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Ausgewählte Fachartikel und Interviews aus den Jahren 2015, 2016 und 2017 inklusive Literaturangaben zur weiterführenden Recherche. Ernährung Dossier

Ernährung · rale Ernährung. Dies liegt unter an-derem daran, dass die Gesamtkosten für Nährstoffe, Material und Perso-nal rund 50 bis 70 Prozent günstiger sind als bei der parenteralen

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Page 1: Ernährung · rale Ernährung. Dies liegt unter an-derem daran, dass die Gesamtkosten für Nährstoffe, Material und Perso-nal rund 50 bis 70 Prozent günstiger sind als bei der parenteralen

Ausgewählte Fachartikel und Interviews aus den Jahren 2015, 2016 und 2017 inklusive

Literaturangaben zur weiterführenden Recherche.

Ernährung

Dossier

Page 2: Ernährung · rale Ernährung. Dies liegt unter an-derem daran, dass die Gesamtkosten für Nährstoffe, Material und Perso-nal rund 50 bis 70 Prozent günstiger sind als bei der parenteralen

Enterale Ernährung: Gut gepflegt – sicher ernährt Bei Patienten, die künstlich ernährt werden, stellen sich immer wieder typische Fragen: Wie erfolgt der Verbandswechsel einer Ernährungssonde? Wie verabreiche ich Medikamente? Was tun, wenn der Schlauch verstopft?Von Sabina Hagemann (03/16)

Untersuchung: Wie ernähren sich Pflegende?Schichtdienst, hohe Verantwortung und steigende Anforderungen kennzeichnen den Pflegealltag. Wirken sich die daraus resultierenden Belastungen auf das Ernährungsverhalten von Pflegenden aus? Diese Frage wurde an der Fachhochschule Bielefeld untersucht.Von Maria Kannenberg (11/2016)

Ernährung bei Querschnittlähmung: Rundum gut ernährt Menschen mit Querschnittlähmung benötigen keine spezielle Diät, aber eine ausgewogene Ernährung. Zudem sollte auf die Verdauung geachtet werden, da sich die Schädigung des Rückenmarks auch auf die Darmfunktion auswirkt.Von Veronika Geng (12/2017)

Ethik in der Pflege: PEG-Sonde – Ja oder Nein? Wenn alte Menschen nicht mehr essen wollen, wird meist bald über eine PEG-Sonde nachgedacht. Diese Entscheidung ist nicht einfach und muss jedes Mal im Einzelfall abgewogen werden. Bei der Abwägung spielt die Pflege eine entscheidende Rolle.Von Prof. Dr. Giovanni Maio (09/2016)

Mangelernährung bei Tumorpatienten: Was tun gegen Gewichtsverlust? Für krebskranke Menschen spielt die Ernährung eine große Rolle – vor allem, wenn es zu einer Mangelernährung kommt. Ist eine solche erkennbar, müssen sofortige Ernährungsinterventionen erfolgen.Von Matthias Naegele (01/2015)

Anorexia Nervosa: Wenn Essen zur Qual wird Eine Magersucht kann lebensbedrohlich werden und einen Klinikaufenthalt erforderlich machen. Die Pflegenden sind diejenigen, die die Magersüchtigen tagtäglich durch die stationäre Behandlung tragen und begleiten.Von Maria Sedetzki (01/2017)

Dysphagie: „Den Teufelskreis durchbrechen“ Eine Studie legt nahe, dass Schluckstörungen bei Heimbewohnern häufiger sind als bislang bekannt war. Da die Symptomatik einer Dysphagie sehr vieldeutig ist, erhalten die wenigsten Betroffenen eine passgenaue Versorgung. Was ist zu tun? Interview mit Dr. Martin Jäger (06/2017)

Heimparenterale Ernährung: „Eine sehr gute Notlösung“ Wenn Patienten über enterale Kost nicht genug Nährstoffe aufnehmen können, kann eine parenterale Ernährung notwendig sein. Diese ist auch zu Hause möglich. Betroffene können damit einen fast normalen Alltag leben. Interview mit Dr. Silke Frohmüller (08/2016)

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Inhaltsverzeichnis

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Auf der Basis natürlicher Lebensmittel.

250 ml Milch

125 ml Wasser

45 g Maltodextrin (aus Maisstärke)

40 g Karotte

15 g Rapsöl10 g Kürbis

10 g Hühnchen10 g Ballaststoffe

*

Eiweiß15 kcal%

Eiweiß17 kcal%17 kcal%

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SNTN_ANZ_210x297_Schwester_Pfleger_Dossier_RZ.indd 1 02.07.18 15:11

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GUT GEPFLEGT – SICHER ERNÄHRTEnterale Ernährung. Bei Patienten, die künstlich ernährt werden, stellen sich immer wieder typische Fragen: Wie erfolgt der Verbandswechsel einer Ernährungssonde? Wie verabreiche ich Medikamente? Was tun, wenn der Schlauch verstopft? Antworten gibt der folgende Artikel.

Von Sabina Hagemann

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Pflegen + Unterstützen

Herr M. liegt seit einer Wo-che auf einer onkologischen Station. Zu Beginn seines

Klinikaufenthalts wurde aufgrund eines Mundbodenkarzinoms eine sogenannte Neck-Dissection-Ope-ration in der Hals-Nasen-Ohren-Klinik durchgeführt. Nach der Nar-kose entwickelte der 67-Jährige zu-sätzlich zu seiner bereits bestehen-den Herzinsuffizienz eine Pneumo-nie mit Ateminsuffizienz. Insgesamt weist der Patient einen schlechten Allgemein- und Ernährungszustand auf. Er wiegt 62 Kilogramm bei einer Körpergröße von 187 Zentimetern. Im therapeutischen Team der Stati-on wird beschlossen, Herrn M. hochkalorisch über eine liegende Er-nährungssonde zu ernähren, die bis-lang als Ablaufsonde genutzt wurde. Es wird eine Ernährungspumpe ein-gesetzt, da diese eine kontinuierliche Applikation bei guter Kontrolle der aufgenommenen Menge ermöglicht. Parallel werden einige Medikamente, die bis jetzt intravenös verabreicht wurden, auf die orale Verabreichungs-form umgestellt.

Breites Einsatzspektrum

Enterale Ernährung stellt eine Mög-lichkeit dar, Menschen für einen be-stimmten Zeitraum oder dauerhaft adäquat und angepasst an spezielle Stoffwechselsituationen zu ernähren. Sie ist erforderlich, wenn durch die orale Aufnahme von Nahrung der Nährstoffbedarf eines Menschen nicht ausreichend gedeckt werden kann. Die Gründe dafür können vielfältig sein:n Der Mensch kann seinen Nähr-stoffbedarf nicht decken aufgrund von Bewusstlosigkeit, Schluckstörun-gen, Tumore oder Stenose im Öso-phagus, Erbrechen oder Schmerzen.n Der Mensch darf seinen Nähr-stoffbedarf nicht decken aufgrund von prä- und postoperativen Um-ständen, Blutungen im oberen gas-trointestinal Trakt, Ileus und Pan-kreatitis.n Der Mensch will seinen Nähr-stoffbedarf nicht decken aufgrund von Appetitlosigkeit, durch Zytosta-tika ausgelöstes Erbrechen, Anorexia nervosa, Depressionen oder Demenz.

Vorausetzung für eine enterale Ernährungstherapie ist eine vorhan-dene Verdauungs- und Resorptions-leistung sowie eine ausreichende Motilität des Magen-Darm-Trakts.

Manchmal ist es sinnvoll, die en-terale und parenterale Ernährung zu kombinieren. Beide Ernährungsfor-men schließen sich nicht gegenseitig aus. Vorrang hat allerdings die ente-rale Ernährung. Dies liegt unter an-derem daran, dass die Gesamtkosten für Nährstoffe, Material und Perso-nal rund 50 bis 70 Prozent günstiger sind als bei der parenteralen Ernäh-rung (Ullrich/Stolecki 2015). Zu-dem bietet sie weitere Vorteile:n die enterale Ernährung ist phy-siologisch, da die gastrointestinale Funktion erhalten bleibt,n Verdauungsenzyme werden wei-ter gebildet,n Darmflora und Darmzotten blei-ben physiologisch erhalten,n die Darmmukosa bleibt erhalten, dadurch wird einer bakteriellen Um-lagerung vorgebeugt,n sie bewirkt eine physiologische Ulkusprophylaxe,n die Durchblutung der Leber und Mesenterialgefäße, die die einzelnen Bereiche des Verdauungstrakts versor-gen, wird verbessert.

Eine enterale Ernährungsthera-pie kann vorgenommen werden, wenn keine absoluten Kontraindika-tionen bestehen wie ein akutes Ab-

domen, ein mechanischer Ileus und eine akute gastrointestinale Blutung sowie wenn relative Kontraindika-tionen wie unstillbares Erbrechen, massive Durchfälle und spezielle Ri-siken einer Sondierung ebenfalls ab-geklärt sind. Hilfreich für die indivi-duelle Vorgehensweise ist eine Ent-scheidungshilfe, die in der Leitlinie zur enteralen Ernährung der Euro-päischen Gesellschaft für klinische Ernährung (European Society for Clinical Nutrition and Metabolism, ESPEN) enthalten ist (Abb. 1).

Nasensonde bei kurzer Anwendung

Für eine kurzfristige enterale Ernäh-rung – bis zu 30 Tagen – ist eine Sonde geeignet, die über die Nase entweder im Magen (gastral), im Zwölffingerdarm (duodenal) oder im Dünndarm (jejunal) platziert wird.

Die heute gebräuchlichen Son-den bestehen aus Polyurethan, das sehr flexibel und knickstabil ist. Na-sogastrale Sonden sind in unter-schiedlichen Größen vorhanden und können so flexibel eingesetzt wer-den. Sie sind röntgenologisch dar-stellbar.

Einlumige Polyurethan-Sonden mit integriertem Führungsmandrain sind relativ dünn und verursachen ein geringes Fremdkörpergefühl. Bei doppelläufigen Sonden dient das zweite Lumen der Belüftung.

kurzfristige enterale Ernährung langfristige enterale Ernährung

keine Operation

keine Aspirationsgefahr

nasogastrale Sonde

orale Ernährung ist nicht möglich oder nicht ausreichend

Aspirations- gefahr

jejunale Sonde

keine Operation

keine Aspirationsgefahr

PEG

Aspirations- gefahr

PEJ/PEG

Abb. 1Entscheidungshilfe zur Vorgehensweise bei enteraler Ernährung

Quelle: ESPEN guidelines on artifical enteral nutrition, S. 849 (Übersetzung: Sabina Hagemann)

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PFLEGEPROBLEME UND PFLEGEMASSNAHMEN BEI LIEGENDER NASOGASTRALER SONDE

Pflegeprobleme

Dislokation der Sonden Sonde ist sichtbar im Mund

aufgerolltn Aspiration von Sekret nicht

möglich

Druckulzera am Naseneingang

Parotitisgefahrn keine Kaubewegungen,

daraufhin kein ausreichender Speichelfluss

n Veränderungen der Mundfloran trockene Mundschleimhautn borkig belegte Zungen weiße fleckige Beläge der

Zunge, möglicher Soorbefall n trockene und spröde Lippen,

Mundwinkelrhagaden

Verstopfung der Sonde durch Sondenkost oder Medikamentenreste

Pneumoniegefahr durch Schonatmung und Schon- haltung des Patienten

Pflegemaßnahmen

n Die Lage korrigieren oder die Sonde entfernen und neu legen

n Lagekontrolle der Sonde vor jeder Aktivierung

n Silikon- oder Polyurethansonden verwendenn für eine freie Fixierung in der Nase sorgenn Nasenpflege durchführen. Reinigung mit Kochsalz-

lösung (NaCl 0,9 %). Nutzung von Panthenolcreme pflegt Hauptpartie und beugt Hautdefekten vor

n möglicherweise hilft Abpolstern der Sonde im Naseneingang

n Pflasterreste der Fixierung mit Pflasterentferner auf Silikonbasis beseitigen

n Anregen der Speichelproduktion durch leichte Massage des hinteren Wangenbereichs

n Mundschleimhaut häufig anfeuchten, keine alkohol-haltigen Mundpflegelösungen verwenden

n bei Soorbefall antimykotische Tinktur verwendenn Lippenpflege durchführen, etwa mit Vaseline

n Sonde vor Sondenkostgabe ausreichend mit geeigneter Flüssigkeit spülen

n Sonde vor und nach Gabe von zerkleinerten Medikamenten spülen

n mit kleinen Mengen (2–10 ml) sogenanntes „pulsie-rendes Spülen“ durchführen (vgl. Wiederkumm)

n niemals versuchen, den Führungsmandrain wieder einzuführen (aufgrund Perforationsgefahr)

n Atemtherapien Unterstützen des Abhustensn Mobilisation

Eine duodenale oder jejunale Sondenlage wird empfohlen, wenn der Transport der Sondennahrung aus dem Magen gestört ist.

Bei erhöhter Aspirationsgefahr kommen auch dreilumige Sonden zum Einsatz. Der Ernährungsschen-kel liegt dann im Duodenum oder Jejunum, die anderen beiden Lumen dienen der Belüftung und Ableitung des Sekrets.

Vor jeder Nahrungszufuhr muss eine Lagekontrolle der transnasalen Sonde erfolgen. Dies geschieht über das Abziehen von Magensaft oder

mittels einer pH-Wert-Kontrolle. Der pH-Wert im Magen liegt im sauren Milieu (0,7–1). Je weiter die Sonde duodenal oder jejunal liegt, desto alkalischer ist der pH-Wert des Sekrets. Zur Lagekontrolle eignet sich auch das Insufflieren, also Ein-blasen von 30 bis 50 Milliliter Luft mit einer Blasenspritze und gleichzei-tiger auskultatorischer Kontrolle des Oberbauchs – wenn die Sonde kor-rekt liegt, ist ein „Blubbern“ zu hören. Die dritte Möglichkeit zur Lagekon-trolle ist eine Röntgenaufnahme des Brustkorbs.

Bei liegenden transnasalen Son-den können bestimmte Pflegepro-bleme wie Dislokation und Druck-stellen auftreten, die entsprechende Interventionen erfordern. Eine Übersicht der Pflegeprobleme und -maßnahmen zeigt Abbildung 2.

PEG/PEJ bei Langzeitanwendung

Ist absehbar, dass ein Patient über mehrere Wochen nicht ausreichend Nährstoffe zu sich nehmen kann, hat sich die Anlage einer perkutanen Sonde bewährt. Aktuell gibt es ver-schiedene Sondensysteme und Anla-getechniken. Die Anlage einer perku-tanen Sonde bedarf einer ärztlichen Aufklärung und eines schriftlichen Einverständnisses des Betroffenen. Als absolute Kontraindikationen gel-ten die Peritonitis, der massive Aszi-tes und Gerinnungsstörungen. Die Methode der Wahl ist die perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG) oder die perkutane endoskopische Je-junostomie (PEJ).

Unter endoskopischer Kontrolle wird die Ernährungssonde durch die Bauchdecke direkt in den Magen, Zwölffingerdarm oder Dünndarm platziert. Die letztgenannte Platzie-rung eignet sich zum Beispiel für be-wusstseinsgestörte Patienten mit er-höhter Aspirationsgefahr.

PEG-Sonden bestehen aus einer inneren Rückhalteplatte oder einem Ballon, der sich an der Innenwand des Magens oder Dünndarms anlegt. Nach außen auf der Bauchdecke ist eine weitere Halteplatte mit Fixie-rungsvorrichtung für die Sonde sicht-bar. Die Sonden sind nur etwa 30 bis 40 Zentimeter lang und haben oft ei-nen größeren Querschnitt als trans-nasale Sonden.

Zwischen dem siebten und zehn-ten Tag nach PEG-Anlage erfolgt ein täglicher Verbandswechsel unter aseptischen Bedingungen. Unter In-spektion der Einstichstelle und Kon-trolle aller Anteile des Sondensys-tems wird die Sonde im Stichkanal bewegt und unter leichtem Zug fi-xiert. Ist die Wunde reizlos, kann das Intervall verlängert werden. Die Do-kumentation der Wundversorgung ist obligat.

Abb. 2

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PFLEGEPROBLEME UND PFLEGEMASSNAHMEN BEI LIEGENDER PEG-SONDE

Pflegeprobleme

Bauchdecken- hämatom

Nachblutung

Druckulzera/ Infektionen/Peritonitis

Pflasterunverträglich- keit (Rötung, Exanthem, Pruritus)

Pflegemaßnahmen

n Inspektion der Bauchdecken Bauchumfang messenn Kühlung und eventuell Analgetikagabe veranlassen

n Kontrolle des Wundverbands und der Einstichstellen Vitalzeichenkontrolle

n täglich Inspektion der Wundverhältnissen auf Infektionszeichen achten

(Rötung, Schwellung, Fieber, Schmerzen)n aseptischer Verbandswechsel

n Inspektion des Hautarealsn zum Säubern kein Benzin verwenden,

sondern „Pflasterentferner“ aus der Stomatherapien mit Folienverbänden arbeiten

Mögliche Komplikationen nach Anlage sind beispielsweise ein Bauchdeckenhämatom oder eine Nachblutung. Gefürchtet ist eine Wundinfektion mit nachfolgender Peritonitis oder Burried-Bumper-Syndrom. Dieses macht sich mit den üblichen Infektionszeichen und Symptomen eines akuten Abdomens bemerkbar, also plötzlich auftreten-den heftigen Bauchschmerzen, Ab-wehrspannung der Bauchdecken-muskulatur, Veränderungen der Darmtätigkeit und Fieber. Manch-mal ist in dieser Situation eine chi-rurgische Intervention unumgäng-lich. Die Ursachen des Burried-Bumper-Syndroms ist das Einwach-sen der inneren Halteplatte in die Magenschleimhaut durch zu straffen Zug. Ein weiterer Grund kann eine mangelhafte Mobilisation der Sonde im Stichkanal sein.

