachhängt und nur wenig Zu-gang zur modernen Welt hat, wie sie von den Jungenrepräsentiert wird.

Dass es sich um die moderne Welt handelt, ver-deutlicht nicht nur der Schauplatz, der nicht dasLehrhaus oder das private Studierzimmer des jungenManns ist, sondern das auch Frauen zugänglicheWohnzimmer. Noch erstaunlicher: Die Gesprächs-partner des Studenten sind nicht etwa gelehrte oderzumindest männliche Kollegen, sondern Frauen, diesich in bürgerlicher Manier bilden. Während die Tra-dition die Anwesenheit von Frauen während des Stu-diums am �Schabbat ablehnte, bestand eine der In-novationen der im 19. Jahrhundert von Deutschlandausgehenden �Reform darin, Männer und Frauen amSchabbat zusammenzuführen, wie es überhaupt An-liegen der Reformbewegung war, die Geschlechter-schranken im Judentum abzubauen (�Meh. iza). Op-penheim hat einen Moment im Leben des jüdischenBürgertums seiner Zeit eingefangen, der die heimli-che Spannung zwischen der noch nicht vergessenen,auf das Ghetto zentrierten mittelalterlichen Welt undder verheißungsvollen Moderne wiedergibt, nach derso viele Juden strebten.

Der Erfolg dieses Gemäldes regte Oppenheim zueiner Reihe von Bildern zu Aspekten des jüdischenLebens seiner Zeit an, die ab 1866 als Reproduktionenunter dem Titel Bilder aus dem altjüdischen Familienlebenverlegt wurden [2]. Der Zyklus aus 20 Bildern, die alleaus der Zeit nach dem klassischen Biedermeier stam-men, aber sich weiterhin an dessen Bildsprache ori-entieren, behandelt in vier Themenkreisen (Lebens-lauf, Schabbat, Feiertage, Lebenssituationen) Szenen

der jüdischen Tradition. Als Oppenheim 1882 starb,hatte der Zyklus Eingang in viele Häuser des deutsch-jüdischen Bürgertums gefunden. Er erlebte mehrereAuflagen und avancierte bis zum Ersten Weltkrieg zueinem der am meisten gekauften Bücher unter dendeutschsprachigen Juden. Offensichtlich dienten Op-penheims Bilder dem nostalgischen Wunsch spätererGenerationen, sich an der zurückgelassenen traditio-nellen Lebenswelt zu erfreuen. Heute sind sie zu ei-nem Zeugnis geworden für die Spannung zwischenjüdischer Tradition und der Moderne, der sich diedeutschsprachigen Juden in der ersten Hälfte des19. Jahrhunderts ausgesetzt sahen.

[1] E. Cohen (Hg.), Moritz Oppenheim, The First JewishPainter, Jerusalem 1983. [2] R. Dröse u.a. (Hg.), DerZyklus »Bilder aus dem altjüdischen Familienleben« undsein Maler Moritz Daniel Oppenheim, Hanau 1996.[3] M.D. Oppenheim, Erinnerungen eines deutsch-jüdischenMalers, Heidelberg 1999.[4] G. Heuberger /A. Merk (Hg.), Moritz Daniel Oppenheim,Die Entdeckung des jüdischen Selbstbewusstseins in derKunst, Köln 1999. [5] I. Schorsch, Art as Social History.Moritz Oppenheim and the German Jewish Vision of Eman-cipation, in: I. Twersky (Hg.), Danzig, Between East andWest. Aspects of Modern Jewish History, Cambridge (MA)1985, 141–172.

Ori Z. Soltes, Washington D.C.

Bikkure ha-Ittim

Bikkure ha-Ittim (Die Erstlingsfrüchte) war ein hebrä-isches Jahrbuch der �Haskala aus Wien, das von 1820bis 1831 in zwölf Bänden erschien. Sein Erscheinenmarkiert die Verlagerung des Zentrums der hebrä-ischen Haskala-Literatur von Deutschland in dasHabsburgerreich. Bikkure ha-Ittim war das wichtigstehebräischsprachige Publikationsorgan seiner Zeitund entwickelte nachhaltigen Einfluss auf andere inhebräischer Sprache erscheinende Periodika der Ha-skala.

Die Initiative zum Druck einer Zeitschrift für dasaufgeklärte jüdische Lesepublikum ging von dem ka-tholischen Wiener Druckerei- und Schriftgießerei-besitzer Anton Schmid (1765–1855) aus. Schmid hatteeines der beiden großen Wiener Verlagshäuser über-nommen, die nach der Reglementierung des Buch-druckgewerbes (�Buchdruck) durch Erlass Kaiser Jo-sephs II. im November 1790 übrig geblieben waren.1800 wurde zudem zum Schutz vor ausländischerKonkurrenz die Einfuhr hebräischer Bücher nach Ös-terreich verboten. Für den Druck hebräischer Bücherbestand jedoch keine Beschränkung und so lag esnahe, dass Schmid ein unternehmerisches Interesse

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

derprallens alter und neuer Welten. Der Schauplatzist erneut eine bürgerliche Stube. Ein Junge trägtseinem Großvater etwas vor, vielleicht seine Bar-Mizwa-Rede (�Bar/Bat Mizwa), während ein jungerMann der traditionellen Tätigkeit eines Schabbat-nachmittags, der Auslegung einer Seite aus der Ge-mara, nachgeht und darüber mit zwei jungen, eben-falls in ein Buch vertieften Frauen ins Gesprächkommt. Sowohl in der Bildkomposition als auch inder Liniengestaltung hat der Künstler das Gemäldein zwei Hälften aufgeteilt: Ein Bogen mit dunklerenFarben umschließt die dargestellten jungen Leute,während der Großvater sich aus diesem Halbkreiszurücklehnt und – im Kontrast dazu – helle Klei-dung trägt. Das Zurücklehnen des Großvaters wirdzusätzlich durch das Licht betont, das durch dasFenster fällt und den alten Mann in eine diffuseAura taucht. Aus dieser Perspektive scheint es eher,dass der kompositorisch vom Rest der Familie ge-trennte Großvater seinen Nachmittagsträumen überdie Vergangenheit nachhängt und nur wenig Zu-gang zur modernen Welt hat, wie sie von den Jungenrepräsentiert wird.

Dass es sich um die moderne Welt handelt, ver-deutlicht nicht nur der Schauplatz, der nicht dasLehrhaus oder das private Studierzimmer des jungenManns ist, sondern das auch Frauen zugänglicheWohnzimmer. Noch erstaunlicher: Die Gesprächs-partner des Studenten sind nicht etwa gelehrte oderzumindest männliche Kollegen, sondern Frauen, diesich in bürgerlicher Manier bilden. Während die Tra-dition die Anwesenheit von Frauen während des Stu-diums am �Schabbat ablehnte, bestand eine der In-novationen der im 19. Jahrhundert von Deutschlandausgehenden �Reform darin, Männer und Frauen amSchabbat zusammenzuführen, wie es überhaupt An-liegen der Reformbewegung war, die Geschlechter-schranken im Judentum abzubauen (�Meh. iza). Op-penheim hat einen Moment im Leben des jüdischenBürgertums seiner Zeit eingefangen, der die heimli-che Spannung zwischen der noch nicht vergessenen,auf das Ghetto zentrierten mittelalterlichen Welt undder verheißungsvollen Moderne wiedergibt, nach derso viele Juden strebten.

Der Erfolg dieses Gemäldes regte Oppenheim zueiner Reihe von Bildern zu Aspekten des jüdischenLebens seiner Zeit an, die ab 1866 als Reproduktionenunter dem Titel Bilder aus dem altjüdischen Familienlebenverlegt wurden [2]. Der Zyklus aus 20 Bildern, die alleaus der Zeit nach dem klassischen Biedermeier stam-men, aber sich weiterhin an dessen Bildsprache ori-entieren, behandelt in vier Themenkreisen (Lebens-lauf, Schabbat, Feiertage, Lebenssituationen) Szenen

der jüdischen Tradition. Als Oppenheim 1882 starb,hatte der Zyklus Eingang in viele Häuser des deutsch-jüdischen Bürgertums gefunden. Er erlebte mehrereAuflagen und avancierte bis zum Ersten Weltkrieg zueinem der am meisten gekauften Bücher unter dendeutschsprachigen Juden. Offensichtlich dienten Op-penheims Bilder dem nostalgischen Wunsch spätererGenerationen, sich an der zurückgelassenen traditio-nellen Lebenswelt zu erfreuen. Heute sind sie zu ei-nem Zeugnis geworden für die Spannung zwischenjüdischer Tradition und der Moderne, der sich diedeutschsprachigen Juden in der ersten Hälfte des19. Jahrhunderts ausgesetzt sahen.

[1] E. Cohen (Hg.), Moritz Oppenheim, The First JewishPainter, Jerusalem 1983. [2] R. Dröse u.a. (Hg.), DerZyklus »Bilder aus dem altjüdischen Familienleben« undsein Maler Moritz Daniel Oppenheim, Hanau 1996.[3] M.D. Oppenheim, Erinnerungen eines deutsch-jüdischenMalers, Heidelberg 1999.[4] G. Heuberger /A. Merk (Hg.), Moritz Daniel Oppenheim,Die Entdeckung des jüdischen Selbstbewusstseins in derKunst, Köln 1999. [5] I. Schorsch, Art as Social History.Moritz Oppenheim and the German Jewish Vision of Eman-cipation, in: I. Twersky (Hg.), Danzig, Between East andWest. Aspects of Modern Jewish History, Cambridge (MA)1985, 141–172.

Ori Z. Soltes, Washington D.C.

Bikkure ha-Ittim

Bikkure ha-Ittim (Die Erstlingsfrüchte) war ein hebrä-isches Jahrbuch der �Haskala aus Wien, das von 1820bis 1831 in zwölf Bänden erschien. Sein Erscheinenmarkiert die Verlagerung des Zentrums der hebrä-ischen Haskala-Literatur von Deutschland in dasHabsburgerreich. Bikkure ha-Ittim war das wichtigstehebräischsprachige Publikationsorgan seiner Zeitund entwickelte nachhaltigen Einfluss auf andere inhebräischer Sprache erscheinende Periodika der Ha-skala.

Die Initiative zum Druck einer Zeitschrift für dasaufgeklärte jüdische Lesepublikum ging von dem ka-tholischen Wiener Druckerei- und Schriftgießerei-besitzer Anton Schmid (1765–1855) aus. Schmid hatteeines der beiden großen Wiener Verlagshäuser über-nommen, die nach der Reglementierung des Buch-druckgewerbes (�Buchdruck) durch Erlass Kaiser Jo-sephs II. im November 1790 übrig geblieben waren.1800 wurde zudem zum Schutz vor ausländischerKonkurrenz die Einfuhr hebräischer Bücher nach Ös-terreich verboten. Für den Druck hebräischer Bücherbestand jedoch keine Beschränkung und so lag esnahe, dass Schmid ein unternehmerisches Interesse

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

[5] P. Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, Mün-chen 1993. [6] W.G. Sebald, Austerlitz, Frankfurt a.M. 2006.[7] S. Steiner (Hg.), Jean Améry [Hans Maier]. Mit einem bio-graphischen Bildessay und einer aktualisierten Bibliogra-phie, Basel/Frankfurt a.M. 1996.[8] I. Heidelberger-Leonard (Hg.), Über Jean Améry, Heidel-berg 1990. [9] I. Heidelberger-Leonard, Jean Améry im Dialogmit der zeitgenössischen Literatur, Stuttgart 2002.[10] I. Heidelberger-Leonard, Jean Améry. Revolte in der Re-signation. Biographie, Stuttgart 2004. [11] G. Scheit, Nach-wort zu Jenseits von Schuld und Sühne, in: J. Améry, Werke,Bd. 2, Stuttgart 2002, 629–692. [12] G. Scheit, La torture et ladialectique. Jean Améry, Theodor W. Adorno et lªimpératifcatégorique après Auschwitz, in: J. Doll (Hg.), Jean Améry(1912–1978). De lªexpérience des camps à lªécriture engagée,Paris 2006, 85–102. [13] G. Scheit, Unruhe zwischen den Pro-jektionen. Zu den Romanen von Alfred Andersch – mit An-merkungen zu Jean Améry und Ernst Jünger, in: Text +Kritik, Nr. 180, September 2008, 18–32.

Gerhard Scheit, Wien

Bremerhaven

Mehr als 2,7 Millionen jüdische Emigranten verlie-ßen den europäischen Kontinent zwischen 1880 und1914 über Bremerhaven oder Hamburg. JüdischeDurchwanderer vor allem aus dem Russischen Reichschifften sich hier nach Nord- und Südamerika ein.Insbesondere der Hafen von Bremen wurde zumDurchgangspunkt eines komplexen, von deutschenBehörden und Schifffahrtsgesellschaften organisier-ten Auswanderungsverfahrens. Bremerhaven verkör-pert eine Erfahrung des Übergangs, die Millionen jü-discher Durchwanderer auf ihrem Weg in die NeueWelt machten.

1. Deutsche Auswandererh�fen2. »Gr�ne Grenze«3. Das System der deutschen Kontrollstationen4. Auswandererbahnhof Ruhleben5. In Bremen und Hamburg

1. Deutsche Auswandererh�fen

Die Bedeutung Bremerhavens als wichtiger europäi-scher Hafen hatte sich erhöht, nachdem die WeserAnfang des 19. Jahrhunderts für größere Schiffe un-befahrbar geworden war. Seitdem fungierte Bremer-haven als Hafen der 60 Kilometer südlich gelegenenStadt Bremen. Zwischen den 1830er und 1880er Jah-ren traten von hier aus tausende, meist deutsche Aus-wanderer die Reise nach Nord- und Südamerika an.Anlässe ihrer Auswanderung waren die auf die Revo-lution von 1848/1849 folgende Periode der politischenReaktion, die Verschärfung des wirtschaftlichenWettbewerbs im Zuge der Industrialisierung sowie

das Versprechen attraktiver Lebensumstände in derNeuen Welt. Seit den 1880er Jahren machten Durch-wanderer aus dem östlichen Europa das Gros derAuswanderer aus. Allein im Zeitraum von 1880 biszum Beginn des Ersten Weltkriegs verließen mehrals vier Millionen Auswanderer den europäischenKontinent Richtung �Amerika über Bremerhaven.1893 waren 50 Prozent der Auswanderer nicht ausDeutschland; nach 1900 waren es sogar 90 Prozent,die aus dem Russischen Reich und aus Österreich-Un-garn kamen.

Eine große Anzahl der Durchwanderer waren Ju-den. Insgesamt emigrierte zwischen 1880 und 1920etwa ein Drittel der jüdischen Bevölkerung des öst-lichen Europa. Im Jahr 1891 beispielsweise stelltenjüdische Auswanderer mehr als 91 Prozent allerEmigranten aus dem Russischen Reich [8. 24, 36f.].Ihre Lebensumstände im �Ansiedlungsrayon warengekennzeichnet durch rapiden Bevölkerungszuwachsbei gleichzeitig stagnierender ökonomischer Ent-wicklung. Antisemitismus, �Pogrome und die nachder Ermordung von Zar Alexander II. 1881 erlassenen�Maigesetze, die die rechtliche Situation der Juden inRussland weiter verschlechterten, verstärkten ihre Be-reitschaft zur Auswanderung. Zusätzlich bestärktensie die Werbeaktionen der großen Schifffahrtsgesell-schaften in ihrem Wunsch, den Verhältnissen im Za-renreich zu entkommen. Auch aus den östlichen Pro-vinzen des Habsburgerreichs und aus Rumänienmachten sich Emigranten auf den Weg, manche vonihnen – auf Jiddisch �Fusgeyer genannt – sogar zuFuß. Diese Entwicklung führte dazu, dass sich Bre-merhaven gemeinsam mit Hamburg zum wichtigstendeutschen Durchgangshafen für Millionen osteuro-päischer Juden entwickelte. Andere bedeutende euro-päische Auswandererhäfen waren Rotterdam, �Ant-werpen und �London.

2. »Gr�ne Grenze«

Die Emigration aus dem Zarenreich war mit erhebli-chen bürokratischen Hindernissen verbunden. Fürdie Auswanderung war eine Ausreisegenehmigungerforderlich, deren Beschaffung häufig bis zu dreiMonate in Anspruch nahm und für die bis zu 30Rubel zu entrichten waren. Dass die Genehmigungauch erteilt wurde, war nicht gewährleistet. DieGründe, derentwegen die Ausreise aus Russland ver-weigert werden konnte, waren vielfältig: die Geburteines Kindes mochte nicht ordnungsgemäß regis-triert sein oder der Tod eines männlichen Familien-angehörigen in wehrpflichtigem Alter nicht eindeu-tig belegt. Eine Alternative bestand in der Beantra-

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Bremerhaven

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[5] P. Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, Mün-chen 1993. [6] W.G. Sebald, Austerlitz, Frankfurt a.M. 2006.[7] S. Steiner (Hg.), Jean Améry [Hans Maier]. Mit einem bio-graphischen Bildessay und einer aktualisierten Bibliogra-phie, Basel/Frankfurt a.M. 1996.[8] I. Heidelberger-Leonard (Hg.), Über Jean Améry, Heidel-berg 1990. [9] I. Heidelberger-Leonard, Jean Améry im Dialogmit der zeitgenössischen Literatur, Stuttgart 2002.[10] I. Heidelberger-Leonard, Jean Améry. Revolte in der Re-signation. Biographie, Stuttgart 2004. [11] G. Scheit, Nach-wort zu Jenseits von Schuld und Sühne, in: J. Améry, Werke,Bd. 2, Stuttgart 2002, 629–692. [12] G. Scheit, La torture et ladialectique. Jean Améry, Theodor W. Adorno et lªimpératifcatégorique après Auschwitz, in: J. Doll (Hg.), Jean Améry(1912–1978). De lªexpérience des camps à lªécriture engagée,Paris 2006, 85–102. [13] G. Scheit, Unruhe zwischen den Pro-jektionen. Zu den Romanen von Alfred Andersch – mit An-merkungen zu Jean Améry und Ernst Jünger, in: Text +Kritik, Nr. 180, September 2008, 18–32.

Gerhard Scheit, Wien

Bremerhaven

Mehr als 2,7 Millionen jüdische Emigranten verlie-ßen den europäischen Kontinent zwischen 1880 und1914 über Bremerhaven oder Hamburg. JüdischeDurchwanderer vor allem aus dem Russischen Reichschifften sich hier nach Nord- und Südamerika ein.Insbesondere der Hafen von Bremen wurde zumDurchgangspunkt eines komplexen, von deutschenBehörden und Schifffahrtsgesellschaften organisier-ten Auswanderungsverfahrens. Bremerhaven verkör-pert eine Erfahrung des Übergangs, die Millionen jü-discher Durchwanderer auf ihrem Weg in die NeueWelt machten.

1. Deutsche Auswandererh�fen2. »Gr�ne Grenze«3. Das System der deutschen Kontrollstationen4. Auswandererbahnhof Ruhleben5. In Bremen und Hamburg

1. Deutsche Auswandererh�fen

Die Bedeutung Bremerhavens als wichtiger europäi-scher Hafen hatte sich erhöht, nachdem die WeserAnfang des 19. Jahrhunderts für größere Schiffe un-befahrbar geworden war. Seitdem fungierte Bremer-haven als Hafen der 60 Kilometer südlich gelegenenStadt Bremen. Zwischen den 1830er und 1880er Jah-ren traten von hier aus tausende, meist deutsche Aus-wanderer die Reise nach Nord- und Südamerika an.Anlässe ihrer Auswanderung waren die auf die Revo-lution von 1848/1849 folgende Periode der politischenReaktion, die Verschärfung des wirtschaftlichenWettbewerbs im Zuge der Industrialisierung sowie

das Versprechen attraktiver Lebensumstände in derNeuen Welt. Seit den 1880er Jahren machten Durch-wanderer aus dem östlichen Europa das Gros derAuswanderer aus. Allein im Zeitraum von 1880 biszum Beginn des Ersten Weltkriegs verließen mehrals vier Millionen Auswanderer den europäischenKontinent Richtung �Amerika über Bremerhaven.1893 waren 50 Prozent der Auswanderer nicht ausDeutschland; nach 1900 waren es sogar 90 Prozent,die aus dem Russischen Reich und aus Österreich-Un-garn kamen.

Eine große Anzahl der Durchwanderer waren Ju-den. Insgesamt emigrierte zwischen 1880 und 1920etwa ein Drittel der jüdischen Bevölkerung des öst-lichen Europa. Im Jahr 1891 beispielsweise stelltenjüdische Auswanderer mehr als 91 Prozent allerEmigranten aus dem Russischen Reich [8. 24, 36f.].Ihre Lebensumstände im �Ansiedlungsrayon warengekennzeichnet durch rapiden Bevölkerungszuwachsbei gleichzeitig stagnierender ökonomischer Ent-wicklung. Antisemitismus, �Pogrome und die nachder Ermordung von Zar Alexander II. 1881 erlassenen�Maigesetze, die die rechtliche Situation der Juden inRussland weiter verschlechterten, verstärkten ihre Be-reitschaft zur Auswanderung. Zusätzlich bestärktensie die Werbeaktionen der großen Schifffahrtsgesell-schaften in ihrem Wunsch, den Verhältnissen im Za-renreich zu entkommen. Auch aus den östlichen Pro-vinzen des Habsburgerreichs und aus Rumänienmachten sich Emigranten auf den Weg, manche vonihnen – auf Jiddisch �Fusgeyer genannt – sogar zuFuß. Diese Entwicklung führte dazu, dass sich Bre-merhaven gemeinsam mit Hamburg zum wichtigstendeutschen Durchgangshafen für Millionen osteuro-päischer Juden entwickelte. Andere bedeutende euro-päische Auswandererhäfen waren Rotterdam, �Ant-werpen und �London.

2. »Gr�ne Grenze«

Die Emigration aus dem Zarenreich war mit erhebli-chen bürokratischen Hindernissen verbunden. Fürdie Auswanderung war eine Ausreisegenehmigungerforderlich, deren Beschaffung häufig bis zu dreiMonate in Anspruch nahm und für die bis zu 30Rubel zu entrichten waren. Dass die Genehmigungauch erteilt wurde, war nicht gewährleistet. DieGründe, derentwegen die Ausreise aus Russland ver-weigert werden konnte, waren vielfältig: die Geburteines Kindes mochte nicht ordnungsgemäß regis-triert sein oder der Tod eines männlichen Familien-angehörigen in wehrpflichtigem Alter nicht eindeu-tig belegt. Eine Alternative bestand in der Beantra-

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[5] P. Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, Mün-chen 1993. [6] W.G. Sebald, Austerlitz, Frankfurt a.M. 2006.[7] S. Steiner (Hg.), Jean Améry [Hans Maier]. Mit einem bio-graphischen Bildessay und einer aktualisierten Bibliogra-phie, Basel/Frankfurt a.M. 1996.[8] I. Heidelberger-Leonard (Hg.), Über Jean Améry, Heidel-berg 1990. [9] I. Heidelberger-Leonard, Jean Améry im Dialogmit der zeitgenössischen Literatur, Stuttgart 2002.[10] I. Heidelberger-Leonard, Jean Améry. Revolte in der Re-signation. Biographie, Stuttgart 2004. [11] G. Scheit, Nach-wort zu Jenseits von Schuld und Sühne, in: J. Améry, Werke,Bd. 2, Stuttgart 2002, 629–692. [12] G. Scheit, La torture et ladialectique. Jean Améry, Theodor W. Adorno et lªimpératifcatégorique après Auschwitz, in: J. Doll (Hg.), Jean Améry(1912–1978). De lªexpérience des camps à lªécriture engagée,Paris 2006, 85–102. [13] G. Scheit, Unruhe zwischen den Pro-jektionen. Zu den Romanen von Alfred Andersch – mit An-merkungen zu Jean Améry und Ernst Jünger, in: Text +Kritik, Nr. 180, September 2008, 18–32.

Gerhard Scheit, Wien

Bremerhaven

Mehr als 2,7 Millionen jüdische Emigranten verlie-ßen den europäischen Kontinent zwischen 1880 und1914 über Bremerhaven oder Hamburg. JüdischeDurchwanderer vor allem aus dem Russischen Reichschifften sich hier nach Nord- und Südamerika ein.Insbesondere der Hafen von Bremen wurde zumDurchgangspunkt eines komplexen, von deutschenBehörden und Schifffahrtsgesellschaften organisier-ten Auswanderungsverfahrens. Bremerhaven verkör-pert eine Erfahrung des Übergangs, die Millionen jü-discher Durchwanderer auf ihrem Weg in die NeueWelt machten.

1. Deutsche Auswandererh�fen2. »Gr�ne Grenze«3. Das System der deutschen Kontrollstationen4. Auswandererbahnhof Ruhleben5. In Bremen und Hamburg

1. Deutsche Auswandererh�fen

Die Bedeutung Bremerhavens als wichtiger europäi-scher Hafen hatte sich erhöht, nachdem die WeserAnfang des 19. Jahrhunderts für größere Schiffe un-befahrbar geworden war. Seitdem fungierte Bremer-haven als Hafen der 60 Kilometer südlich gelegenenStadt Bremen. Zwischen den 1830er und 1880er Jah-ren traten von hier aus tausende, meist deutsche Aus-wanderer die Reise nach Nord- und Südamerika an.Anlässe ihrer Auswanderung waren die auf die Revo-lution von 1848/1849 folgende Periode der politischenReaktion, die Verschärfung des wirtschaftlichenWettbewerbs im Zuge der Industrialisierung sowie

das Versprechen attraktiver Lebensumstände in derNeuen Welt. Seit den 1880er Jahren machten Durch-wanderer aus dem östlichen Europa das Gros derAuswanderer aus. Allein im Zeitraum von 1880 biszum Beginn des Ersten Weltkriegs verließen mehrals vier Millionen Auswanderer den europäischenKontinent Richtung �Amerika über Bremerhaven.1893 waren 50 Prozent der Auswanderer nicht ausDeutschland; nach 1900 waren es sogar 90 Prozent,die aus dem Russischen Reich und aus Österreich-Un-garn kamen.