Wenn die Wundheilung kompli-kationslos verläuft und der Stoma-kanal unauffällig ist, kann der Be-troffene auch mit sogenannten But-tonsystemen versorgt werden. Diese Systeme bieten dem „Träger“ ein ge-wisses Maß an Bewegungsfreiheit. Der Button ist ein Ballonsystem, wobei der mit Flüssigkeit gefüllte Ballon als Rückhaltemechanismus im Magen fungiert. Die zentrale Öffnung für die Sondenkostgabe ist mit einem Antirefluxventil ausge-stattet. Vor allem Kinder und mobile

Patienten profitieren von dieser Son-denart.

Typische Pflegeprobleme und -maßnahmen bei liegender PEG-Sonde sind in Abbildung 3 darge-stellt.

Mit Sondenkost korrekt umgehen

Sondenkost ist jedes Nahrungsmit-tel, das über eine Ernährungssonde verabreicht werden kann. Meist han-delt es sich um industriell gefertigte Flüssignahrung. Es wird zwischen

hochmolekularen Diäten, nährstoff-definierten Diäten (NDD), nieder-molekularen Diäten, chemisch defi-nierten Diäten (CDD) und stoff-wechseladaptierten Diäten unter-schieden. Industriell hergestellte Diäten entsprechen der geforderten Qualität und hohen Hygienevor-schriften.

Nährstoffdefinierte Diäten ent-halten die Makronährstoffe in intak-ter molekularer Form. Die Funktion des Gastrointestinaltrakts sollte er-halten sein, sodass die Nährstoffe durch die körpereigenen Verdau-ungsenzyme gespalten werden kön-nen. In den niedermolekularen Diäten liegen die Hauptnährstoffe schon in gespaltener Form vor. Diese werden schnell resorbiert und die körpereigene Verdauungsleistung ist dabei gering. Stoffwechseladaptierte Diäten sind Nährlösungen mit einer speziellen Zusammensetzung an Nährstoffen, ausgerichtet für Patien-ten mit speziellen Krankheitsbildern, wie beispielsweise Niereninsuffizienz. Vereinzelt werden auch noch soge-nannte Home-Made-Diäten ange-wendet. Diese enthalten durchaus hochwertige Nährstoffe, gelten aber als nicht bedarfsdeckend, kaum bilan-zierbar und hygienisch bedenklich.

Die Standardnahrung ist lactose- und glutenfrei und enthält Ballast-stoffe. Mit Sondennahrung wird auch Flüssigkeit zugeführt, wobei

Abb. 3

Komplikationen vermeidenMit der richtigen Versorgung von Sonden und Nahrung können viele pflegerische Probleme wirkungsvoll vermieden werden

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nur etwa 80 Prozent davon bilanziert werden. Weiterer Flüssigkeitsbedarf wird mit Tee oder stillem Wasser zu-geführt. Wichtig ist, niemals Tee oder Wasser in die Sondenkost zu geben, weil sich Inhaltsstoffe auslö-sen und diese die Sonde verstopfen können.

Es stehen verschiedene Möglich-keiten zur Verfügung, Sondenkost zu verabreichen. Eine Bolusgabe („am Stück“) ist nur bei gastraler Lage möglich. Die maximale Menge bei ei-ner Einzelgabe sollte 200 bis 250 Mil-liliter pro 30 Minuten nicht über-schreiten. Zu beachten ist, dass eine Bolusapplikation mit einer erhöhten Aspirationsgefahr einhergeht.

Eine Applikation von Sonden-kost durch Schwerkraft ermöglicht ein einfaches Handling des Fla-schen- oder Beutelsystems. Die Tropfgeschwindigkeit wird mit einer Rollklemme eingestellt. Eine unre-gelmäßige Zufuhr der Sondenkost ist damit gut möglich.

Eine kontinuierliche Gabe von Sondenkost mittels einer Ernäh-rungspumpe muss bei duodenaler und jejunaler Lage der Sonde erfol-gen. Die Pumpe steuert ein einge-stelltes Volumen von Millilitern pro Stunde, der Kostaufbau ist gut steu-erbar.

Vor dem Kontakt mit Sonden-kost müssen die Hände gewaschen und desinfiziert werden. Die Über-

leitungssysteme werden nach 24 Stunden gewechselt. Angebrochene Flaschen können gut verschlossen im Kühlschrank für 24 Stunden auf-bewahrt werden. Bei der Gabe sollte die Nährlösung Raumtemperatur haben. Vor jeder Aktivierung der Sonde wird die Lage überprüft. Zur Sondenkostgabe sollte der Patient möglichst aufrecht sitzen, zumindest aber in 30- bis 45-Grad-Oberkör-perhochlage positioniert werden.

Typische Pflegeprobleme und -maßnahmen, die bei Sondenkost auftreten kann, sind in Abbildung 4 dargestellt.

Vorsicht bei Medikamentengabe

Wenn Medikamente über eine Er-nährungssonde verabreicht werden sollen, müssen vorab folgende Fra-gen beantwortet werden:n Ist die Sondenlage korrekt?n Ist die Sondenart und -größe ge-eignet? (Verstopfungsgefahr)n Gibt es eine flüssige, rektale oder transdermale Medikamentenform?n Darf die Tablette zerkleinert werden?

Zwischen Sondennahrung und Arzneimitteln kommt es zu den glei-chen Reaktionen wie bei der oralen Aufnahme von Lebensmitteln und Medikamenten. Es können Reaktio-

nen auftreten wie eine abgeschwächte oder stärkere Wirkung sowie ein kompletter Wirkungsverlust. Pfle-gende, die Medikamente über Son-den verabreichen möchten, sollten sich vorab in der Klinikapotheke ver-gewissern, ob die jeweilige Tablette, das Dragee oder die Kapsel zerklei-nert oder gemörsert werden darf.

Medikamente dürfen niemals in die Sondenkost hinzugegeben wer-den. Zudem muss unbedingt darauf geachtet werden, Medikamente ge-trennt voneinander zu zerkleinern, aufzulösen und zu verabreichen.

Das korrekte Vorgehen zur Ver-abreichung von Medikamenten über Sonden sieht wie folgt aus:n Sondenkost stoppen,n Sonde mit 20 bis 30 Milliliter Wasser spülen,n aufgelöste Medikamente nachein-ander geben, n dabei nach jedem Medikament spülen,n zum Abschluss der Medikamen-tengabe nochmals mit Wasser spülen,n Sondenkost erneut starten.

Wirksame Therapie

Herr M. wird seit fünf Tagen enteral über eine Ernährungspumpe versorgt. Der körperliche Zustand des älteren Mannes hat sich seitdem zusehends stabilisiert. Das Fallbeispiel zeigt, dass die enterale Ernährung eine wichtige Therapie ist, um zu einer schnellen Rehabilitation beizutragen.

ESPEN: Leitlinie Enterale Ernährung. http://www.dgem/leit13.htmHartig, W. et al. (2004): Ernährungs- und Infu-sionstherapie. Stuttgart: Thieme, S. 151–179Löser, Chr. (2011): Unter- und Mangelernäh-rung. Stuttgart: Thieme, S. 109–121Ullrich. L.; Stolecki, D. (2000): Zu- und ablei-tende Systeme – Unterstützende Systeme zur gastroenteralen Zu- und Ableitung. Stuttgart: ThiemeUllrich, L.; Stolecki, D. (2015): Intensivpflege und Anästhesie. Thieme, 3. Auflage, S. 330Vogt, V.; Reinbold, Th.: Was bei Sonden zu beachten ist. http://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=29296&type=4, Zu-griff: 14.1.2016

PFLEGEPROBLEME UND PFLEGEMASSNAHMEN BEI VERABREICHUNG VON SONDENKOST

Pflegeprobleme

Übelkeit, Erbrechen, Aspirationn zu hohe Osmolaritätn Zufuhrrate zu hochn zu kalte Sondenkostn Dislokation der Sonde

Diarrhoen Sondenkost ist bakteriell beladenn zu kalte Sondenkostn ballaststofffreie Sondenkostn Antibiotikagabe

Obstipationn geringe Flüssigkeitsaufnahmen mangelnde Bewegungn keine Ballaststoffe

Pflegemaßnahmen

n geeignete Sondenkost verwendenn Zufuhrrate reduzierenn Sondenkost bei Raumtemperatur

applizierenn Sondenlage kontrollieren

n hygienisch korrekt arbeitenn Sondenkost bei Raumtemperatur

applizierenn ballaststoffreiche Sondenkost

verwenden

n Flüssigkeitszufuhr korrigierenn Bewegung fördernn ballaststoffreiche Sondenkost

verwenden

Abb. 4

Sabina Hagemann ist Pflegelehrerin an der Weiterbildungsstätte für Intensivpflege & Anästhesie und Pflege in der Onkologie am Universitätsklinikum Münster. Mail: [email protected]

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PEG-Sonde – Ja oder Nein?Ethik in der Pflege. Wenn alte Menschen nicht mehr essen wollen, wird meist bald über das Legen einer PEG-Sonde nachgedacht. Doch diese Entscheidung ist nicht einfach und muss jedes Mal im Einzelfall und unter Beteiligung aller abgewogen werden. Bei dieser Abwägung spielt die Stimme der Pflege eine entscheidende Rolle.

Von Prof. Dr. Giovanni Maio

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D ie Unterstützung der Ernährung stellt eine zentrale Kategorie pflegerischen Handelns dar.

Daher gehört die Frage nach der PEG-Sonde zu den Kernthemen einer Ethik der Pflege. Auch wenn die Ent-scheidung zur Anlage von ärztlicher Seite gefällt und die Intervention als eine ärztliche wahrgenommen wird, so bleibt die PEG-Sonde von enormer Bedeutung, gerade für die Pflege. Hier lohnt es sich, genauer hinzuschauen und zu fragen, wie denn überhaupt die Anlage einer PEG-Sonde speziell unter dem Gesichtspunkt der Pflege zu beurteilen ist.

Entspricht die PEG-Anlage einer Ethik der Fürsorge?

Die Pflege ist in besonderer Weise einer Fürsorge-Ratio-nalität verpflichtet (Maio 2015). Das bedeutet, dass die Anlage einer PEG-Sonde aus spezifisch pflegerischer Sicht nur dann diesem Postulat entsprechen kann, wenn die Sonde das Wohlbefinden des Patienten fördert, allen-falls Komplikationen oder Verschlechterungen vermei-det, vor allem aber seine Lebensqualität verbessert oder seine Autonomie stärkt.

All diese möglichen positiven Auswirkungen der PEG-Sonde müssen in Balance gebracht werden mit den Einschränkungen, die die Sonde unweigerlich auferlegt. Hier geht es zum einen um Einschränkungen der Lebensgewohnheiten und Freiheitsgrade, zum Beispiel durch notwendig werdende Fixierungen. Zum anderen geht es aber auch um Einschränkungen, die sich auf das eigene Körperbild und die eigene Wahrnehmung be- ziehen. Auch sollte bedacht werden, dass mit der Son-dennahrung eine bestimmte leibliche Erfahrung vor- enthalten wird, nämlich die Erfahrung des körperlichen Genusses von Nahrungs- oder Flüssigkeitsaufnahme – sofern man die Sondenernährung fälschlicherweise als Alternative zur Handreichung von Nahrung per Hand sieht.

Der erhoffte Nutzen ist meistens nicht belegbar

Vor dem Hintergrund, dass in Deutschland jährlich etwa 140 000 PEG-Sonden gelegt werden (Wirth et al. 2007), ist diese Thematik von einer besonderen Tragweite. Nachdem man die PEG-Sonde Anfang der Achtziger-jahre als neue Methode vorgestellt hat, entstand nahezu eine Euphorie. Man glaubte, von nun an könne man viele Probleme, gerade der Geriatrie, über die PEG-Sonde lösen, wie Aspirationspneumonien, Mangelernährungs-zustände, progredienter Gewichtsverlust, Kachexien. Es waren erst empirische Analysen, die ans Tageslicht brachten, dass die PEG-Sonde nur in ganz spezifischen Fällen eine Hilfe darstellt und in den meisten Fällen den erhofften Nutzen doch nicht belegbar erbringen konnte.

So zeigte sich, dass Patienten mit Amyotropher Late-ralsklerose zu denjenigen zählen, die von der Sonde pro-fitieren (Wedler 2004). Menschen mit Demenz hingegen

– und gerade bei diesen findet eine nahezu flächen- deckende Versorgung mit PEG-Sonden statt – scheinen keinen großen Nutzen von der Sonde zu haben. In gro-ßen Studien an Demenz-Patienten konnte weder eine günstige Beeinflussung der Überlebenszeit noch ein Rückgang der Aspirationspneumonien noch eine Ver-besserung des Ernährungszustandes unter der Sonden-ernährung belegt werden (Finucane et al. 1999, Gillick 2000, Murphy/Lipmann 2003).

Manche Autoren warnen davor, die genannten Stu-dien zu einseitig zu interpretieren. Dazu seien sie nicht doppelblind durchgeführt worden und müssten von ihrer Aussagekraft durchaus relativiert werden (z. B. Kolb 2001). So stellt sich zum Beispiel die Frage, ob nicht die Patienten, die ohnehin schlechter dran sind, Sonden er-halten. Wenn man dann zwischen Patienten ohne Sonde und Patienten mit Sonde keinen Unterscheid an Lebens-erwartung feststellt, so ist das kein Beleg dafür, dass die Patienten mit Sonde nicht doch in Lebenszeitzahlen profitierten. Schließlich wissen wir nicht, wie lange sie gelebt hätten, wenn sie keine Sonde erhalten hätten.

Fest steht allenfalls, dass der Einsatz der Sondener-nährung – wenn er sinnvoll und hilfreich sein soll – früh-zeitig erfolgen muss und nicht erst dann, wenn ein ausge-prägter Mangelernährungszustand vorliegt. In einem solchen finalen Stadium kann die Sonde erwiesener- maßen keine Besserung mehr bewirken. Rechtzeitig eingesetzt ist sie aber durchaus sinnvoll (Rappold/ Kratochvila 2004).

Daraus wird deutlich, dass es schlichtweg überhastet und zu simplifizierend ist, zu behaupten, Sonden würden in keinem Fall lebensverlängernd wirken. Synofzik hat es schön auf den Punkt gebracht, wenn er schreibt „Der fehlende Nachweis eines Nutzens bedeutet nicht den Nachweis eines fehlenden Nutzens.“ Und er schließt daraus: „Es kann nicht gefolgert werden, dass eine PEG-Ernährung bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz keinen Nutzen bringt“ (Synofzik 2007).

Was eben heißt: Wir können uns nicht allein auf Statistik berufen, wenn wir die Frage nach dem Sinnhaf-ten einer Sonde klären wollen. Denn auf die Frage, ob man bei diesem konkreten Patienten eine Sonde legen soll, kann man nun mal nicht allein mit Zahlen antwor-ten. Der Patient, für den es eine gute Entscheidung zu finden gilt, findet sich als Individuum in den Zahlen nicht wieder. Studien können immer nur zu statistischen Zahlen führen, die nie die Einzelfallentscheidung vor-wegnehmen können.

Genau hier greift die Ethik in der Pflege. Denn es ist natürlich wichtig, diese Studien zu kennen. Allein über diese Studien war es möglich, sich von Vorurteilen und von als Wissen ausgegebenen Vermutungen zu lösen. Für den konkreten Patienten braucht man jedoch mehr als statistisches Wissen. Die Notwendigkeit eines solchen nicht formalisierbaren Wissens kann man gerade vom oben beschriebenen Selbstverständnis der Pflege lernen. Und in dieser Frage können wir viel von der Pflege lernen.

Top-Thema

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Ernährung ist ein Beziehungsgeschehen

Gerade von der Pflege können wir lernen, dass das Essen den ganzen Menschen betrifft. Appetit kommt nicht au-tomatisch auf, Appetit ist gebunden an Situationen, an lebensweltliche Faktoren, an Gefühle wie Vertrautheit, Geborgenheit, Angenommensein. Das ist auch beim ge-sunden Menschen nicht anders.

Die Pflege weiß das ganz genau, denn sie macht diese Erfahrung jeden Tag. Der Patient isst nicht automatisch, sondern er isst dann, wenn sonst alles stimmt. Und dieses „Sonst“ ist nicht nur der Raum, die umgebenden Perso-nen, die Aufmachung des Essens. Dieses Sonst ist vor al-len Dingen die Pflegende selbst. Es hängt ganz von der Einstellung der Pflegenden an, ob der Patient isst oder nicht. Es gibt viele Studien, die belegen, dass es entschei-dend ist, welche Pflegende den Patienten beim Essen hilft (Schreier/Bartholomeyczik 2004).

Offensichtlich ist für die Ernährung nichts wichtiger als die Atmosphäre und die Beziehung. Auch und gerade das Essen ist Ausdruck und Resultat eines Beziehungs-geschehens. Dies wird aber im modernen Medizinbetrieb schlichtweg vergessen. Hier werden Patienten immer noch zu häufig als Objekt gesehen, bei denen man einen Kalorienbedarf abdecken muss. Das ist schlichtweg der

falsche Zugang auf Menschen, ganz gleich ob sie krank, alt oder kerngesund sind.

Die Pflege ist es, die diesen Zusammenhang jeden Tag erlebt. Sie muss es auch sein, die darauf neu verweist, weil ohne die Pflege das Ernährungsproblem kranker oder alter Menschen nicht gelöst werden kann.

Verstehen, warum der Patient die Ernährung ablehnt

Die Pflegenden sind diejenigen, die mit dem Patienten interagieren und mit ihm in Berührung treten – und ihn nicht nur verobjektivieren und messen. Gerade deshalb ist es allein die Pflege, die wissen kann, was und wie viel ein Patient isst und vor allem, warum er nicht isst oder nicht trinkt. Das „Warum“ ist doch das Allerentschei-dendste.

Sicher kann man sagen, dass die Krankheit es mit sich bringt, dass man weniger Appetit hat und das Alter sowie der nahende Sterbeprozess eben genau dieses Verlangen nach Nahrung unterminieren. Das wissen wir aus Studi-en. Wir können aber deswegen nicht einfach schematisch jeden schwerkranken Menschen einfach als einen appe-titlosen Menschen klassifizieren. Es kommt eben ganz darauf an.

1 Entscheidend für die Ernährung sind die Atmosphäre und die Beziehung

2 Menschen mit Demenz, so zeigen Studien, scheinen keinen großen Nutzen von der PEG-Sonde zu haben

3 Nur die Pflege kann eine Antwort auf die Frage geben, ob der Patient nicht essen will oder nicht essen kann

1 2

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Die Pflege kann sich ein umfassendes Bild davon ma-chen, worin die Abneigung gegen Essen besteht. Gerade sie kann beurteilen, ob das Nicht-Essen vielleicht andere als erwartete Gründe hat, Gründe, die man durch andere Vorkehrungen möglicherweise beseitigen kann. Nur die Pflege kann herausfinden, ob der Bewohner oder Patient deswegen nicht isst, weil er zum Beispiel Passiertes nicht mag, weil er das Fleisch kleiner geschnitten haben möch-te, weil er nie gefragt wird, worauf er Lust hätte, weil er nicht im Schlafanzug essen will, weil er nicht neben be-stimmten anderen Personen essen will und so weiter.

So wird deutlich, dass es gerade in der Frage der Er-nährung immer um das Gesamtverstehen des Patienten geht. Es ist erst diese hermeneutische Fähigkeit der Pfle-genden, die am Ende den Ausschlag geben kann. Denn nur diese Fähigkeit kann eine Antwort auf die Frage geben, ob der Patient nicht essen will oder nicht essen kann.

Sicher, auch ohne intensives Sich-Einlassen wird man ein Kau- oder Schluckproblem feststellen und dieses durch andere Maßnahmen lindern können. Die Diffe-renzierung, ob die Ablehnung der Nahrung Ausdruck ei-ner Mutlosigkeit oder Ausdruck eines geringeren inneren Bedarfs ist, wird aber eben nicht ohne eine hermeneuti-sche Herangehensweise vorgenommen werden können. Gerade die Pflege kann durch die intensive Nähe, die sie zum Patienten hat, hier wegweisend sein. Nur sie erlebt

den Patienten in Situationen, die das Kennenlernen des Patienten vertiefen, wenn nicht gar erst ermöglichen.

Ab dem Moment, da die Pflege sich ganz auf den ein-zelnen Patienten einlässt, wird sie es sein, die den Punkt erkennen kann, ab dem die Ablehnung des Essens eben nicht mehr etwas ist, das überwunden werden kann, son-dern ein authentischer Ausdruck einer Grundempfindung, die man ab einem bestimmten Punkt nicht nur hinneh-men, sondern akzeptieren und bejahen muss. Das kann die Empfindung der Lebenssattheit sein, die Empfindung, in Ruhe gelassen zu werden, um in Frieden sterben zu dürfen.

Die Beurteilungskunst der Pflege ist unverzichtbar

Alte und schwerkranke Menschen haben in gewisser Hinsicht ein Recht darauf, auch in Ruhe gelassen zu wer-den. Hier ist die Kunst der Pflege, herauszufinden, wann dieser Punkt gekommen ist. Nur die Pflege hat das Sen-sorium und die Nähe, dies zu erspüren. Hier muss die Medizin der Pflege ihre Stimme geben, weil diese Stim-me eben wichtiger ist als das Ausrechnen von Kalorien oder das Berechnen des Body-Mass-Index.

Die Frage, wann bei einem Patienten oder Bewohner eine PEG-Sonde gelegt werden sollte, verweist auf die Chance der Pflegeethik. Gerade in einer solchen Frage

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Studienform: Online-/PräsenzstudiumStudienabschluss: Doctor of Philosophy (Ph.D.) Studiendauer: 3 Jahre (Vollzeit), 6 Jahre (Teilzeit), 180 ECTSStudieninhalte: ein thematisch fokussiertes Forschungs-programm sowie ein strukturiertes Qualifizierungskonzept inklusive eine erweiterte wissenschaftliche Qualifikation für die Lehre und Forschung im Rahmen einer Graduiertenschule Studiengebühren: Euro 4.500,- (Vollzeit), Euro 2.250,- (Teil-zeit) pro Studienjahr Studienstart: jeweils im April eines Kalenderjahres

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Ernährungsrisiken erkennen

Appetit anregen

Nährstoffbedarf decken

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können wir über den spezifischen Zugang der Pflege-ethik Dinge erkennen, die einem primär ärztlich-medizi-nischen Blick eher verschlossen blieben.

Ein klassischer arztzentrierter Zugang auf das Thema ist der Rekurs auf Statistiken, auf Fragen danach, ob es statistische Evidenz dafür gibt, dass mit der PEG-Sonde die Lebenserwartung verlängert, die Gefahr der Aspirati-onspneumonie gemindert oder der Body-Mass-Index positiv beeinflusst wird.

Diese Zahlen sind sehr wichtig, denn nur über Zah-len konnte man mit lang gehegten Vorurteilen abräumen. Sie können heilsam sein, indem sie verhindern, dass blo-ße Vermutungen für Wissen ausgegeben werden. Und doch bleiben jenseits der Zahlen große Herausforderun-gen übrig, die nur über eine Ethik der Sorge und über eine Beziehungsmedizin gelöst werden können.

PEG-Sonde – eine gemeinsame Entscheidung

Es ist wichtig, die Situation, in der sich die Patienten und auch ihre Angehörigen befinden, genauer zu verstehen. Die Angehörigen leben in einer Situation des emotiona-len Stresses, weil sie alles für ihre pflegebedürftigen Fa-milienmitglieder tun wollen und doch nicht genau wis-sen, was das Beste für sie ist. Indem nun die Professionel-len einfach sagen, dass die Sondenernährung statistisch keinen Nutzen brächte, lösen sie den Konflikt der Ange-hörigen nicht wirklich. Vielfach verschärfen sie ihn sogar, weil die Angehörigen oft Schwierigkeiten mit der Vor-stellung haben, dass die Patienten oder Bewohner keine Nahrung erhalten. Dieser Verzicht auf Ernährung wird von ihnen als Vorenthalten empfunden.

Eine Ethik der Ernährung würde vor diesem Hinter-grund zunächst einmal bedeuten, eine Ethik der Zuwen-dung zu etablieren. Und zwar eine Zuwendung zum Patien-ten selbst, durch die vorgelebt wird, dass der Verzicht auf eine Sonde eben gerade nicht der Verzicht auf das Bemühen um den Patienten bedeutet. Im Gegenteil. Leider ist es so, dass gerade wenn eine Sonde gelegt wird, die Bemühungen um ein weiteres Füttern oft komplett unterbleiben.

Daher ist es wichtig, hier nicht in Alternativen zu den-ken: entweder Sonde oder Füttern, sondern komplemen-tär. Das bedeutet, dass das Reichen von Nahrung immer geboten und notwendig ist, ganz gleich, ob eine Sonde liegt oder nicht. Aber Zuwendung bedeutet auch, dass man sich den Angehörigen zuwendet, um sie selbst mitzunehmen auf diesem mit vielen Schuldgefühlen, Zweifeln, Ambiva-lenzen gepflasterten Weg. Es ist unabdingbar, in eine Be-ziehung zu den Angehörigen zu treten, um sie nicht ein-fach nur aufzuklären und ihnen ein paar statistische Sach-informationen zu geben, sondern sie eben ernst zu nehmen in ihren Gefühlen der Ambivalenz. Wenn diese Form der Zuwendung geleistet wird, dann wird man am ehesten ver-meiden können, dass Angehörige aus schlechtem Gewis-sen heraus für das Legen einer Sonde votieren.

Die Frage, ob eine PEG-Sonde gelegt werden soll oder nicht, kann nicht allein mit dem Verweis auf Studi-en beantwortet werden. Sie muss jedes Mal im Einzelfall

und unter Beteiligung aller abgewogen werden. Bei dieser Abwägung spielt die Pflege eine ganz entscheidende Rolle. Nur sie hat die Chance, den Patienten oder Be-wohner in einer Weise kennenzulernen, die es erlaubt, sich ein umfassendes Bild von der konkreten Situation zu machen.

In der Leitlinie Enterale Ernährung der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) und der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) wird aus-drücklich betont, dass die Entscheidung zur Sondenle-gung eine gemeinsame Auflage sowohl der Ärzte als auch der Pflegenden darstellt (Volkert et al. 2004). Das müsste man unbedingt ernst nehmen, weil die Pflege einen privi-legierten Zugang zum Patienten hat und vor allem, weil es letzten Endes an der Pflege liegt, ob man dem Patien-ten wirklich gerecht wird.

Denn die Pflege wird es sein müssen, die dafür sensibi-lisieren muss, dass die Ernährung eben nicht mit der Son-denernährung ersetzt werden kann. Ernährung muss im-mer auch bedeuten, dem Patienten durch eine orale Sti-mulation in die Lage zu bringen, vielleicht doch, trotz Sonde, selbst Nahrung zu sich zu nehmen. Denn diese Nahrungsaufnahme stellt sich bei dementen, bettlägeri-gen, schwerkranken Menschen nun mal nicht automatisch ein. Sie kann sich nur dann einstellen, wenn es ein Gegen-über gibt, das es sich zur Aufgabe macht, diesen zentralen Aspekt von Lebensqualität lebendig zu halten. Das geht eben nicht durch messbare Kalorienzufuhr, sondern nur durch Zuwendung, Zeit, Kreativität, Stimulierungsfreude.

Finucane, T.E., u. Christmas C.: Tube feeding in patients with advanced dementia. A review of the evidence. JAMA 1999; 282: 1365–1370Gillick, M.R.: Rethinking the role of tube feeding in patients with advan-ced dementia. New England Journal of Medicine 2000; 342: 206–210Kolb, G.: Rechtliche und ethische Aspekte der Sondenernährung älte-rer Patienten mit fortgeschrittener Demenz. European Journal of Geria-trics 2001; 3, 1: 7–12Maio, Giovanni: Den kranken Menschen verstehen. Für eine Medizin der Zuwendung. Freiburg: Herder, 2015Murphy, L., Lipmann T.: Percutaneous endoscopic gastrostomy does not prolong survival in patients with dementia. Archives of Internatl Medicine 2003; 163: 1351–1353Rappold, Eduard, u. Harald G. Kratochvila: Aspekte der künstlichen Er-nährung bei demenzkranken Patienten in der Geriatrie. Ethik in der Me-dizin 2004; 16: 253–264Schreier, Maria Magdalena, Bartholomeyczik, Sabine: Mangelernäh-rung bei alten und pflegebedürftigen Menschen. Hannover: Schlüter-sche Verlagsgesellschaft, 2004Synofzik, Matthis: PEG-Ernährung bei fortgeschrittener Demenz: eine evidenzgestützte ethische Analyse. Nervenarzt 2007; 78: 418–428Volkert, D. u. R. Lenzen-Grossimlinghaus, U. Krys et al.: Leitlinie Ente-rale Ernährung der DGEM und DGG. Aktuel Ernaehr Med 2004; 29: 198–225Wedler, Hans Ludwig: Nutzen und Grenzen der Sondenernährung am Lebensende. Ethik in der Medizin 2004; 16: 211–216Wirth, Rainer, Volkert , D., Bauer, J.M., Schulz, R.J. et al.: PEG-Sonden-anlagen in der Deutschen Akutgeriatrie. Eine retrospektive Datenbank-Analyse. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 2007; 40: 21–30

Prof. Dr. Giovanni Maio ist Mediziner, Philosoph und Universitätsprofessor für Bioethik. Er hat den Lehrstuhl für Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg inne. Er ist Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte

der Medizin und wurde 2010 zum bioethischen Berater der Deutschen Bischofskonferenz berufen.

Mail: [email protected]

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Eine aktuelle Stududiee lleggtt nanahehe,, dadassss SSchchluluckckststörörunngegenn beii Heimbewohnern weitaus hääufiger vorrkokommmenen aalsls bbisislalangng bbekekananntnt wwara . Da die Symptomatik einer Dysphagie sehr vieldeututigig iistst, ererhahaltltenen ddiei wenigsten Betroffenen eine passgenaue Versorgung. Was ist zu tun? Darüber sprachen wir mit dem Leiter des zuständid gegenn ExExpepertrtenenboboarards DDrDrDr. MaMaMaMaMaMaMartrtrtrtrtrtrtininininin JJägäger vom Hüttenhospital in Dortmunund..

Interview: Brigitte Teigeler

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Die Schwester Der Pfleger 56. Jahrg. 6|17 33

Praxis

Herr Dr. Jäger, Sie haben kürzlich in zwei stationären Pflegeeinrichtungen in Nordrhein-Westfalen eine Stu-die zur Dysphagie begleitet. Wie oft kommen Schluck-störungen bei Heimbewohnern vor?Sehr häufig. Wir haben bei gut 100 Heimbewohnern ein Dysphagie-Screening durchgeführt. Mehr als 85 Prozent wiesen eine Schluckstörung auf. Dieses Ergebnis hat uns selbst überrascht, weil die Häufigkeit einer Dysphagie in der internationalen Literatur deutlich darunterliegt. Sie wird meist mit 40 bis 50 Prozent angegeben.Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?Ein möglicher Grund ist natürlich, dass sich das Bewoh-nerklientel in den Pflegeheimen geändert hat. Die mittle-re Verweildauer liegt mittlerweile nur noch bei einem gu-ten Jahr. Die Bewohner sind also viel schwerer krank, als sie es noch vor einigen Jahren waren. Zusätzlich lässt sich diese Diskrepanz durch die unterschiedliche Methodik der Studien erklären. Mit apparativer Diagnostik findet man mehr Dysphagien heraus als mit klinischem Assess-ment, damit mehr als mit klinischem Screening oder Fra-gebögen.Wie haben Sie die Schluckstörungen denn erfasst?Die Erhebungsmethoden bei einer Dysphagie sind sehr unterschiedlich – sie reichen von einfachen Befragungen bis zu klinischen Untersuchungen. In der Regel wird ein Screening in Form eines Wasserschlucktests durchge-führt. Hier wiederum gibt es unterschiedliche Scree-nings, die eingesetzt werden. Wir haben uns für einen Test aus Spanien entschieden, der speziell für geriatrische Patienten gut validiert ist. Hier werden dem Patienten Flüssigkeiten in unterschiedlichen Konsistenzen von dünnflüssig über leicht angedickt bis puddingartig gege-ben. Dieser Test erfasst vielleicht mehr, als wenn man nur mit Wasser testet – das mag die hohe Prävalenz unserer Studie erklären.Was lässt sich bei diesen Schlucktests genau erkennen?Die Tests zeigen, ob Anzeichen für eingeschränkte Schluckeffektivität oder Schlucksicherheit vorliegen. Ist die Schluckeffektivität beeinträchtigt, haben die Betrof-fenen das Problem, dass das Essen und Trinken zu lange dauert und zu anstrengend ist, daher sogar eingeschränkt oder vermieden wird. Klassische Folgen sind dann Aus-trocknung sowie Mangel- und Unterernährung. Bei der Schlucksicherheit geht es um die Sicherheit der Atem-wege. Hier dringen Nahrung oder Flüssigkeiten in die Atemwege ein. Verbleiben sie oberhalb der Stimmritze, spricht man von einer Penetration. Bei der Aspiration ge-langen Nahrung und Flüssigkeit in die tieferen Atemwe-ge, dann drohen Atemwegsinfekte, Bronchitiden, Aspira-tionspneumonien bis hin zum Bolustod durch Ersticken. Wie lassen sich diese Gefahren in den Schlucktests er-kennen?Die Schlucktests schauen nach den klassischen Sympto-men einer Dysphagie. Das sind zum Beispiel eine belegte Stimme, Husten oder Räuspern im Zusammenhang mit der Flüssigkeits- oder Nahrungsaufnahme. Aber auch

Schlucken mit offenem Mund, sehr häufiges Schlucken auch bei geringen Mengen, verlängerte Kauphase sowie Reste in Mundhöhle oder Wangentaschen können Hin-weise auf Schluckstörungen sein. Zusätzlich benutzt der von uns verwendete Test noch eine Pulsoxymetrie, damit Sauerstoff-Sättigungsabfälle unter der Nahrungsaufnah-me erkannt werden können. Problematisch ist dabei je-doch das Phänomen der stillen Aspiration.Das heißt, der Patient merkt nicht, dass er aspiriert?Genau, die Nahrung geht den falschen Weg, aber der Pa-tient hustet oder räuspert nicht, weil er es nicht merkt. Dieses Phänomen kann bis zu zwei Drittel der geriatri-schen Patienten betreffen und kann schwerwiegende Fol-gen haben. Die Betroffenen haben sehr viel häufiger Lungenentzündungen als diejenigen, die noch husten, wenn sie aspirieren. Und wenn es bei einem Wasserschlucktest zu einer stil-len Aspiration kommt?Aus diesem Grunde erfolgen Wasserschlucktests idealer-weise in einer gestuften Form. Zunächst werden dem Pa-tienten sehr kleine Mengen an Flüssigkeit beziehungs-weise angedickter Flüssigkeit oder breiigen Konsistenzen

Dr. Martin Jäger, 56, Internist und Geriater, Arbeitsgemeinschaft Geriatrie der DGG, ist ärztlicher

Direktor der Fachklinik für Innere Medizin und Geriatrie am Hüttenhospital in Dortmund. Der Facharzt für Innere Medizin widmet sich schon seit vielen Jahren der Alters-

medizin und ist Experte für Schluckstörungen. Aktuell hat er an der Studie „Dysphagie und Applikations-

probleme von Medikamenten in stationären Alteneinrichtungen“ mitgewirkt.