Eine große Anzahl der Durchwanderer waren Ju-den. Insgesamt emigrierte zwischen 1880 und 1920etwa ein Drittel der jüdischen Bevölkerung des öst-lichen Europa. Im Jahr 1891 beispielsweise stelltenjüdische Auswanderer mehr als 91 Prozent allerEmigranten aus dem Russischen Reich [8. 24, 36f.].Ihre Lebensumstände im �Ansiedlungsrayon warengekennzeichnet durch rapiden Bevölkerungszuwachsbei gleichzeitig stagnierender ökonomischer Ent-wicklung. Antisemitismus, �Pogrome und die nachder Ermordung von Zar Alexander II. 1881 erlassenen�Maigesetze, die die rechtliche Situation der Juden inRussland weiter verschlechterten, verstärkten ihre Be-reitschaft zur Auswanderung. Zusätzlich bestärktensie die Werbeaktionen der großen Schifffahrtsgesell-schaften in ihrem Wunsch, den Verhältnissen im Za-renreich zu entkommen. Auch aus den östlichen Pro-vinzen des Habsburgerreichs und aus Rumänienmachten sich Emigranten auf den Weg, manche vonihnen – auf Jiddisch �Fusgeyer genannt – sogar zuFuß. Diese Entwicklung führte dazu, dass sich Bre-merhaven gemeinsam mit Hamburg zum wichtigstendeutschen Durchgangshafen für Millionen osteuro-päischer Juden entwickelte. Andere bedeutende euro-päische Auswandererhäfen waren Rotterdam, �Ant-werpen und �London.

2. »Gr�ne Grenze«

Die Emigration aus dem Zarenreich war mit erhebli-chen bürokratischen Hindernissen verbunden. Fürdie Auswanderung war eine Ausreisegenehmigungerforderlich, deren Beschaffung häufig bis zu dreiMonate in Anspruch nahm und für die bis zu 30Rubel zu entrichten waren. Dass die Genehmigungauch erteilt wurde, war nicht gewährleistet. DieGründe, derentwegen die Ausreise aus Russland ver-weigert werden konnte, waren vielfältig: die Geburteines Kindes mochte nicht ordnungsgemäß regis-triert sein oder der Tod eines männlichen Familien-angehörigen in wehrpflichtigem Alter nicht eindeu-tig belegt. Eine Alternative bestand in der Beantra-

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

[5] P. Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, Mün-chen 1993. [6] W.G. Sebald, Austerlitz, Frankfurt a.M. 2006.[7] S. Steiner (Hg.), Jean Améry [Hans Maier]. Mit einem bio-graphischen Bildessay und einer aktualisierten Bibliogra-phie, Basel/Frankfurt a.M. 1996.[8] I. Heidelberger-Leonard (Hg.), Über Jean Améry, Heidel-berg 1990. [9] I. Heidelberger-Leonard, Jean Améry im Dialogmit der zeitgenössischen Literatur, Stuttgart 2002.[10] I. Heidelberger-Leonard, Jean Améry. Revolte in der Re-signation. Biographie, Stuttgart 2004. [11] G. Scheit, Nach-wort zu Jenseits von Schuld und Sühne, in: J. Améry, Werke,Bd. 2, Stuttgart 2002, 629–692. [12] G. Scheit, La torture et ladialectique. Jean Améry, Theodor W. Adorno et lªimpératifcatégorique après Auschwitz, in: J. Doll (Hg.), Jean Améry(1912–1978). De lªexpérience des camps à lªécriture engagée,Paris 2006, 85–102. [13] G. Scheit, Unruhe zwischen den Pro-jektionen. Zu den Romanen von Alfred Andersch – mit An-merkungen zu Jean Améry und Ernst Jünger, in: Text +Kritik, Nr. 180, September 2008, 18–32.

Gerhard Scheit, Wien

Bremerhaven

Mehr als 2,7 Millionen jüdische Emigranten verlie-ßen den europäischen Kontinent zwischen 1880 und1914 über Bremerhaven oder Hamburg. JüdischeDurchwanderer vor allem aus dem Russischen Reichschifften sich hier nach Nord- und Südamerika ein.Insbesondere der Hafen von Bremen wurde zumDurchgangspunkt eines komplexen, von deutschenBehörden und Schifffahrtsgesellschaften organisier-ten Auswanderungsverfahrens. Bremerhaven verkör-pert eine Erfahrung des Übergangs, die Millionen jü-discher Durchwanderer auf ihrem Weg in die NeueWelt machten.

1. Deutsche Auswandererh�fen2. »Gr�ne Grenze«3. Das System der deutschen Kontrollstationen4. Auswandererbahnhof Ruhleben5. In Bremen und Hamburg

1. Deutsche Auswandererh�fen

Die Bedeutung Bremerhavens als wichtiger europäi-scher Hafen hatte sich erhöht, nachdem die WeserAnfang des 19. Jahrhunderts für größere Schiffe un-befahrbar geworden war. Seitdem fungierte Bremer-haven als Hafen der 60 Kilometer südlich gelegenenStadt Bremen. Zwischen den 1830er und 1880er Jah-ren traten von hier aus tausende, meist deutsche Aus-wanderer die Reise nach Nord- und Südamerika an.Anlässe ihrer Auswanderung waren die auf die Revo-lution von 1848/1849 folgende Periode der politischenReaktion, die Verschärfung des wirtschaftlichenWettbewerbs im Zuge der Industrialisierung sowie

das Versprechen attraktiver Lebensumstände in derNeuen Welt. Seit den 1880er Jahren machten Durch-wanderer aus dem östlichen Europa das Gros derAuswanderer aus. Allein im Zeitraum von 1880 biszum Beginn des Ersten Weltkriegs verließen mehrals vier Millionen Auswanderer den europäischenKontinent Richtung �Amerika über Bremerhaven.1893 waren 50 Prozent der Auswanderer nicht ausDeutschland; nach 1900 waren es sogar 90 Prozent,die aus dem Russischen Reich und aus Österreich-Un-garn kamen.

Eine große Anzahl der Durchwanderer waren Ju-den. Insgesamt emigrierte zwischen 1880 und 1920etwa ein Drittel der jüdischen Bevölkerung des öst-lichen Europa. Im Jahr 1891 beispielsweise stelltenjüdische Auswanderer mehr als 91 Prozent allerEmigranten aus dem Russischen Reich [8. 24, 36f.].Ihre Lebensumstände im �Ansiedlungsrayon warengekennzeichnet durch rapiden Bevölkerungszuwachsbei gleichzeitig stagnierender ökonomischer Ent-wicklung. Antisemitismus, �Pogrome und die nachder Ermordung von Zar Alexander II. 1881 erlassenen�Maigesetze, die die rechtliche Situation der Juden inRussland weiter verschlechterten, verstärkten ihre Be-reitschaft zur Auswanderung. Zusätzlich bestärktensie die Werbeaktionen der großen Schifffahrtsgesell-schaften in ihrem Wunsch, den Verhältnissen im Za-renreich zu entkommen. Auch aus den östlichen Pro-vinzen des Habsburgerreichs und aus Rumänienmachten sich Emigranten auf den Weg, manche vonihnen – auf Jiddisch �Fusgeyer genannt – sogar zuFuß. Diese Entwicklung führte dazu, dass sich Bre-merhaven gemeinsam mit Hamburg zum wichtigstendeutschen Durchgangshafen für Millionen osteuro-päischer Juden entwickelte. Andere bedeutende euro-päische Auswandererhäfen waren Rotterdam, �Ant-werpen und �London.

2. »Gr�ne Grenze«

Die Emigration aus dem Zarenreich war mit erhebli-chen bürokratischen Hindernissen verbunden. Fürdie Auswanderung war eine Ausreisegenehmigungerforderlich, deren Beschaffung häufig bis zu dreiMonate in Anspruch nahm und für die bis zu 30Rubel zu entrichten waren. Dass die Genehmigungauch erteilt wurde, war nicht gewährleistet. DieGründe, derentwegen die Ausreise aus Russland ver-weigert werden konnte, waren vielfältig: die Geburteines Kindes mochte nicht ordnungsgemäß regis-triert sein oder der Tod eines männlichen Familien-angehörigen in wehrpflichtigem Alter nicht eindeu-tig belegt. Eine Alternative bestand in der Beantra-

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

gung der Ausreise bei Verzicht auf Rückkehr. Auchdiese Variante war problematisch, da ein Ausreisen-der dann nicht nach Russland zurückreisen konnte,wenn er (oder ein Familienmitglied) an einer Grenz-station, im Hafen oder bei der Einreise abgewiesenoder aus dem Zielland ausgewiesen wurde. In Anbe-tracht der mitunter ablehnenden Haltung von deut-schen und amerikanischen Behörden gegenüber ost-europäischen Migranten war es ein erhebliches Risi-ko, sich mit solchen Papieren auf den Weg zu ma-chen. Aufgrund solcher Schwierigkeiten verließentausende russischer Flüchtlinge das Zarenreich illegalund betraten das Deutsche Reich über die grüneGrenze.

Illegale Einwanderer umgingen auf diesem Wegdie Kontrolle preußischer Behörden, die in den spä-ten 1880er Jahren damit begannen, Einreisende aufihre Gesundheit und finanzielle Absicherung hin zuuntersuchen. Ein Netz von Agenten undUnteragentenentstand, die aus der Auswanderung ein Geschäftmachten, indem sie Flüchtlinge über die grüne Grenzelotsten. Dazu mussten sich die Auswanderungswil-ligen in einer grenznahen Unterkunft einfinden.Wenn dort ausreichend Personen zusammengekom-men waren, bestach der Agent einen Grenzbeamten,damit dieser seinen Posten vorübergehend verließ unddie illegalen Migranten die Grenze passieren konnten.Selbst wenn sich Beamte bestechen ließen, konnte dasProcedere des Grenzübertritts bis zu 15 Stunden dau-ern. Auch mit ortskundiger Führung bestand jederzeitdie Gefahr der Entdeckung durch die Behörden. Zu-dem waren die Auswanderer den Agenten ausgeliefert,die ausnutzten, dass sich der Übertritt in der Illegalitätvollzog. So blieb den Emigranten oft nichts anderesübrig, als die preisliche Willkür der Schleuser hin-zunehmen [2. 234–237].

3. Das System der deutschen Kontrollstationen

Deutsche Behörden, insbesondere die preußischen,beobachteten die seit den 1880er Jahren anschwel-lende Auswanderung über deutsches Gebiet mit zu-nehmender Sorge. Sie argwöhnten, dass Durchwan-derer entweder nicht bereit oder nicht imstande seinkönnten, die lange und kostspielige Reise nach Über-see anzutreten, und sie sich deshalb in Deutschlandansiedeln würden. Sie befürchteten ferner, dass dieosteuropäischen Migranten, vor allem Juden aus demRussischen Reich, mittellos wären, mit Krankheitenbehaftet seien und somit potentiell zu einer Belas-tung der Öffentlichkeit zu werden drohten. Da Preu-ßen als einziger deutscher Staat eine Grenze mitRussland teilte, ergriff er die Initiative, wenn es dar-

um ging, die Durchwanderung von Ausländern zubeschränken. Durchreisende aus Österreich-Ungarnwurden in deutlich geringerem Maß als Risiko einge-stuft.

Vor 1892 war Preußen in erster Linie bestrebt ge-wesen, wirtschaftlich minderbemittelte Zuwandereran der Einreise zu hindern. Zu diesem Zweck hattendie preußischen Behörden Grenzstationen errichtet,an denen die Einreisenden befragt und gegebenen-falls zurückgewiesen wurden. Bis 1882 bestanden sol-che Grenzstationen u.a. in Myslowitz, Illowo, Prost-ken und Tilsit. Hier mussten die Emigranten nach-weisen, dass sie über die erforderlichen Reisemittelverfügten. Ein preußisches Gesetz von 1887 legte fest,dass jeder einreisende Erwachsene mindestens 400Mark mit sich führen musste (jedes Kind 100 Mark),was weitaus mehr war, als die meisten Durchwan-derer vorweisen konnten. Diese Bestimmung wurdeaußer Kraft gesetzt, wenn die Einreisewilligen Bord-karten einer der großen deutschen Schifffahrtsgesell-schaften für die Ausreise über Bremerhaven oderHamburg vorweisen konnten. Solche Bordkarten wa-ren bei Agenten im ganzen östlichen Europa oderdirekt an den Grenzstationen zu erwerben. Auf dieseWeise erhielten die beiden großen Schifffahrtsgesell-schaften, die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG, später Hamburg-Ame-rika Linie) und der Norddeutsche Lloyd mit Sitz inBremen, bereits in den 1880er Jahren immer mehrEinfluss und Kontrolle über die Durchwanderer.

Die Sorge deutscher wie amerikanischer Behördenvor der Ausbreitung von Krankheiten bewirkte nach1892 eine Änderung der bestehenden Regularien.Nachdem in Russland die Cholera ausgebrochen warund die Epidemie im Herbst 1892 auch im Umkreisdes Hamburger Hafens über 8000 Menschenlebengefordert hatte, wurden die Vorschriften verschärft.Eine Gruppe von russischen Durchwanderern wurdebeschuldigt, die tödliche Krankheit eingeschleppt zuhaben, woraufhin Preußen seine Grenze zu Russlandfür nahezu zwei Jahre schloss. Dagegen erhoben so-wohl die HAPAG als auch der Lloyd Einspruch. BeideReedereien machten geltend, dass im Jahr 1891 na-hezu 100000 Emigranten aus Russland über Bremer-haven und Hamburg ausgereist waren; nachdemPreußen die Grenze geschlossen hatte, sei ihnen einVerlust von acht bis neun Millionen Mark entstanden.Ferner wiesen sie darauf hin, dass die Schließung derGrenze die illegale Einreise nach Deutschland nichtunterbunden habe, sondern dass sich weiterhin täg-lich hunderte von russischen Durchwanderern imHafen eingefunden und das Gesundheitsrisiko nocherhöht hätten. Die Schifffahrtsgesellschaften schlu-

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gen vor, an den deutschen Grenzen ein effektiveresKontrollsystem einzuführen, um nach festen Krite-rien zu entscheiden, wer einreisen dürfe und wernicht.

Ende 1894 wurde daraufhin die Einreise wiederaufgenommen. Die Kosten für den Unterhalt derDurchwanderer auf deutschem Boden wurden aufdie Schifffahrtsgesellschaften übertragen. Darin inbe-griffen waren an der Kontrollstation zu entrichtendeGebühren, der Transfer zum Hafen und die Unter-bringung bis zur Abfahrt des Schiffs. Die HAPAG undder Lloyd waren auch für die Rückführung von Mi-granten zuständig, denen die Einreise verweigertworden war. 1891 hatten die Vereinigten Staaten ihreEinwanderungsbestimmungen verschärft. Wer vonden US-amerikanischen Einreisebehörden abgewie-sen wurde, musste auf Kosten der Schifffahrtsgesell-schaften zum Ausgangsort zurücktransportiert wer-den. Die Ausgaben dafür wurden durch die aus dem

Auswandererverkehr erzielten Gewinne jedoch mehrals aufgewogen. Auch für die Schifffahrtsgesellschaf-ten war es von Vorteil, wenn die Kontrolle der Aus-wanderer stattfand, bevor diese an Bord gingen.

Zusätzlich wurden neue Kontrollstationen einge-richtet oder modernisiert, darunter Bajohren, Eydt-kuhnen, Prostken, Illowo und Ottlotschin, die meis-ten von ihnen an der preußisch-russischen Grenze(s. Karte). 1911 bestanden an der Grenze zu Russlandund zu Österreich zehn Hauptstationen. Dort wurdendie Emigranten auf ihren Gesundheitszustand hinuntersucht, Menschen und Gepäck wurden desinfi-ziert. Die Unterbringung der Durchwanderer in denKontrollpunkten war unterschiedlich geregelt. InOttlotschin gab es beispielsweise keine Schlafsäle,die Auswanderer mussten sich mit dem blanken Fuß-boden begnügen. Alle Grenzstationen waren um-zäunt und hatten verschlossene Tore, wodurch dieInsassen häufig den Eindruck gewannen, sie seien in

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System der Kontroll- und Registrierstationen für Auswanderer aus dem Russischen Reich und Österreich-Ungarn sowie ihreReiserouten nach Hamburg und Bremerhaven, um 1905

gung der Ausreise bei Verzicht auf Rückkehr. Auchdiese Variante war problematisch, da ein Ausreisen-der dann nicht nach Russland zurückreisen konnte,wenn er (oder ein Familienmitglied) an einer Grenz-station, im Hafen oder bei der Einreise abgewiesenoder aus dem Zielland ausgewiesen wurde. In Anbe-tracht der mitunter ablehnenden Haltung von deut-schen und amerikanischen Behörden gegenüber ost-europäischen Migranten war es ein erhebliches Risi-ko, sich mit solchen Papieren auf den Weg zu ma-chen. Aufgrund solcher Schwierigkeiten verließentausende russischer Flüchtlinge das Zarenreich illegalund betraten das Deutsche Reich über die grüneGrenze.

Illegale Einwanderer umgingen auf diesem Wegdie Kontrolle preußischer Behörden, die in den spä-ten 1880er Jahren damit begannen, Einreisende aufihre Gesundheit und finanzielle Absicherung hin zuuntersuchen. Ein Netz von Agenten undUnteragentenentstand, die aus der Auswanderung ein Geschäftmachten, indem sie Flüchtlinge über die grüne Grenzelotsten. Dazu mussten sich die Auswanderungswil-ligen in einer grenznahen Unterkunft einfinden.Wenn dort ausreichend Personen zusammengekom-men waren, bestach der Agent einen Grenzbeamten,damit dieser seinen Posten vorübergehend verließ unddie illegalen Migranten die Grenze passieren konnten.Selbst wenn sich Beamte bestechen ließen, konnte dasProcedere des Grenzübertritts bis zu 15 Stunden dau-ern. Auch mit ortskundiger Führung bestand jederzeitdie Gefahr der Entdeckung durch die Behörden. Zu-dem waren die Auswanderer den Agenten ausgeliefert,die ausnutzten, dass sich der Übertritt in der Illegalitätvollzog. So blieb den Emigranten oft nichts anderesübrig, als die preisliche Willkür der Schleuser hin-zunehmen [2. 234–237].

3. Das System der deutschen Kontrollstationen

Deutsche Behörden, insbesondere die preußischen,beobachteten die seit den 1880er Jahren anschwel-lende Auswanderung über deutsches Gebiet mit zu-nehmender Sorge. Sie argwöhnten, dass Durchwan-derer entweder nicht bereit oder nicht imstande seinkönnten, die lange und kostspielige Reise nach Über-see anzutreten, und sie sich deshalb in Deutschlandansiedeln würden. Sie befürchteten ferner, dass dieosteuropäischen Migranten, vor allem Juden aus demRussischen Reich, mittellos wären, mit Krankheitenbehaftet seien und somit potentiell zu einer Belas-tung der Öffentlichkeit zu werden drohten. Da Preu-ßen als einziger deutscher Staat eine Grenze mitRussland teilte, ergriff er die Initiative, wenn es dar-

um ging, die Durchwanderung von Ausländern zubeschränken. Durchreisende aus Österreich-Ungarnwurden in deutlich geringerem Maß als Risiko einge-stuft.

Vor 1892 war Preußen in erster Linie bestrebt ge-wesen, wirtschaftlich minderbemittelte Zuwandereran der Einreise zu hindern. Zu diesem Zweck hattendie preußischen Behörden Grenzstationen errichtet,an denen die Einreisenden befragt und gegebenen-falls zurückgewiesen wurden. Bis 1882 bestanden sol-che Grenzstationen u.a. in Myslowitz, Illowo, Prost-ken und Tilsit. Hier mussten die Emigranten nach-weisen, dass sie über die erforderlichen Reisemittelverfügten. Ein preußisches Gesetz von 1887 legte fest,dass jeder einreisende Erwachsene mindestens 400Mark mit sich führen musste (jedes Kind 100 Mark),was weitaus mehr war, als die meisten Durchwan-derer vorweisen konnten. Diese Bestimmung wurdeaußer Kraft gesetzt, wenn die Einreisewilligen Bord-karten einer der großen deutschen Schifffahrtsgesell-schaften für die Ausreise über Bremerhaven oderHamburg vorweisen konnten. Solche Bordkarten wa-ren bei Agenten im ganzen östlichen Europa oderdirekt an den Grenzstationen zu erwerben. Auf dieseWeise erhielten die beiden großen Schifffahrtsgesell-schaften, die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG, später Hamburg-Ame-rika Linie) und der Norddeutsche Lloyd mit Sitz inBremen, bereits in den 1880er Jahren immer mehrEinfluss und Kontrolle über die Durchwanderer.

Die Sorge deutscher wie amerikanischer Behördenvor der Ausbreitung von Krankheiten bewirkte nach1892 eine Änderung der bestehenden Regularien.Nachdem in Russland die Cholera ausgebrochen warund die Epidemie im Herbst 1892 auch im Umkreisdes Hamburger Hafens über 8000 Menschenlebengefordert hatte, wurden die Vorschriften verschärft.Eine Gruppe von russischen Durchwanderern wurdebeschuldigt, die tödliche Krankheit eingeschleppt zuhaben, woraufhin Preußen seine Grenze zu Russlandfür nahezu zwei Jahre schloss. Dagegen erhoben so-wohl die HAPAG als auch der Lloyd Einspruch. BeideReedereien machten geltend, dass im Jahr 1891 na-hezu 100000 Emigranten aus Russland über Bremer-haven und Hamburg ausgereist waren; nachdemPreußen die Grenze geschlossen hatte, sei ihnen einVerlust von acht bis neun Millionen Mark entstanden.Ferner wiesen sie darauf hin, dass die Schließung derGrenze die illegale Einreise nach Deutschland nichtunterbunden habe, sondern dass sich weiterhin täg-lich hunderte von russischen Durchwanderern imHafen eingefunden und das Gesundheitsrisiko nocherhöht hätten. Die Schifffahrtsgesellschaften schlu-

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

gung der Ausreise bei Verzicht auf Rückkehr. Auchdiese Variante war problematisch, da ein Ausreisen-der dann nicht nach Russland zurückreisen konnte,wenn er (oder ein Familienmitglied) an einer Grenz-station, im Hafen oder bei der Einreise abgewiesenoder aus dem Zielland ausgewiesen wurde. In Anbe-tracht der mitunter ablehnenden Haltung von deut-schen und amerikanischen Behörden gegenüber ost-europäischen Migranten war es ein erhebliches Risi-ko, sich mit solchen Papieren auf den Weg zu ma-chen. Aufgrund solcher Schwierigkeiten verließentausende russischer Flüchtlinge das Zarenreich illegalund betraten das Deutsche Reich über die grüneGrenze.

Illegale Einwanderer umgingen auf diesem Wegdie Kontrolle preußischer Behörden, die in den spä-ten 1880er Jahren damit begannen, Einreisende aufihre Gesundheit und finanzielle Absicherung hin zuuntersuchen. Ein Netz von Agenten undUnteragentenentstand, die aus der Auswanderung ein Geschäftmachten, indem sie Flüchtlinge über die grüne Grenzelotsten. Dazu mussten sich die Auswanderungswil-ligen in einer grenznahen Unterkunft einfinden.Wenn dort ausreichend Personen zusammengekom-men waren, bestach der Agent einen Grenzbeamten,damit dieser seinen Posten vorübergehend verließ unddie illegalen Migranten die Grenze passieren konnten.Selbst wenn sich Beamte bestechen ließen, konnte dasProcedere des Grenzübertritts bis zu 15 Stunden dau-ern. Auch mit ortskundiger Führung bestand jederzeitdie Gefahr der Entdeckung durch die Behörden. Zu-dem waren die Auswanderer den Agenten ausgeliefert,die ausnutzten, dass sich der Übertritt in der Illegalitätvollzog. So blieb den Emigranten oft nichts anderesübrig, als die preisliche Willkür der Schleuser hin-zunehmen [2. 234–237].

3. Das System der deutschen Kontrollstationen

Deutsche Behörden, insbesondere die preußischen,beobachteten die seit den 1880er Jahren anschwel-lende Auswanderung über deutsches Gebiet mit zu-nehmender Sorge. Sie argwöhnten, dass Durchwan-derer entweder nicht bereit oder nicht imstande seinkönnten, die lange und kostspielige Reise nach Über-see anzutreten, und sie sich deshalb in Deutschlandansiedeln würden. Sie befürchteten ferner, dass dieosteuropäischen Migranten, vor allem Juden aus demRussischen Reich, mittellos wären, mit Krankheitenbehaftet seien und somit potentiell zu einer Belas-tung der Öffentlichkeit zu werden drohten. Da Preu-ßen als einziger deutscher Staat eine Grenze mitRussland teilte, ergriff er die Initiative, wenn es dar-

um ging, die Durchwanderung von Ausländern zubeschränken. Durchreisende aus Österreich-Ungarnwurden in deutlich geringerem Maß als Risiko einge-stuft.