Wir haben ein dramatisch erhöhtes Risiko für Mangel-

und Unterernährung

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Die Schwester Der Pfleger 56. Jahrg. 6|17

gegeben. Die Menge wird dann langsam gesteigert und die Reaktion des Patienten genau beobachtet. Durch die-ses gestufte Vorgehen kann man das Risiko minimieren. Und dann gibt es auch definierte Abbruchkriterien wie Sättigungsabfall, Räuspern, belegte oder brodelige Stim-me und Husten, die bei den Tests eingehalten werden.Was sind aus Ihrer Sicht die Hauptgefahren einer Schluckstörung? Wir haben ein dramatisch erhöhtes Risiko für Mangel- und Unterernährung. Wenn das Schlucken zu anstren-gend ist, kommen die Betroffenen in eine Vermeidungs-haltung und essen weniger. Dadurch kommt es nicht nur zu einer Mangelernährung, sondern auch zu einer Schwächung der Schluckmuskeln – am Schluckvorgang sind immerhin 50 verschiedene Muskeln beteiligt. Das verschlechtert wiederum die Schluckstörung. Und damit ist ein Teufelskreis in Gang gesetzt, der oftmals nur schwer zu durchbrechen ist. Hinzu kommt, dass eine Mangelernährung nicht nur Muskel- und Substanzver-lust bedeutet – Stichwort Sarkopenie –, sondern sie auch das Immunsystem schwächt, die Wundheilung ver-schlechtert und das Dekubitusrisiko erhöht. Wenn ein Patient sich mit eingeschränkter Immunabwehr ver-schluckt, ist das Risiko für eine Aspirationspneumonie deutlich höher als bei gesundem Immunstatus.Das klingt nach einer gefährlichen Abwärtsspirale.Genau. So kann eine Mangelernährung die Folge einer Schluckstörung sein. Oder die Schluckstörung ist Folge von Mangelernährung und Muskelschwäche. Und es spielt noch die Immunabwehr mit hinein. Es sind also sogar verschiedene Teufelskreise, die ineinandergreifen. Und eine Mangelernährung ist wiederum mit einer er-höhten Sterblichkeit verbunden. Die Mangelernährung allein geht in Deutschland laut einer Studie aus 2007 mit Zusatzkosten von neun Milliarden Euro pro Jahr einher. Und das betrifft nur die Mangelernährung. Hinzu kom-men weitere Komplikationen, wie Austrocknung oder auch psychische Belastungen. Wie häufig sind psychische Belastungen?Studien zeigen: Angst, Sorge und Depression treten bei schluckgestörten Patienten zu 30 und 40 Prozent auf, Angst oder panische Angst beim Essen zu 40 Prozent, Vermeidung von Essen in der Gesellschaft – weil es ei-nem peinlich ist – zu 36 Prozent. Diese seelischen Belas-tungen, die mit einer Schluckstörung einhergehen, darf man nicht vergessen. Was sind klassische und lebensbedrohliche Hauptgefah-ren?Dies sind insbesondere die Aspiration und daraus folgen-de Pneumonien. Es gibt Studien, die zeigen, dass bis zur Hälfte aller Personen, die aspirieren, eine Aspirations-pneumonie bekommen. Und bis zu 50 Prozent derer, die eine Pneumonie bekommen, sterben daran. Das ist na-türlich dramatisch.Treten auch Komplikationen bei der Medikamenten -gabe auf? Ja, sogar ziemlich häufig, wie unsere Studie nun zeigt. Es hat sich zwar mittlerweile herumgesprochen, dass man bei einer Dysphagie die Ernährung an die Schluckfähig-

keit anpasst. Aber an die Medikamente denkt man leider häufig nicht. In unserer Studie haben wir entsprechend viele Applikationsprobleme festgestellt.Wie sahen diese aus?Applikationsprobleme zeigten sich bei den Heimbewoh-nern vor allem während und nach der Einnahme in etwa74 Prozent: Zu wenig Flüssigkeit bei der Medikamen-teneinnahme oder Liegenbleiben von Tabletten auf der Schleimhaut von Mund, Rachen, Speiseröhre erhöhen die Gefahr von Schleimhautschäden durch „Einbren-nen“. Bei knapp 50 Prozent der Medikamentengabenzeigte sich eine falsche Einnahme wie Zerkauen oder Lutschen oder Verschlucken. Bei gut 51 Prozent der be-obachteten Medikamentengaben wurde diese von den Heimbewohnern mit nur drei Schlucken oder weniger Flüssigkeit eingenommen. Nach abgeschlossener Medi-kamenteneinnahme verblieben bei etwa einem Viertelder Medikamentengaben noch Reste der festen Medika-mente im Mundraum. Wie erkenne ich als Pflegeperson, ob bei einem Bewoh-ner eine Schluckstörung vorliegt?Das ist gar nicht so einfach, sondern eine echte Heraus-forderung! Die Symptome der Schluckstörung sind un-spezifisch und vieldeutig – wie Husten und Räuspern –, und können auch ganz fehlen, wie bei der stillen Aspira-tion. Man erkennt eine Dysphagie also nur, wenn mansehr genau darauf achtet. In manchen Fällen, zum Bei-spiel wenn Bewohner aus dem Krankenhaus kommen, liegt eine klinisch diagnostizierte Schluckstörung vor, und es gibt eine Empfehlung zur Ernährung und Art der Medikamentengabe. Und wenn keine Diagnose vorliegt?Dann muss die Pflege pfiffig sein und ihre Fachkompe-tenzen einsetzen. Dazu ist natürlich eine gute Aufklä-rung und Schulung der Pflegenden erforderlich. Sind Pflegende ausreichend über die Schluckstörung, ihreSymptome und einfache Screening-Tests informiert, ist das für das Problembewusstsein und den Umgang mit diesen Menschen von entscheidender Bedeutung. Was meinen Sie mit „pfiffig sein“?Zum Beispiel die richtigen Fragen zu stellen. Wir solltenniemals fragen: „Haben Sie eine Schluckstörung?“ Dann sagen nämlich 90 Prozent: „Nein, habe ich nicht.“ Viel besser ist es zu fragen: „Wie ist es denn mit Husten und Räuspern im Zusammenhang mit Essen und Trinken?“ Sie können Patienten und Angehörige auch nach einer unbeabsichtigten Gewichtsabnahme fragen, nach Ände-rungen des Essverhaltens oder nach gehäuften Atem-wegsinfekten. Sie können aber auch selbst beobachten: Hat sich das Essverhalten geändert? Werden bestimmte Lebensmittel – Hartes, Bröseliges, Flüssiges – vermie-den, die vorher gegessen wurden? Treten Leitsymptomewie belegte Stimme, Husten, Räuspern bei den Mahlzei-ten auf? Und Sie können, wenn Sie es gelernt haben, ei-nen Wasserschlucktest durchführen.Welcher Test wird in Pflegeheimen eingesetzt?Das sind häufig Elemente des Daniels-Tests. In dieser Variante des Wasserschlucktests wird dem PatientenWasser zu trinken gegeben. Zuerst 3 Milliliter, dann 5

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Die Schwester Der Pfleger 56. Jahrg. 6|17 35

Praxis

Milliliter, dann 10 Milliliter. Und erst, wenn das gut geht, 20 Milliliter. Kommt es darunter zu Husten oder Räus-pern, wird abgebrochen. Darüber hinaus ist natürlich wichtig, dass alle Beobachtungen, die im Zusammenhang mit einer Dysphagie stehen, gegenüber dem behandeln-den Arzt kommuniziert werden. Beispielsweise auch, wenn der Patient nach Anordnung eines neuen Medika-ments schläfriger wird und sich häufiger verschluckt. Was sind allgemeine Maßnahmen, die bei der Pflege von Menschen mit Dysphagie zu beachten sind?Immer wieder neu reden, fragen, genau beobachten, denn der Verlauf von Schluckstörungen kann sehr dynamisch sein. Bei der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme auf folgende Punkte achten: Bewohner müssen wach sein, sich in einer aufrechten Position befinden, es sollte kein Schnabelbecher zum Einsatz kommen, es braucht ausrei-chend Zeit. Pflegende übernehmen zudem auch die Endkontrolle, wenn die Nahrung im Wohnbereich an-kommt: Ist das Essen, das bestellt wurde, in der richtigen Qualität und Konsistenz angekommen? Kommt der Pa-tient damit zurecht? Hustet er? Verschluckt er sich? Mag er das Essen oder lehnt er es ab? Das alles ist wichtig – falsche Nahrung kann tödlich sein.Oft heißt es ja: Bewohner hat Dysphagie, also muss die Flüssigkeit angedickt und die Nahrung passiert werden. Stimmt das so einfach?Diese Aussage kenne ich. Nein, das ist ganz furchtbar, das muss viel differenzierter erfolgen. Sonst reduziert sich das pflegerische Handeln leicht auf die Herausgabe von „an-gedicktem Kleister und Kuhfladen“ – so sieht das Essen dann hinterher aus. Nein, nein, davon muss man weg. Wichtig ist eine präzise Diagnostik, und dann kann man gemeinsam im interdisziplinären Team gezielt festlegen: zum Beispiel diese und jene Konsistenz, in dieser und je-ner Menge, mit dieser und jenen Kopfhaltung. Hier sollte auch der Patient einbezogen und entsprechend aufgeklärt werden, ebenso wie die Angehörigen. Auch das ist eine wichtige Aufgabe der Pflegenden. Ganz entscheidend ist zudem eine gute Mundpflege.Warum?Bei schlechter Mundhygiene und Karies haben die Be-wohner eine hohe oropharyngeale Bakterienlast, die die Gefahr einer Lungenentzündung dramatisch steigert. Verschlucken sich diese Menschen, ist das Pneumonie -

risiko viel höher als bei Menschen mit einer geringen Bak-terienlast. Deshalb ist die Mundpflege eine entscheiden-de pflegerische Aufgabe im Zusammenhang mit einer Dysphagie. Wie kann im Pflegeheim gewährleistet werden, dass Bewohner ihre Medikamente sicher erhalten?Hier sind bei der Applikation die Herstellerangaben im-mer sehr genau zu beachten. In unserer Studie haben die Pflegenden gut nachgeschaut und den Umgang mit den Medikamenten überwiegend korrekt gehandhabt. Grundsätzlich gilt: Wenn es laut Beipackzettel zugelas-sen ist, Tabletten zu zermörsern oder aufzulösen, gilt das nur für Einzelsubstanzen. Es wurde nie untersucht, was passiert, wenn Sie zum Beispiel drei verschiedene Sub-stanzen zusammen zermösern und zu welchen Wechsel-wirkungen es dabei kommt. Hier ist die Rücksprache mit Arzt und Apotheker extrem wichtig. Für einige wenige Medikamente gibt es bereits die Wirkstoffe in anderer als fester, sondern flüssig-sämiger Konsistenz. Hier gibt es noch für Kostenträger – Gemeinsamer Bundesausschuss, Krankenkassen wegen Kostenübernahme – und Herstel-ler dringenden Handlungsbedarf.Sollten Pflegende nach der Medikamentengabe noch-mal die Mundhöhle des Bewohners kontrollieren?Unbedingt. Viele Tabletten werden ungewollt gelutscht oder zerkaut, und viele Reste verbleiben in den Wangen-taschen. Deshalb: Mundhöhle und Wangentaschen un-tersuchen, bei der Medikamentengabe anwesend sein und ausreichend Flüssigkeit zu den Medikamenten rei-chen. Wichtig ist zudem die aufrechte Körperhaltung, um das Aspirationsrisiko zu vermindern. Schluckgestörte Menschen brauchen viel Zeit bei der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme. Ist das derzeit überhaupt leistbar?Schluckgestörte Patienten benötigen mehr Aufmerksam-keit und Zeit, das muss klar sein. Ist diese Zeit nicht da, kann das Gefahren mit sich bringen. Wenn ich nicht auf-merksam bin, wenn ich nicht geschult bin, wenn ich nicht schaue, ob der Mund leer ist, bevor ich den nächsten Bis-sen gebe, wenn ich nicht die richtige Konsistenz des Es-sens überprüfe – geht das alles mit erhöhten Risiken für den Patienten einher. Ein Bewusstsein für das Krank-heitsbild und die Vieldeutigkeit der Symptome ist dabei der erste Schritt, um die Teufelskreise zu durchbrechen. Aus internationalen Studien weiß man, dass durch ein höheres Bewusstsein sowie Screenings bei Dysphagie-Patienten die Pneumonierate und Sterblichkeit um 70 bis 80 Prozent gesenkt werden konnten. Dies wurde für den klinischen Bereich erhoben. Warum sollte das nicht auch fürs Pflegeheim gelten?Ich danke Ihnen für das Gespräch, Dr. Jäger.

Mail: [email protected]

Schluckgestörte Patienten benötigen mehr Aufmerksamkeit und Zeit –

ist diese nicht da, kann das Gefahren mit sich bringen

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90 Die Schwester Der Pfleger 55. Jahrg. 11|16

Wie ernähren sich Pflegende?Untersuchung. Schichtdienst, hohe Verantwortung, steigende Anforderungen – dies kennzeichnet den Pflegealltag. Wirken sich die daraus resultierenden Belastungen auf das Ernährungsverhalten von Pflegenden aus? Diese Frage hat eine Studierende der Fachhochschule Bielefeld näher untersucht.

Von Maria Kannenberg

I n Deutschland ist das Ernäh-rungsverhalten von Pflegenden

bislang kaum wissenschaftlich unter-sucht worden. Aus diesem Grund wurde an der Fachhochschule Biele-feld eine studentische Forschungsar-beit durchgeführt, um verwertbare Daten zum Ernährungsverhalten und -zustand deutscher Pflegepersonen zu liefern. Es wurde eine schriftliche Befragung durchgeführt, um mög-lichst viele Pflegende in die Erhe-bung einschließen zu können. Der Fragebogen wurde auf Grundlage der Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) konzipiert.

Die Studienteilnehmer wurden zu ihrem Verzehr verschiedener Nahrungsmittelgruppen befragt: Kartoffel- und Getreideprodukte, Fleisch- und Wurstwaren, Getränke und Süßigkeiten. Die Pflegenden sollten angeben, wie häufig sie die entsprechenden Nahrungsmittel konsumieren.

Für die Durchführung der Studie konnten zwei Krankenhäuser ge-wonnen werden. Die Befragung er-folgte auf zwölf Stationen – darunter zehn Normal- und zwei Intensivsta-tionen. Es wurden insgesamt 129 Fragebögen verteilt. Die Rücklauf-quote betrug rund 50 Prozent. Das Fo

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Wie ernähren sich Pflegende?

Durchschnittsalter der befragten Pflegenden lag bei 35 Jahren. Die häufigste Anzahl (37,7 %) geleisteter Nachtdienste betrug drei bis vier Nächte. 6,6 Prozent der Befragten gaben an, mehr als sieben Nacht-dienste im Monat zu leisten.

Ernährung: Pflegende fühlen sich beeinträchtigt

71,4 Prozent der befragten Pflegen-den fühlen sich aufgrund ihrer be-ruflichen Tätigkeit im Schichtdienst hinsichtlich einer gesunden und aus-gewogenen Ernährung beeinträch-tigt. Die weiteren Ergebnisse der Studie werden nachfolgend erörtert.

Getreideprodukte und Kartoffeln: Das häufigste konsumierte Getrei-deprodukt ist Brot; fast die Hälfte der Befragten essen es täglich. Kar-toffeln und Nudeln werden ein- bis zweimal pro Woche gegessen, Reis seltener. Rund die Hälfte der Befrag-ten achtet darauf, Vollkornprodukte zu verzehren.

Obst- und Gemüsekonsum: Ledig-lich 1,6 Prozent der Befragten nimmt die von der Deutschen Ge-sellschaft für Ernährung (DGE) ge-forderten fünf Obst- und Gemüse-portionen am Tag zu sich.

35,9 Prozent essen lediglich eine Portion am Tag. Gekochtes Gemüse wird täglich von rund 18,8 Prozent der Befragten konsumiert, rohes Ge-müse von 35,9 Prozent und Obst von 40,6 Prozent der befragten Pfle-genden.

Milchprodukte: Natur- und Fertig-joghurts werden seltener als ein- bis zweimal pro Woche konsumiert, noch seltener wird zu Puddings ge-griffen. Dagegen gehören Käse und Milch bei rund einem Drittel der Befragten zur täglichen Ernährung.

Fisch-, Wurst- und Fleischproduk-te: Mehr als die Hälfte der Befragten essen seltener als ein- bis zweimal pro Woche Fisch. Geflügel- und Schweinefleisch sind die am häufigs-ten konsumierten Fleischarten. Täg-lich kommen sie allerdings nur bei

rund drei Prozent der Befragten auf den Tisch. Der tägliche Wurstkon-sum liegt bei 20,3 Prozent.

Streichfett und Fettgehalt: Rund zwei Drittel der Befragten benutzen Butter als Streichfett. 40,6 Prozent der Pflegenden achten immer oder häufig auf den Fettgehalt von Nah-rungsmitteln.

Getränke: Die tägliche Trinkmenge der befragten Pflegenden beträgt mehrheitlich eineinhalb bis zwei Li-ter pro Tag. Knapp 60 Prozent geben jedoch an, an Arbeitstagen weniger zu trinken.

Wasser wird mit 51,9 Prozent als häufigstes Getränk angegeben, ge-folgt von Kaffee (21,8 %) und Soft-getränken (10,9 %). Alkohol wird von 80,3 Prozent der Studienteil-nehmer seltener als ein- bis zweimal pro Woche konsumiert.

Süßigkeiten: Der Konsum von Sü-ßigkeiten, Kuchen und Chips wird von den befragten Pflegenden mehr-heitlich als „selten“ angegeben.

Fraglich ist aus wissenschaftli-cher Sicht jedoch, inwieweit Pfle-gende ein Bewusstsein dafür haben, wie häufig kleine Süßigkeiten im Alltag und während der Arbeit „ne-benbei“ konsumiert werden.

Fast Food und Fertiggerichte: 60,9 Prozent der Studienteilnehmer ga-ben an, seltener als ein- bis zweimal pro Woche auf Fertigprodukte zu-rückzugreifen. 25 Prozent verzehren Fast Food und Fertiggerichte ledig-lich ein- bis zweimal pro Woche.

Auch Schnellrestaurants und Liefer-dienste werden von den befragten Pflegenden seltener als ein- bis zwei-mal pro Woche genutzt (85,9 %).

Die Vermutung, dass Pflegende häufig auf Fast Food und Fertigpro-dukte zurückgreifen, konnte damit eindeutig widerlegt werden. Die Studienteilnehmer gaben „keine Zeit zu kochen“ (43,8 %) und „keine Lust zu kochen“ (56,3 %) als häufigste Gründe an, auf Fast Food oder Fer-tiggerichte zurückzugreifen.

73,4 Prozent der Pflegenden äu-ßerten im Rahmen der Befragung, dass sie an Urlaubstagen Fast Food oder Fertiggerichte seltener verzeh-ren.

Auswogene Ernährung ist Pflegenden wichtig

Für die meisten Pflegenden, die an der Befragung teilnahmen, gehört frisches Kochen zum Alltag. Den meisten Pflegenden macht tägliches Kochen allerdings „eher keinen Spaß“.

Die Inhaltsstoffe von Speisen und eine ausgewogene Ernährung allgemein ist den Pflegenden hinge-gen wichtig. 71,4 Prozent fühlen sich durch ihre Arbeit im Schichtdienst bei der Ausübung einer gesunden und ausgewogenen Ernährung je-doch gehindert.

Die Studienteilnehmer essen meist am Esstisch und nicht vor dem Fernseher, im Stehen oder unter-wegs. 51,6 Prozent essen lediglich ein- bis zwei Mahlzeiten am Tag, 46,9 Prozent drei bis vier Mahlzei-ten.

Proteinlieferant FischBei Pflegenden eher selten auf dem Speiseplan

Bilden + Forschen

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Bei der Zufriedenheit mit dem eigenen Ernährungsstil spaltet sich die Teilnehmergruppe fast exakt in der Mitte: 50,8 Prozent sind mit ih-rem Ernährungsstil zufrieden, 49,2 Prozent sind es nicht.

Lediglich 10,9 Prozent ernähren sich vegetarisch oder vegan.

Pflegende benötigen Unterstützung

Der aktuelle Body-Mass-Index (BMI) der befragten Pflegenden liegt bei 24,87, was auf Normal-

gewicht hindeutet. Die Unter-suchung hat gezeigt, dass

die Beschäftigungszeit im Schichtdienst nicht mit einem steigenden BMI korreliert. Eine leichte Gewichtszu-nahme ist zwar festzu-stellen, wobei unklar ist, ob Faktoren wie

Alter oder die Geburt von Kindern Einfluss auf

den BMI nehmen. Die Ergebnisse der Stu-

die machen insgesamt deutlich, dass Pflegende ein hohes Bewusst-sein für ihre Ernährung haben und ihr einen großen Stellenwert bei-messen.

Bei der Umsetzung einer gesun-den und ausgewogenen Ernährung, die den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) entspricht, wird allerdings deutlich, dass es noch erhebliches Verbesse-rungspotenzial gibt. Vor allem der Konsum von Obst, Gemüse und Fisch lag weit unter den Empfehlungen.

Es lässt sich daraus ableiten, dass Pflegende in der konkreten Umset-zung noch einen erheblichen Unter-

Maria Kannenberg ist Gesundheits- und Krankenpflegerin auf der kardiologischen Intensivstation des Herz- und Diabetes-

zentrums Nordrhein-Westfalen. Sie befindet sich im fünften Semester des Studiengangs

„Berufliche Bildung Pflege“ an der Fachhochschule Bielefeld.

Mail: [email protected]

Wasser und KaffeeWerden von Pflegenden am häufigsten getrunken

stützungsbedarf aufweisen. Beson-ders deutlich wird dieser Bedarf auch in der Äußerung, sich aufgrund der Arbeit im Schichtsystem in der Aus-übung einer gesunden Ernährung beeinträchtigt zu fühlen.

Welche genauen Gründe Pfle-gende für dieses Gefühl benennen, ist bislang nicht bekannt. Künftig ist daher zu untersuchen, warum Pfle-gende mit der Ausübung einer ge-sunden und ausgewogenen Ernäh-rung im Alltag Probleme haben und welche Möglichkeiten der Unter-stützung sie beispielsweise auch sei-tens der Arbeitgeber benötigen.

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Mangelernährung bei Tumorpatienten. Für krebskranke Menschen spielt die Ernährung eine große Rolle – vor allem, wenn es zu einer Mangelernährung kommt.Diese kann die Lebensqualität der Betroffenen deutlich einschränken, den Therapie-erfolg beeinflussen und im schlimmsten Falle sogar zum Tode führen. Ist eine Mangelernährung erkennbar, müssen sofortige Ernährungsinterventionen erfolgen.

Von Matthias Naegele

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Der starke Gewichtsverlust beginnt für viele Tumorpa-

tienten bereits vor der eigentlichen Diagnosestellung. Nicht selten ist der ungewollte Gewichtsverlust so-gar Grund für die VerdachtsdiagnoseKrebs. Bei jedem zweiten Erkrank-ten hat der Gewichtsverlust bereits vor der Diagnosestellung begonnen (1), bei jedem sechsten bereits zu ei-nem erheblichen Ausmaß von mehr als zehn Prozent (2, 3).

Eine Mangelernährung liegt vor, wenn weniger Energie durch Ernäh-rung aufgenommen als verbraucht wird (4). Ein unbeabsichtigter Ge-wichtsverlust über zehn Prozent in den letzten sechs Monaten wird alsschwere Mangelernährung bezeich-net (4, 5). Dies gilt auch für adipöseMenschen, auch wenn hier der Gewichtsverlust als erfreulich fehl-gedeutet werden kann (2).

Viele Tumorpatienten betroffen

Mangelernährung gehört zu denhäufigsten Symptomen onkologi-scher Erkrankungen und tritt bei 30bis 90 Prozent aller Krebskranken im Krankheitsverlauf auf (4). Besonders betroffen sind Patienten mit gas-trointestinalen, Lungen- oder HNO-Tumoren (6) (Abb. 1).

Die schwere Form der Mangeler-nährung bei Tumorpatienten wirdals Kachexie bezeichnet. Das Wort

URSACHEN DER MANGELERNÄHRUNGDie Mangelernährung kann viele Ursachen haben, hauptsächlich die unzureichendeNährstoffzufuhr und Stoffwechselstörungen basierend auf der humoralen Entzündungsreaktion (4). Gründe für eine mangelnde Nährstoffzufuhr bei onko -logischen Patienten gibt es genügend.

Die Grunderkrankung selbst kann Ursache hierfür sein, zum Beispiel durch Obstruktionen im HNO- oder gastrointestinalen Bereich, was eine Nährstoffzufuhrbehindern würde. Auch kann durch den Tumor eine Anorexie ausgelöst werden (4).Dies wird zurückgeführt auf eine Unfähigkeit des Hypothalamus, angemessen auf periphere Signale eines Energiedefizits zu reagieren (6).

Ebenso kann die Therapie massive Auswirkungen auf den Ernährungszustand haben (4). Operationen– im HN O-Bereich können zu Kau-, Schluck- und Geschmacks störungen führen,– an der Speiseröhre zu Empfindlichkeit gegen scharfe oder saure Speisen bis hin zur Angst vor dem Essen und Appetitlosigkeit,– am Magen zu vielfältigen Einschränkungen, unter anderem dem Dumpingsyndrom oder Malabsorption von Vitaminen,– am Pankreas zu Diabetes mellitus oder fehlender Fettresorption,– am Dünndarm zu Malabsorption oder Diarrhoen und– am Dickdarm zu Lebensmittelintoleranzen und Diarrhoen.

Zytostatika-Therapien können zu Geschmacks- und Geruchsver änderungen, Übelkeit und Erbrechen führen. Patienten werden empfindlich gegenüber den Nahrungs -gerüchen und entwickeln Abneigungen. Durch Geschmacksveränderungen wird Essen zur Pflichtaufgabe, das „gut schmecken“ bleibt aus. Eine weitere Folge ist dieorale Mukositis, die vor allem höhergradig definiert ist durch Einschränkungen beimEssen bis hin zum gar nicht mehr essen können. Auch Diarrhoen können Folge einer gastrointestinalen Mukositis sein, aber auch Antibiotika oder pathogene Keimekönnen diese verursachen. Und nicht zuletzt die Anorexie, die durch die Zytostatika-Therapie ausgelöst werden kann (4).

Auch die Strahlentherapie kann Ernährungsprobleme hervorrufen, einerseits abhängig vom bestrahlten Gebiet, andererseits kann sie Ursache für allgemeineSymptome wie Anorexie, Übelkeit, Erbrechen oder Fatigue sein. Diese Symptomesind in aller Regel abhängig von der Dauer und der Dosis der Bestrahlung. Lokale Effekte der Strahlentherapie können akut oder erst nach der Strahlentherapie auftreten und mitunter chronisch sein. So kann eine Bestrahlung (4):– des ZNS zur Hirndrucksteigerung führen und mit Übelkeit und Erbrechen einhergehen.– im HN O-Bereich zu Schleimhautentzündungen, Speichelver änderungen bis hin zur Xerostomie, Geschmacksstörungen bis hin zur Ageusie und Schluckstörungen führen. Diese Symptome sind alle möglicherweise chronisch.– im Abdomen zu Übelkeit, Erbrechen oder Diarrhoen führen. Als Späteffekte sind hier Obstruktionen, Strikturen, Fisteln oder chronische Enteritis denkbar.

Ein weiterer wichtiger Faktor, der zur Entstehung von Mangelernährung beiträgt, sind Stoffwechselstörungen, die durch sys temische Entzündungsprozesse verursacht werden (4, 7). Es kommt zu charakteristischen Störungen im Eiweiß-, Kohlenhydrat- und Fettstoffwechsel, die neben dem Fett abbau zu einem vermehrtenMuskelabbau und gestörten Muskelaufbau führen. Schuld daran sind Zytokine undvon Tumoren ausgeschüttete Proteine (4). Diese Stoffwechselver änderungen machen die Behandlung einer Mangel ernährung besonders schwierig, da sie einem Aufbau von Körpersubstanz ent gegenwirken. Aus diesem Grunde ist ein frühzeitiger Beginn einer Ernährungs intervention bedeutend.

Häufigkeit von Mangelernährung bei Tumorerkrankungen

■ Pankreas-Ca 83 %

■ Magen-Ca 83 %

■ Ösophagus-Ca 79 %

■ HNO-Tumoren 72 %

■ Kolorektal-Tumoren 55–60 %

■ Lungen-Tumoren 50–66 %

■ Prostata-Ca 56 %

■ Mamma-Ca 10–35 %

■ Krebs allgemein 63 %

Abb. 1

Kachexie stammt aus dem Grie-chischen und bedeutet „schlechter Zustand“. Der Gewichtsverlust durch die Kachexie betrifft nicht nur die Fett-, sondern auch die Muskel-masse. Zudem sind entzündliche Prozesse nachweisbar. Des Weiteren kennzeichnen die Kachexie zuneh-mende körperliche Schwäche, ver-

minderte immunologische Abwehr, Anämie und Anorexie (Appetitver-lust und vorzeitiges Sättigungsge-fühl). Die Tumorkachexie ist defi-niert als ein Gewichtsverlust von mindestens fünf Prozent in zwölf Monaten – drei bis sechs Monate bei Tumorpatienten (4) – sowie drei der folgenden Kriterien (8):

Pflegen + Unterstützen

Quelle: (6)

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■ Reduzierte Muskelkraft,■ Fatigue,■ Anorexie,■ Geringe fettfreie Masse,■ Auffällige Laborparameter:

– Erhöhte Entzündungspara - meter (CRP > 5,0 mg/dl; IL-6 > 4,0 pg/ml)

– Anämie (Hb < 12 g/dl)– Serum-Albumin (< 3,2 g/dl).

Eine der häufigsten Todesursachen

Die Folgen für die Betroffenen sind vielfältig. Durch den Verlust an ske-lettaler Muskelmasse kommt es zu

körperlicher Schwäche bis hin zur Immobilität und Müdigkeit, An-triebslosigkeit und Depressionen (4, 9). Dies beeinflusst auch die Lebens-qualität (10, 11). Zudem ist das Im-munsystem geschwächt, die Infekt-neigung dadurch erhöht.

Mangelernährung führt auch zu Wundheilungsstörungen (4). Man-gelernährte Patienten haben ein schlechteres Ansprechen auf Che-motherapien (1, 3, 10, 12), unter anderem durch Therapieunter -brechungen und dadurch unzurei-chenden Gesamttherapien (4). Da-durch verschlechtert sich die Prog-nose der Patienten und erhöht sich

die Sterblichkeit (13). Die Kachexie ist eine der häufigsten Todesursa-chen bei Krebspatienten (10).

Um schnell intervenieren zu können, muss die Ernährungssituati-on kontinuierlich erfasst werden. Ausschlaggebend sind hier das Kör-pergewicht und die Nahrungsmen-ge. Das Körpergewicht sollte konti-nuierlich erfasst werden und die Ab-weichung vom gesunden Ausgangs-gewicht in Prozent dokumentiert werden. Des Weiteren sollte im Rahmen eines Ernährungsprotokolls die Ernährung über einen Zeitraum von drei bis sieben Tagen erfasst werden (4).

Die European Society for Clinical Nutrition and Metabolism (ESPEN) empfiehlt zum Ernährungsassess-ment für ambulante Patienten das „Malnutrition Universal Screening Tool“ (MUST) (Abb. 2) und für sta-tionäre Patienten das „Nutritional Risk Screening“ (NRS) (Abb. 3).

Was tun bei einer Mangelernährung

Eine Ernährungstherapie alleine ist wegen der systemischen Entzündungs-reaktion die Tumorkachexie nicht aus-reichend. Ziel der Ernährungstherapie ist daher (4), ■ „die Stabilisierung des Ernäh-rungszustandes, mindestens das Aufhalten beziehungsweise Mindern eines fortschreitenden Gewichts -verlustes,■ Steigerung der Effektivität und Reduktion von Nebenwirkungen der Antitumortherapie,■ das Vermeiden von Therapieun-terbrechungen sowie der Erhalt oder eine Verbesserung der Lebensquali-tät des Patienten.“Dies geht einher mit supportiver Therapie, um Symptome, die die Mangelernährung begünstigen, zu reduzieren.

Die Ernährungstherapie sollte möglichst frühzeitig, am besten bei der Tumordiagnose begonnen wer-den, wenn es Anhalte für eine Man-gelernährung gibt. Die Notwendig-keit wird häufig unterschätzt. Vor allem bei adipösen Patienten ist der Gewichtsverlust möglicherweise nicht ersichtlich oder wird als erfreu-

Abb. 2 Das „Malnutrition Universal Screening Tool“ (MUST) für ambulante Patienten (15)

Screening auf Mangelernährung im ambulanten Bereich Malnutrition Universal Screening

Tool (MUST) für ErwachseneEmpfohlen von der Europäischen Gesellschaft für Klinische Ernährung und Stoffwechsel

(ESPEN)

Body Mass Index

BMI (kg/m2) Punkte> 20 018,5–20,0 1< 18,5 2

akute Erkrankung

Nahrungskarenz von (voraussichtlich)

mehr als fünf Tagen

2 Punkte

Gewichtsverlust

ungeplant in den letzten 3–6 Monaten

Prozent Punkte < 5 % 05–10 % 1> 10 % 2

Gesamtrisiko für das Vorliegen einer Mangelernährung

Summe

0

1

> 2

Risiko

gering

mittel

hoch

Maßnahme

–> Wiederhole Screening!

–> Beobachte!

–> Behandle!

Durchführung

Klinik: wöchentlich

Heim: monatlich

ambulant: jährlich bei bestimmten Gruppen, z. B. Alter > 75 Jahre

Klinik und Heim: Ernährungs- und Flüssigkeitsprotokoll über 3 Tage

ambulant: erneutes Screening in 1 bis 6 Monaten, ggf. EZ-Bestimmung (z. B. SGA) und Diätberatung

Klinik/Heim/ambulant: EZ-Bestimmung (z. B. SGA), Ernährungstherapie beginnen (Diätassistenz bzw. hauseigene Protokolle). Abfolge: 1. Nahrungsmittel, 2. angereicherte Nahrung, 3. orale Supplemente

+ +

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lich fehlgedeutet (2). Ab einem Ge-wichtsverlust von fünf Prozent vom gesunden Ausgangsgewicht wird ei-ne Ernährungsdiagnostik empfohlen (4), zum Beispiel mittels Ernäh-rungsprotokoll und -anamnese (10).

Mit einer Ernährungstherapie sollte begonnen werden, wenn der Patient mit der normalen Nahrungs-aufnahme < 500 kcal pro Tag zu sich nehmen kann und das über einen er-warteten Zeitraum von > 7 Tagen. Davor sollte nur bei schwerer Man-gelernährung begonnen werden.

Auch bei einer normalen Nah-rungszufuhr von < 60–80 % des er-rechneten Tagesbedarfs für einen er-warteten Zeitraum von > 14 Tagen ist eine Ernährungstherapie ange-zeigt. Begonnen werden sollte im-mer bei Indikationsstellung (10).