Vor 1892 war Preußen in erster Linie bestrebt ge-wesen, wirtschaftlich minderbemittelte Zuwandereran der Einreise zu hindern. Zu diesem Zweck hattendie preußischen Behörden Grenzstationen errichtet,an denen die Einreisenden befragt und gegebenen-falls zurückgewiesen wurden. Bis 1882 bestanden sol-che Grenzstationen u.a. in Myslowitz, Illowo, Prost-ken und Tilsit. Hier mussten die Emigranten nach-weisen, dass sie über die erforderlichen Reisemittelverfügten. Ein preußisches Gesetz von 1887 legte fest,dass jeder einreisende Erwachsene mindestens 400Mark mit sich führen musste (jedes Kind 100 Mark),was weitaus mehr war, als die meisten Durchwan-derer vorweisen konnten. Diese Bestimmung wurdeaußer Kraft gesetzt, wenn die Einreisewilligen Bord-karten einer der großen deutschen Schifffahrtsgesell-schaften für die Ausreise über Bremerhaven oderHamburg vorweisen konnten. Solche Bordkarten wa-ren bei Agenten im ganzen östlichen Europa oderdirekt an den Grenzstationen zu erwerben. Auf dieseWeise erhielten die beiden großen Schifffahrtsgesell-schaften, die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG, später Hamburg-Ame-rika Linie) und der Norddeutsche Lloyd mit Sitz inBremen, bereits in den 1880er Jahren immer mehrEinfluss und Kontrolle über die Durchwanderer.

Die Sorge deutscher wie amerikanischer Behördenvor der Ausbreitung von Krankheiten bewirkte nach1892 eine Änderung der bestehenden Regularien.Nachdem in Russland die Cholera ausgebrochen warund die Epidemie im Herbst 1892 auch im Umkreisdes Hamburger Hafens über 8000 Menschenlebengefordert hatte, wurden die Vorschriften verschärft.Eine Gruppe von russischen Durchwanderern wurdebeschuldigt, die tödliche Krankheit eingeschleppt zuhaben, woraufhin Preußen seine Grenze zu Russlandfür nahezu zwei Jahre schloss. Dagegen erhoben so-wohl die HAPAG als auch der Lloyd Einspruch. BeideReedereien machten geltend, dass im Jahr 1891 na-hezu 100000 Emigranten aus Russland über Bremer-haven und Hamburg ausgereist waren; nachdemPreußen die Grenze geschlossen hatte, sei ihnen einVerlust von acht bis neun Millionen Mark entstanden.Ferner wiesen sie darauf hin, dass die Schließung derGrenze die illegale Einreise nach Deutschland nichtunterbunden habe, sondern dass sich weiterhin täg-lich hunderte von russischen Durchwanderern imHafen eingefunden und das Gesundheitsrisiko nocherhöht hätten. Die Schifffahrtsgesellschaften schlu-

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

gung der Ausreise bei Verzicht auf Rückkehr. Auchdiese Variante war problematisch, da ein Ausreisen-der dann nicht nach Russland zurückreisen konnte,wenn er (oder ein Familienmitglied) an einer Grenz-station, im Hafen oder bei der Einreise abgewiesenoder aus dem Zielland ausgewiesen wurde. In Anbe-tracht der mitunter ablehnenden Haltung von deut-schen und amerikanischen Behörden gegenüber ost-europäischen Migranten war es ein erhebliches Risi-ko, sich mit solchen Papieren auf den Weg zu ma-chen. Aufgrund solcher Schwierigkeiten verließentausende russischer Flüchtlinge das Zarenreich illegalund betraten das Deutsche Reich über die grüneGrenze.

Illegale Einwanderer umgingen auf diesem Wegdie Kontrolle preußischer Behörden, die in den spä-ten 1880er Jahren damit begannen, Einreisende aufihre Gesundheit und finanzielle Absicherung hin zuuntersuchen. Ein Netz von Agenten undUnteragentenentstand, die aus der Auswanderung ein Geschäftmachten, indem sie Flüchtlinge über die grüne Grenzelotsten. Dazu mussten sich die Auswanderungswil-ligen in einer grenznahen Unterkunft einfinden.Wenn dort ausreichend Personen zusammengekom-men waren, bestach der Agent einen Grenzbeamten,damit dieser seinen Posten vorübergehend verließ unddie illegalen Migranten die Grenze passieren konnten.Selbst wenn sich Beamte bestechen ließen, konnte dasProcedere des Grenzübertritts bis zu 15 Stunden dau-ern. Auch mit ortskundiger Führung bestand jederzeitdie Gefahr der Entdeckung durch die Behörden. Zu-dem waren die Auswanderer den Agenten ausgeliefert,die ausnutzten, dass sich der Übertritt in der Illegalitätvollzog. So blieb den Emigranten oft nichts anderesübrig, als die preisliche Willkür der Schleuser hin-zunehmen [2. 234–237].

3. Das System der deutschen Kontrollstationen

Deutsche Behörden, insbesondere die preußischen,beobachteten die seit den 1880er Jahren anschwel-lende Auswanderung über deutsches Gebiet mit zu-nehmender Sorge. Sie argwöhnten, dass Durchwan-derer entweder nicht bereit oder nicht imstande seinkönnten, die lange und kostspielige Reise nach Über-see anzutreten, und sie sich deshalb in Deutschlandansiedeln würden. Sie befürchteten ferner, dass dieosteuropäischen Migranten, vor allem Juden aus demRussischen Reich, mittellos wären, mit Krankheitenbehaftet seien und somit potentiell zu einer Belas-tung der Öffentlichkeit zu werden drohten. Da Preu-ßen als einziger deutscher Staat eine Grenze mitRussland teilte, ergriff er die Initiative, wenn es dar-

um ging, die Durchwanderung von Ausländern zubeschränken. Durchreisende aus Österreich-Ungarnwurden in deutlich geringerem Maß als Risiko einge-stuft.

Vor 1892 war Preußen in erster Linie bestrebt ge-wesen, wirtschaftlich minderbemittelte Zuwandereran der Einreise zu hindern. Zu diesem Zweck hattendie preußischen Behörden Grenzstationen errichtet,an denen die Einreisenden befragt und gegebenen-falls zurückgewiesen wurden. Bis 1882 bestanden sol-che Grenzstationen u.a. in Myslowitz, Illowo, Prost-ken und Tilsit. Hier mussten die Emigranten nach-weisen, dass sie über die erforderlichen Reisemittelverfügten. Ein preußisches Gesetz von 1887 legte fest,dass jeder einreisende Erwachsene mindestens 400Mark mit sich führen musste (jedes Kind 100 Mark),was weitaus mehr war, als die meisten Durchwan-derer vorweisen konnten. Diese Bestimmung wurdeaußer Kraft gesetzt, wenn die Einreisewilligen Bord-karten einer der großen deutschen Schifffahrtsgesell-schaften für die Ausreise über Bremerhaven oderHamburg vorweisen konnten. Solche Bordkarten wa-ren bei Agenten im ganzen östlichen Europa oderdirekt an den Grenzstationen zu erwerben. Auf dieseWeise erhielten die beiden großen Schifffahrtsgesell-schaften, die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG, später Hamburg-Ame-rika Linie) und der Norddeutsche Lloyd mit Sitz inBremen, bereits in den 1880er Jahren immer mehrEinfluss und Kontrolle über die Durchwanderer.

Die Sorge deutscher wie amerikanischer Behördenvor der Ausbreitung von Krankheiten bewirkte nach1892 eine Änderung der bestehenden Regularien.Nachdem in Russland die Cholera ausgebrochen warund die Epidemie im Herbst 1892 auch im Umkreisdes Hamburger Hafens über 8000 Menschenlebengefordert hatte, wurden die Vorschriften verschärft.Eine Gruppe von russischen Durchwanderern wurdebeschuldigt, die tödliche Krankheit eingeschleppt zuhaben, woraufhin Preußen seine Grenze zu Russlandfür nahezu zwei Jahre schloss. Dagegen erhoben so-wohl die HAPAG als auch der Lloyd Einspruch. BeideReedereien machten geltend, dass im Jahr 1891 na-hezu 100000 Emigranten aus Russland über Bremer-haven und Hamburg ausgereist waren; nachdemPreußen die Grenze geschlossen hatte, sei ihnen einVerlust von acht bis neun Millionen Mark entstanden.Ferner wiesen sie darauf hin, dass die Schließung derGrenze die illegale Einreise nach Deutschland nichtunterbunden habe, sondern dass sich weiterhin täg-lich hunderte von russischen Durchwanderern imHafen eingefunden und das Gesundheitsrisiko nocherhöht hätten. Die Schifffahrtsgesellschaften schlu-

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gung der Ausreise bei Verzicht auf Rückkehr. Auchdiese Variante war problematisch, da ein Ausreisen-der dann nicht nach Russland zurückreisen konnte,wenn er (oder ein Familienmitglied) an einer Grenz-station, im Hafen oder bei der Einreise abgewiesenoder aus dem Zielland ausgewiesen wurde. In Anbe-tracht der mitunter ablehnenden Haltung von deut-schen und amerikanischen Behörden gegenüber ost-europäischen Migranten war es ein erhebliches Risi-ko, sich mit solchen Papieren auf den Weg zu ma-chen. Aufgrund solcher Schwierigkeiten verließentausende russischer Flüchtlinge das Zarenreich illegalund betraten das Deutsche Reich über die grüneGrenze.

Illegale Einwanderer umgingen auf diesem Wegdie Kontrolle preußischer Behörden, die in den spä-ten 1880er Jahren damit begannen, Einreisende aufihre Gesundheit und finanzielle Absicherung hin zuuntersuchen. Ein Netz von Agenten undUnteragentenentstand, die aus der Auswanderung ein Geschäftmachten, indem sie Flüchtlinge über die grüne Grenzelotsten. Dazu mussten sich die Auswanderungswil-ligen in einer grenznahen Unterkunft einfinden.Wenn dort ausreichend Personen zusammengekom-men waren, bestach der Agent einen Grenzbeamten,damit dieser seinen Posten vorübergehend verließ unddie illegalen Migranten die Grenze passieren konnten.Selbst wenn sich Beamte bestechen ließen, konnte dasProcedere des Grenzübertritts bis zu 15 Stunden dau-ern. Auch mit ortskundiger Führung bestand jederzeitdie Gefahr der Entdeckung durch die Behörden. Zu-dem waren die Auswanderer den Agenten ausgeliefert,die ausnutzten, dass sich der Übertritt in der Illegalitätvollzog. So blieb den Emigranten oft nichts anderesübrig, als die preisliche Willkür der Schleuser hin-zunehmen [2. 234–237].

3. Das System der deutschen Kontrollstationen

Deutsche Behörden, insbesondere die preußischen,beobachteten die seit den 1880er Jahren anschwel-lende Auswanderung über deutsches Gebiet mit zu-nehmender Sorge. Sie argwöhnten, dass Durchwan-derer entweder nicht bereit oder nicht imstande seinkönnten, die lange und kostspielige Reise nach Über-see anzutreten, und sie sich deshalb in Deutschlandansiedeln würden. Sie befürchteten ferner, dass dieosteuropäischen Migranten, vor allem Juden aus demRussischen Reich, mittellos wären, mit Krankheitenbehaftet seien und somit potentiell zu einer Belas-tung der Öffentlichkeit zu werden drohten. Da Preu-ßen als einziger deutscher Staat eine Grenze mitRussland teilte, ergriff er die Initiative, wenn es dar-

um ging, die Durchwanderung von Ausländern zubeschränken. Durchreisende aus Österreich-Ungarnwurden in deutlich geringerem Maß als Risiko einge-stuft.

Vor 1892 war Preußen in erster Linie bestrebt ge-wesen, wirtschaftlich minderbemittelte Zuwandereran der Einreise zu hindern. Zu diesem Zweck hattendie preußischen Behörden Grenzstationen errichtet,an denen die Einreisenden befragt und gegebenen-falls zurückgewiesen wurden. Bis 1882 bestanden sol-che Grenzstationen u.a. in Myslowitz, Illowo, Prost-ken und Tilsit. Hier mussten die Emigranten nach-weisen, dass sie über die erforderlichen Reisemittelverfügten. Ein preußisches Gesetz von 1887 legte fest,dass jeder einreisende Erwachsene mindestens 400Mark mit sich führen musste (jedes Kind 100 Mark),was weitaus mehr war, als die meisten Durchwan-derer vorweisen konnten. Diese Bestimmung wurdeaußer Kraft gesetzt, wenn die Einreisewilligen Bord-karten einer der großen deutschen Schifffahrtsgesell-schaften für die Ausreise über Bremerhaven oderHamburg vorweisen konnten. Solche Bordkarten wa-ren bei Agenten im ganzen östlichen Europa oderdirekt an den Grenzstationen zu erwerben. Auf dieseWeise erhielten die beiden großen Schifffahrtsgesell-schaften, die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG, später Hamburg-Ame-rika Linie) und der Norddeutsche Lloyd mit Sitz inBremen, bereits in den 1880er Jahren immer mehrEinfluss und Kontrolle über die Durchwanderer.

Die Sorge deutscher wie amerikanischer Behördenvor der Ausbreitung von Krankheiten bewirkte nach1892 eine Änderung der bestehenden Regularien.Nachdem in Russland die Cholera ausgebrochen warund die Epidemie im Herbst 1892 auch im Umkreisdes Hamburger Hafens über 8000 Menschenlebengefordert hatte, wurden die Vorschriften verschärft.Eine Gruppe von russischen Durchwanderern wurdebeschuldigt, die tödliche Krankheit eingeschleppt zuhaben, woraufhin Preußen seine Grenze zu Russlandfür nahezu zwei Jahre schloss. Dagegen erhoben so-wohl die HAPAG als auch der Lloyd Einspruch. BeideReedereien machten geltend, dass im Jahr 1891 na-hezu 100000 Emigranten aus Russland über Bremer-haven und Hamburg ausgereist waren; nachdemPreußen die Grenze geschlossen hatte, sei ihnen einVerlust von acht bis neun Millionen Mark entstanden.Ferner wiesen sie darauf hin, dass die Schließung derGrenze die illegale Einreise nach Deutschland nichtunterbunden habe, sondern dass sich weiterhin täg-lich hunderte von russischen Durchwanderern imHafen eingefunden und das Gesundheitsrisiko nocherhöht hätten. Die Schifffahrtsgesellschaften schlu-

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gen vor, an den deutschen Grenzen ein effektiveresKontrollsystem einzuführen, um nach festen Krite-rien zu entscheiden, wer einreisen dürfe und wernicht.

Ende 1894 wurde daraufhin die Einreise wiederaufgenommen. Die Kosten für den Unterhalt derDurchwanderer auf deutschem Boden wurden aufdie Schifffahrtsgesellschaften übertragen. Darin inbe-griffen waren an der Kontrollstation zu entrichtendeGebühren, der Transfer zum Hafen und die Unter-bringung bis zur Abfahrt des Schiffs. Die HAPAG undder Lloyd waren auch für die Rückführung von Mi-granten zuständig, denen die Einreise verweigertworden war. 1891 hatten die Vereinigten Staaten ihreEinwanderungsbestimmungen verschärft. Wer vonden US-amerikanischen Einreisebehörden abgewie-sen wurde, musste auf Kosten der Schifffahrtsgesell-schaften zum Ausgangsort zurücktransportiert wer-den. Die Ausgaben dafür wurden durch die aus dem

Auswandererverkehr erzielten Gewinne jedoch mehrals aufgewogen. Auch für die Schifffahrtsgesellschaf-ten war es von Vorteil, wenn die Kontrolle der Aus-wanderer stattfand, bevor diese an Bord gingen.

Zusätzlich wurden neue Kontrollstationen einge-richtet oder modernisiert, darunter Bajohren, Eydt-kuhnen, Prostken, Illowo und Ottlotschin, die meis-ten von ihnen an der preußisch-russischen Grenze(s. Karte). 1911 bestanden an der Grenze zu Russlandund zu Österreich zehn Hauptstationen. Dort wurdendie Emigranten auf ihren Gesundheitszustand hinuntersucht, Menschen und Gepäck wurden desinfi-ziert. Die Unterbringung der Durchwanderer in denKontrollpunkten war unterschiedlich geregelt. InOttlotschin gab es beispielsweise keine Schlafsäle,die Auswanderer mussten sich mit dem blanken Fuß-boden begnügen. Alle Grenzstationen waren um-zäunt und hatten verschlossene Tore, wodurch dieInsassen häufig den Eindruck gewannen, sie seien in

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

System der Kontroll- und Registrierstationen für Auswanderer aus dem Russischen Reich und Österreich-Ungarn sowie ihreReiserouten nach Hamburg und Bremerhaven, um 1905

gen vor, an den deutschen Grenzen ein effektiveresKontrollsystem einzuführen, um nach festen Krite-rien zu entscheiden, wer einreisen dürfe und wernicht.

Ende 1894 wurde daraufhin die Einreise wiederaufgenommen. Die Kosten für den Unterhalt derDurchwanderer auf deutschem Boden wurden aufdie Schifffahrtsgesellschaften übertragen. Darin inbe-griffen waren an der Kontrollstation zu entrichtendeGebühren, der Transfer zum Hafen und die Unter-bringung bis zur Abfahrt des Schiffs. Die HAPAG undder Lloyd waren auch für die Rückführung von Mi-granten zuständig, denen die Einreise verweigertworden war. 1891 hatten die Vereinigten Staaten ihreEinwanderungsbestimmungen verschärft. Wer vonden US-amerikanischen Einreisebehörden abgewie-sen wurde, musste auf Kosten der Schifffahrtsgesell-schaften zum Ausgangsort zurücktransportiert wer-den. Die Ausgaben dafür wurden durch die aus dem

Auswandererverkehr erzielten Gewinne jedoch mehrals aufgewogen. Auch für die Schifffahrtsgesellschaf-ten war es von Vorteil, wenn die Kontrolle der Aus-wanderer stattfand, bevor diese an Bord gingen.

Zusätzlich wurden neue Kontrollstationen einge-richtet oder modernisiert, darunter Bajohren, Eydt-kuhnen, Prostken, Illowo und Ottlotschin, die meis-ten von ihnen an der preußisch-russischen Grenze(s. Karte). 1911 bestanden an der Grenze zu Russlandund zu Österreich zehn Hauptstationen. Dort wurdendie Emigranten auf ihren Gesundheitszustand hinuntersucht, Menschen und Gepäck wurden desinfi-ziert. Die Unterbringung der Durchwanderer in denKontrollpunkten war unterschiedlich geregelt. InOttlotschin gab es beispielsweise keine Schlafsäle,die Auswanderer mussten sich mit dem blanken Fuß-boden begnügen. Alle Grenzstationen waren um-zäunt und hatten verschlossene Tore, wodurch dieInsassen häufig den Eindruck gewannen, sie seien in

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

System der Kontroll- und Registrierstationen für Auswanderer aus dem Russischen Reich und Österreich-Ungarn sowie ihreReiserouten nach Hamburg und Bremerhaven, um 1905

gen vor, an den deutschen Grenzen ein effektiveresKontrollsystem einzuführen, um nach festen Krite-rien zu entscheiden, wer einreisen dürfe und wernicht.

Ende 1894 wurde daraufhin die Einreise wiederaufgenommen. Die Kosten für den Unterhalt derDurchwanderer auf deutschem Boden wurden aufdie Schifffahrtsgesellschaften übertragen. Darin inbe-griffen waren an der Kontrollstation zu entrichtendeGebühren, der Transfer zum Hafen und die Unter-bringung bis zur Abfahrt des Schiffs. Die HAPAG undder Lloyd waren auch für die Rückführung von Mi-granten zuständig, denen die Einreise verweigertworden war. 1891 hatten die Vereinigten Staaten ihreEinwanderungsbestimmungen verschärft. Wer vonden US-amerikanischen Einreisebehörden abgewie-sen wurde, musste auf Kosten der Schifffahrtsgesell-schaften zum Ausgangsort zurücktransportiert wer-den. Die Ausgaben dafür wurden durch die aus dem

Auswandererverkehr erzielten Gewinne jedoch mehrals aufgewogen. Auch für die Schifffahrtsgesellschaf-ten war es von Vorteil, wenn die Kontrolle der Aus-wanderer stattfand, bevor diese an Bord gingen.

Zusätzlich wurden neue Kontrollstationen einge-richtet oder modernisiert, darunter Bajohren, Eydt-kuhnen, Prostken, Illowo und Ottlotschin, die meis-ten von ihnen an der preußisch-russischen Grenze(s. Karte). 1911 bestanden an der Grenze zu Russlandund zu Österreich zehn Hauptstationen. Dort wurdendie Emigranten auf ihren Gesundheitszustand hinuntersucht, Menschen und Gepäck wurden desinfi-ziert. Die Unterbringung der Durchwanderer in denKontrollpunkten war unterschiedlich geregelt. InOttlotschin gab es beispielsweise keine Schlafsäle,die Auswanderer mussten sich mit dem blanken Fuß-boden begnügen. Alle Grenzstationen waren um-zäunt und hatten verschlossene Tore, wodurch dieInsassen häufig den Eindruck gewannen, sie seien in

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

System der Kontroll- und Registrierstationen für Auswanderer aus dem Russischen Reich und Österreich-Ungarn sowie ihreReiserouten nach Hamburg und Bremerhaven, um 1905

einem Gefängnis untergebracht. Ehemalige Migran-ten berichteten im Rückblick, dass sie durch die Un-freundlichkeit der Grenzbeamten sowie durch eineerniedrigende Prozedur, die sie in den Stationen zudurchlaufen hatten, zusätzlich verängstigt wordenseien [9. 107].

4. Auswandererbahnhof Ruhleben

Ein zentraler Punkt in diesem Kontrollsystem war derAuswandererbahnhof Ruhleben bei Berlin. Ruhlebendiente der erneuten Untersuchung von Reisenden ausdem Russischen Reich, für die diese Maßnahme zwin-gend angeordnet wurde. Durchreisende aus Öster-reich-Ungarn wurden über zwei Registrierstationenan der habsburgisch-preußischen Grenze, Myslowitzund Ratibor, erfasst. Ihnen wurde in der Regel diefreie Weiterreise zu den deutschen Auswandererhäfen(meist über Breslau, Leipzig oder Lehrte) gestattet.Das Königreich Sachsen richtete 1903 in Leipzig eineRegistrierstation ein.

In Ruhleben existierten drei Baracken, in denen andie 200 Personen unterkamen. Außerdem befandensich in der umfangreichen Anlage ein Desinfektions-bereich, Duschräume, eine Quarantäne-Station, einSpeisesaal und Schlafräume. Selbst Durchwanderer,die an einer der Grenzstationen bereits untersuchtund desinfiziert worden waren, mussten sich dieserProzedur häufig ein zweites Mal unterziehen. GegenEntrichtung einer Gebühr von zwei Mark erhielt derDurchwanderer dann ein Gesundheitsattest. Die rus-sisch-jüdische Schriftstellerin Mary Antin (�Amerika)schilderte die Situation in Ruhleben als »beängstigen-des Durcheinander«. Sie erinnerte sich an »weiß-gekleidete Deutsche, die jede ihrer lautstarken An-weisungen mit den Worten ›Schnell, schnell!‹ beglei-teten. Die verwirrten Reisenden gehorchten wiekleine Kinder [. ..]. Man nahm uns unsere Sachenweg und trennte uns von unseren Freunden, währendein Mann uns anscheinend auf unseren Materialwerthin taxierte; wir ließen uns hilf- und widerstandslosvon gefährlich dreinschauenden Leuten hin- und her-treiben wie Vieh; für uns nicht sichtbare Kinder ineinem Nebenraum brüllten in einer Weise, die dasSchlimmste befürchten ließ...« [1. 42f.].

Ärzte und Hilfspersonal untersuchten die Durch-wanderer auf Bindehautentzündung und sonstigeAugenleiden, Ausschläge, Cholera und andere anste-ckende Krankheiten. Die als krank Eingestuften wur-den entweder zur Beobachtung in einen besonderenBereich der Station verwiesen oder sofort nach Russ-land zurückgeschickt. Über die Jahre wurde so tau-senden von russischen Emigranten die Weiterreise

verweigert. Zeitweise waren es mehr als fünf Prozentder Bewerber, denen auf diese Weise das Erreicheneiner der Auswandererhäfen versagt blieb.

Von Ruhleben wurden die Durchwanderer in Son-derzügen nach Bremen oder Hamburg transportiert.Schon die Strecke von der deutschen Grenze nach Ruh-leben hatten sie in geschlossenen Eisenbahnwaggonszugebracht, wahrscheinlich um möglichen Kontaktzur Bevölkerung einzuschränken. Die Durchwandererdurften auf dem Weg zu ihrem Bestimmungsort nichtaussteigen, auch wenn die Fahrt bis zu 25 Stundendauerte. Länge und Häufigkeit dieser Sonderzüge rich-teten sich nach Bedarf; manchmal wurden die Auswan-dererwaggons an reguläre Züge angehängt, bisweilenbildeten sie einen Zug für sich.

Wer mit diesen Zügen gereist war, beschrieb dieFahrt als ausgesprochen unangenehm. Die Waggonswaren vollgestopft mit Menschen und Gepäck, sodass häufig gestanden werden musste. Es handeltesich um unbequeme Wagen vierter Klasse, in denenes im Sommer heiß und stickig war. In den Wagenwar ein Sprachengemisch aus �Polnisch, �Russischund �Jiddisch zu vernehmen. Die Reisenden musstensich selbst verpflegen; wer nicht ausreichend Proviantmit sich führte, war auf gutherzige Mitreisende oderjüdische Wohlfahrtsvereine angewiesen [2. 233].