Vier Schritte gegen den Gewichtsverlust

Bei der Auswahl geeigneter Inter-ventionen wird darauf geachtet, den Patienten so lange wie möglich oral

zu ernähren, da dies physiologisch und komplikationsarm ist.

1.Schritt: Zunächst wird ver-sucht, dies über normale Voll-

kost zu erreichen oder mittels einer durch eine Ernährungsberatung in-dividualisierte Wunschkost oder leichte Vollkost, um die Verträglich-keit des Patienten besser zu berück-sichtigen. Es kann hier zunächst von einem normalen Kalorienbedarf aus-gegangen werden, das heißt 30 kcal/Tag bei einem mobilen Patienten und 25 kcal/Tag bei einem bettläge-rigen Patienten (10).

2.Schritt: Im nächsten Schritt kann dann die orale Ernährung

mit Trinknahrungen ergänzt werden, wenn es nicht gelingt, den Tagesbe-darf über die normale Ernährung zu decken. Trinknahrungen können das Defizit in der Energiebilanz füllen und können zum Stoppen des Ge-wichtsverlustes führen. Dabei ist vor allem der Einsatz als Zwischen-mahlzeit effektiv. Besonders geeignet

sind energie-, eiweiß- und fettreiche Trinknahrungen. Wenn der Patient die Geschmacksrichtung selbst aus-wählen und variieren kann, erhöht dies die Compliance (4).

3.Schritt: Sollte die Nahrungser-gänzung durch Trinknahrun-

gen nicht genügen oder orale Ernäh-rung nicht möglich sein, wäre die Ernährung über Sonde die nächste Option. Voraussetzungen hierfür sind eine ungestörte Magen-Darm-Passage und ungestörte Motilität des Magen-Darm-Traktes und eine ausreichend Verdauung und Nähr-stoffresorption. Aus hygienischen Gründen und wegen der besseren Verträglichkeit sollte industriell hergestellten Nährlösungen der Vor-zug gegenüber selbst hergestellten gegeben werden. Zudem enthalten diese alles, was für eine vollwertige Ernährung notwendig ist (4).

4.Schritt: Ist auch die Sondener-nährung nicht ausreichend,

so wäre der nächste Schritt die

Abb. 3 Das „Nutritional Risk Screening“ (NRS) für stationäre Patienten (16)

NUTRITIONAL RISK SCREENING

Verschlechterung des Ernährungszustandes

Keine Verschlechterung

Grad 1 (leicht)■ Gewichtsverlust > 5 % in 3 Monaten oder■ hat während der letzten Woche etwas

weniger gegessen (50–75 % der normalen, bedarfsdeckenden Mahlzeiten)

Grad 2 (mäßig)■ Gewichtsverlust > 5 % in 2 Monaten oder■ BMI 18,5–20,5 + reduzierter AZ oder■ hat während der letzten Woche weniger als

die Hälfte gegessen (25–50 % der normalen, bedarfsdeckenden Mahlzeiten)

Grad 3 (schwer)■ Gewichtsverlust > 5 % in 1 Monat oder■ BMI < 18,5 + reduzierter AZ oder■ hat während der letzten Woche praktisch

nicht gegessen (0–25 % der normalen, bedarfsdeckenden Mahlzeiten)

Alter: falls > 70 Jahre: + 1 Punkt

Total Punkte:

Beurteilung der Total-Punkte (Score):

Bei > 3 Punkten: Beginn der Ernährungstherapie

Bei < 3 Punkten: Je nach Krankheits- Ernährungssituation Screening wöchentlich/monatlich wiederholen. Ernährungstherapie in Betracht ziehen, wenn der Patient z. B. eine große Operation vor sich hat

0

1

2

3

Schwere der Erkrankung (Stressmetabolismus)

Kein Stressmetabolismus

Grad 1 (leicht)z. B. Hüftfraktur, chronische Patienten mit akuten Komplikationen: Zirrhose, COPD, Hämodialyse, Diabetes, maligne Tumore

Grad 2 (mäßig)z. B. große Bauchoperationen, Dekubitus, cerebrovaskuläre Insulte,schwere Pneumonie, Hämoblastosen

Grad 3 (schwer)z. B. Schädel-Hirn-Trauma, Polytrauma, schwere Verbrennungen, KnochenmarktransplantationIntensivstationspatienten (APACHE > 10)

0

1

2

3

Quelle: Espen Guidelines 2003, Nestle Nutrition

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Einleitung einer parenteralen Ernährung, bei der die ora-le Ernährung durch parenterale Gaben unterstützt wird oder vollwertig parenteral ernährt wird (4, 14).

Frühzeitig Ernährungs interventionen beginnen

Eine Mangelernährung, vor allem im Stadium einer Tu-morkachexie, ist ein schwerwiegendes Symptom, welches zu einer Verschlechterung der Lebensqualität und der Prognose führen kann. Aus diesem Grunde muss durch multidisziplinäre Zusammenarbeit eine Mangelernäh-rung frühzeitig erkannt werden und entsprechende Er-nährungsinterventionen beginnen.

(1) Andreyev, H. J., Norman, A. R., Oates, J., & Cunningham, D. (1998). Why do patients with weight loss have a worse outcome when under-going chemotherapy for gastrointestinal malignancies? Eur J Cancer, 34 (4), 503–509(2) Arends, J. (2008). Mangelernährung bei Tumorpatienten. Der Onko-loge, 14 (1), 9–14(3) Dewys, W. D., Begg, C., Lavin, P. T. et al. (1980). Prognostic effect of weight loss prior tochemotherapy in cancer patients. The American Journal of Medicine, 69 (4), 491–497. doi: http://dx.doi.org/10.1016/ S0149–2918(05)80001–3(4) Zürcher, G. (2012). Ernährung in der Onkologie. Lila Reihe. Retrie-ved from http://www.fortimel.de/fileadmin/downloads/OnkologieLilaReihe.pdf(5) Valentini, L., Volkert, D., Schütz, T. et al. (2013). Leitlinie der Deut-schen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM). DGEM-Terminolo-gie in der klinischen Ernährung. Aktuel Ernahrungsmed, 38, 97–111 (6) Laviano, A., Meguid, M. M., Inui, A. et al. (2005). Therapy Insight: cancer anorexia-cachexia syndrome[mdash]when all you can eat is yourself. [10.1038/ncponc0112]. Nat Clin Prac Oncol, 2 (3), 158–165(7) Fearon, K., Strasser, F., Anker, S. D. et al. (2011). Definition and clas-sification of cancer cachexia: an international consensus. Lancet On-col, 12 (5), 489–495. doi: 10.1016/S1470 –2045(10)70218–7(8) Evans, W. J., Morley, J. E., Argiles, J. et al. (2008). Cachexia: a new definition. Clin Nutr, 27 (6), 793–799. doi: 10.1016/j.clnu.2008. 06.013(9) Iwagaki, H., Hizuta, A., Uomoto, M. et al. (1997). Cancer cachexia and depressive states: a neuro-endocrine-immunological disease? Acta Medica Okayama, 51 (4), 233–236(10) Arends, J., Zürcher, G., Fietkau, R. et al. (2003). DGEM-Leitlinie En-terale Ernährung: Onkologie. [DGEM Guidelines Enteral Nutrition: On-cology]. Aktuel Ernahrungsmed, 28 (Sup. 1), 61–68. doi: 10.1055/s-2003– 36939(11) Ravasco, P., Monteiro-Grillo, I., Vidal, P. M., & Camilo, M. E. (2004). Cancer: disease and nutrition are key determinants of patients’ quality of life. Supportive Care in Cancer, 12 (4), 246–252(12) Capuano, G., Grosso, A., Gentile, P. C. et al. (2008). Influence of weight loss on outcomes in patients with head and neck cancer under-going concomitant chemoradiotherapy. Head Neck, 30 (4), 503–508. doi: 10.1002/hed. 20737(13) Fearon, K. C. (2008). Cancer cachexia: developing multimodal the-rapy for a multidimensional problem. Eur J Cancer, 44 (8), 1124–1132. doi: 10.1016/j.ejca.2008.02.033(14) Bozzetti, F., Arends, J., Lundholm, K. et al. (2009). ESPEN Guideli-nes on Parenteral Nutrition: non-surgical oncology. Clin Nutr, 28 (4), 445–454. doi: 10.1016/j.clnu.2009.04.011(15) Kondrup, J., Allison, S., Elia, M. et al. (2003a). ESPEN guidelines for nutrition screening 2002. Clinical nutrition, 22 (4), 415–421(16) Kondrup, J., Rasmussen, H. H., Hamberg, O., & Stanga, Z. (2003b). Nutritional risk screening (NRS 2002): a new method based on an analysis of controlled clinical trials. Clinical nutrition, 22 (3), 321–336

Matthias Naegele, Master of Science in Nursing,Diplom Pflegepädagoge (FH), Gesundheits- und Krankenpfleger für die Pflege in der [email protected]

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„Eine sehr gute Notlösung“Heimparenterale Ernährung. Wenn Patienten über enterale Kost nicht ausreichend Nährstoffe aufnehmen können, kann eine parenterale Ernährung notwendig werden. Diese ist auch im häuslichen Umfeld möglich. Die Betroffenen können dadurch einen beinahe normalen Alltag leben, so Patientenberaterin Dr. Silke Frohmüller. Sogar Reisen sind nicht ausgeschlossen.

Interview: Brigitte Teigeler

Frau Dr. Frohmüller, wann gab es in Deutschland die erste parenterale Ernährung im häuslichen Umfeld eines Patienten?Das liegt schon gut 30 Jahre zurück. Ich habe damals in der Chirurgischen Universitätsklinik in Heidelberg gear-beitet. Wir waren mit die ersten, die eine parenterale Er-nährung zu Hause durchgeführt haben – 1986 war das. Ich erinnere mich noch, dass wir den Patienten dafür zwei Wochen lang stationär geschult haben. Das war da-mals echte Pionierarbeit: Die Pflegedienste kannten sich damit nicht aus, kaum jemand wusste, was ein Port ist, und es gab selbstverständlich auch noch keine Dreikam-merbeutel mit vorgefertigten Ernährungslösungen.

Wie oft wird diese Form der Ernährung heute prak- tiziert?Ich würde davon ausgehen, dass rund 5 000 bis 6 000 Pa-tienten in Deutschland eine heimparenterale Ernährung erhalten. Aber genaue Zahlen gibt es keine, weil es kein Register für diese Patienten gibt.Bei welchen Patienten wird die parenterale Ernährung eingesetzt?Grundsätzlich kommt sie bei allen Patienten infrage, die sich nicht ausreichend oral oder enteral ernähren können. Das kann beispielsweise ein Tumorpatient mit einer Passagestörung durch ein Magencarcinom oder eine Pe-ritonealcarcinose sein, oder auch Patienten mit benignen Grunderkrankungen, die an einem Kurzdarmsyndrom leiden. Typische Ursachen sind ausgedehnte Dünn- darmresektionen wegen einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung wie Morbus Crohn oder eine Mesente-rialischämie. Eine parenterale Ernährung ist in der Regel dann indiziert, wenn der Darm nicht durchgängig ist, zu kurz ist oder die Darmpassage zu schnell erfolgt, das heißt, dass der Patient nicht ausreichend Nährstoffe aufnehmen kann.

Auch nach vielen Jahren parenteraler Ernährung ist ein oraler

Kostaufbau noch möglich

Dr. Silke Frohmüller, 61, ist leitende Ärztin und Geschäftsführerin von PatientCONSULT, einem ärztlichen Beratungsinstitut in Heidelberg. Sie hat 15 Jahre in der Chirurgie gearbeitet, bevor sie sich 2001 selbstständig gemacht hat. Seitdem widmet sie sich der Aufgabe, die ihr besonders am Herzen liegt – der umfassenden ärztlichen Beratung von Patienten.Kontakt: [email protected]

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Pflegen + Unterstützen

Ist ein Port für diese Maßnahme zwingend erforderlich?Für jede Infusionstherapie, die über drei Wochen geht, ist ein dauerhafter zentralvenöser Katheter erforderlich. Das kann ein Port oder auch ein Hickman-Katheter sein. Ein Port ist aber sehr viel häufiger. Onkologische Patienten haben fast immer einen Port.Wie lange kann eine parenterale Ernährung im häus- lichen Bereich erfolgen?Das kommt darauf an. Tumorpatienten werden durch-schnittlich zirka 90 Tage parenteral ernährt. Bei einer benignen Grunderkrankung kann eine parenterale Er-nährung aber auch sehr lange erfolgen.Auch dauerhaft?Ja, wenn von der Erkrankung nichts dazwischen kommt. Die Ernährungstherapie muss dann natürlich ständig überwacht und angepasst werden. Wir haben beispiels-weise einen Patienten, den wir bereits seit der Gründung unseres Patientenberatungsinstituts im Jahr 2001 betreu-en. Das ist also sehr wohl dauerhaft möglich. Es bleibt aber in jedem einzelnen Fall eine Herausforderung.Braucht es für die Verabreichung zu Hause eine Pflege-fachperson oder können auch Angehörige entsprechend geschult werden?

Das können die Patienten sogar selbst lernen! Generell ist die Applikation einer Ernährungstherapie eine pflege-rische Tätigkeit, aber auch die Angehörigen und die Pa-tienten können geschult werden, wenn sie geschickt und verständig sind. Gerade in der Langzeitpflege sind die Patienten oft froh, wenn sie – oder ihre Familie – das selbst übernehmen können. Das erhöht die Autonomie und damit auch die Lebensqualität. Bei Tumorpatienten ist das jedoch eher die Ausnahme. Hier wird die Ernäh-rungstherapie fast immer von einem Pflegedienst über-nommen.Dürfen alle Pflegedienste diese Leistung ausführen oder sind spezielle Voraussetzungen erforderlich?Grundsätzlich dürfen alle Pflegedienste eine Ernäh-rungstherapie ausführen, oft mangelt es aber an entspre-chendem Wissen. Denn die heimparenterale Ernährung ist ja doch recht selten. Bei den Patienten, die wir über unser Patientenberatungsinstitut betreuen, bekommt je-der Pflegedienst deshalb eine individuelle Schulung.Was ist bei der Verabreichung der Ernährung besonders zu beachten?Hygiene, Hygiene, Hygiene. Dazu gehören vor allem ei-ne entsprechende Händehygiene, das Beachten der Ein-

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Ausreichend ernährtDie parenterale Ernährung kann als alleinige Ernährungsform den kompletten Nährstoffbedarf abdecken; sie ist auch zu Hause möglich

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wirkzeiten der Desinfektionsmittel aber auch der Einsatz der Non-Touch-Technik. Grundsätzlich ist die heimpa-renterale Ernährung eine Maßnahme, die mit wenig Komplikationen einhergeht. Die einzige Komplikation, die sehr gefürchtet ist, ist die Sepsis. Deshalb müssen die Basismaßnahmen zur Hygiene immer wieder eingetrich-tert werden. Und jeder Patient braucht natürlich einen individuellen Ernährungsplan.Was legt dieser Plan genau fest?Hier steht, welche Ernährungslösung eingesetzt wird, welche Menge, ob Zusätze erforderlich sind und mit wel-cher Laufzeit die Ernährungstherapie infundiert wird. Bei der parenteralen Ernährung werden bei erwachsenen Patienten fast immer vorgefertigte Dreikammerbeutel eingesetzt, die alle Makronährstoffe und Elektrolyte ent-halten. Zusätzlich müssen Vitamine und Spurenelemente zugesetzt werden, bei Bedarf auch einzelne Mineralstoffe wie Kalium oder Medikamente wie Insulin.Wie lange beträgt die tägliche Laufzeit der Lösungen?Die meisten Ernährungspläne sind für 15 Stunden be-rechnet und laufen in der Regel nachts, zum Beispiel von abends sechs Uhr bis morgens neun Uhr. Das gibt den Patienten immerhin eine Zeit ohne Infusion von neun Stunden und passt zudem gut zu den Arbeitszeiten von ambulanten Pflegediensten.Wäre es nicht möglich, die Lösung in kürzerer Zeit ein-laufen zu lassen?Die tägliche Laufzeit wird anhand der Glukosemenge und dem Körpergewicht des Patienten berechnet. Die Faustregel lautet: Es dürfen nicht mehr als 0,25 Gramm Glukose pro Kilogramm Körpergewicht und Stunde in-fundiert werden.Warum?Wird dem Körper zu viel Glukose zugeführt, wird diese als Fett in der Leber gespeichert. Das kann dann – bereits nach einigen Wochen bis Monaten – zu Leberfunktions-störungen führen. Früher hieß es auch: Bei parenteraler Ernährung bekommt man eine Fettleber. Mittlerweile sind die Empfehlungen zur Gesamtzuckermenge pro Tag reduziert worden. Wurden früher noch fünf Gramm Glukose pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag verab-reicht, steht heute in den Leitlinien, dass drei bis vier

Gramm ausreichend sind. Diese Zahlen gelten für Er-wachsene, bei Kindern ist wieder alles anders.Wie müssen die Lösungen gelagert werden?Die Dreikammerbeutel werden in der Regel von der Apotheke nach Hause geliefert. Sie haben normalerweise eine Lagerungstemperatur bis 25° C. Es reicht also, wenn sie irgendwo im Schatten aufbewahrt werden. Werden Ernährungslösungen individuell zusammengestellt und als Beutel geliefert, müssen die Lösungen allerdings im Kühlschrank gelagert werden.Müssen die Beutel vor Licht geschützt werden?Sofern die Vitamine in einer fetthaltigen Lösung gelöst werden, ist ein Lichtschutz nicht erforderlich. Das heißt, bei allen Dreikammerbeuteln kann auf den Lichtschutz verzichtet werden.Wie kommen die Patienten mit der heimparenteralen Versorgung zurecht?Die meisten kommen ganz gut damit zurecht, sie ist so-zusagen ihre „Lebensleine“, die es ihnen ermöglicht, zu Hause zu leben. Dennoch ist es für die Betroffenen eine große Belastung, jeden Tag aufs Neue an die Infusion zu müssen. Das ganze Leben wird um diese Infusionsthera-pie herum geplant, das kann sehr einschränkend sein. Die Abhängigkeit, die die Patienten erleben, ist die größte Belastung. Die Patienten sind meist glücklich, wenn sie mal eine oder zwei Nächte ohne Infusion schlafen können.Ist das möglich?Sobald ein Teil der Nahrung enteral aufgenommen werden kann, das Gewicht stabil ist und die Laborwerte ausgegli-chen sind, wird es meistens einfach mal probiert: Können wir das Gewicht halten, wenn nur an fünf Tagen infundiert wird?Haben die Betroffenen denn Appetit, wenn sie kalorien-mäßig vollständig abgedeckt sind?Oft ist es so: Die Patienten leiden zunächst unter quälender Appetitlosigkeit. Bessern sich durch die Ernährungs- therapie das Gewicht und damit auch der Gesamtzustand, kommt der Appetit oft zurück. Bei der parenteralen Er-nährung gibt es in der Regel keine Limitation, was die orale Nahrungsaufnahme betrifft.Gibt es Einschränkungen in der Freizeitgestaltung?Patienten mit Port dürfen eigentlich alles machen, zu-mindest solange keine Nadel liegt: Sie dürfen duschen,

PatientCONSULT in Heidelberg ist ein bundesweit einmaliges ärztliches Beratungsinstitut. Es ist Ansprechpartner für Betroffene mit langwierigen oder schwierigen Gesundheits-

problemen. Zu den Ratsuchenden zählen Patienten aus ganz Deutschland, aber auch aus dem Ausland. Schwerpunktmäßig wenden sich Tumorpatienten an das Beratungsinstitut, aber auch Menschen mit entzündlich-rheumatischen oder neurologischen Erkrankungen. Auch gehören viele Patienten mit langfristiger parenteraler Ernährung zum Klientel.

Das Besondere an dem medizinischen Beratungskonzept ist, dass sich die Ärzte besonders viel Zeit für die Patienten nehmen. Neben der intensiven Bearbeitung der individuellen Krankheitsgeschichte der Patienten beraten die Ärzte auch zu Behandlungsmöglichkeiten. Sehr im Fokus steht die persönliche Lebenssituation jedes einzelnen Patienten. Fast 4 000 Patienten haben seit Gründung des ärztlichen Beratungsinstitutes bei PatientCONSULT Rat gesucht. www.patientconsult.de

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baden, schwimmen gehen. Bei liegender Nadel ist dasjedoch alles verboten. Haben die Patienten einenHickman-Katheter, dürfen sie mit Folienabdeckung duschen, sie dürfen aber nicht baden oder schwimmen gehen. Menschen mit heimparenteraler Ernährung können auch durchaus berufstätig sein. Wir haben zum Beispiel eine Patientin, die setzt sich auch mit Rucksack und Infusionspumpe an die Spargelschäl-maschine.Sind Reisen möglich?Ja, durchaus. Für einen unserer Patienten mit schwe-rem Morbus Crohn haben wir gerade eine Ostsee-kreuzfahrt organisiert – das ist sein erster Urlaub nach zehn Jahren. Ein anderer Patient musste beruflichnach Stockholm. Das brauchte zwar etwas Vorlauf und musste – wegen der mitzunehmenden Geräte und Infusionslösungen – gut mit der Fluggesellschaft or-ganisiert werden. Deutschlandreisen sind gar kein Problem.Müssen die Betroffenen alles selbst organisieren?Das ist in Deutschland sehr unterschiedlich. Zwei der drei großen Anbieter von Dreikammerbeuteln – dassind B. Braun und Fresenius Kabi – haben bundesweit pflegerische Mitarbeiter, die sich um die Versorgung kümmern. Reist ein Patient beispielsweise vom Ham-burg nach Heidelberg, erfolgt die Organisation der Ernährungstherapie über einen pflegerischen Mitar-beiter des Unternehmens. Dieser kümmert sich da-rum, dass die Infusionslösung von einer Apotheke zum Ferienort geliefert wird und dass ein Pflegedienst vor Ort die Lösung infundiert. Schwieriger ist es, wenn die Patienten von kleineren regionalen Provi-dern versorgt werden. Da hängt es sehr vom persönli-chen Engagement der Mitarbeiter und der Philoso-phie des Unternehmens ab.Wer trägt die Kosten für die Ernährungstherapie?Die Krankenkassen übernehmen die Kosten komplett, der Patient trägt nur die üblichen Zuzahlungen. B. Braun und Fresenius Kabi haben darüber hinausPatientenmanager eingestellt, die die Patienten per-sönlich beraten und ihre Versorgung koordinieren. Diese Leistung ist quasi im Preis der Dreikammer-beutel mit inbegriffen. Auch wenn Patienten meineLeistung als unabhängige Patientenberaterin in An-spruch nehmen, werden diese Kosten von den beidenFirmen übernommen.Kann es gelingen, von der parenteralen Ernährungwieder auf eine enterale Ernährung umzustellen?Eine parenterale Ernährung ist immer eine Notlösung– wenn auch mittlerweile eine sehr gute. Was enteralmöglich ist, muss deshalb genutzt werden. Auch nachvielen Jahren parenteraler Ernährung ist ein oraler Kostaufbau noch möglich. Dieser muss allerdings sehr langsam aufgebaut werden, das geht nicht von heute auf morgen.Ich danke Ihnen für das Gespräch, Frau Dr. Froh-müller.

Mail: [email protected]

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Die Schwester Der Pfleger/08/2016/Produktionsstrecke_Innenteil_8-16 - Seite 39 bp - 21.07.2016 11:54

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Rundum gut ernährt

Menschen mit Querschnittlähmung benötigen keine spezielle Diät, aber eine ausgewogene vollwertige Ernährung. Zudem sollte ein besonderes Augenmerk auf die Verdauung gelegt werden, da sich die Schädigung des Rücken-marks auch auf die Funktion des Darms auswirkt.

Von Veronika Geng

M enschen mit Querschnitt-lähmung haben einen

etwas verminderten Energiebedarf. Das bedeutet, dass sie weniger Ka- lorien als Fußgänger benötigen, gleichzeitig aber die gleichen Nähr-stoffe. Laut Studien wird der Ener-giebedarf um etwa zehn bis 25 Pro-zent geringer eingeschätzt (v. Laffert 2010). Allerdings hängt der Energie-bedarf querschnittgelähmter Men-schen immer auch davon ab, wie viel körperliche Aktivität erfolgt.

10 Regeln für eine ausgewogene Ernährung

Die Deutsche Gesellschaft für Er-nährung (DGE) spricht von zehn Regeln für eine ausgewogene und vollwertige Ernährung. Diese Re-geln wurden für Querschnittgelähm-te angepasst und auf ein Ernäh-rungsrad für Rollstuhlfahrer übertra-gen (Abb. 1). Dieses stellt eine schnelle Übersicht dar, welche Nah-rungsmittel wie oft am Tag konsu-miert werden dürfen. Da Menschen mit Querschnittlähmung bei nied -rigerer Kalorienzufuhr dieselben Nährstoffe benötigen wie ein Fuß-

gänger, ist es wichtig, dass vollwerti-ge Nahrungsmittel konsumiert wer-den (Geng et al. 2016).

Jede Speiche des Rads stellt eine Portion dar. Die Portion ist die Le-bensmittelmenge, die in der Hand des Betroffenen Platz hat. So hat ein kleiner Mensch eine kleinere Menge zur Verfügung als ein Hüne mit der Größe von zwei Metern. Die An- gaben im Ernährungsrad stellen Durchschnittswerte für einen akti-ven erwachsenen Rollstuhlfahrer dar. Je nach individueller Aktivität müs-sen die Portionsgrößen noch ange-passt werden (Geng et al. 2016). Bei der Portionierung kann auch die Tel-lerregel helfen (Abb. 2).

1. Trinken: Eine ausreichende Trinkmenge ist, auch im Hinblick auf die Blasen- und Darmfunktion, notwendig. Es sollten mindestens 1500, besser 1800 Milliliter am Tag getrunken werden (Geng et al. 2016). Hier eignen sich Wasser und Tee, aber auch dünne Saftschorlen.

2. Obst und Gemüse: Zu empfehlen sind zwei Portionen Obst und drei bis vier Portionen Gemüse am Tag.

Ernährung bei Querschnittlähmung

Diese enthalten viele Ballaststoffe, Vitamine und Mineralstoffe, aber auch wichtige sekundäre Pflanzen-stoffe. Das sind bioaktive Substan-zen, die den Blutzucker- und Cho-lesterinwert regulieren und der Ent-stehung von Krebs entgegenwirken können. Sie stärken das Immunsys-tem und töten Krankheitserreger im Körper ab (Wellmeier et al. 2015). Da jedes Obst und Gemüse unter-schiedliche sekundäre Pflanzenstoffe enthält, lautet die Empfehlung, am-pelfarbig zu essen, also etwas Gelbes, Rotes und Grünes. So haben sie den besten Mix an sekundären Pflanzen-stoffen.

3. Getreide, Kartoffeln, Teigwaren & Co: Dazu zählen die klassischen

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Praxis

Getreidesorten wie Weizen, Roggen, Dinkel, Hafer, Gerste, Mais und Grünkern, aber auch die sogenann-ten Pseudogetreide wie Amaranth, Quinoa oder Buchweizen. Es sollten vorrangig Vollkornprodukte verwen-det werden, da diese länger sättigen und mehr Ballaststoffe enthalten. Sie beeinflussen auch den Stuhltrans-port positiv. Da Menschen mit Querschnittlähmung oft eine ver-langsamte Verdauung haben, kommt es häufig zu Blähungen. Hier kann es helfen, fein vermahlenes Korn zu verwenden oder Körner vor Verzehr etwas quellen zu lassen, zum Beispiel Haferflocken.

4. Milch und Milchprodukte: Diese liefern Calcium als Baustein für die

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Abb. 1 Ernährungsrad für Menschen mit Querschnittlähmung

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Praxis

Knochen sowie Vitamin B, das für die Nerven wichtig ist. Aufgrund der reduzierten Kalorienmenge eignet sich der Gebrauch von fettreduzier-ten Milchprodukten. Auch Sauer-milchprodukte können zur Unter-stützung der Darmflora beitragen.

5. Fleisch und Wurstwaren: Fleischund Wurstwaren müssen nicht jedenTag auf dem Speiseplan stehen, zwei- bis dreimal pro Woche reicht. Neben tierischen Fetten und Eiwei-ßen liefern diese allerdings auchCholesterin und Purine, die zuGicht führen können. In Wurstwa-ren stecken oft auch versteckte Fette.

6. Fisch: Fisch besitzt neben hoch-wertigen und leicht verdaulichen Ei-weißen lebensnotwendige und ge-sundheitsfördernde Fettsäuren, zumBeispiel Omega-3-Fettsäuren. Es

wird empfohlen, ein- bis zweimalpro Woche Fisch zu essen.

7. Eier: Der Eierkonsum der Wochesollte bei zwei bis drei liegen. Ach-tung: Eier sind oft in Backwaren ver-steckt.

8. Fette und Öle: Durch Fleisch undMilchprodukte werden bereits viele tierische Fette aufgenommen. Daher können zum Kochen und Braten gutePflanzenöle verwendet werden. Idea-lerweise werden die Fette mit einemLöffel (= 1 Portion) abgemessen.

9. Knabbereien: Dazu gehören, Sü-ßigkeiten, Schokolade, Kekse undKuchen, aber auch Chips, Eis, Limo-naden und alkoholische Getränke. Hier kann es hilfreich sein, schon beim Einkaufen auf die Portionsgrö-ße der Verpackung zu achten. Klei-

nere Einheiten sind zu bevorzugen. Alkohol in Maßen ist ein Genuss, ingrößeren Mengen jedoch schädlich. Auch sind die Wechselwirkungen mit Medikamenten nicht zu unter-schätzen. Nüsse und Mandeln lie-fern wichtige pflanzliche Fette undEiweiße. Sie ergänzen den Speise-plan perfekt.

10. Salz, Kräuter und Gewürze: Bei querschnittgelähmten Menschen ist der Natriumwert im Serum aus-schlaggebend dafür, ob eher salzreich oder salzarm gegessen werden soll. Zu bedenken ist, dass Salz in vielen Fertigprodukten vorhanden ist. Durch die Verwendung von Kräu-tern und Gewürzen kann beim Ab-schmecken das Salz reduziert wer-den. Mit unterschiedlichen Gewür-zen können auch körperliche Vor-gänge beeinflusst werden. So sind Fenchel, Anis, Kreuzkümmel undKümmel verdauungsfördernd und helfen gegen Blähungen. Schwarz-kümmel und Lorbeer sind harntrei-bend, Kardamom ist krampflösend.

Ballaststoffe sind wichtig für die Verdauung

Ballaststoffe sind definiert als Nah-rungsbestandteile, die der menschli-che Körper nicht verdauen kann. Deshalb liefern sie ihm auch keineEnergie und keine Bausteine. Trotz-dem sind sie sehr wichtig. Zum einenwird durch eine ausreichende Mengean Ballaststoffen – empfohlen sind30 Gramm pro Tag – die Darmflora ernährt und zum anderen Wasser imStuhlgang gebunden. Das führt zu einem besseren Stuhltransport. n Im Mund zwingen die Ballast-stoffe zu längerem und intensiverem Kauen. Dadurch startet der Verdau-ungsprozess. n Im Magen verweilen ballaststoff-reiche Lebensmittel länger und sätti-gen dadurch für eine längere Zeit. n Im Dünndarm vergrößern Bal-laststoffe das Speisebreivolumen und führen dadurch zu mehr Stuhlmasse. Das stimuliert die Darmwand und regt in der Folge die Darmbewegung an. n Im Dickdarm wird die Darmflora durch die Ballaststoffe positiv beein-flusst.

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Kartoffeln – Nudeln – Reis

Kartoffeln – Nudeln – Reis

Abb. 2 Portionierung des Tellers bei geringen und bei sportlichen Aktivitäten

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Dies sind nur ein paar der positiven Einflüsse der Ballaststoffe auf das Verdauungssystem. Einen negativenAspekt gibt es allerdings: Ballaststoffe können Blähun-gen hervorrufen. Der Körper gewöhnt sich aber an die Ballaststoffe, und die Blähungen werden weniger. Wich-tig ist deshalb, Ballaststoffe schrittweise zu erhöhen unddem Körper Zeit zu geben, sich daran zu gewöhnen.

Grundsätzlich ist die Ernährung von Menschen mit Querschnittlähmung mit der von Fußgängern vergleich-bar. Die Grundsätze der ausgewogenen Ernährung blei-ben die gleichen. Allerdings haben Lebensmittel, die ei-nen Einfluss auf die Darmfunktion haben, egal ob sie eher abführend oder stopfend wirken, beim Querschnitt-gelähmten andere Konsequenzen, da der Darm nicht willkürlich entleert und kontrolliert werden kann.

Knoblauch und Zwiebeln können Blähungen hervor-rufen. Das ist bei Menschen mit Querschnittlähmung ebenso wie bei Fußgängern, und viele berichten, dass die-se richtig „durchputzen“. Deshalb kann es Sinn machen, Knoblauch und Zwiebel beim Kochen wegzulassen unddafür mehr mit Kräutern und Gewürzen zu arbeiten.

Letztendlich geht es bei der Ernährung aber auch da-rum, selbst herauszufinden: Was tut mir gut, was tut mir nicht gut? Wie reagiert mein Körper auf bestimmte Le-bensmittel? Und dies ist unabhängig davon, ob jemand im Rollstuhl sitzt oder nicht.

Geng, V. & Hess, C. (2016): Ernährung bei Querschnittlähmung, Infor-mationen für Betroffene, Broschüre der Manfred-Sauer-Stiftung, Bera-tungszentrum für Ernährung und Verdauung QuerschnittgelähmterGeng, V. Obereisenbuchner, J.; Senft, B. & Wirschinger, S. (2016): Ernäh-rungsempfehlungen bei Querschnittlähmungen, Netzwerk Ernährung Querschnittgelähmter, 3. Aufl., Manfred-Sauer-Stiftung, SelbstverlagVon Laffert, A. (2010): Ruheumsatz und Zusammenhang mit dem Er-nährungs- und Bewegungsverhalten bei Querschnittgelähmten; Ba-chelor Thesis, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg Wellmeier, M. (2015): Die Anleitung zum Ess- und Bewegungspro-gramm – Lecker und Ausgewogen mit dem VFED-Ernährungsdreieck. Hrsg. Verband für Ernährung und Diätetik e.V.

Veronika Geng ist Pflegewissenschaftlerin, MNSc, MHSc, und leitet das Beratungs-zentrum für Ernährung und Verdauung Querschnittgelähmter.Mail: [email protected]

BUCHTIPPSDie beiden Bücher „Quer-schnitt Ernährung“ und „Querschnitt Kochen“, ein Projekt der Manfred-Sauer-Stiftung, können im Doppel- pack in der Manfred-Sauer-Stiftung zzgl. Versandkosten bestellt werden. www.bz-ernaehrung.de

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Wenn Essen zur Qual wirdAnorexia nervosa. Eine Magersucht kann lebensbedrohlich werden und einen Aufenthalt in einer Klinik erforderlich machen. Die Pflegenden sind hier diejenigen, die die Mager-süchtigen tagtäglich durch die stationäre Behandlung tragen und begleiten.

Von M. Sedetzki, Chr. Rungg und

Dr. S. Perkofer

D er Begriff Anorexia nervosa kommt aus dem Grie-

chischen und bedeutet „kein Verlan-gen“. Dieses Nicht-Verlangen nach Nahrung ist die seltenste Form der Essstörung, doch zugleich auch die Gefährlichste. Die Mortalität liegt je nach Quelle bei etwa fünf bis zwan-zig Prozent (Hömberg 2006).