Seit den 1890er Jahren spielten jüdische wohl-tätige Vereinigungen eine immer wichtigere Rollebei der Durchwanderung. 1892 leisteten 25 Vereinejüdischen Migranten an den Grenzstationen, in denAuswandererzügen und in den Häfen Hilfe. 1904 er-öffnete der Berliner �Hilfsverein der deutschen Judendas Zentralbüro für jüdische Auswandererangelegen-heiten, um seine weitgespannten Tätigkeiten in derFlüchtlingshilfe zu koordinieren. Diese Vereine nah-men wichtige Aufgaben wahr. Manche unterstütztenJuden beim Passieren der russischen Grenze oderkümmerten sich um ihre Betreuung in den Kontroll-stationen. Andere griffen Mittellosen finanziell unterdie Arme oder versorgten die Reisenden mit Nahrungund Trinkwasser. In den Hafenstädten vermitteltensie den Migranten erschwingliche Unterkünfte undkoscheres Essen und kümmerten sich darum, dassihnen die Ausübung ihrer Religion ermöglicht wur-de. Wieder andere verhandelten mit den russischenBehörden um die Rückkehr von Personen, die an derGrenze zurückgewiesen worden waren. Die vielenDankbriefe von glücklich am Bestimmungsort ange-langten Migranten vermitteln eine Vorstellung da-von, wie wichtig für sie die Unterstützung jüdischerWohlfahrtsvereine war.

Eine weitere wichtige Aufgabe dieser jüdischenHilfsvereine war die Dokumentation und Veröffent-

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einem Gefängnis untergebracht. Ehemalige Migran-ten berichteten im Rückblick, dass sie durch die Un-freundlichkeit der Grenzbeamten sowie durch eineerniedrigende Prozedur, die sie in den Stationen zudurchlaufen hatten, zusätzlich verängstigt wordenseien [9. 107].

4. Auswandererbahnhof Ruhleben

Ein zentraler Punkt in diesem Kontrollsystem war derAuswandererbahnhof Ruhleben bei Berlin. Ruhlebendiente der erneuten Untersuchung von Reisenden ausdem Russischen Reich, für die diese Maßnahme zwin-gend angeordnet wurde. Durchreisende aus Öster-reich-Ungarn wurden über zwei Registrierstationenan der habsburgisch-preußischen Grenze, Myslowitzund Ratibor, erfasst. Ihnen wurde in der Regel diefreie Weiterreise zu den deutschen Auswandererhäfen(meist über Breslau, Leipzig oder Lehrte) gestattet.Das Königreich Sachsen richtete 1903 in Leipzig eineRegistrierstation ein.

In Ruhleben existierten drei Baracken, in denen andie 200 Personen unterkamen. Außerdem befandensich in der umfangreichen Anlage ein Desinfektions-bereich, Duschräume, eine Quarantäne-Station, einSpeisesaal und Schlafräume. Selbst Durchwanderer,die an einer der Grenzstationen bereits untersuchtund desinfiziert worden waren, mussten sich dieserProzedur häufig ein zweites Mal unterziehen. GegenEntrichtung einer Gebühr von zwei Mark erhielt derDurchwanderer dann ein Gesundheitsattest. Die rus-sisch-jüdische Schriftstellerin Mary Antin (�Amerika)schilderte die Situation in Ruhleben als »beängstigen-des Durcheinander«. Sie erinnerte sich an »weiß-gekleidete Deutsche, die jede ihrer lautstarken An-weisungen mit den Worten ›Schnell, schnell!‹ beglei-teten. Die verwirrten Reisenden gehorchten wiekleine Kinder [. ..]. Man nahm uns unsere Sachenweg und trennte uns von unseren Freunden, währendein Mann uns anscheinend auf unseren Materialwerthin taxierte; wir ließen uns hilf- und widerstandslosvon gefährlich dreinschauenden Leuten hin- und her-treiben wie Vieh; für uns nicht sichtbare Kinder ineinem Nebenraum brüllten in einer Weise, die dasSchlimmste befürchten ließ...« [1. 42f.].

Ärzte und Hilfspersonal untersuchten die Durch-wanderer auf Bindehautentzündung und sonstigeAugenleiden, Ausschläge, Cholera und andere anste-ckende Krankheiten. Die als krank Eingestuften wur-den entweder zur Beobachtung in einen besonderenBereich der Station verwiesen oder sofort nach Russ-land zurückgeschickt. Über die Jahre wurde so tau-senden von russischen Emigranten die Weiterreise

verweigert. Zeitweise waren es mehr als fünf Prozentder Bewerber, denen auf diese Weise das Erreicheneiner der Auswandererhäfen versagt blieb.

Von Ruhleben wurden die Durchwanderer in Son-derzügen nach Bremen oder Hamburg transportiert.Schon die Strecke von der deutschen Grenze nach Ruh-leben hatten sie in geschlossenen Eisenbahnwaggonszugebracht, wahrscheinlich um möglichen Kontaktzur Bevölkerung einzuschränken. Die Durchwandererdurften auf dem Weg zu ihrem Bestimmungsort nichtaussteigen, auch wenn die Fahrt bis zu 25 Stundendauerte. Länge und Häufigkeit dieser Sonderzüge rich-teten sich nach Bedarf; manchmal wurden die Auswan-dererwaggons an reguläre Züge angehängt, bisweilenbildeten sie einen Zug für sich.

Wer mit diesen Zügen gereist war, beschrieb dieFahrt als ausgesprochen unangenehm. Die Waggonswaren vollgestopft mit Menschen und Gepäck, sodass häufig gestanden werden musste. Es handeltesich um unbequeme Wagen vierter Klasse, in denenes im Sommer heiß und stickig war. In den Wagenwar ein Sprachengemisch aus �Polnisch, �Russischund �Jiddisch zu vernehmen. Die Reisenden musstensich selbst verpflegen; wer nicht ausreichend Proviantmit sich führte, war auf gutherzige Mitreisende oderjüdische Wohlfahrtsvereine angewiesen [2. 233].

Seit den 1890er Jahren spielten jüdische wohl-tätige Vereinigungen eine immer wichtigere Rollebei der Durchwanderung. 1892 leisteten 25 Vereinejüdischen Migranten an den Grenzstationen, in denAuswandererzügen und in den Häfen Hilfe. 1904 er-öffnete der Berliner �Hilfsverein der deutschen Judendas Zentralbüro für jüdische Auswandererangelegen-heiten, um seine weitgespannten Tätigkeiten in derFlüchtlingshilfe zu koordinieren. Diese Vereine nah-men wichtige Aufgaben wahr. Manche unterstütztenJuden beim Passieren der russischen Grenze oderkümmerten sich um ihre Betreuung in den Kontroll-stationen. Andere griffen Mittellosen finanziell unterdie Arme oder versorgten die Reisenden mit Nahrungund Trinkwasser. In den Hafenstädten vermitteltensie den Migranten erschwingliche Unterkünfte undkoscheres Essen und kümmerten sich darum, dassihnen die Ausübung ihrer Religion ermöglicht wur-de. Wieder andere verhandelten mit den russischenBehörden um die Rückkehr von Personen, die an derGrenze zurückgewiesen worden waren. Die vielenDankbriefe von glücklich am Bestimmungsort ange-langten Migranten vermitteln eine Vorstellung da-von, wie wichtig für sie die Unterstützung jüdischerWohlfahrtsvereine war.

Eine weitere wichtige Aufgabe dieser jüdischenHilfsvereine war die Dokumentation und Veröffent-

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

einem Gefängnis untergebracht. Ehemalige Migran-ten berichteten im Rückblick, dass sie durch die Un-freundlichkeit der Grenzbeamten sowie durch eineerniedrigende Prozedur, die sie in den Stationen zudurchlaufen hatten, zusätzlich verängstigt wordenseien [9. 107].

4. Auswandererbahnhof Ruhleben

Ein zentraler Punkt in diesem Kontrollsystem war derAuswandererbahnhof Ruhleben bei Berlin. Ruhlebendiente der erneuten Untersuchung von Reisenden ausdem Russischen Reich, für die diese Maßnahme zwin-gend angeordnet wurde. Durchreisende aus Öster-reich-Ungarn wurden über zwei Registrierstationenan der habsburgisch-preußischen Grenze, Myslowitzund Ratibor, erfasst. Ihnen wurde in der Regel diefreie Weiterreise zu den deutschen Auswandererhäfen(meist über Breslau, Leipzig oder Lehrte) gestattet.Das Königreich Sachsen richtete 1903 in Leipzig eineRegistrierstation ein.

In Ruhleben existierten drei Baracken, in denen andie 200 Personen unterkamen. Außerdem befandensich in der umfangreichen Anlage ein Desinfektions-bereich, Duschräume, eine Quarantäne-Station, einSpeisesaal und Schlafräume. Selbst Durchwanderer,die an einer der Grenzstationen bereits untersuchtund desinfiziert worden waren, mussten sich dieserProzedur häufig ein zweites Mal unterziehen. GegenEntrichtung einer Gebühr von zwei Mark erhielt derDurchwanderer dann ein Gesundheitsattest. Die rus-sisch-jüdische Schriftstellerin Mary Antin (�Amerika)schilderte die Situation in Ruhleben als »beängstigen-des Durcheinander«. Sie erinnerte sich an »weiß-gekleidete Deutsche, die jede ihrer lautstarken An-weisungen mit den Worten ›Schnell, schnell!‹ beglei-teten. Die verwirrten Reisenden gehorchten wiekleine Kinder [. ..]. Man nahm uns unsere Sachenweg und trennte uns von unseren Freunden, währendein Mann uns anscheinend auf unseren Materialwerthin taxierte; wir ließen uns hilf- und widerstandslosvon gefährlich dreinschauenden Leuten hin- und her-treiben wie Vieh; für uns nicht sichtbare Kinder ineinem Nebenraum brüllten in einer Weise, die dasSchlimmste befürchten ließ...« [1. 42f.].

Ärzte und Hilfspersonal untersuchten die Durch-wanderer auf Bindehautentzündung und sonstigeAugenleiden, Ausschläge, Cholera und andere anste-ckende Krankheiten. Die als krank Eingestuften wur-den entweder zur Beobachtung in einen besonderenBereich der Station verwiesen oder sofort nach Russ-land zurückgeschickt. Über die Jahre wurde so tau-senden von russischen Emigranten die Weiterreise

verweigert. Zeitweise waren es mehr als fünf Prozentder Bewerber, denen auf diese Weise das Erreicheneiner der Auswandererhäfen versagt blieb.

Von Ruhleben wurden die Durchwanderer in Son-derzügen nach Bremen oder Hamburg transportiert.Schon die Strecke von der deutschen Grenze nach Ruh-leben hatten sie in geschlossenen Eisenbahnwaggonszugebracht, wahrscheinlich um möglichen Kontaktzur Bevölkerung einzuschränken. Die Durchwandererdurften auf dem Weg zu ihrem Bestimmungsort nichtaussteigen, auch wenn die Fahrt bis zu 25 Stundendauerte. Länge und Häufigkeit dieser Sonderzüge rich-teten sich nach Bedarf; manchmal wurden die Auswan-dererwaggons an reguläre Züge angehängt, bisweilenbildeten sie einen Zug für sich.

Wer mit diesen Zügen gereist war, beschrieb dieFahrt als ausgesprochen unangenehm. Die Waggonswaren vollgestopft mit Menschen und Gepäck, sodass häufig gestanden werden musste. Es handeltesich um unbequeme Wagen vierter Klasse, in denenes im Sommer heiß und stickig war. In den Wagenwar ein Sprachengemisch aus �Polnisch, �Russischund �Jiddisch zu vernehmen. Die Reisenden musstensich selbst verpflegen; wer nicht ausreichend Proviantmit sich führte, war auf gutherzige Mitreisende oderjüdische Wohlfahrtsvereine angewiesen [2. 233].

Seit den 1890er Jahren spielten jüdische wohl-tätige Vereinigungen eine immer wichtigere Rollebei der Durchwanderung. 1892 leisteten 25 Vereinejüdischen Migranten an den Grenzstationen, in denAuswandererzügen und in den Häfen Hilfe. 1904 er-öffnete der Berliner �Hilfsverein der deutschen Judendas Zentralbüro für jüdische Auswandererangelegen-heiten, um seine weitgespannten Tätigkeiten in derFlüchtlingshilfe zu koordinieren. Diese Vereine nah-men wichtige Aufgaben wahr. Manche unterstütztenJuden beim Passieren der russischen Grenze oderkümmerten sich um ihre Betreuung in den Kontroll-stationen. Andere griffen Mittellosen finanziell unterdie Arme oder versorgten die Reisenden mit Nahrungund Trinkwasser. In den Hafenstädten vermitteltensie den Migranten erschwingliche Unterkünfte undkoscheres Essen und kümmerten sich darum, dassihnen die Ausübung ihrer Religion ermöglicht wur-de. Wieder andere verhandelten mit den russischenBehörden um die Rückkehr von Personen, die an derGrenze zurückgewiesen worden waren. Die vielenDankbriefe von glücklich am Bestimmungsort ange-langten Migranten vermitteln eine Vorstellung da-von, wie wichtig für sie die Unterstützung jüdischerWohlfahrtsvereine war.

Eine weitere wichtige Aufgabe dieser jüdischenHilfsvereine war die Dokumentation und Veröffent-

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Seite 414 – Seitenformat: 185,00 x 265,00 mm

Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

einem Gefängnis untergebracht. Ehemalige Migran-ten berichteten im Rückblick, dass sie durch die Un-freundlichkeit der Grenzbeamten sowie durch eineerniedrigende Prozedur, die sie in den Stationen zudurchlaufen hatten, zusätzlich verängstigt wordenseien [9. 107].

4. Auswandererbahnhof Ruhleben

Ein zentraler Punkt in diesem Kontrollsystem war derAuswandererbahnhof Ruhleben bei Berlin. Ruhlebendiente der erneuten Untersuchung von Reisenden ausdem Russischen Reich, für die diese Maßnahme zwin-gend angeordnet wurde. Durchreisende aus Öster-reich-Ungarn wurden über zwei Registrierstationenan der habsburgisch-preußischen Grenze, Myslowitzund Ratibor, erfasst. Ihnen wurde in der Regel diefreie Weiterreise zu den deutschen Auswandererhäfen(meist über Breslau, Leipzig oder Lehrte) gestattet.Das Königreich Sachsen richtete 1903 in Leipzig eineRegistrierstation ein.

In Ruhleben existierten drei Baracken, in denen andie 200 Personen unterkamen. Außerdem befandensich in der umfangreichen Anlage ein Desinfektions-bereich, Duschräume, eine Quarantäne-Station, einSpeisesaal und Schlafräume. Selbst Durchwanderer,die an einer der Grenzstationen bereits untersuchtund desinfiziert worden waren, mussten sich dieserProzedur häufig ein zweites Mal unterziehen. GegenEntrichtung einer Gebühr von zwei Mark erhielt derDurchwanderer dann ein Gesundheitsattest. Die rus-sisch-jüdische Schriftstellerin Mary Antin (�Amerika)schilderte die Situation in Ruhleben als »beängstigen-des Durcheinander«. Sie erinnerte sich an »weiß-gekleidete Deutsche, die jede ihrer lautstarken An-weisungen mit den Worten ›Schnell, schnell!‹ beglei-teten. Die verwirrten Reisenden gehorchten wiekleine Kinder [. ..]. Man nahm uns unsere Sachenweg und trennte uns von unseren Freunden, währendein Mann uns anscheinend auf unseren Materialwerthin taxierte; wir ließen uns hilf- und widerstandslosvon gefährlich dreinschauenden Leuten hin- und her-treiben wie Vieh; für uns nicht sichtbare Kinder ineinem Nebenraum brüllten in einer Weise, die dasSchlimmste befürchten ließ...« [1. 42f.].

Ärzte und Hilfspersonal untersuchten die Durch-wanderer auf Bindehautentzündung und sonstigeAugenleiden, Ausschläge, Cholera und andere anste-ckende Krankheiten. Die als krank Eingestuften wur-den entweder zur Beobachtung in einen besonderenBereich der Station verwiesen oder sofort nach Russ-land zurückgeschickt. Über die Jahre wurde so tau-senden von russischen Emigranten die Weiterreise

verweigert. Zeitweise waren es mehr als fünf Prozentder Bewerber, denen auf diese Weise das Erreicheneiner der Auswandererhäfen versagt blieb.

Von Ruhleben wurden die Durchwanderer in Son-derzügen nach Bremen oder Hamburg transportiert.Schon die Strecke von der deutschen Grenze nach Ruh-leben hatten sie in geschlossenen Eisenbahnwaggonszugebracht, wahrscheinlich um möglichen Kontaktzur Bevölkerung einzuschränken. Die Durchwandererdurften auf dem Weg zu ihrem Bestimmungsort nichtaussteigen, auch wenn die Fahrt bis zu 25 Stundendauerte. Länge und Häufigkeit dieser Sonderzüge rich-teten sich nach Bedarf; manchmal wurden die Auswan-dererwaggons an reguläre Züge angehängt, bisweilenbildeten sie einen Zug für sich.

Wer mit diesen Zügen gereist war, beschrieb dieFahrt als ausgesprochen unangenehm. Die Waggonswaren vollgestopft mit Menschen und Gepäck, sodass häufig gestanden werden musste. Es handeltesich um unbequeme Wagen vierter Klasse, in denenes im Sommer heiß und stickig war. In den Wagenwar ein Sprachengemisch aus �Polnisch, �Russischund �Jiddisch zu vernehmen. Die Reisenden musstensich selbst verpflegen; wer nicht ausreichend Proviantmit sich führte, war auf gutherzige Mitreisende oderjüdische Wohlfahrtsvereine angewiesen [2. 233].

Seit den 1890er Jahren spielten jüdische wohl-tätige Vereinigungen eine immer wichtigere Rollebei der Durchwanderung. 1892 leisteten 25 Vereinejüdischen Migranten an den Grenzstationen, in denAuswandererzügen und in den Häfen Hilfe. 1904 er-öffnete der Berliner �Hilfsverein der deutschen Judendas Zentralbüro für jüdische Auswandererangelegen-heiten, um seine weitgespannten Tätigkeiten in derFlüchtlingshilfe zu koordinieren. Diese Vereine nah-men wichtige Aufgaben wahr. Manche unterstütztenJuden beim Passieren der russischen Grenze oderkümmerten sich um ihre Betreuung in den Kontroll-stationen. Andere griffen Mittellosen finanziell unterdie Arme oder versorgten die Reisenden mit Nahrungund Trinkwasser. In den Hafenstädten vermitteltensie den Migranten erschwingliche Unterkünfte undkoscheres Essen und kümmerten sich darum, dassihnen die Ausübung ihrer Religion ermöglicht wur-de. Wieder andere verhandelten mit den russischenBehörden um die Rückkehr von Personen, die an derGrenze zurückgewiesen worden waren. Die vielenDankbriefe von glücklich am Bestimmungsort ange-langten Migranten vermitteln eine Vorstellung da-von, wie wichtig für sie die Unterstützung jüdischerWohlfahrtsvereine war.

Eine weitere wichtige Aufgabe dieser jüdischenHilfsvereine war die Dokumentation und Veröffent-

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

lichung von Misshandlungen und Unrecht, diejüdischen Durchwanderern widerfahren waren. DerHilfsverein warf 1904 dem Direktor der HAPAG,Albert Ballin (1857–1918), die schlechte Behandlungvon Juden in den Kontrollstationen vor. Ballin zähltezu den sogenannten �Kaiserjuden, eine Gruppe voneinflussreichen und patriotischen deutschen Juden,die dem Kaiser nahestanden. Auf Ballin ging die Ini-tiative zur Übertragung der ausschließlichen Verant-wortung für jüdische Transmigration an die Schiff-fahrtsgesellschaften im Jahr 1894 zurück, die derHAPAG enorme Gewinne verschafft hatte. Infolgedes steigenden Passagierverkehrs nach Übersee undder Monopolstellung anderen, vor allem niederländi-schen Reedereien gegenüber, avancierte seine Firmazur bedeutendsten Schifffahrtslinie der Welt. Auf dieBeschwerde des Hilfsvereins reagierte Ballin unver-züglich mit der Zulassung von jüdischen Vertreternin den Kontrollstationen. Durch die erhöhte Trans-parenz des Untersuchungsverfahrens und das Hin-zuziehen jüdischer Hilfsorganisationen wurde dieLage der Durchwanderer erträglicher.

5. In Bremen und Hamburg

Nach der langen Bahnfahrt durch Deutschland er-reichten die Durchwanderer schließlich Hamburgoder Bremen. Für diejenigen unter ihnen, die mitdem Lloyd reisten, war die Wesermetropole die letzteStation, bevor sie im 60 Kilometer entfernten Bremer-haven an Bord der Überseedampfer gingen. Häufigmussten die Auswanderer noch eine weitere medizi-nische Untersuchung über sich ergehen lassen. InHamburg war die Abwicklung und Versorgung derDurchwanderer besser organisiert. Während des Som-mers 1892 ließ die HAPAG, erneut auf Anregung vonBallin, am sogenannten Amerikaquai Baracken bau-en, um die Migranten unterzubringen. 1901 existierteeine ganze Auswanderersiedlung in Hafennähe, inder neben Gemeinschaftsräumen und Speisesälenauch eine Reihe von Dienstleistungen angeboten wur-den. Jüdische Migranten wurden separat unterge-bracht und erhielten koscheres Essen. Speziell inHamburg wurden Russen, in erster Linie russischeJuden, als besonders gefährlich eingestuft; sie durftendaher den ihnen zugewiesenen Aufenthaltsbereichnicht verlassen und die Stadt nicht betreten.

In Bremen mussten sich die Emigranten bis 1907selbst Unterkünfte suchen; später ließ die Reedereiin der Nähe des Hauptbahnhofs elf Gebäude errich-ten, in denen bis zu 3400 Personen übernachtenkonnten. Eines davon, bekannt als »Hotel Stadt War-schau«, verfügte über eine koschere Küche und sogar

eine Synagoge. Im Unterschied zu Hamburg be-schränkten die Bremer Behörden den Aufenthalt derMigranten nicht, sie durften sich frei in der Stadtbewegen [6. 18–28].

Nachdem die Durchreisenden tage- oder gar wo-chenlang unterwegs gewesen waren, gingen sie inBremerhaven oder Hamburg an Bord der Übersee-dampfer. Da Auswanderer selten in Bremerhavenübernachteten, erreichten sie den Hafen in der Regelvon Bremen aus mit der Bahn. Vor ihnen lag nun dieetwa eine Woche dauernde Schiffspassage in derpreiswertesten Reiseklasse, dem sogenannten Zwi-schendeck, das äußerst unkomfortabel war. Wer indie Vereinigten Staaten reiste, musste dann in einerder Kontrollstationen der Neuen Welt, wie z.B. in�Ellis Island, weitere Untersuchungen und Befragun-gen über sich ergehen lassen.

Während des Ersten Weltkriegs kam die Auswan-derung zum Erliegen und erreichte danach nichtmehr den vorigen Stand. Hierdurch verlor auch Bre-merhaven etwas von seinem Status. Die Stadt bliebjedoch Auswandererhafen für osteuropäische Emi-granten; in den Jahren 1920 bis 1924 reisten mehr als45000 Durchwanderer über Bremerhaven aus. Zurgleichen Zeit reduzierte die Beschränkung der Ein-wanderungsquoten in den Vereinigten Staaten undKanada die Anzahl der Migranten drastisch. Das ame-rikanische Quotengesetz von 1921 legte eine Höchst-grenze der Einwanderung aus einzelnen Ländernfest. Ausgehend von der Größe der in den VereinigtenStaaten bereits ansässigen Bevölkerungsgruppedurfte die Neueinwanderung aus dem entsprechen-den Land jährlich maximal drei Prozent betragen.Basis der Quote war die amerikanische Volkszählungvon 1890; damit wurde die Frühphase der Massenein-wanderung von osteuropäischen Juden zum Bewer-tungsmaßstab herangezogen. Noch restriktiver wa-ren der Johnson-Reed-Act von 1924 und ein weiteresQuotengesetz von 1929. Von den neuen Einwan-derungsbestimmungen waren vor allem Juden betrof-fen, denn sie wurden nun nach ihren Ausgangslän-dern gezählt und nicht als Angehörige einer jüdi-schen Nation – ein Unterschied, der dazu führte,dass die Zahl der jüdischen Einwanderer aus demöstlichen Europa in der Zwischenkriegszeit erheblichzurückging.

Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismusverlor Bremerhaven für die jüdische Durchwan-derung weiter an Bedeutung. Um antisemitischenÜbergriffen zu entgehen, traten Juden die Reisenach Übersee oftmals nicht von deutschen Häfen ausan, sondern wichen auf Rotterdam oder Antwerpenaus. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte

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Sitzreihen.« Die emotionale Spannung, die Jolsonentfesseln konnte, war so außerordentlich, dass einanderer Kritiker meinte, etwas dieser AusgelassenheitVergleichbares sei nur in religiöser Begeisterung,Massenhysterie und an der Börse zu finden.

Aus diesen Rohstoffen wurde das goldene Zeit-alter einer Kunstform geschmiedet und ein wenigVulgarität erwies sich dabei als das richtige ästheti-sche Stilmittel. Die für die Ehrung des amerikani-schen Theaters zuständige Jury des Pulitzer-Preisesstand dem Broadway daher stets etwas ratlos gegen-über. Als mit Of Thee I Sing 1931 zum ersten Mal einMusical ausgezeichnet wurde, waren die Librettisten(George S. Kaufman und Morrie Ryskind) und derSongtexter (Ira Gershwin) die Preisträger. Die Leis-tung des Komponisten fand rätselhafterweise keineBeachtung. Gleichwohl trug George Gershwin zu ei-nem kulturellen Erbe bei, das ebenso zugänglich wieerhaben ist und nicht nur den Anforderungen an»gute jüdische Musik«, sondern an gute Musik über-haupt entspricht.

[1] G. Block, Enchanted Evenings. The Broadway Musicalfrom Show Boat to Sondheim, New York 1997. [2] H. Fordin,Getting to Know Him. A Biography of Oscar Hammerstein,New York 1977. [3] M. Gottfried, Broadway Musicals, NewYork 1979. [4] R. Gottlieb/R. Kimball (Hg.), Reading Lyrics,New York 2000. [5] J.B. Jones, Our Musicals, Ourselves. A So-cial History of the American Musical Theatre, Hanover 2003.[6] J. Lahr, Honky Tonk Parade. New Yorker Profiles of ShowPeople, New York 2005. [7] H. Marx, DieBroadway-Story. EineKulturgeschichte des amerikanischen Theaters, Düsseldorf1986. [8] A. Most, Making Americans. Jews and the BroadwayMusical, Cambridge (MA) 2004. [9] S. Whitfield, In Search ofAmerican Jewish Culture, Hanover 1999.

Stephen J. Whitfield, Waltham (MA)

Brody

Die habsburgische Kleinstadt Brody, in Ostgalizienan der Grenze zum Russischen Reich gelegen, istparadigmatisch für die osteuropäische Erfahrung inder zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahr-hundert. Wie kein anderer Autor hat Joseph Roth inseinem literarischen Werk Brody zu einem Gedächt-nisort par excellence werden lassen. Nur in der Fluchtaus seinem Geburtsort sah Roth eine Aufstiegschanceund wurde doch die Erinnerung an die galizischeHeimat nie los. Seine Erinnerung an Brody ist einzentrales Element einer mythisierenden Konstrukti-on, in der das untergegangene Habsburgerreich alsein utopisches Friedensreich erscheint.

1. Brody im Werk Joseph Roths2. Das j�dische Brody im sp�ten Habsburgerreich3. Heimat als Utopie

1. Brody im Werk Joseph Roths

So wenig Joseph Roth (1894–1939) nach seinen Auf-enthalten in Wien, Berlin und Paris jemals wieder indie Lebenswelt der Juden des östlichen Europa hättezurückkehren können, so sehr sind Galizien undseine Heimatstadt Brody – meist ohne Nennung desNamens, manchmal sogar camouflierend unter demNamen des in der Nähe von Brody liegenden Schwaby(Szwaby) – in großen Teilen seines Œuvres präsent.Besonders eindrucksvoll wird Brody in dem um 1929entstandenen autobiographischen Fragment Erdbeerenvergegenwärtigt: »Die Stadt, in der ich geboren wur-de, lag im Osten Europas, in einer großen Ebene, diespärlich bewohnt war. Nach Osten hin war sie endlos.Im Westen wurde sie von einer blauen, nur an klarenSommertagen sichtbaren Hügelkette begrenzt. Inmeiner Heimatstadt lebten etwa zehntausend Men-schen. Dreitausend unter ihnen waren verrückt, wennauch nicht gemeingefährlich. Ein linder Wahnsinnumgab sie wie eine goldene Wolke. [...] Meine Lands-leute waren begabt. Viele leben in großen Städten deralten und der neuen Welt. Alle sind bedeutend, man-che berühmt. [. ..] Bei uns zu Hause herrschte Frieden.Nur die engsten Nachbarn hielten Feindschaft. DieBesoffenen versöhnten sich wieder. Konkurrenten ta-ten einander nichts Böses an. Sie rächten sich an denKunden und Käufern. Jeder lieh jedem Geld. Allewaren einander Geld schuldig. Einer hatte dem ande-ren nichts vorzuwerfen. [...] Unsere Stadt war sehrregelmäßig und höchst einfach angelegt. In der Mittekreuzten sich ihre beiden Hauptstraßen. In diesemMittelpunkt entstand ein kleiner Kreis, auf dem manzweimal in der Woche den Markt abhielt. Die eineStraße führte vom Bahnhof zum Friedhof. Die anderevom Gefängnis in den Wald« [2.Bd. 4, 1008–1011].

Die Zitatauszüge belegen die ironisch-ambiva-lente Identifikation des Autors mit den Menschen,die grundlegend für sein poetisches Verfahren ist.Diese Identifikation enthält zugleich eine program-matische Absage an den Hochmut der Westeuropäer,der sich in der Verachtung der Juden des östlichenEuropa manifestiert. Ähnlich wie seine ReportageReise durch Galizien (1924) leitet Joseph Roth den EssayJuden auf Wanderschaft (1927) mit einer Zurückweisungdieses Hochmuts ein: »Der Verfasser hegt die törichteHoffnung, daß es noch Leser gibt, vor denen man dieOstjuden nicht zu verteidigen braucht; Leser, die Ach-tung haben vor Schmerz, menschlicher Größe undvor dem Schmutz, der überall das Leid begleitet;Westeuropäer, die [. ..] fühlen, daß sie vom Ostenviel zu empfangen hätten, und die vielleicht wissen,daß aus Galizien, Rußland, Litauen, Rumänien große

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

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Brody

(...)

Nicole Kvale Eilers, Madison

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Sitzreihen.« Die emotionale Spannung, die Jolsonentfesseln konnte, war so außerordentlich, dass einanderer Kritiker meinte, etwas dieser AusgelassenheitVergleichbares sei nur in religiöser Begeisterung,Massenhysterie und an der Börse zu finden.

Aus diesen Rohstoffen wurde das goldene Zeit-alter einer Kunstform geschmiedet und ein wenigVulgarität erwies sich dabei als das richtige ästheti-sche Stilmittel. Die für die Ehrung des amerikani-schen Theaters zuständige Jury des Pulitzer-Preisesstand dem Broadway daher stets etwas ratlos gegen-über. Als mit Of Thee I Sing 1931 zum ersten Mal einMusical ausgezeichnet wurde, waren die Librettisten(George S. Kaufman und Morrie Ryskind) und derSongtexter (Ira Gershwin) die Preisträger. Die Leis-tung des Komponisten fand rätselhafterweise keineBeachtung. Gleichwohl trug George Gershwin zu ei-nem kulturellen Erbe bei, das ebenso zugänglich wieerhaben ist und nicht nur den Anforderungen an»gute jüdische Musik«, sondern an gute Musik über-haupt entspricht.

[1] G. Block, Enchanted Evenings. The Broadway Musicalfrom Show Boat to Sondheim, New York 1997. [2] H. Fordin,Getting to Know Him. A Biography of Oscar Hammerstein,New York 1977. [3] M. Gottfried, Broadway Musicals, NewYork 1979. [4] R. Gottlieb/R. Kimball (Hg.), Reading Lyrics,New York 2000. [5] J.B. Jones, Our Musicals, Ourselves. A So-cial History of the American Musical Theatre, Hanover 2003.[6] J. Lahr, Honky Tonk Parade. New Yorker Profiles of ShowPeople, New York 2005. [7] H. Marx, DieBroadway-Story. EineKulturgeschichte des amerikanischen Theaters, Düsseldorf1986. [8] A. Most, Making Americans. Jews and the BroadwayMusical, Cambridge (MA) 2004. [9] S. Whitfield, In Search ofAmerican Jewish Culture, Hanover 1999.

Stephen J. Whitfield, Waltham (MA)

Brody

Die habsburgische Kleinstadt Brody, in Ostgalizienan der Grenze zum Russischen Reich gelegen, istparadigmatisch für die osteuropäische Erfahrung inder zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahr-hundert. Wie kein anderer Autor hat Joseph Roth inseinem literarischen Werk Brody zu einem Gedächt-nisort par excellence werden lassen. Nur in der Fluchtaus seinem Geburtsort sah Roth eine Aufstiegschanceund wurde doch die Erinnerung an die galizischeHeimat nie los. Seine Erinnerung an Brody ist einzentrales Element einer mythisierenden Konstrukti-on, in der das untergegangene Habsburgerreich alsein utopisches Friedensreich erscheint.

1. Brody im Werk Joseph Roths2. Das j�dische Brody im sp�ten Habsburgerreich3. Heimat als Utopie

1. Brody im Werk Joseph Roths

So wenig Joseph Roth (1894–1939) nach seinen Auf-enthalten in Wien, Berlin und Paris jemals wieder indie Lebenswelt der Juden des östlichen Europa hättezurückkehren können, so sehr sind Galizien undseine Heimatstadt Brody – meist ohne Nennung desNamens, manchmal sogar camouflierend unter demNamen des in der Nähe von Brody liegenden Schwaby(Szwaby) – in großen Teilen seines Œuvres präsent.Besonders eindrucksvoll wird Brody in dem um 1929entstandenen autobiographischen Fragment Erdbeerenvergegenwärtigt: »Die Stadt, in der ich geboren wur-de, lag im Osten Europas, in einer großen Ebene, diespärlich bewohnt war. Nach Osten hin war sie endlos.Im Westen wurde sie von einer blauen, nur an klarenSommertagen sichtbaren Hügelkette begrenzt. Inmeiner Heimatstadt lebten etwa zehntausend Men-schen. Dreitausend unter ihnen waren verrückt, wennauch nicht gemeingefährlich. Ein linder Wahnsinnumgab sie wie eine goldene Wolke. [...] Meine Lands-leute waren begabt. Viele leben in großen Städten deralten und der neuen Welt. Alle sind bedeutend, man-che berühmt. [. ..] Bei uns zu Hause herrschte Frieden.Nur die engsten Nachbarn hielten Feindschaft. DieBesoffenen versöhnten sich wieder. Konkurrenten ta-ten einander nichts Böses an. Sie rächten sich an denKunden und Käufern. Jeder lieh jedem Geld. Allewaren einander Geld schuldig. Einer hatte dem ande-ren nichts vorzuwerfen. [...] Unsere Stadt war sehrregelmäßig und höchst einfach angelegt. In der Mittekreuzten sich ihre beiden Hauptstraßen. In diesemMittelpunkt entstand ein kleiner Kreis, auf dem manzweimal in der Woche den Markt abhielt. Die eineStraße führte vom Bahnhof zum Friedhof. Die anderevom Gefängnis in den Wald« [2.Bd. 4, 1008–1011].

Die Zitatauszüge belegen die ironisch-ambiva-lente Identifikation des Autors mit den Menschen,die grundlegend für sein poetisches Verfahren ist.Diese Identifikation enthält zugleich eine program-matische Absage an den Hochmut der Westeuropäer,der sich in der Verachtung der Juden des östlichenEuropa manifestiert. Ähnlich wie seine ReportageReise durch Galizien (1924) leitet Joseph Roth den EssayJuden auf Wanderschaft (1927) mit einer Zurückweisungdieses Hochmuts ein: »Der Verfasser hegt die törichteHoffnung, daß es noch Leser gibt, vor denen man dieOstjuden nicht zu verteidigen braucht; Leser, die Ach-tung haben vor Schmerz, menschlicher Größe undvor dem Schmutz, der überall das Leid begleitet;Westeuropäer, die [. ..] fühlen, daß sie vom Ostenviel zu empfangen hätten, und die vielleicht wissen,daß aus Galizien, Rußland, Litauen, Rumänien große

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Sitzreihen.« Die emotionale Spannung, die Jolsonentfesseln konnte, war so außerordentlich, dass einanderer Kritiker meinte, etwas dieser AusgelassenheitVergleichbares sei nur in religiöser Begeisterung,Massenhysterie und an der Börse zu finden.

Aus diesen Rohstoffen wurde das goldene Zeit-alter einer Kunstform geschmiedet und ein wenigVulgarität erwies sich dabei als das richtige ästheti-sche Stilmittel. Die für die Ehrung des amerikani-schen Theaters zuständige Jury des Pulitzer-Preisesstand dem Broadway daher stets etwas ratlos gegen-über. Als mit Of Thee I Sing 1931 zum ersten Mal einMusical ausgezeichnet wurde, waren die Librettisten(George S. Kaufman und Morrie Ryskind) und derSongtexter (Ira Gershwin) die Preisträger. Die Leis-tung des Komponisten fand rätselhafterweise keineBeachtung. Gleichwohl trug George Gershwin zu ei-nem kulturellen Erbe bei, das ebenso zugänglich wieerhaben ist und nicht nur den Anforderungen an»gute jüdische Musik«, sondern an gute Musik über-haupt entspricht.

[1] G. Block, Enchanted Evenings. The Broadway Musicalfrom Show Boat to Sondheim, New York 1997. [2] H. Fordin,Getting to Know Him. A Biography of Oscar Hammerstein,New York 1977. [3] M. Gottfried, Broadway Musicals, NewYork 1979. [4] R. Gottlieb/R. Kimball (Hg.), Reading Lyrics,New York 2000. [5] J.B. Jones, Our Musicals, Ourselves. A So-cial History of the American Musical Theatre, Hanover 2003.[6] J. Lahr, Honky Tonk Parade. New Yorker Profiles of ShowPeople, New York 2005. [7] H. Marx, DieBroadway-Story. EineKulturgeschichte des amerikanischen Theaters, Düsseldorf1986. [8] A. Most, Making Americans. Jews and the BroadwayMusical, Cambridge (MA) 2004. [9] S. Whitfield, In Search ofAmerican Jewish Culture, Hanover 1999.

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Brody

Die habsburgische Kleinstadt Brody, in Ostgalizienan der Grenze zum Russischen Reich gelegen, istparadigmatisch für die osteuropäische Erfahrung inder zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahr-hundert. Wie kein anderer Autor hat Joseph Roth inseinem literarischen Werk Brody zu einem Gedächt-nisort par excellence werden lassen. Nur in der Fluchtaus seinem Geburtsort sah Roth eine Aufstiegschanceund wurde doch die Erinnerung an die galizischeHeimat nie los. Seine Erinnerung an Brody ist einzentrales Element einer mythisierenden Konstrukti-on, in der das untergegangene Habsburgerreich alsein utopisches Friedensreich erscheint.

1. Brody im Werk Joseph Roths2. Das j�dische Brody im sp�ten Habsburgerreich3. Heimat als Utopie

1. Brody im Werk Joseph Roths

So wenig Joseph Roth (1894–1939) nach seinen Auf-enthalten in Wien, Berlin und Paris jemals wieder indie Lebenswelt der Juden des östlichen Europa hättezurückkehren können, so sehr sind Galizien undseine Heimatstadt Brody – meist ohne Nennung desNamens, manchmal sogar camouflierend unter demNamen des in der Nähe von Brody liegenden Schwaby(Szwaby) – in großen Teilen seines Œuvres präsent.Besonders eindrucksvoll wird Brody in dem um 1929entstandenen autobiographischen Fragment Erdbeerenvergegenwärtigt: »Die Stadt, in der ich geboren wur-de, lag im Osten Europas, in einer großen Ebene, diespärlich bewohnt war. Nach Osten hin war sie endlos.Im Westen wurde sie von einer blauen, nur an klarenSommertagen sichtbaren Hügelkette begrenzt. Inmeiner Heimatstadt lebten etwa zehntausend Men-schen. Dreitausend unter ihnen waren verrückt, wennauch nicht gemeingefährlich. Ein linder Wahnsinnumgab sie wie eine goldene Wolke. [...] Meine Lands-leute waren begabt. Viele leben in großen Städten deralten und der neuen Welt. Alle sind bedeutend, man-che berühmt. [. ..] Bei uns zu Hause herrschte Frieden.Nur die engsten Nachbarn hielten Feindschaft. DieBesoffenen versöhnten sich wieder. Konkurrenten ta-ten einander nichts Böses an. Sie rächten sich an denKunden und Käufern. Jeder lieh jedem Geld. Allewaren einander Geld schuldig. Einer hatte dem ande-ren nichts vorzuwerfen. [...] Unsere Stadt war sehrregelmäßig und höchst einfach angelegt. In der Mittekreuzten sich ihre beiden Hauptstraßen. In diesemMittelpunkt entstand ein kleiner Kreis, auf dem manzweimal in der Woche den Markt abhielt. Die eineStraße führte vom Bahnhof zum Friedhof. Die anderevom Gefängnis in den Wald« [2.Bd. 4, 1008–1011].

Die Zitatauszüge belegen die ironisch-ambiva-lente Identifikation des Autors mit den Menschen,die grundlegend für sein poetisches Verfahren ist.Diese Identifikation enthält zugleich eine program-matische Absage an den Hochmut der Westeuropäer,der sich in der Verachtung der Juden des östlichenEuropa manifestiert. Ähnlich wie seine ReportageReise durch Galizien (1924) leitet Joseph Roth den EssayJuden auf Wanderschaft (1927) mit einer Zurückweisungdieses Hochmuts ein: »Der Verfasser hegt die törichteHoffnung, daß es noch Leser gibt, vor denen man dieOstjuden nicht zu verteidigen braucht; Leser, die Ach-tung haben vor Schmerz, menschlicher Größe undvor dem Schmutz, der überall das Leid begleitet;Westeuropäer, die [. ..] fühlen, daß sie vom Ostenviel zu empfangen hätten, und die vielleicht wissen,daß aus Galizien, Rußland, Litauen, Rumänien große

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

Sitzreihen.« Die emotionale Spannung, die Jolsonentfesseln konnte, war so außerordentlich, dass einanderer Kritiker meinte, etwas dieser AusgelassenheitVergleichbares sei nur in religiöser Begeisterung,Massenhysterie und an der Börse zu finden.

Aus diesen Rohstoffen wurde das goldene Zeit-alter einer Kunstform geschmiedet und ein wenigVulgarität erwies sich dabei als das richtige ästheti-sche Stilmittel. Die für die Ehrung des amerikani-schen Theaters zuständige Jury des Pulitzer-Preisesstand dem Broadway daher stets etwas ratlos gegen-über. Als mit Of Thee I Sing 1931 zum ersten Mal einMusical ausgezeichnet wurde, waren die Librettisten(George S. Kaufman und Morrie Ryskind) und derSongtexter (Ira Gershwin) die Preisträger. Die Leis-tung des Komponisten fand rätselhafterweise keineBeachtung. Gleichwohl trug George Gershwin zu ei-nem kulturellen Erbe bei, das ebenso zugänglich wieerhaben ist und nicht nur den Anforderungen an»gute jüdische Musik«, sondern an gute Musik über-haupt entspricht.

[1] G. Block, Enchanted Evenings. The Broadway Musicalfrom Show Boat to Sondheim, New York 1997. [2] H. Fordin,Getting to Know Him. A Biography of Oscar Hammerstein,New York 1977. [3] M. Gottfried, Broadway Musicals, NewYork 1979. [4] R. Gottlieb/R. Kimball (Hg.), Reading Lyrics,New York 2000. [5] J.B. Jones, Our Musicals, Ourselves. A So-cial History of the American Musical Theatre, Hanover 2003.[6] J. Lahr, Honky Tonk Parade. New Yorker Profiles of ShowPeople, New York 2005. [7] H. Marx, DieBroadway-Story. EineKulturgeschichte des amerikanischen Theaters, Düsseldorf1986. [8] A. Most, Making Americans. Jews and the BroadwayMusical, Cambridge (MA) 2004. [9] S. Whitfield, In Search ofAmerican Jewish Culture, Hanover 1999.

Stephen J. Whitfield, Waltham (MA)

Brody

Die habsburgische Kleinstadt Brody, in Ostgalizienan der Grenze zum Russischen Reich gelegen, istparadigmatisch für die osteuropäische Erfahrung inder zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahr-hundert. Wie kein anderer Autor hat Joseph Roth inseinem literarischen Werk Brody zu einem Gedächt-nisort par excellence werden lassen. Nur in der Fluchtaus seinem Geburtsort sah Roth eine Aufstiegschanceund wurde doch die Erinnerung an die galizischeHeimat nie los. Seine Erinnerung an Brody ist einzentrales Element einer mythisierenden Konstrukti-on, in der das untergegangene Habsburgerreich alsein utopisches Friedensreich erscheint.

1. Brody im Werk Joseph Roths2. Das j�dische Brody im sp�ten Habsburgerreich3. Heimat als Utopie

1. Brody im Werk Joseph Roths

So wenig Joseph Roth (1894–1939) nach seinen Auf-enthalten in Wien, Berlin und Paris jemals wieder indie Lebenswelt der Juden des östlichen Europa hättezurückkehren können, so sehr sind Galizien undseine Heimatstadt Brody – meist ohne Nennung desNamens, manchmal sogar camouflierend unter demNamen des in der Nähe von Brody liegenden Schwaby(Szwaby) – in großen Teilen seines Œuvres präsent.Besonders eindrucksvoll wird Brody in dem um 1929entstandenen autobiographischen Fragment Erdbeerenvergegenwärtigt: »Die Stadt, in der ich geboren wur-de, lag im Osten Europas, in einer großen Ebene, diespärlich bewohnt war. Nach Osten hin war sie endlos.Im Westen wurde sie von einer blauen, nur an klarenSommertagen sichtbaren Hügelkette begrenzt. Inmeiner Heimatstadt lebten etwa zehntausend Men-schen. Dreitausend unter ihnen waren verrückt, wennauch nicht gemeingefährlich. Ein linder Wahnsinnumgab sie wie eine goldene Wolke. [...] Meine Lands-leute waren begabt. Viele leben in großen Städten deralten und der neuen Welt. Alle sind bedeutend, man-che berühmt. [. ..] Bei uns zu Hause herrschte Frieden.Nur die engsten Nachbarn hielten Feindschaft. DieBesoffenen versöhnten sich wieder. Konkurrenten ta-ten einander nichts Böses an. Sie rächten sich an denKunden und Käufern. Jeder lieh jedem Geld. Allewaren einander Geld schuldig. Einer hatte dem ande-ren nichts vorzuwerfen. [...] Unsere Stadt war sehrregelmäßig und höchst einfach angelegt. In der Mittekreuzten sich ihre beiden Hauptstraßen. In diesemMittelpunkt entstand ein kleiner Kreis, auf dem manzweimal in der Woche den Markt abhielt. Die eineStraße führte vom Bahnhof zum Friedhof. Die anderevom Gefängnis in den Wald« [2.Bd. 4, 1008–1011].

Die Zitatauszüge belegen die ironisch-ambiva-lente Identifikation des Autors mit den Menschen,die grundlegend für sein poetisches Verfahren ist.Diese Identifikation enthält zugleich eine program-matische Absage an den Hochmut der Westeuropäer,der sich in der Verachtung der Juden des östlichenEuropa manifestiert. Ähnlich wie seine ReportageReise durch Galizien (1924) leitet Joseph Roth den EssayJuden auf Wanderschaft (1927) mit einer Zurückweisungdieses Hochmuts ein: »Der Verfasser hegt die törichteHoffnung, daß es noch Leser gibt, vor denen man dieOstjuden nicht zu verteidigen braucht; Leser, die Ach-tung haben vor Schmerz, menschlicher Größe undvor dem Schmutz, der überall das Leid begleitet;Westeuropäer, die [. ..] fühlen, daß sie vom Ostenviel zu empfangen hätten, und die vielleicht wissen,daß aus Galizien, Rußland, Litauen, Rumänien große

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

Menschen und große Ideen kommen« [2.Bd. 2, 827].Im Roman Radetzkymarsch (1932), der den Untergangder Habsburgermonarchie zum Thema hat, ist – mitdeutlichen Parallelen zu Erdbeeren – Brody Modell fürdas Städtchen Sipolje, in dem der Leutnant Carl Jo-seph von Trotta in einem Jägerbataillon Dienst tut.Die hier manifeste Evokation der Natur entbehrtnicht einer Ambivalenz, wie sie für Roths Heimatbildtypisch ist: »Die Natur schmiedete einen unendlichenHorizont um die Menschen an der Grenze und um-gab sie mit einem edlen Ring aus grünen Wäldernund blauen Hügeln. Und gingen [die Bewohner]durch das Dunkel der Tannen, so konnten sie sogarglauben, von Gott bevorzugt zu sein [...]. Alle aber,die dort geborenwaren, kanntendie Tückendes Sump-fes und besaßen selbst etwas von seiner Tücke. ImFrühling und im Sommer war die Luft erfüllt voneinem unaufhörlichen, satten Quaken der Frösche. Un-ter den Himmeln jubelte ein ebenso sattes Trillern derLerchen. Und es war eine unermüdliche Zwiesprachªdes Himmels mit dem Sumpf« [2.Bd. 5, 257f.].

Roths Eingedenken hat mit Blick auf Brody etwasvon »erpresster Versöhnung« (Th.W. Adorno); sie istnur möglich aus der Distanz: eine sentimentalischeKonstruktion, keine naive Anverwandlung. Dochwährend sich diese Distanz gegenüber Brody undGalizien nicht verringerte, begann Roth mit wachsen-dem Abstand zur untergegangenen Habsburgermo-narchie, diese zu einem Mythos zu verklären [8]. Ineiner persönlichen Erklärung zum Vorabdruck desRomans Radetzkymarsch in der Frankfurter Zeitung legteer ein programmatisches Bekenntnis zu diesem altenÖsterreich ab: »Ich habe es geliebt, dieses Vaterland,das mir erlaubte, ein Patriot und ein Weltbürger zu-gleich zu sein, ein Österreicher und ein Deutscherunter allen österreichischen Völkern« [2.Bd. 5, 874].

2. Das j�dische Brody im sp�ten Habsburgerreich

Während der gesamten Zeit der österreichischenHerrschaft, die 1772 mit der ersten Teilung Polensund der Etablierung Galiziens als Kronland begann,hatten Juden zwischen zwei Drittel und drei Viertelder Gesamtbevölkerung der Stadt ausgemacht. Brodywurde nach Lemberg und Krakau zeitweilig zur dritt-größten Stadt Galiziens. Seit 1779 mit einem Freihan-delsprivileg ausgestattet, wurde sie zum Umschlag-platz von Waren aus dem Westen und aus dem un-mittelbar benachbarten Russischen Reich. Bis in die1850er Jahre konnte Brody als Handelsstadt von die-ser grenznahen Position profitieren. Die deutlichejüdische Bevölkerungsmehrheit ging insbesonderenach der Gleichberechtigung 1868 mit einer entspre-

chenden politischen Partizipation in kommunalenund überregionalen Institutionen einher. Bezüglichdes religiösen Lebens hatte Brody den Juden der Re-gion traditionell als »Jerusalem des Ostens« gegolten.Mit der »Alte Schul« wies die Stadt seit Beginn des17. Jahrhunderts die prächtigste �Synagoge Galiziensauf. Charakteristisch für die Juden von Brody war dasBekenntnis zur traditionellen Orthodoxie; bereitsfrüh zeichnete sich eine deutliche Gegnerschaft zusektiererischen Abspaltungen ab. 1784 erfolgte dieGründung einer deutschen Normalschule für Knabenund Mädchen, was die beginnende Öffnung zur sä-kularen Bildung signalisiert. 1816 nahm eine deutsch-sprachige jüdische Realschule ihre Tätigkeit auf, diedeutsche Bildungstradition wurde zur Grundlage derweiteren Entwicklung. Die Stadt entwickelte sich zueinem Zentrum der �Haskala; in Reaktion daraufwurde sie im Jahr 1816 (zusammen mit Tarnopol)von der etablierten Orthodoxie mit dem �Bann be-legt. In der Oberschicht war Brody auf die deutscheKultur ausgerichtet. Als seit 1867 Galizien polonisiertwurde, entstand weiterer Assimilationsdruck. Ebensowar aber auch die traditionelle orthodoxe Kultur wei-terhin präsent, die in der mütterlichen Familie JosephRoths über den Großvater erhalten blieb. So war ihmdie jiddische Sprache heimatlich vertraut; auch seinpräzises Deutsch hat Roth auf seine Jiddisch-Kennt-nisse zurückgeführt.

Am Aufschwung Galiziens um 1900 konnteBrody kaum partizipieren. Als nach den russischenPogromen 1881/1882 tausende von russisch-jüdischenFlüchtlingen in der Grenzstadt Brody Zuflucht such-ten und damit für einige Zeit die Bewohnerzahl fastverdoppelten, überstieg dies die Kapazität der Stadt,die nun immer mehr verarmte. »Verfallen wie inBrody« wurde zu einer geläufigen Redewendung. Inden 1890er Jahren führte die Polonisierung des Kron-lands Galizien und damit auch Brodys zum Ende derdeutschsprachigen Ära, während der Zionismus unddamit die Idee einer anderen jüdischen Heimat anZuspruch gewannen. Das gewaltsame Ende Brodysals einer jüdischen Stadt in den Jahren 1941 bis 1944hat Roth nicht mehr erlebt.

3. Heimat als Utopie

Moses Joseph Roth, der diesem Kontext des spätenhabsburgischen Brody entstammte, wuchs zusam-men mit seiner Mutter Maria (Miriam) Roth bei sei-nem Großvater Jechiel Grübel auf, einem Händler,der in der jüdisch-orthodoxen jiddischsprachigenTradition tief verwurzelt war, in dessen Haushaltaber später Deutsch gesprochen wurde. Den psy-

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Menschen und große Ideen kommen« [2.Bd. 2, 827].Im Roman Radetzkymarsch (1932), der den Untergangder Habsburgermonarchie zum Thema hat, ist – mitdeutlichen Parallelen zu Erdbeeren – Brody Modell fürdas Städtchen Sipolje, in dem der Leutnant Carl Jo-seph von Trotta in einem Jägerbataillon Dienst tut.Die hier manifeste Evokation der Natur entbehrtnicht einer Ambivalenz, wie sie für Roths Heimatbildtypisch ist: »Die Natur schmiedete einen unendlichenHorizont um die Menschen an der Grenze und um-gab sie mit einem edlen Ring aus grünen Wäldernund blauen Hügeln. Und gingen [die Bewohner]durch das Dunkel der Tannen, so konnten sie sogarglauben, von Gott bevorzugt zu sein [...]. Alle aber,die dort geborenwaren, kanntendie Tückendes Sump-fes und besaßen selbst etwas von seiner Tücke. ImFrühling und im Sommer war die Luft erfüllt voneinem unaufhörlichen, satten Quaken der Frösche. Un-ter den Himmeln jubelte ein ebenso sattes Trillern derLerchen. Und es war eine unermüdliche Zwiesprachªdes Himmels mit dem Sumpf« [2.Bd. 5, 257f.].

Roths Eingedenken hat mit Blick auf Brody etwasvon »erpresster Versöhnung« (Th.W. Adorno); sie istnur möglich aus der Distanz: eine sentimentalischeKonstruktion, keine naive Anverwandlung. Dochwährend sich diese Distanz gegenüber Brody undGalizien nicht verringerte, begann Roth mit wachsen-dem Abstand zur untergegangenen Habsburgermo-narchie, diese zu einem Mythos zu verklären [8]. Ineiner persönlichen Erklärung zum Vorabdruck desRomans Radetzkymarsch in der Frankfurter Zeitung legteer ein programmatisches Bekenntnis zu diesem altenÖsterreich ab: »Ich habe es geliebt, dieses Vaterland,das mir erlaubte, ein Patriot und ein Weltbürger zu-gleich zu sein, ein Österreicher und ein Deutscherunter allen österreichischen Völkern« [2.Bd. 5, 874].

2. Das j�dische Brody im sp�ten Habsburgerreich

Während der gesamten Zeit der österreichischenHerrschaft, die 1772 mit der ersten Teilung Polensund der Etablierung Galiziens als Kronland begann,hatten Juden zwischen zwei Drittel und drei Viertelder Gesamtbevölkerung der Stadt ausgemacht. Brodywurde nach Lemberg und Krakau zeitweilig zur dritt-größten Stadt Galiziens. Seit 1779 mit einem Freihan-delsprivileg ausgestattet, wurde sie zum Umschlag-platz von Waren aus dem Westen und aus dem un-mittelbar benachbarten Russischen Reich. Bis in die1850er Jahre konnte Brody als Handelsstadt von die-ser grenznahen Position profitieren. Die deutlichejüdische Bevölkerungsmehrheit ging insbesonderenach der Gleichberechtigung 1868 mit einer entspre-

chenden politischen Partizipation in kommunalenund überregionalen Institutionen einher. Bezüglichdes religiösen Lebens hatte Brody den Juden der Re-gion traditionell als »Jerusalem des Ostens« gegolten.Mit der »Alte Schul« wies die Stadt seit Beginn des17. Jahrhunderts die prächtigste �Synagoge Galiziensauf. Charakteristisch für die Juden von Brody war dasBekenntnis zur traditionellen Orthodoxie; bereitsfrüh zeichnete sich eine deutliche Gegnerschaft zusektiererischen Abspaltungen ab. 1784 erfolgte dieGründung einer deutschen Normalschule für Knabenund Mädchen, was die beginnende Öffnung zur sä-kularen Bildung signalisiert. 1816 nahm eine deutsch-sprachige jüdische Realschule ihre Tätigkeit auf, diedeutsche Bildungstradition wurde zur Grundlage derweiteren Entwicklung. Die Stadt entwickelte sich zueinem Zentrum der �Haskala; in Reaktion daraufwurde sie im Jahr 1816 (zusammen mit Tarnopol)von der etablierten Orthodoxie mit dem �Bann be-legt. In der Oberschicht war Brody auf die deutscheKultur ausgerichtet. Als seit 1867 Galizien polonisiertwurde, entstand weiterer Assimilationsdruck. Ebensowar aber auch die traditionelle orthodoxe Kultur wei-terhin präsent, die in der mütterlichen Familie JosephRoths über den Großvater erhalten blieb. So war ihmdie jiddische Sprache heimatlich vertraut; auch seinpräzises Deutsch hat Roth auf seine Jiddisch-Kennt-nisse zurückgeführt.

Am Aufschwung Galiziens um 1900 konnteBrody kaum partizipieren. Als nach den russischenPogromen 1881/1882 tausende von russisch-jüdischenFlüchtlingen in der Grenzstadt Brody Zuflucht such-ten und damit für einige Zeit die Bewohnerzahl fastverdoppelten, überstieg dies die Kapazität der Stadt,die nun immer mehr verarmte. »Verfallen wie inBrody« wurde zu einer geläufigen Redewendung. Inden 1890er Jahren führte die Polonisierung des Kron-lands Galizien und damit auch Brodys zum Ende derdeutschsprachigen Ära, während der Zionismus unddamit die Idee einer anderen jüdischen Heimat anZuspruch gewannen. Das gewaltsame Ende Brodysals einer jüdischen Stadt in den Jahren 1941 bis 1944hat Roth nicht mehr erlebt.

3. Heimat als Utopie

Moses Joseph Roth, der diesem Kontext des spätenhabsburgischen Brody entstammte, wuchs zusam-men mit seiner Mutter Maria (Miriam) Roth bei sei-nem Großvater Jechiel Grübel auf, einem Händler,der in der jüdisch-orthodoxen jiddischsprachigenTradition tief verwurzelt war, in dessen Haushaltaber später Deutsch gesprochen wurde. Den psy-

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

Menschen und große Ideen kommen« [2.Bd. 2, 827].Im Roman Radetzkymarsch (1932), der den Untergangder Habsburgermonarchie zum Thema hat, ist – mitdeutlichen Parallelen zu Erdbeeren – Brody Modell fürdas Städtchen Sipolje, in dem der Leutnant Carl Jo-seph von Trotta in einem Jägerbataillon Dienst tut.Die hier manifeste Evokation der Natur entbehrtnicht einer Ambivalenz, wie sie für Roths Heimatbildtypisch ist: »Die Natur schmiedete einen unendlichenHorizont um die Menschen an der Grenze und um-gab sie mit einem edlen Ring aus grünen Wäldernund blauen Hügeln. Und gingen [die Bewohner]durch das Dunkel der Tannen, so konnten sie sogarglauben, von Gott bevorzugt zu sein [...]. Alle aber,die dort geborenwaren, kanntendie Tückendes Sump-fes und besaßen selbst etwas von seiner Tücke. ImFrühling und im Sommer war die Luft erfüllt voneinem unaufhörlichen, satten Quaken der Frösche. Un-ter den Himmeln jubelte ein ebenso sattes Trillern derLerchen. Und es war eine unermüdliche Zwiesprachªdes Himmels mit dem Sumpf« [2.Bd. 5, 257f.].

Roths Eingedenken hat mit Blick auf Brody etwasvon »erpresster Versöhnung« (Th.W. Adorno); sie istnur möglich aus der Distanz: eine sentimentalischeKonstruktion, keine naive Anverwandlung. Dochwährend sich diese Distanz gegenüber Brody undGalizien nicht verringerte, begann Roth mit wachsen-dem Abstand zur untergegangenen Habsburgermo-narchie, diese zu einem Mythos zu verklären [8]. Ineiner persönlichen Erklärung zum Vorabdruck desRomans Radetzkymarsch in der Frankfurter Zeitung legteer ein programmatisches Bekenntnis zu diesem altenÖsterreich ab: »Ich habe es geliebt, dieses Vaterland,das mir erlaubte, ein Patriot und ein Weltbürger zu-gleich zu sein, ein Österreicher und ein Deutscherunter allen österreichischen Völkern« [2.Bd. 5, 874].

2. Das j�dische Brody im sp�ten Habsburgerreich

Während der gesamten Zeit der österreichischenHerrschaft, die 1772 mit der ersten Teilung Polensund der Etablierung Galiziens als Kronland begann,hatten Juden zwischen zwei Drittel und drei Viertelder Gesamtbevölkerung der Stadt ausgemacht. Brodywurde nach Lemberg und Krakau zeitweilig zur dritt-größten Stadt Galiziens. Seit 1779 mit einem Freihan-delsprivileg ausgestattet, wurde sie zum Umschlag-platz von Waren aus dem Westen und aus dem un-mittelbar benachbarten Russischen Reich. Bis in die1850er Jahre konnte Brody als Handelsstadt von die-ser grenznahen Position profitieren. Die deutlichejüdische Bevölkerungsmehrheit ging insbesonderenach der Gleichberechtigung 1868 mit einer entspre-

chenden politischen Partizipation in kommunalenund überregionalen Institutionen einher. Bezüglichdes religiösen Lebens hatte Brody den Juden der Re-gion traditionell als »Jerusalem des Ostens« gegolten.Mit der »Alte Schul« wies die Stadt seit Beginn des17. Jahrhunderts die prächtigste �Synagoge Galiziensauf. Charakteristisch für die Juden von Brody war dasBekenntnis zur traditionellen Orthodoxie; bereitsfrüh zeichnete sich eine deutliche Gegnerschaft zusektiererischen Abspaltungen ab. 1784 erfolgte dieGründung einer deutschen Normalschule für Knabenund Mädchen, was die beginnende Öffnung zur sä-kularen Bildung signalisiert. 1816 nahm eine deutsch-sprachige jüdische Realschule ihre Tätigkeit auf, diedeutsche Bildungstradition wurde zur Grundlage derweiteren Entwicklung. Die Stadt entwickelte sich zueinem Zentrum der �Haskala; in Reaktion daraufwurde sie im Jahr 1816 (zusammen mit Tarnopol)von der etablierten Orthodoxie mit dem �Bann be-legt. In der Oberschicht war Brody auf die deutscheKultur ausgerichtet. Als seit 1867 Galizien polonisiertwurde, entstand weiterer Assimilationsdruck. Ebensowar aber auch die traditionelle orthodoxe Kultur wei-terhin präsent, die in der mütterlichen Familie JosephRoths über den Großvater erhalten blieb. So war ihmdie jiddische Sprache heimatlich vertraut; auch seinpräzises Deutsch hat Roth auf seine Jiddisch-Kennt-nisse zurückgeführt.

Am Aufschwung Galiziens um 1900 konnteBrody kaum partizipieren. Als nach den russischenPogromen 1881/1882 tausende von russisch-jüdischenFlüchtlingen in der Grenzstadt Brody Zuflucht such-ten und damit für einige Zeit die Bewohnerzahl fastverdoppelten, überstieg dies die Kapazität der Stadt,die nun immer mehr verarmte. »Verfallen wie inBrody« wurde zu einer geläufigen Redewendung. Inden 1890er Jahren führte die Polonisierung des Kron-lands Galizien und damit auch Brodys zum Ende derdeutschsprachigen Ära, während der Zionismus unddamit die Idee einer anderen jüdischen Heimat anZuspruch gewannen. Das gewaltsame Ende Brodysals einer jüdischen Stadt in den Jahren 1941 bis 1944hat Roth nicht mehr erlebt.

3. Heimat als Utopie

Moses Joseph Roth, der diesem Kontext des spätenhabsburgischen Brody entstammte, wuchs zusam-men mit seiner Mutter Maria (Miriam) Roth bei sei-nem Großvater Jechiel Grübel auf, einem Händler,der in der jüdisch-orthodoxen jiddischsprachigenTradition tief verwurzelt war, in dessen Haushaltaber später Deutsch gesprochen wurde. Den psy-

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

Menschen und große Ideen kommen« [2.Bd. 2, 827].Im Roman Radetzkymarsch (1932), der den Untergangder Habsburgermonarchie zum Thema hat, ist – mitdeutlichen Parallelen zu Erdbeeren – Brody Modell fürdas Städtchen Sipolje, in dem der Leutnant Carl Jo-seph von Trotta in einem Jägerbataillon Dienst tut.Die hier manifeste Evokation der Natur entbehrtnicht einer Ambivalenz, wie sie für Roths Heimatbildtypisch ist: »Die Natur schmiedete einen unendlichenHorizont um die Menschen an der Grenze und um-gab sie mit einem edlen Ring aus grünen Wäldernund blauen Hügeln. Und gingen [die Bewohner]durch das Dunkel der Tannen, so konnten sie sogarglauben, von Gott bevorzugt zu sein [...]. Alle aber,die dort geborenwaren, kanntendie Tückendes Sump-fes und besaßen selbst etwas von seiner Tücke. ImFrühling und im Sommer war die Luft erfüllt voneinem unaufhörlichen, satten Quaken der Frösche. Un-ter den Himmeln jubelte ein ebenso sattes Trillern derLerchen. Und es war eine unermüdliche Zwiesprachªdes Himmels mit dem Sumpf« [2.Bd. 5, 257f.].

Roths Eingedenken hat mit Blick auf Brody etwasvon »erpresster Versöhnung« (Th.W. Adorno); sie istnur möglich aus der Distanz: eine sentimentalischeKonstruktion, keine naive Anverwandlung. Dochwährend sich diese Distanz gegenüber Brody undGalizien nicht verringerte, begann Roth mit wachsen-dem Abstand zur untergegangenen Habsburgermo-narchie, diese zu einem Mythos zu verklären [8]. Ineiner persönlichen Erklärung zum Vorabdruck desRomans Radetzkymarsch in der Frankfurter Zeitung legteer ein programmatisches Bekenntnis zu diesem altenÖsterreich ab: »Ich habe es geliebt, dieses Vaterland,das mir erlaubte, ein Patriot und ein Weltbürger zu-gleich zu sein, ein Österreicher und ein Deutscherunter allen österreichischen Völkern« [2.Bd. 5, 874].

2. Das j�dische Brody im sp�ten Habsburgerreich

Während der gesamten Zeit der österreichischenHerrschaft, die 1772 mit der ersten Teilung Polensund der Etablierung Galiziens als Kronland begann,hatten Juden zwischen zwei Drittel und drei Viertelder Gesamtbevölkerung der Stadt ausgemacht. Brodywurde nach Lemberg und Krakau zeitweilig zur dritt-größten Stadt Galiziens. Seit 1779 mit einem Freihan-delsprivileg ausgestattet, wurde sie zum Umschlag-platz von Waren aus dem Westen und aus dem un-mittelbar benachbarten Russischen Reich. Bis in die1850er Jahre konnte Brody als Handelsstadt von die-ser grenznahen Position profitieren. Die deutlichejüdische Bevölkerungsmehrheit ging insbesonderenach der Gleichberechtigung 1868 mit einer entspre-

chenden politischen Partizipation in kommunalenund überregionalen Institutionen einher. Bezüglichdes religiösen Lebens hatte Brody den Juden der Re-gion traditionell als »Jerusalem des Ostens« gegolten.Mit der »Alte Schul« wies die Stadt seit Beginn des17. Jahrhunderts die prächtigste �Synagoge Galiziensauf. Charakteristisch für die Juden von Brody war dasBekenntnis zur traditionellen Orthodoxie; bereitsfrüh zeichnete sich eine deutliche Gegnerschaft zusektiererischen Abspaltungen ab. 1784 erfolgte dieGründung einer deutschen Normalschule für Knabenund Mädchen, was die beginnende Öffnung zur sä-kularen Bildung signalisiert. 1816 nahm eine deutsch-sprachige jüdische Realschule ihre Tätigkeit auf, diedeutsche Bildungstradition wurde zur Grundlage derweiteren Entwicklung. Die Stadt entwickelte sich zueinem Zentrum der �Haskala; in Reaktion daraufwurde sie im Jahr 1816 (zusammen mit Tarnopol)von der etablierten Orthodoxie mit dem �Bann be-legt. In der Oberschicht war Brody auf die deutscheKultur ausgerichtet. Als seit 1867 Galizien polonisiertwurde, entstand weiterer Assimilationsdruck. Ebensowar aber auch die traditionelle orthodoxe Kultur wei-terhin präsent, die in der mütterlichen Familie JosephRoths über den Großvater erhalten blieb. So war ihmdie jiddische Sprache heimatlich vertraut; auch seinpräzises Deutsch hat Roth auf seine Jiddisch-Kennt-nisse zurückgeführt.

Am Aufschwung Galiziens um 1900 konnteBrody kaum partizipieren. Als nach den russischenPogromen 1881/1882 tausende von russisch-jüdischenFlüchtlingen in der Grenzstadt Brody Zuflucht such-ten und damit für einige Zeit die Bewohnerzahl fastverdoppelten, überstieg dies die Kapazität der Stadt,die nun immer mehr verarmte. »Verfallen wie inBrody« wurde zu einer geläufigen Redewendung. Inden 1890er Jahren führte die Polonisierung des Kron-lands Galizien und damit auch Brodys zum Ende derdeutschsprachigen Ära, während der Zionismus unddamit die Idee einer anderen jüdischen Heimat anZuspruch gewannen. Das gewaltsame Ende Brodysals einer jüdischen Stadt in den Jahren 1941 bis 1944hat Roth nicht mehr erlebt.

3. Heimat als Utopie

Moses Joseph Roth, der diesem Kontext des spätenhabsburgischen Brody entstammte, wuchs zusam-men mit seiner Mutter Maria (Miriam) Roth bei sei-nem Großvater Jechiel Grübel auf, einem Händler,der in der jüdisch-orthodoxen jiddischsprachigenTradition tief verwurzelt war, in dessen Haushaltaber später Deutsch gesprochen wurde. Den psy-

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

chisch labilen Vater Nachum Roth hat der Sohn niekennengelernt – sicher ein Grund dafür, dass er sichVaterfiguren als Gegengewicht zur dominanten Mut-ter entwarf. Deutsch und primär säkular orientiertwar auch die Baron-Hirsch-Grundschule, die Rothvon 1901 bis 1905 besuchte. Ebenfalls ausdrücklichder deutschen Bildungstradition verpflichtet war dask.k. Kronprinz-Rudolf-Gymnasium, an dem Roth1913 seine Matura mit Auszeichnung absolvierte, umzunächst in Lemberg, dann in Wien Germanistik zustudieren. Neben Goethe und Shakespeare (dessenShylock-Figur ihm näher stand als der edle lessing-sche Nathan) wurde ihm in der Gymnasialzeit vorallem Heinrich Heine zum Vorbild, zu dessen Schick-sal und Schreibweise Roth manche Parallelen ent-wickelte. Wien wurde nach dem Ersten Weltkriegzur ersten Station seiner beginnenden Karriere alsJournalist, nach seiner Übersiedlung nach Berlinavancierte Roth zu einem der bedeutendsten Journa-listen der Weimarer Republik.

Nach Brody und Galizien kehrte Roth nur noch zukurzen Besuchen zurück, nachdem er während desErsten Weltkriegs 1916/1917 als Soldat dort Dienstgetan hatte: zunächst im Dezember 1918, dann ausAnlass des Todes seiner Mutter im Februar 1922, imSommer 1924 als Berichterstatter der Frankfurter Zei-tung (die Artikelserie Reise durch Galizien erschien imNovember) sowie im Mai 1928 anlässlich einer Polen-reise. Die letzte Reise in seine Heimat unternahmRoth zusammen mit der Schriftstellerin IrmgardKeun (seine Lebensgefährtin in den Jahren 1936–1938)auf Einladung des polnischen P.E.N.-Clubs vom De-zember 1936 bis Februar 1937; der Besuch bei gali-zischen Verwandten in Lemberg schien den schweralkoholkranken Roth ein wenig aufgerichtet zu ha-ben, wie Keun berichtet.

Vor dem Hintergrund seiner Jugendzeit in Gali-zien kristallisieren sich Roths Hauptthemen heraus,etwa der Zusammenstoß von jüdisch-religiöser Tra-dition und säkularer westlicher Bildung, die Rothwesentlich geprägt hat. Einen deutschen Patriotismuslehnt Roth zugunsten eines österreichischen Patrio-tismus ab, den er im Sinne eines europäischen Huma-nismus universalisiert. Heimkehr kann nur als Utopiegedacht werden, so dass die Heimat als verlorene zumrealen Existenzgrund wird. Die Romane Hotel Savoy(1924) und Flucht ohne Ende (1927) belegen diese Pro-blematik der Rückkehr in eine unheimische Heimat,während im Erstlingsroman Das Spinnennetz (1923)hellsichtig – und nicht ohne Kritik an Überassimila-tion und daraus resultierendem jüdischem �Selbst-hass – die politischen und sozialpsychologischen Be-dingungen analysiert werden, die der antisemitischen

Bedrohung der Juden in der Zeit der Entstehung desNationalsozialismus nach dem Ersten Weltkrieg denBoden bereiteten.

In Juden auf Wanderschaft (1927) wird dagegen diejüdische Tradition gewürdigt. Besonders eindrück-lich ist die Schilderung des ostjüdischen �Schtetls,die zweifellos von Brody inspiriert ist: »Von den15000 Juden leben 8000 vom Handel. Sie sind kleineKrämer, größere Krämer und große Krämer. Die an-deren 7000 Juden sind kleine Handwerker, Arbeiter,Wasserträger, Gelehrte, Kultusbeamte, Synagogen-diener, Lehrer, Schreiber, Thoraschreiber, Talleswe-ber, Ärzte, Advokaten, Beamte, Bettler und ver-schämte Arme, die von der öffentlichen Wohltätigkeitleben, Totengräber, Beschneider und Grabsteinhau-er« [2. Bd. 2, 840]. Nahezu alle diese Menschen habeneines gemeinsam: Sie sind religiös, jedenfalls besu-chen sie regelmäßig die Synagoge, in der sie sichauch über politische Neuigkeiten austauschen. »Sierauchen Zigaretten und schlechten Pfeifentabak imBethaus. Sie benehmen sich wie in einem Kasino. Siesind bei Gott nicht seltene Gäste, sondern zu Hause.[. ..] Im Gebet empören sie sich gegen ihn, schreienzum Himmel, klagen über seine Strenge und führenbei Gott Prozeß gegen Gott, um dann einzugestehn,daß sie gesündigt haben, daß alle Strafen gerechtwaren und daß sie besser sein wollen. Es gibt keinVolk, das dieses Verhältnis zu Gott hätte. Es ist ein

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Joseph Roth (1894–1939) im Pariser Hotel Foyot, 1935

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chisch labilen Vater Nachum Roth hat der Sohn niekennengelernt – sicher ein Grund dafür, dass er sichVaterfiguren als Gegengewicht zur dominanten Mut-ter entwarf. Deutsch und primär säkular orientiertwar auch die Baron-Hirsch-Grundschule, die Rothvon 1901 bis 1905 besuchte. Ebenfalls ausdrücklichder deutschen Bildungstradition verpflichtet war dask.k. Kronprinz-Rudolf-Gymnasium, an dem Roth1913 seine Matura mit Auszeichnung absolvierte, umzunächst in Lemberg, dann in Wien Germanistik zustudieren. Neben Goethe und Shakespeare (dessenShylock-Figur ihm näher stand als der edle lessing-sche Nathan) wurde ihm in der Gymnasialzeit vorallem Heinrich Heine zum Vorbild, zu dessen Schick-sal und Schreibweise Roth manche Parallelen ent-wickelte. Wien wurde nach dem Ersten Weltkriegzur ersten Station seiner beginnenden Karriere alsJournalist, nach seiner Übersiedlung nach Berlinavancierte Roth zu einem der bedeutendsten Journa-listen der Weimarer Republik.

Nach Brody und Galizien kehrte Roth nur noch zukurzen Besuchen zurück, nachdem er während desErsten Weltkriegs 1916/1917 als Soldat dort Dienstgetan hatte: zunächst im Dezember 1918, dann ausAnlass des Todes seiner Mutter im Februar 1922, imSommer 1924 als Berichterstatter der Frankfurter Zei-tung (die Artikelserie Reise durch Galizien erschien imNovember) sowie im Mai 1928 anlässlich einer Polen-reise. Die letzte Reise in seine Heimat unternahmRoth zusammen mit der Schriftstellerin IrmgardKeun (seine Lebensgefährtin in den Jahren 1936–1938)auf Einladung des polnischen P.E.N.-Clubs vom De-zember 1936 bis Februar 1937; der Besuch bei gali-zischen Verwandten in Lemberg schien den schweralkoholkranken Roth ein wenig aufgerichtet zu ha-ben, wie Keun berichtet.

Vor dem Hintergrund seiner Jugendzeit in Gali-zien kristallisieren sich Roths Hauptthemen heraus,etwa der Zusammenstoß von jüdisch-religiöser Tra-dition und säkularer westlicher Bildung, die Rothwesentlich geprägt hat. Einen deutschen Patriotismuslehnt Roth zugunsten eines österreichischen Patrio-tismus ab, den er im Sinne eines europäischen Huma-nismus universalisiert. Heimkehr kann nur als Utopiegedacht werden, so dass die Heimat als verlorene zumrealen Existenzgrund wird. Die Romane Hotel Savoy(1924) und Flucht ohne Ende (1927) belegen diese Pro-blematik der Rückkehr in eine unheimische Heimat,während im Erstlingsroman Das Spinnennetz (1923)hellsichtig – und nicht ohne Kritik an Überassimila-tion und daraus resultierendem jüdischem �Selbst-hass – die politischen und sozialpsychologischen Be-dingungen analysiert werden, die der antisemitischen

Bedrohung der Juden in der Zeit der Entstehung desNationalsozialismus nach dem Ersten Weltkrieg denBoden bereiteten.

In Juden auf Wanderschaft (1927) wird dagegen diejüdische Tradition gewürdigt. Besonders eindrück-lich ist die Schilderung des ostjüdischen �Schtetls,die zweifellos von Brody inspiriert ist: »Von den15000 Juden leben 8000 vom Handel. Sie sind kleineKrämer, größere Krämer und große Krämer. Die an-deren 7000 Juden sind kleine Handwerker, Arbeiter,Wasserträger, Gelehrte, Kultusbeamte, Synagogen-diener, Lehrer, Schreiber, Thoraschreiber, Talleswe-ber, Ärzte, Advokaten, Beamte, Bettler und ver-schämte Arme, die von der öffentlichen Wohltätigkeitleben, Totengräber, Beschneider und Grabsteinhau-er« [2. Bd. 2, 840]. Nahezu alle diese Menschen habeneines gemeinsam: Sie sind religiös, jedenfalls besu-chen sie regelmäßig die Synagoge, in der sie sichauch über politische Neuigkeiten austauschen. »Sierauchen Zigaretten und schlechten Pfeifentabak imBethaus. Sie benehmen sich wie in einem Kasino. Siesind bei Gott nicht seltene Gäste, sondern zu Hause.[. ..] Im Gebet empören sie sich gegen ihn, schreienzum Himmel, klagen über seine Strenge und führenbei Gott Prozeß gegen Gott, um dann einzugestehn,daß sie gesündigt haben, daß alle Strafen gerechtwaren und daß sie besser sein wollen. Es gibt keinVolk, das dieses Verhältnis zu Gott hätte. Es ist ein

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

Joseph Roth (1894–1939) im Pariser Hotel Foyot, 1935

chisch labilen Vater Nachum Roth hat der Sohn niekennengelernt – sicher ein Grund dafür, dass er sichVaterfiguren als Gegengewicht zur dominanten Mut-ter entwarf. Deutsch und primär säkular orientiertwar auch die Baron-Hirsch-Grundschule, die Rothvon 1901 bis 1905 besuchte. Ebenfalls ausdrücklichder deutschen Bildungstradition verpflichtet war dask.k. Kronprinz-Rudolf-Gymnasium, an dem Roth1913 seine Matura mit Auszeichnung absolvierte, umzunächst in Lemberg, dann in Wien Germanistik zustudieren. Neben Goethe und Shakespeare (dessenShylock-Figur ihm näher stand als der edle lessing-sche Nathan) wurde ihm in der Gymnasialzeit vorallem Heinrich Heine zum Vorbild, zu dessen Schick-sal und Schreibweise Roth manche Parallelen ent-wickelte. Wien wurde nach dem Ersten Weltkriegzur ersten Station seiner beginnenden Karriere alsJournalist, nach seiner Übersiedlung nach Berlinavancierte Roth zu einem der bedeutendsten Journa-listen der Weimarer Republik.

Nach Brody und Galizien kehrte Roth nur noch zukurzen Besuchen zurück, nachdem er während desErsten Weltkriegs 1916/1917 als Soldat dort Dienstgetan hatte: zunächst im Dezember 1918, dann ausAnlass des Todes seiner Mutter im Februar 1922, imSommer 1924 als Berichterstatter der Frankfurter Zei-tung (die Artikelserie Reise durch Galizien erschien imNovember) sowie im Mai 1928 anlässlich einer Polen-reise. Die letzte Reise in seine Heimat unternahmRoth zusammen mit der Schriftstellerin IrmgardKeun (seine Lebensgefährtin in den Jahren 1936–1938)auf Einladung des polnischen P.E.N.-Clubs vom De-zember 1936 bis Februar 1937; der Besuch bei gali-zischen Verwandten in Lemberg schien den schweralkoholkranken Roth ein wenig aufgerichtet zu ha-ben, wie Keun berichtet.

Vor dem Hintergrund seiner Jugendzeit in Gali-zien kristallisieren sich Roths Hauptthemen heraus,etwa der Zusammenstoß von jüdisch-religiöser Tra-dition und säkularer westlicher Bildung, die Rothwesentlich geprägt hat. Einen deutschen Patriotismuslehnt Roth zugunsten eines österreichischen Patrio-tismus ab, den er im Sinne eines europäischen Huma-nismus universalisiert. Heimkehr kann nur als Utopiegedacht werden, so dass die Heimat als verlorene zumrealen Existenzgrund wird. Die Romane Hotel Savoy(1924) und Flucht ohne Ende (1927) belegen diese Pro-blematik der Rückkehr in eine unheimische Heimat,während im Erstlingsroman Das Spinnennetz (1923)hellsichtig – und nicht ohne Kritik an Überassimila-tion und daraus resultierendem jüdischem �Selbst-hass – die politischen und sozialpsychologischen Be-dingungen analysiert werden, die der antisemitischen

Bedrohung der Juden in der Zeit der Entstehung desNationalsozialismus nach dem Ersten Weltkrieg denBoden bereiteten.

In Juden auf Wanderschaft (1927) wird dagegen diejüdische Tradition gewürdigt. Besonders eindrück-lich ist die Schilderung des ostjüdischen �Schtetls,die zweifellos von Brody inspiriert ist: »Von den15000 Juden leben 8000 vom Handel. Sie sind kleineKrämer, größere Krämer und große Krämer. Die an-deren 7000 Juden sind kleine Handwerker, Arbeiter,Wasserträger, Gelehrte, Kultusbeamte, Synagogen-diener, Lehrer, Schreiber, Thoraschreiber, Talleswe-ber, Ärzte, Advokaten, Beamte, Bettler und ver-schämte Arme, die von der öffentlichen Wohltätigkeitleben, Totengräber, Beschneider und Grabsteinhau-er« [2. Bd. 2, 840]. Nahezu alle diese Menschen habeneines gemeinsam: Sie sind religiös, jedenfalls besu-chen sie regelmäßig die Synagoge, in der sie sichauch über politische Neuigkeiten austauschen. »Sierauchen Zigaretten und schlechten Pfeifentabak imBethaus. Sie benehmen sich wie in einem Kasino. Siesind bei Gott nicht seltene Gäste, sondern zu Hause.[. ..] Im Gebet empören sie sich gegen ihn, schreienzum Himmel, klagen über seine Strenge und führenbei Gott Prozeß gegen Gott, um dann einzugestehn,daß sie gesündigt haben, daß alle Strafen gerechtwaren und daß sie besser sein wollen. Es gibt keinVolk, das dieses Verhältnis zu Gott hätte. Es ist ein

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

Joseph Roth (1894–1939) im Pariser Hotel Foyot, 1935

chisch labilen Vater Nachum Roth hat der Sohn niekennengelernt – sicher ein Grund dafür, dass er sichVaterfiguren als Gegengewicht zur dominanten Mut-ter entwarf. Deutsch und primär säkular orientiertwar auch die Baron-Hirsch-Grundschule, die Rothvon 1901 bis 1905 besuchte. Ebenfalls ausdrücklichder deutschen Bildungstradition verpflichtet war dask.k. Kronprinz-Rudolf-Gymnasium, an dem Roth1913 seine Matura mit Auszeichnung absolvierte, umzunächst in Lemberg, dann in Wien Germanistik zustudieren. Neben Goethe und Shakespeare (dessenShylock-Figur ihm näher stand als der edle lessing-sche Nathan) wurde ihm in der Gymnasialzeit vorallem Heinrich Heine zum Vorbild, zu dessen Schick-sal und Schreibweise Roth manche Parallelen ent-wickelte. Wien wurde nach dem Ersten Weltkriegzur ersten Station seiner beginnenden Karriere alsJournalist, nach seiner Übersiedlung nach Berlinavancierte Roth zu einem der bedeutendsten Journa-listen der Weimarer Republik.

Nach Brody und Galizien kehrte Roth nur noch zukurzen Besuchen zurück, nachdem er während desErsten Weltkriegs 1916/1917 als Soldat dort Dienstgetan hatte: zunächst im Dezember 1918, dann ausAnlass des Todes seiner Mutter im Februar 1922, imSommer 1924 als Berichterstatter der Frankfurter Zei-tung (die Artikelserie Reise durch Galizien erschien imNovember) sowie im Mai 1928 anlässlich einer Polen-reise. Die letzte Reise in seine Heimat unternahmRoth zusammen mit der Schriftstellerin IrmgardKeun (seine Lebensgefährtin in den Jahren 1936–1938)auf Einladung des polnischen P.E.N.-Clubs vom De-zember 1936 bis Februar 1937; der Besuch bei gali-zischen Verwandten in Lemberg schien den schweralkoholkranken Roth ein wenig aufgerichtet zu ha-ben, wie Keun berichtet.

Vor dem Hintergrund seiner Jugendzeit in Gali-zien kristallisieren sich Roths Hauptthemen heraus,etwa der Zusammenstoß von jüdisch-religiöser Tra-dition und säkularer westlicher Bildung, die Rothwesentlich geprägt hat. Einen deutschen Patriotismuslehnt Roth zugunsten eines österreichischen Patrio-tismus ab, den er im Sinne eines europäischen Huma-nismus universalisiert. Heimkehr kann nur als Utopiegedacht werden, so dass die Heimat als verlorene zumrealen Existenzgrund wird. Die Romane Hotel Savoy(1924) und Flucht ohne Ende (1927) belegen diese Pro-blematik der Rückkehr in eine unheimische Heimat,während im Erstlingsroman Das Spinnennetz (1923)hellsichtig – und nicht ohne Kritik an Überassimila-tion und daraus resultierendem jüdischem �Selbst-hass – die politischen und sozialpsychologischen Be-dingungen analysiert werden, die der antisemitischen

Bedrohung der Juden in der Zeit der Entstehung desNationalsozialismus nach dem Ersten Weltkrieg denBoden bereiteten.

In Juden auf Wanderschaft (1927) wird dagegen diejüdische Tradition gewürdigt. Besonders eindrück-lich ist die Schilderung des ostjüdischen �Schtetls,die zweifellos von Brody inspiriert ist: »Von den15000 Juden leben 8000 vom Handel. Sie sind kleineKrämer, größere Krämer und große Krämer. Die an-deren 7000 Juden sind kleine Handwerker, Arbeiter,Wasserträger, Gelehrte, Kultusbeamte, Synagogen-diener, Lehrer, Schreiber, Thoraschreiber, Talleswe-ber, Ärzte, Advokaten, Beamte, Bettler und ver-schämte Arme, die von der öffentlichen Wohltätigkeitleben, Totengräber, Beschneider und Grabsteinhau-er« [2. Bd. 2, 840]. Nahezu alle diese Menschen habeneines gemeinsam: Sie sind religiös, jedenfalls besu-chen sie regelmäßig die Synagoge, in der sie sichauch über politische Neuigkeiten austauschen. »Sierauchen Zigaretten und schlechten Pfeifentabak imBethaus. Sie benehmen sich wie in einem Kasino. Siesind bei Gott nicht seltene Gäste, sondern zu Hause.[. ..] Im Gebet empören sie sich gegen ihn, schreienzum Himmel, klagen über seine Strenge und führenbei Gott Prozeß gegen Gott, um dann einzugestehn,daß sie gesündigt haben, daß alle Strafen gerechtwaren und daß sie besser sein wollen. Es gibt keinVolk, das dieses Verhältnis zu Gott hätte. Es ist ein

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Joseph Roth (1894–1939) im Pariser Hotel Foyot, 1935

chisch labilen Vater Nachum Roth hat der Sohn niekennengelernt – sicher ein Grund dafür, dass er sichVaterfiguren als Gegengewicht zur dominanten Mut-ter entwarf. Deutsch und primär säkular orientiertwar auch die Baron-Hirsch-Grundschule, die Rothvon 1901 bis 1905 besuchte. Ebenfalls ausdrücklichder deutschen Bildungstradition verpflichtet war dask.k. Kronprinz-Rudolf-Gymnasium, an dem Roth1913 seine Matura mit Auszeichnung absolvierte, umzunächst in Lemberg, dann in Wien Germanistik zustudieren. Neben Goethe und Shakespeare (dessenShylock-Figur ihm näher stand als der edle lessing-sche Nathan) wurde ihm in der Gymnasialzeit vorallem Heinrich Heine zum Vorbild, zu dessen Schick-sal und Schreibweise Roth manche Parallelen ent-wickelte. Wien wurde nach dem Ersten Weltkriegzur ersten Station seiner beginnenden Karriere alsJournalist, nach seiner Übersiedlung nach Berlinavancierte Roth zu einem der bedeutendsten Journa-listen der Weimarer Republik.

Nach Brody und Galizien kehrte Roth nur noch zukurzen Besuchen zurück, nachdem er während desErsten Weltkriegs 1916/1917 als Soldat dort Dienstgetan hatte: zunächst im Dezember 1918, dann ausAnlass des Todes seiner Mutter im Februar 1922, imSommer 1924 als Berichterstatter der Frankfurter Zei-tung (die Artikelserie Reise durch Galizien erschien imNovember) sowie im Mai 1928 anlässlich einer Polen-reise. Die letzte Reise in seine Heimat unternahmRoth zusammen mit der Schriftstellerin IrmgardKeun (seine Lebensgefährtin in den Jahren 1936–1938)auf Einladung des polnischen P.E.N.-Clubs vom De-zember 1936 bis Februar 1937; der Besuch bei gali-zischen Verwandten in Lemberg schien den schweralkoholkranken Roth ein wenig aufgerichtet zu ha-ben, wie Keun berichtet.

Vor dem Hintergrund seiner Jugendzeit in Gali-zien kristallisieren sich Roths Hauptthemen heraus,etwa der Zusammenstoß von jüdisch-religiöser Tra-dition und säkularer westlicher Bildung, die Rothwesentlich geprägt hat. Einen deutschen Patriotismuslehnt Roth zugunsten eines österreichischen Patrio-tismus ab, den er im Sinne eines europäischen Huma-nismus universalisiert. Heimkehr kann nur als Utopiegedacht werden, so dass die Heimat als verlorene zumrealen Existenzgrund wird. Die Romane Hotel Savoy(1924) und Flucht ohne Ende (1927) belegen diese Pro-blematik der Rückkehr in eine unheimische Heimat,während im Erstlingsroman Das Spinnennetz (1923)hellsichtig – und nicht ohne Kritik an Überassimila-tion und daraus resultierendem jüdischem �Selbst-hass – die politischen und sozialpsychologischen Be-dingungen analysiert werden, die der antisemitischen

Bedrohung der Juden in der Zeit der Entstehung desNationalsozialismus nach dem Ersten Weltkrieg denBoden bereiteten.

In Juden auf Wanderschaft (1927) wird dagegen diejüdische Tradition gewürdigt. Besonders eindrück-lich ist die Schilderung des ostjüdischen �Schtetls,die zweifellos von Brody inspiriert ist: »Von den15000 Juden leben 8000 vom Handel. Sie sind kleineKrämer, größere Krämer und große Krämer. Die an-deren 7000 Juden sind kleine Handwerker, Arbeiter,Wasserträger, Gelehrte, Kultusbeamte, Synagogen-diener, Lehrer, Schreiber, Thoraschreiber, Talleswe-ber, Ärzte, Advokaten, Beamte, Bettler und ver-schämte Arme, die von der öffentlichen Wohltätigkeitleben, Totengräber, Beschneider und Grabsteinhau-er« [2. Bd. 2, 840]. Nahezu alle diese Menschen habeneines gemeinsam: Sie sind religiös, jedenfalls besu-chen sie regelmäßig die Synagoge, in der sie sichauch über politische Neuigkeiten austauschen. »Sierauchen Zigaretten und schlechten Pfeifentabak imBethaus. Sie benehmen sich wie in einem Kasino. Siesind bei Gott nicht seltene Gäste, sondern zu Hause.[. ..] Im Gebet empören sie sich gegen ihn, schreienzum Himmel, klagen über seine Strenge und führenbei Gott Prozeß gegen Gott, um dann einzugestehn,daß sie gesündigt haben, daß alle Strafen gerechtwaren und daß sie besser sein wollen. Es gibt keinVolk, das dieses Verhältnis zu Gott hätte. Es ist ein

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

Joseph Roth (1894–1939) im Pariser Hotel Foyot, 1935

altes Volk, und es kennt ihn schon lange! Es hat seinegroße Güte erlebt und seine kalte Gerechtigkeit, eshat oft gesündigt und bitter gebüßt, und es weiß, daßes gestraft werden kann, aber niemals verlassen«[2.Bd. 2, 840f.]. Aus dieser Gewissheit resultiert dasGefühl einer unbedingten Überlegenheit: »Die Ver-achtung, die ein Ostjude gegen den Ungläubigenempfindet, ist tausendmal größer als jene, die ihnselbst treffen könnte« [2. Bd. 2, 842]. Insbesonderedie chassidischen »Wunderrabbis« (�Chassidismus)stehen Roth – trotz der Kuriosität ihrer Höfe undder Idolatrie, die die Gläubigen mit ihnen treiben –für eine Seite des traditionellen Judentums, die dieRegeln strikter Observanz transzendiert: »[Der Wun-derrabbi] weiß, daß über dieser Welt noch eine andereist, mit anderen Gesetzen, und vielleicht ahnt er so-gar, daß Verbote und Gebote in dieser Welt von Sinn,in einer anderen ohne Bedeutung sind. Es kommtihm auf die Befolgung des ungeschriebenen, aberdesto gültigeren Gesetzes an« [2.Bd. 2, 845].

Mit dem Roman Hiob (1930) beginnt eineneue Phasedes Erzählwerks. Vor dem Hintergrund des biblischenHiob und der Josefsgeschichte wird die Exilerfah-rung zu einer Art modernem jüdischem Märchentransformiert [10.81–94]. Die Auswanderung des from-men Dorfschullehrers Mendel Singer mit seiner Fami-lie in die Vereinigten Staaten soll der Gefahr völliger�Assimilation begegnen, die sichmit der Entscheidungdes Sohnes Jonas, als russischer Bauer und Soldat zuleben, der Liaison der Tochter Mirjam mit einemKosaken und der vorherigen Auswanderung des SohnsSchemarjah (Sam) nach Amerika abzeichnet. Die Ge-schichte kulminiert im Wahnsinn Mirjams und imTod von Mendels Frau Deborah; Sam stirbt als Soldatim Ersten Weltkrieg. Mendel sieht sich anders als seineFreunde schuldlos von Gott bestraft und fordert ihndurch bewusste Verstöße gegen die rituellen Geboteheraus. Als aber der behinderte und in Russland zu-rückgelassene Sohn Menuchim als berühmter Sängerund Komponist Alexej Kossak in die Vereinigten Staa-ten kommt und somit eine an den biblischen Joseferinnernde Assimilationsgeschichte die Katastrophen-geschichte aufhebt, versöhnt Mendel sich mit Gott, derletztlich noch alles zum Guten gewendet hat. Die Bot-schaft des Romans erscheint im Sinne der jüdischenModerne ambivalent: Einerseits wird deutlich, dassdie jüdische Tradition in ihrer alten Gestalt keine Zu-kunft mehrhat, andererseits ist die Geschichte insofernauf die religiöse Tradition bezogen, als die Wendungvon Mendels Schicksal sich nicht als ein bloßer Zufalldeuten lässt.

Hiob und vor allem Radetzkymarsch, der Romanüber den Untergang der Habsburgermonarchie, wur-

den zu Roths größten Erfolgen. Die problematischenSeiten der Monarchie werden darin keineswegs über-sehen, wie etwa die äußerst realistische Beschreibungder Gräuel der österreichischen Armee gegen die Zi-vilbevölkerung zeigt. Es gibt in Roths Weltsicht prin-zipiell keinen nicht hinterfragbaren Begriff von Hei-mat; der Mensch lebt buchstäblich und im übertrage-nen Sinn in Grenzsituationen. Aus dieser Überlegungheraus verklärt Roth jene habsburgische Staatskon-struktion, die durch das monarchische Prinzip dieunterschiedlichsten Nationalitäten und Religionenunter einem alle Grenzen transzendierenden Dachfriedlich zu vereinigen vermag. Die Juden als eineseit je gefährdete Minderheit können, so glaubteRoth, nur innerhalb dieser Konstruktion auf eine ei-nigermaßen gesicherte Existenz hoffen. Je prekärersich die politische Entwicklung in den zwanziger undfrühen dreißiger Jahren abzeichnete, desto deutlichergriff Roth auf den restaurativen Habsburgermythoszurück. Dieses Österreichbild – vor allem in Radetzky-marsch und Kapuzinergruft (1938) – lässt sich als Kon-struktion einer messianisch konnotierten Utopie ver-stehen, deren notwendige Ergänzung, ja Voraus-setzung die Restauration darstellt. Auch Roths Nei-gung zu apokalyptischem Pessimismus passt zudieser Art des Messianismus.

In den bedrückenden Jahren des Exils nach 1933bis zu seinem Tod am 27. Mai 1939 in Paris entstan-den weitere Werke Roths, die trotz des sich ver-schlechternden Gesundheitszustands des Autors vongrößter poetischer wie gedanklicher Kraft sind. Dabeirückt neben dem Thema der Heimatlosigkeit die Weltder Juden des östlichen Europa noch einmal deutlichin den Vordergrund. Das Schicksal des offensichtlichaus Brody stammenden Korallenhändlers NissenPiczenik (Der Leviathan, 1934) zeigt die tiefe Ambiva-lenz der Assimilation, insofern die »kontinentale«jüdische Existenz zugunsten einer neuen »ozea-nischen« aufgegeben wird, das Ende durch Ertrinkenim Ozean diese Entscheidung aber gleichsam als töd-lich erscheinen lässt [7. 498]. Allerdings wird im Er-zählerkommentar des Schlusses die Heimkehr in denOzean als einzig sinnvolle Konsequenz jüdischen Le-bens in der Moderne dargestellt: »Möge er dort inFrieden ruhn neben dem Leviathan bis zur Ankunftdes Messias« [2. Bd. 6, 574].

In Das falsche Gewicht (1937) geht es um die Recht-fertigung einer konkreten Lebens- und Staatsformvor einer höheren Instanz, wobei dem jüdischen Eich-meister Anselm Eibenschütz im fiktiven galizischenOrt Zlotogrod (ebenfalls an Brody angelehnt) eine Artunmögliche Vermittlungsfunktion zugewiesen wird.Das eigentliche Thema des Romans ist die prinzi-

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Page 50: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur - ReadingSample

altes Volk, und es kennt ihn schon lange! Es hat seinegroße Güte erlebt und seine kalte Gerechtigkeit, eshat oft gesündigt und bitter gebüßt, und es weiß, daßes gestraft werden kann, aber niemals verlassen«[2.Bd. 2, 840f.]. Aus dieser Gewissheit resultiert dasGefühl einer unbedingten Überlegenheit: »Die Ver-achtung, die ein Ostjude gegen den Ungläubigenempfindet, ist tausendmal größer als jene, die ihnselbst treffen könnte« [2. Bd. 2, 842]. Insbesonderedie chassidischen »Wunderrabbis« (�Chassidismus)stehen Roth – trotz der Kuriosität ihrer Höfe undder Idolatrie, die die Gläubigen mit ihnen treiben –für eine Seite des traditionellen Judentums, die dieRegeln strikter Observanz transzendiert: »[Der Wun-derrabbi] weiß, daß über dieser Welt noch eine andereist, mit anderen Gesetzen, und vielleicht ahnt er so-gar, daß Verbote und Gebote in dieser Welt von Sinn,in einer anderen ohne Bedeutung sind. Es kommtihm auf die Befolgung des ungeschriebenen, aberdesto gültigeren Gesetzes an« [2.Bd. 2, 845].

Mit dem Roman Hiob (1930) beginnt eineneue Phasedes Erzählwerks. Vor dem Hintergrund des biblischenHiob und der Josefsgeschichte wird die Exilerfah-rung zu einer Art modernem jüdischem Märchentransformiert [10.81–94]. Die Auswanderung des from-men Dorfschullehrers Mendel Singer mit seiner Fami-lie in die Vereinigten Staaten soll der Gefahr völliger�Assimilation begegnen, die sichmit der Entscheidungdes Sohnes Jonas, als russischer Bauer und Soldat zuleben, der Liaison der Tochter Mirjam mit einemKosaken und der vorherigen Auswanderung des SohnsSchemarjah (Sam) nach Amerika abzeichnet. Die Ge-schichte kulminiert im Wahnsinn Mirjams und imTod von Mendels Frau Deborah; Sam stirbt als Soldatim Ersten Weltkrieg. Mendel sieht sich anders als seineFreunde schuldlos von Gott bestraft und fordert ihndurch bewusste Verstöße gegen die rituellen Geboteheraus. Als aber der behinderte und in Russland zu-rückgelassene Sohn Menuchim als berühmter Sängerund Komponist Alexej Kossak in die Vereinigten Staa-ten kommt und somit eine an den biblischen Joseferinnernde Assimilationsgeschichte die Katastrophen-geschichte aufhebt, versöhnt Mendel sich mit Gott, derletztlich noch alles zum Guten gewendet hat. Die Bot-schaft des Romans erscheint im Sinne der jüdischenModerne ambivalent: Einerseits wird deutlich, dassdie jüdische Tradition in ihrer alten Gestalt keine Zu-kunft mehrhat, andererseits ist die Geschichte insofernauf die religiöse Tradition bezogen, als die Wendungvon Mendels Schicksal sich nicht als ein bloßer Zufalldeuten lässt.

Hiob und vor allem Radetzkymarsch, der Romanüber den Untergang der Habsburgermonarchie, wur-

den zu Roths größten Erfolgen. Die problematischenSeiten der Monarchie werden darin keineswegs über-sehen, wie etwa die äußerst realistische Beschreibungder Gräuel der österreichischen Armee gegen die Zi-vilbevölkerung zeigt. Es gibt in Roths Weltsicht prin-zipiell keinen nicht hinterfragbaren Begriff von Hei-mat; der Mensch lebt buchstäblich und im übertrage-nen Sinn in Grenzsituationen. Aus dieser Überlegungheraus verklärt Roth jene habsburgische Staatskon-struktion, die durch das monarchische Prinzip dieunterschiedlichsten Nationalitäten und Religionenunter einem alle Grenzen transzendierenden Dachfriedlich zu vereinigen vermag. Die Juden als eineseit je gefährdete Minderheit können, so glaubteRoth, nur innerhalb dieser Konstruktion auf eine ei-nigermaßen gesicherte Existenz hoffen. Je prekärersich die politische Entwicklung in den zwanziger undfrühen dreißiger Jahren abzeichnete, desto deutlichergriff Roth auf den restaurativen Habsburgermythoszurück. Dieses Österreichbild – vor allem in Radetzky-marsch und Kapuzinergruft (1938) – lässt sich als Kon-struktion einer messianisch konnotierten Utopie ver-stehen, deren notwendige Ergänzung, ja Voraus-setzung die Restauration darstellt. Auch Roths Nei-gung zu apokalyptischem Pessimismus passt zudieser Art des Messianismus.

In den bedrückenden Jahren des Exils nach 1933bis zu seinem Tod am 27. Mai 1939 in Paris entstan-den weitere Werke Roths, die trotz des sich ver-schlechternden Gesundheitszustands des Autors vongrößter poetischer wie gedanklicher Kraft sind. Dabeirückt neben dem Thema der Heimatlosigkeit die Weltder Juden des östlichen Europa noch einmal deutlichin den Vordergrund. Das Schicksal des offensichtlichaus Brody stammenden Korallenhändlers NissenPiczenik (Der Leviathan, 1934) zeigt die tiefe Ambiva-lenz der Assimilation, insofern die »kontinentale«jüdische Existenz zugunsten einer neuen »ozea-nischen« aufgegeben wird, das Ende durch Ertrinkenim Ozean diese Entscheidung aber gleichsam als töd-lich erscheinen lässt [7. 498]. Allerdings wird im Er-zählerkommentar des Schlusses die Heimkehr in denOzean als einzig sinnvolle Konsequenz jüdischen Le-bens in der Moderne dargestellt: »Möge er dort inFrieden ruhn neben dem Leviathan bis zur Ankunftdes Messias« [2. Bd. 6, 574].

In Das falsche Gewicht (1937) geht es um die Recht-fertigung einer konkreten Lebens- und Staatsformvor einer höheren Instanz, wobei dem jüdischen Eich-meister Anselm Eibenschütz im fiktiven galizischenOrt Zlotogrod (ebenfalls an Brody angelehnt) eine Artunmögliche Vermittlungsfunktion zugewiesen wird.Das eigentliche Thema des Romans ist die prinzi-

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

altes Volk, und es kennt ihn schon lange! Es hat seinegroße Güte erlebt und seine kalte Gerechtigkeit, eshat oft gesündigt und bitter gebüßt, und es weiß, daßes gestraft werden kann, aber niemals verlassen«[2.Bd. 2, 840f.]. Aus dieser Gewissheit resultiert dasGefühl einer unbedingten Überlegenheit: »Die Ver-achtung, die ein Ostjude gegen den Ungläubigenempfindet, ist tausendmal größer als jene, die ihnselbst treffen könnte« [2. Bd. 2, 842]. Insbesonderedie chassidischen »Wunderrabbis« (�Chassidismus)stehen Roth – trotz der Kuriosität ihrer Höfe undder Idolatrie, die die Gläubigen mit ihnen treiben –für eine Seite des traditionellen Judentums, die dieRegeln strikter Observanz transzendiert: »[Der Wun-derrabbi] weiß, daß über dieser Welt noch eine andereist, mit anderen Gesetzen, und vielleicht ahnt er so-gar, daß Verbote und Gebote in dieser Welt von Sinn,in einer anderen ohne Bedeutung sind. Es kommtihm auf die Befolgung des ungeschriebenen, aberdesto gültigeren Gesetzes an« [2.Bd. 2, 845].

Mit dem Roman Hiob (1930) beginnt eineneue Phasedes Erzählwerks. Vor dem Hintergrund des biblischenHiob und der Josefsgeschichte wird die Exilerfah-rung zu einer Art modernem jüdischem Märchentransformiert [10.81–94]. Die Auswanderung des from-men Dorfschullehrers Mendel Singer mit seiner Fami-lie in die Vereinigten Staaten soll der Gefahr völliger�Assimilation begegnen, die sichmit der Entscheidungdes Sohnes Jonas, als russischer Bauer und Soldat zuleben, der Liaison der Tochter Mirjam mit einemKosaken und der vorherigen Auswanderung des SohnsSchemarjah (Sam) nach Amerika abzeichnet. Die Ge-schichte kulminiert im Wahnsinn Mirjams und imTod von Mendels Frau Deborah; Sam stirbt als Soldatim Ersten Weltkrieg. Mendel sieht sich anders als seineFreunde schuldlos von Gott bestraft und fordert ihndurch bewusste Verstöße gegen die rituellen Geboteheraus. Als aber der behinderte und in Russland zu-rückgelassene Sohn Menuchim als berühmter Sängerund Komponist Alexej Kossak in die Vereinigten Staa-ten kommt und somit eine an den biblischen Joseferinnernde Assimilationsgeschichte die Katastrophen-geschichte aufhebt, versöhnt Mendel sich mit Gott, derletztlich noch alles zum Guten gewendet hat. Die Bot-schaft des Romans erscheint im Sinne der jüdischenModerne ambivalent: Einerseits wird deutlich, dassdie jüdische Tradition in ihrer alten Gestalt keine Zu-kunft mehrhat, andererseits ist die Geschichte insofernauf die religiöse Tradition bezogen, als die Wendungvon Mendels Schicksal sich nicht als ein bloßer Zufalldeuten lässt.

Hiob und vor allem Radetzkymarsch, der Romanüber den Untergang der Habsburgermonarchie, wur-

den zu Roths größten Erfolgen. Die problematischenSeiten der Monarchie werden darin keineswegs über-sehen, wie etwa die äußerst realistische Beschreibungder Gräuel der österreichischen Armee gegen die Zi-vilbevölkerung zeigt. Es gibt in Roths Weltsicht prin-zipiell keinen nicht hinterfragbaren Begriff von Hei-mat; der Mensch lebt buchstäblich und im übertrage-nen Sinn in Grenzsituationen. Aus dieser Überlegungheraus verklärt Roth jene habsburgische Staatskon-struktion, die durch das monarchische Prinzip dieunterschiedlichsten Nationalitäten und Religionenunter einem alle Grenzen transzendierenden Dachfriedlich zu vereinigen vermag. Die Juden als eineseit je gefährdete Minderheit können, so glaubteRoth, nur innerhalb dieser Konstruktion auf eine ei-nigermaßen gesicherte Existenz hoffen. Je prekärersich die politische Entwicklung in den zwanziger undfrühen dreißiger Jahren abzeichnete, desto deutlichergriff Roth auf den restaurativen Habsburgermythoszurück. Dieses Österreichbild – vor allem in Radetzky-marsch und Kapuzinergruft (1938) – lässt sich als Kon-struktion einer messianisch konnotierten Utopie ver-stehen, deren notwendige Ergänzung, ja Voraus-setzung die Restauration darstellt. Auch Roths Nei-gung zu apokalyptischem Pessimismus passt zudieser Art des Messianismus.

In den bedrückenden Jahren des Exils nach 1933bis zu seinem Tod am 27. Mai 1939 in Paris entstan-den weitere Werke Roths, die trotz des sich ver-schlechternden Gesundheitszustands des Autors vongrößter poetischer wie gedanklicher Kraft sind. Dabeirückt neben dem Thema der Heimatlosigkeit die Weltder Juden des östlichen Europa noch einmal deutlichin den Vordergrund. Das Schicksal des offensichtlichaus Brody stammenden Korallenhändlers NissenPiczenik (Der Leviathan, 1934) zeigt die tiefe Ambiva-lenz der Assimilation, insofern die »kontinentale«jüdische Existenz zugunsten einer neuen »ozea-nischen« aufgegeben wird, das Ende durch Ertrinkenim Ozean diese Entscheidung aber gleichsam als töd-lich erscheinen lässt [7. 498]. Allerdings wird im Er-zählerkommentar des Schlusses die Heimkehr in denOzean als einzig sinnvolle Konsequenz jüdischen Le-bens in der Moderne dargestellt: »Möge er dort inFrieden ruhn neben dem Leviathan bis zur Ankunftdes Messias« [2. Bd. 6, 574].

In Das falsche Gewicht (1937) geht es um die Recht-fertigung einer konkreten Lebens- und Staatsformvor einer höheren Instanz, wobei dem jüdischen Eich-meister Anselm Eibenschütz im fiktiven galizischenOrt Zlotogrod (ebenfalls an Brody angelehnt) eine Artunmögliche Vermittlungsfunktion zugewiesen wird.Das eigentliche Thema des Romans ist die prinzi-

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altes Volk, und es kennt ihn schon lange! Es hat seinegroße Güte erlebt und seine kalte Gerechtigkeit, eshat oft gesündigt und bitter gebüßt, und es weiß, daßes gestraft werden kann, aber niemals verlassen«[2.Bd. 2, 840f.]. Aus dieser Gewissheit resultiert dasGefühl einer unbedingten Überlegenheit: »Die Ver-achtung, die ein Ostjude gegen den Ungläubigenempfindet, ist tausendmal größer als jene, die ihnselbst treffen könnte« [2. Bd. 2, 842]. Insbesonderedie chassidischen »Wunderrabbis« (�Chassidismus)stehen Roth – trotz der Kuriosität ihrer Höfe undder Idolatrie, die die Gläubigen mit ihnen treiben –für eine Seite des traditionellen Judentums, die dieRegeln strikter Observanz transzendiert: »[Der Wun-derrabbi] weiß, daß über dieser Welt noch eine andereist, mit anderen Gesetzen, und vielleicht ahnt er so-gar, daß Verbote und Gebote in dieser Welt von Sinn,in einer anderen ohne Bedeutung sind. Es kommtihm auf die Befolgung des ungeschriebenen, aberdesto gültigeren Gesetzes an« [2.Bd. 2, 845].

Mit dem Roman Hiob (1930) beginnt eineneue Phasedes Erzählwerks. Vor dem Hintergrund des biblischenHiob und der Josefsgeschichte wird die Exilerfah-rung zu einer Art modernem jüdischem Märchentransformiert [10.81–94]. Die Auswanderung des from-men Dorfschullehrers Mendel Singer mit seiner Fami-lie in die Vereinigten Staaten soll der Gefahr völliger�Assimilation begegnen, die sichmit der Entscheidungdes Sohnes Jonas, als russischer Bauer und Soldat zuleben, der Liaison der Tochter Mirjam mit einemKosaken und der vorherigen Auswanderung des SohnsSchemarjah (Sam) nach Amerika abzeichnet. Die Ge-schichte kulminiert im Wahnsinn Mirjams und imTod von Mendels Frau Deborah; Sam stirbt als Soldatim Ersten Weltkrieg. Mendel sieht sich anders als seineFreunde schuldlos von Gott bestraft und fordert ihndurch bewusste Verstöße gegen die rituellen Geboteheraus. Als aber der behinderte und in Russland zu-rückgelassene Sohn Menuchim als berühmter Sängerund Komponist Alexej Kossak in die Vereinigten Staa-ten kommt und somit eine an den biblischen Joseferinnernde Assimilationsgeschichte die Katastrophen-geschichte aufhebt, versöhnt Mendel sich mit Gott, derletztlich noch alles zum Guten gewendet hat. Die Bot-schaft des Romans erscheint im Sinne der jüdischenModerne ambivalent: Einerseits wird deutlich, dassdie jüdische Tradition in ihrer alten Gestalt keine Zu-kunft mehrhat, andererseits ist die Geschichte insofernauf die religiöse Tradition bezogen, als die Wendungvon Mendels Schicksal sich nicht als ein bloßer Zufalldeuten lässt.

Hiob und vor allem Radetzkymarsch, der Romanüber den Untergang der Habsburgermonarchie, wur-

den zu Roths größten Erfolgen. Die problematischenSeiten der Monarchie werden darin keineswegs über-sehen, wie etwa die äußerst realistische Beschreibungder Gräuel der österreichischen Armee gegen die Zi-vilbevölkerung zeigt. Es gibt in Roths Weltsicht prin-zipiell keinen nicht hinterfragbaren Begriff von Hei-mat; der Mensch lebt buchstäblich und im übertrage-nen Sinn in Grenzsituationen. Aus dieser Überlegungheraus verklärt Roth jene habsburgische Staatskon-struktion, die durch das monarchische Prinzip dieunterschiedlichsten Nationalitäten und Religionenunter einem alle Grenzen transzendierenden Dachfriedlich zu vereinigen vermag. Die Juden als eineseit je gefährdete Minderheit können, so glaubteRoth, nur innerhalb dieser Konstruktion auf eine ei-nigermaßen gesicherte Existenz hoffen. Je prekärersich die politische Entwicklung in den zwanziger undfrühen dreißiger Jahren abzeichnete, desto deutlichergriff Roth auf den restaurativen Habsburgermythoszurück. Dieses Österreichbild – vor allem in Radetzky-marsch und Kapuzinergruft (1938) – lässt sich als Kon-struktion einer messianisch konnotierten Utopie ver-stehen, deren notwendige Ergänzung, ja Voraus-setzung die Restauration darstellt. Auch Roths Nei-gung zu apokalyptischem Pessimismus passt zudieser Art des Messianismus.

In den bedrückenden Jahren des Exils nach 1933bis zu seinem Tod am 27. Mai 1939 in Paris entstan-den weitere Werke Roths, die trotz des sich ver-schlechternden Gesundheitszustands des Autors vongrößter poetischer wie gedanklicher Kraft sind. Dabeirückt neben dem Thema der Heimatlosigkeit die Weltder Juden des östlichen Europa noch einmal deutlichin den Vordergrund. Das Schicksal des offensichtlichaus Brody stammenden Korallenhändlers NissenPiczenik (Der Leviathan, 1934) zeigt die tiefe Ambiva-lenz der Assimilation, insofern die »kontinentale«jüdische Existenz zugunsten einer neuen »ozea-nischen« aufgegeben wird, das Ende durch Ertrinkenim Ozean diese Entscheidung aber gleichsam als töd-lich erscheinen lässt [7. 498]. Allerdings wird im Er-zählerkommentar des Schlusses die Heimkehr in denOzean als einzig sinnvolle Konsequenz jüdischen Le-bens in der Moderne dargestellt: »Möge er dort inFrieden ruhn neben dem Leviathan bis zur Ankunftdes Messias« [2. Bd. 6, 574].

In Das falsche Gewicht (1937) geht es um die Recht-fertigung einer konkreten Lebens- und Staatsformvor einer höheren Instanz, wobei dem jüdischen Eich-meister Anselm Eibenschütz im fiktiven galizischenOrt Zlotogrod (ebenfalls an Brody angelehnt) eine Artunmögliche Vermittlungsfunktion zugewiesen wird.Das eigentliche Thema des Romans ist die prinzi-

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Enzyklop�die j�discher Geschichte und Kultur, Umbruch

pielle Frage nach menschlicher Schuld und Verant-wortung angesichts des Elends in der Welt. Die Auto-rität des Eichmeisters, von der er selbst durchdrun-gen ist, ist gleichsam usurpiert. Abstrakte Gleichheitund Gerechtigkeit stehen einander unversöhnlich ge-genüber; die offensichtlich empörend ungerechteHandlung gegenüber dem frommen Mendel Singerund seiner Frau, deren ärmlicher Laden wegen fal-scher Gewichte geschlossen wird, führt schließlich zuEibenschützª Untergang. In der Schlusssequenz wirddie Frage der Gerechtigkeit in der Imagination dessterbenden Eibenschütz zur entscheidenden Probedes göttlichen Gerichts. Seine Gewichte werden vomGroßen Eichmeister als eindeutig falsch erkannt unddennoch vor einer höheren Instanz als richtig dekla-riert. In gewisser Weise ergibt sich dabei eine Verbin-dung zur Novelle Die Legende vom heiligen Trinker(1939), die als eine Art heiteres Gegenstück zu derdüsteren Erzählung Das falsche Gewicht gelten kann.Trotz der weitgehenden Sprachlosigkeit undKommunikationsunfähigkeit der Personen bleibtletztlich die Möglichkeit der Kommunikation miteiner überirdischen Instanz erhalten, auch wennihre Realisierung zugleich das Ende des Lebens mar-kiert und, nüchtern betrachtet, lediglich als Phantasieeines Sterbenden dargestellt wird.

Der Ort »zwischen den Kulturen« jenseits dersich abgrenzenden Sphären der Nationalitäten undReligionen wurde zur eigentlichen geistigen Heimatdes jüdischen Dichters Joseph Roth. Angesichts derKatastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts musstediese Heimat, in die auch Brody mit einbegriffen ist,utopisch bleiben – modellhaft imaginiert als das Frie-densreich der untergegangenen k.u.k. MonarchieKaiser Franz Josephs. Sein kompetentester BiographDavid Bronsen hat Roths Position dergestalt zusam-mengefasst, dass die auffallende Mischung von Ju-dentum und Österreichertum bei ihm nie richtig zueiner Synthese verschmolzen sei; der Zwiespalt, densie in Roth auslöste, habe ihn nie zur Ruhe kommenlassen. Dennoch war selbst noch seine Treue zumHabsburgerreich gewissermaßen eine »jüdische Ange-legenheit« [5. 72]. So problematisch Roths legitimisti-sche Verklärung der Habsburgermonarchie war: Erteilte sie mit Autoren seiner Generation wie StefanZweig, Franz Werfel oder Leo Perutz und ist zu ihremvielleicht bedeutendsten jüdischen Dichter geworden.

[1] J. Roth, Briefe 1911–1939, hg. v. H. Kesten, Köln 1970.[2] J. Roth, Werke in 6 Bänden, Bd. 1–3: Das journalistischeWerk, hg. v. K. Westermann; Bd. 4–6: Romane und Erzäh-lungen, hg. v. F. Hackert, Köln 1989–1991.[3] Joseph Roth 1894–1939. Ein Katalog der Dokumentations-stelle für neuere österreichische Literatur zur Ausstellung des

Jüdischen Museums der Stadt Wien, hg. v. H. Lunzer/V.Lunzer-Talos, Wien 1994. [4] T. Andlauer, Die jüdische Be-völkerung im Modernisierungsprozess Galiziens (1867–1914),Frankfurt a.M. u.a. 2001. [5] D. Bronsen, Joseph Roth, Köln1974. [6] E. Hofbauer, Brody. Die tote Stadt, in: E. Hofbauer /L. Weidmann, Verwehte Spuren. Von Lemberg bis Czerno-witz. Ein Trümmerfeld der Erinnerungen, Wien 1999, 93–107. [7] A. Kilcher, Joseph Roth, in: A. Kilcher (Hg.), MetzlerLexikon der deutsch-jüdischen Literatur, Stuttgart/Weimar2000, 494–499. [8] C. Magris, Weit von wo. Verlorene Weltdes Ostjudentums, Wien 1974. [9] M. Pollack, Galizien. EineReise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und derBukowina, Frankfurt a.M./Leipzig 2001. [10] G. Shaked, DieMacht der Identität. Essays über jüdische Schriftsteller,Frankfurt a.M. 1992. [11] W. von Sternburg, Joseph Roth.Eine Biographie, Köln 2009.

Hans Otto Horch, Aachen

Buchdruck

Der Buchdruck mit hebräischen Lettern beschränktesich in der frühen Neuzeit weitgehend auf die Repro-duktion traditionell-religiöser Wissensbestände undtrug somit zur Befestigung jüdischer Religion undKultur nach außen hin bei. Zugleich beförderte erden innerjüdischen Kulturtransfer zwischen sephar-dischen und aschkenasischen Wissenstraditionen so-wie in einem gewissen Maß den Austausch zwischenJuden und Christen. Hierdurch führte er schließlicheinen tiefgreifenden Transformationsprozess im Kor-pus des traditionellen jüdischen Wissens herbei. Mitder �Haskala wurde der hebräische Buchdruck zumKatalysator der Säkularisierung jüdischen Wissens; indieser Hinsicht erreichte er vor allem im östlichenEuropa im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts großeWirksamkeit.

1. Hebr�ischer Buchdruck in der fr�hen Neuzeit2. Zentren des hebr�ischen Buchdrucks3. Hebr�ischer Buchdruck zu Beginn der Moderne

1. Hebr�ischer Buchdruck in der fr�hen Neuzeit

Der Buchdruck mit hebräischen Lettern setzte etwazwanzig Jahre nach Johannes Gutenbergs ersten Dru-cken um 1450 ein. Die ersten beiden datierten hebräi-schen Drucke stammen aus Italien; es handelt sich umeinen 1475 in Reggio di Calabria gedruckten Kom-mentar zum Pentateuch von Raschi (�Worms) undden im gleichen Jahr in Piove di Sacco gedrucktenreligionsgesetzlichen Kodex Arba�a Turim (Vier Säu-len) von Jakob ben Ascher. Zur Beschreibung ihrerTätigkeit wählten die Drucker in den Kolophonen(Druckervermerke am Ende des Buchs) der ersten Bü-cher zunächst die hebräischen Verben für »schrei-ben«, »kopieren« (hebr. katav) oder für »eingravie-

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Brody

(...)Hans Otto Horch, Aachen

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© J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag in StuttgartStand: Juni 2011

Bildnachweis:Autonomie: Privileg Vytautas' des Großen an die Juden von Brest (1388), lateinische Kopie aus der Metryka Koronna (Mitte 15. Jahrhundert, Ausschnitt). Archiwum Główne Akt Dawnych (Central Archives of Historical Records), WarschauBagdad: Mitglieder des Irakischen Rundfunk-Ensembles, 1938. Beth Hatefutsoth Photo Archive, Tel AvivBiedermeier: Sabbath-Nachmittag, Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim (um 1850). picture-alliance/akg-imagesBremerhaven: System der Kontroll- und Registrierstationen für Auswanderer aus dem Russischen Reich und Österreich-Ungarn sowie ihre Reiserouten nach Hamburg und Bremerhaven, um 1905. Erstellt vom Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL), LeipzigBrody: Joseph Roth (1894–1939) im Pariser Hotel Foyot, 1935. Foto: Josef Breitenbach. Center for Creative Photography; Josef & Yaye Breitenbach Charitable Foundation, New York

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