Erstmals beschrieben wurde das Krankheitsbild der Magersucht im Jahr 1873. Ab den 1970er-Jahren wurde die Diagnose häufiger gestellt. Mit Ausnahme der Depression ist kaum eine andere psychische Er-krankung so häufig in der Presse ver-treten wie die Anorexie (Clasen 2015).

Bei der Entstehung von Essstö-rungen kommen normalerweise mehrere Ursachen zusammen, wie unrealistische Schönheitsideale oder auch der Gruppendruck aus dem so-

zialen Umfeld und der Familie. Nicht zuletzt können auch biologi-sche Faktoren wie ein gestörter Se-rotoninhaushalt eine Rolle spielen (Sevecke 2014). Gerade unsichere Jugendliche erhoffen sich von einem schlankeren Körper mehr Beachtung und Anerkennung. Schlanksein wird oft als Voraussetzung für Erfolg pro-pagiert. Junge Frauen machen oft-mals ihren Körper für mangelnde Erfolge verantwortlich (Beyer et al. 2008).

Vorangegangene psychische Er-krankungen können Auslöser für eine Magersucht sein, vor allem depressive Störungen. Durch eine Zwangsstörung oder kindliche Angststörung ist das Risiko ebenfalls erhöht. Die Morbiditätsrate in Ver-bindung mit mehreren psychischen Störungen steigt dabei um ein Sie-benfaches an ( Jacobi et al. 2004).

Eine genetische Komponente liegt nahe: Anorexia nervosa tritt ge-häuft in Familien auf, Zwillings- studien bestätigen dies ( Jacobi et al. 2004). Bei Verwandten ersten Gra-des von Magersüchtigen ist das Erkrankungsrisiko achtmal höher als in der Normalbevölkerung (Beyer et al. 2008).

Hungern mit gefährlichen Folgen

Die Anorexia nervosa tritt meistens im Jugendalter auf. Die Klassifikati-onssysteme DSM-IV und ICD-10 definieren die Magersucht mit einem selbst herbeigeführten Gewichtsver-lust und der Angst vor einer Ge-wichtszunahme. Die Körperschema-störung ist in beiden Klassifikationen zu finden. Weiteres Kennzeichen ist bei Frauen das Ausbleiben der

Foto: iStock.com/KatarzynaBialasiewicz

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Praxis

Monatsblutung und bei Männern der Interessensverlust an Sexualität und der Potenzverlust (Steinhausen 2005).

Das Erkennen einer Anorexianervosa ist oft nicht einfach. Die Er-krankten sind oftmals intelligenter als der Durchschnitt und kaschieren die Erkrankung erfindungsreich(Lanzendörfer 1996).

Zu den zentralen Merkmalen zählen Einschränkung der Nah-rungsaufnahme und ständiges exzes-sives gedankliches Befassen mit denThemen Nahrung, Dicksein und Es-sen. Trotz der Abmagerung sehensich die Betroffenen selbst nicht alsdünn genug an. Es treten Stim-mungslabilität, ein niedriges Selbst-wertgefühl, Schlafstörungen und ein rigides Denkmuster auf, das speziellauf Gewicht und Ernährungsverhal-ten fokussiert ist (Steinhausen 2005).

Krankhaftes Untergewicht hat vielfältige gravierende Auswirkun-gen auf den Organismus bis hin zulebensbedrohlichen Komplikationen. Dazu zählt vor allem der Ka- liummangel, der lebensgefährliche Herzrhythmusstörungen verursachenkann. Nach längerer unzureichender Kohlenhydratzufuhr sind körpereige-ne Reserven aufgebraucht. Bei starker körperlicher Belastung kann es durchHypoglykämien zu Bewusstlosigkeit, Hirnschäden und zum Tod kommen(Institut für Ernährungsinformation2014).

Durch die eingeschränkte Östro-genbildung kommt es zu einer Stö-rung der weiblichen Keimdrüsen. Das Ausbleiben der Menstruation ist einer der häufigsten Gründe, warum magersüchtige Mädchen erstmals zur ärztlichen Untersuchung kom-men (Gerlinghoff et al. 2000). Puls und Blutdruck von anorektischen Personen sind niedrig, und die Kör-pertemperatur sinkt ab. Es kommt zu flaumartiger Behaarung des Rü-ckens, Muskelschwäche, Haarausfall und Ödemen (Gawlik 2010).

Durch Mangel an Kalzium, Phosphat und Vitamin D leiden dieBetroffenen schon in jungen Jahren an Osteoporose. Während des Krank-heitsverlaufes wird ein Schwund desHirngewebes beobachtet. Dieser geht mit Leistungseinbußen einher, bildet rr

sich aber bei Gewichtsnormalisie-rung wieder zurück.

Bei schwer verlaufender Anore-xia nervosa sind neben Herzrhyth-musstörungen Infektionen durch eingeschwächtes Immunsystem eine häufige Todesursache (Wöckel 2014).

Stationäre Therapie bei Magersucht

Indikationen zur stationären Be-handlung von Anorexia nervosa ist der Verlust von mehr als 30 Prozent des Ausgangsgewichts, vor allem bei rascher Abnahme, oder ein Unter-schreiten des Body Mass Index(BMI) von 14. Auch das Auftreten ausgeprägter somatischer Folge- erscheinungen wie Hypothermie, erhöhtes kardiales Risiko, Nieren- insuffizienz oder eine Störung desElektrolythaushaltes sind Einwei-sungsgründe ( Jacobi et al. 2004). Spezifische psychische Komorbidität wie Suizidalität, ausgeprägte De-pressionen, Alkohol-, Medikamen-ten-, Drogenabhängigkeit oder Per-sönlichkeitsstörungen sind ebenfalls

Indikationen für eine Überweisung in eine Suchtklinik oder psychiatri-sche Klinik (APA 2000, zit. nachHerzog 2004).

In den Kliniken werden verschie-dene Psychotherapiemöglichkeitenangeboten. Wichtige Bestandteiledes stationären Aufenthaltes sind zudem meist der Stufenplan und dieGewichtskurve.

Der Stufenplan: Das „Mindestnor-malgewicht“ sollte bereits im Rah-men des Erst- oder Vorgespräches berechnet und mit dem Betroffenen besprochen werden. Danach wirdgemeinsam die wöchentliche Ge-wichtszunahme festgelegt. Sie sollte500 Gramm nicht unterschreiten, um eine Unterscheidung zu norma-len Gewichtsschwankungen zu er-möglichen ( Jacobi et al. 2004). DasZielgewicht muss nicht unbedingt Normalgewicht bedeuten, sollte je-doch über einem BMI von 18 liegen(Senf 2004).

Für eine kontrollierte Gewichts-zunahme wird oft ein festgelegter Stufenplan verwendet. Er gliedert

Stufenprogramm bei Anorexia nervosa

1. Stufe

Zwei Stunden Ausgang pro Tag auf dem Klinikgelände in Begleitung von Mitpatienten oder Angehörigen, Besuche nur am Wochenende. Sportliche Betätigung ist nicht möglich. Zusätzlich zu der normalen Krankenhauskost, welche auf der 1. Stufe 2 000 kcal beträgt, bekommen die Patienten zweimal 200 ml Fresubin = 400 kcal als Trinknahrung (= 2 400 kcal).

2. Stufe

Keine weitere Applikation hochkalorischer Trinknahrung. Es wird die normale Krankenhausmahlzeit eingenommen, die tägliche Gesamtkalorienmenge beträgt 3 000 kcal. Die Klinik kann ohne Begleitung verlassen werden, aber nicht das Klinikgelände. Kein Ausgang am Wochenende.

3. Stufe

(Sobald 2/3 des verlangten Gewichtszuwachses erreicht worden sind) – freies Wochenende, das Klinikgelände kann verlassen werden. Nach Erreichen des Zielgewichtes erfolgt eine weitere stationäre Therapie von sechs Wochen.

4. Stufe

Sowohl stationärer als auch teilstationärer Behandlungsstatus möglich. Einnahme der normalen Krankenhausnahrung (2 500–3 000 kcal). Das Zielgewicht sollte ge-halten werden. Fakultativ erfolgt einmal wöchentlich eine Blutabnahme, zwecks Ausschlusses eines Laxanzien-/Diuretikaabusus (Elektrolyte und harnpflichtige Substanzen).

Quelle: Senf 2004, S. 44

Abb. 1

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sich in vier Stufen, die jeweils eigene Essenspläne und Ausgangszeiten vorsehen (Abb. 1). Bei etwa einem Drittel der notwendigen Gewichts-zunahme wird die nächste Stufe er-reicht. In den ersten beiden Stufen sind Wochenendausgänge oder Ver-lassen des Klinikgeländes noch nicht gestattet. Besuchszeiten beschränken sich nur auf das Wochenende und die tägliche Kalorienzufuhr beträgt 2 400 bis 3 000 Kilokalorien. Ab Stufe drei nähert man sich schon dem Zielgewicht an, und die Betrof-fenen dürfen auch an den Wochen-enden die Klinik verlassen. Nach Erreichen des Zielgewichtes liegt die Aufgabe in der letzten Stufe, dieses Gewicht auch zu halten (Senf 2004).

Die Gewichtskurve: Im Folgenden wird die Therapie von Magersucht beschrieben, wie sie an der Universi-täts-Kinderklinik Graz üblich ist. Die Behandlung umfasst sowohl den teils lebensbedrohlichen körperli-chen Zustand, als auch die krankhaf-te Störung des Essverhaltens (Gaw-lik 2010).

Gleich zu Beginn des Klinikauf-enthaltes werden Ziel- beziehungs-weise Entlassungsgewicht in einem Gespräch mit Arzt, Psychologe, dem Betroffenen und dessen Familie festgelegt. Darauf erfolgt die Anfer-tigung einer Gewichtskurve, in die täglich das Körpergewicht eingetra-gen wird (Abb. 2). Das tägliche Wie-gen (IST-Gewicht) erfolgt vor dem Frühstück durch eine Pflegeperson.

Laut Trojovsky (2001) können Betroffene aus dem „Vertrag“ zwi-schen Patient und Stationsteam schon am Anfang ersehen, welche Konsequenzen ihr Gewicht – nicht ihr Verhalten – hat. Es bringt Klar-heit für Magersüchtige, Angehörige und das Team. Es gibt keine Strafen bei der Verweigerung von Nahrung.

Je nach Gewicht wird nach dem Wiegen ersichtlich, wie der Betrof-fene den Tag verbringt: Wenn das aktuelle Gewicht über der Solllinie liegt, ist er/sie in „Freiheit“, was be-deutet, dass an Stationsaktivitäten teilgenommen werden darf. Liegt das Gewicht bei weniger als einem Kilogramm unter der Solllinie, wird die/der Betroffene von einer Pflege-person im Bett gewaschen, das Essen wird mit einem halben Liter energie-reicher Zusatznahrung ans Bett ge-bracht. Ob die Betroffenen normale Nahrung, die Zusatznahrung oder keine Nahrung zu sich nehmen, liegt ganz bei ihnen und wird nicht kom-mentiert. Liegt das Gewicht mehr als einen Kilogramm unter der Soll-linie, erhält der Betroffene eine Nasenmagensonde. Durch portions-weise Gabe im Zwei-Stunden-Rhythmus kann es zwischenzeitlich zu einer physiologischen Magenent-leerung kommen und ein ständiges Völlegefühl, mit dem Wunsch zu erbrechen, wird vermieden.

Somit wird die Krankheit von einem Essproblem zu einem Ge-wichtsproblem umdefiniert. Essen oder dessen Verweigerung kann da-durch nicht mehr als Druckmittel eingesetzt werden (Trojovsky 2010).

Begleitung der Magersüchtigen

Pflegeprobleme ergeben sich aus dem oft extremen Untergewicht bis zur Kachexie und der dadurch gege-benen Lebensgefährdung. Wegen des gestörten Körperbildes wird das Pflegepersonal immer wieder in Dis-kussionen über ein unangemessenes niedriges Idealgewicht verwickelt.

Das Pflegepersonal muss wach-sam und konsequent sein, darf jedoch nicht moralisieren oder sich auf Ver-handlungen einlassen. „Trotz Auto-nomiebestrebungen wirken die Pa-tienten vordergründig sehr angepasst und harmlos, gehen scheinbar auf alle Vereinbarungen ein. Erst wenn das Gewicht nicht ansteigt, wird offen-kundig, dass „getrickst“ wurde, z. B. heimlich erbrochen, heimlich Ab-führmittel und Diuretika eingenom-men, nicht gegessen und vor dem Wiegen getrunken. Therapeuten und Pflegepersonal sind enttäuscht und resigniert, die Magersüchtigen trium-phieren“ (Senf 2004, S. 9–10).

Die Pflege hat auf die Einhal-tung des zu Behandlungsbeginn ge-schlossenen Vertrages zu achten. Hierbei ist die Struktur durch Essprogramm und Stufenplan sehr hilfreich und entlastend.

Weitere Aufgabe der Pflege ist das regelmäßige Wiegen der nüch-ternen Erkrankten in Unterwäsche. Dabei versuchen die Magersüch- tigen oft zu bagatellisieren und zu feilschen. Wichtig ist es, dass das Pflegepersonal sich nicht darauf ein-lässt, weiterhin ernst bleibt und die Betroffenen ernst nimmt.

Die Pflege sorgt für regelmäßige Mahlzeiten, die meist aus drei Haupt-mahlzeiten und zwei Zwischenmahl-zeiten bestehen. Damit ist eine Kalo-rienzufuhr von 2 400 bis 3 000 Kiloka-lorien gewährleistet. Essenszeiten sind auf eine halbe Stunde beschränkt und ritualisiert. Man beginnt und beendet die Mahlzeiten gemeinsam. Auch wenn nichts gegessen wird, bleibt der Teller bis zum Schluss vor den Ma-gersüchtigen stehen. Zu Beginn des stationären Aufenthaltes erhalten die Betroffenen flüssige Zusatznahrung und werden von einer Pflegeperson bei der Nahrungsaufnahme angeleitet Behandlungstag

Entlassungsgewicht: 49 kgGewicht

0 5 201510

32 kg

34 kg

33 kg

35 kg

36 kg

37 kg

38 kg

Freiheit

Bettruhe

Sondenernährung

Abb. 2 Beispiel einer Gewichtskurve

Quelle: Trojovsky 2001

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und unterstützt. Nach und nach sollen „verbotene Nahrungsmittel“ wieder in den Essensplan integriert werden.

Während des Aufenthaltes soll die Autonomie gewährleistet wer-den, und so gibt es beispielsweise Einkaufsgruppen oder Kochgrup-pen. Hier lernen die Betroffenen, ei-ne ausgewogene Mahlzeit zuzube-reiten. Ab Stufe 3 des Behandlungs-konzeptes ermöglichen freie Wo-chenenden den Patienten das Um-setzen des Gelernten in den Alltag. Dabei erhalten sie Unterstützung vom Pflegepersonal.

Pflegegespräche finden einzeln im Zimmer der Magersüchtigen statt und dauern zirka 20 Minuten. Dieses zeitlich festgelegte Angebot hilft auch Betroffenen, die schwer Kontakt aufnehmen können, sich mitzuteilen. Sie selbst bestimmen das Thema dieser Gespräche.

Ein Familiengespräch findet in der Regel in den ersten vier Wochen des Klinikaufenthaltes statt. Dabei sind ein Arzt, eine Pflegeperson, der Betroffene und die Familie anwe-send. Patienten bestimmen selbst die Pflegeperson, zu der eine vertrauens-volle Beziehung besteht. Denn Auf-gabe der Pflege ist es, in solchen Gesprächen eine schützende Rolle für Betroffene einzunehmen.

Ständige besondere pflegerische Aufmerksamkeit verlangen der Kali-ummangel, die erniedrigte Körper-temperatur, trockene Haut und brüchige Haare und die Lanugobe-haarung, die die Selbstentwertungen des eigenen Körpers der Betroffenen fördert (Senf 2004).

Es kann zu autoaggressivem Ver-halten kommen wie Ritzen der Haut-oberfläche, sich schlagen oder ver-brennen. Auch diverse Substanzmiss-bräuche oder Promiskuität kommen vor. Bei traumatisierten Patienten ist das Pflegepersonal oft intensiv mit der Gedankenflut von Erinnerungen konfrontiert. Suizidalität sollte in Form eines Pflegegesprächs offen an-gesprochen werden. Die Normalisie-rung der endokrinen Funktionen er-möglicht den Patientinnen Zugang zu ihrer weiblichen Identität. Sie be-nötigen in dieser Zeit vor allem von weiblichen Pflegepersonen Unter-stützung (Senf 2004).

Pflegende als Begleiter und Vertrauenspersonen

Pflegepersonen sind im Rahmen der stationären Therapie bei Anorexia nervosa bedeutsame Mitglieder im Betreuungsteam. Sie haben sehr en-gen Kontakt und sind im Rahmen der Interaktion mit den Patientinnen vor besondere Herausforderungen ge-stellt: Auf der einen Seite haben sie die Einhaltung der Vorgaben, die für die Patientinnen gelten, zu achten und entsprechend zu handeln – mitunter auch nach Diskussionen und Infrage-stellungen durch die Patientinnen.

Auf der anderen Seite sind sie verständige und unterstützende Be-gleiter und Vertrauenspersonen. Sie brauchen ein großes Maß an Refle-xionsfähigkeit, um beiden Seiten ge-recht zu werden und so hilfreich und erfolgreich zu sein.

Beyer K. & Beukmann-Wübbels A. (2008): Ich hab‘s satt! Wenn Essen zum Problem wird. Essstörungen erkennen, verstehen und über-winden. Hannover: Humboldt VerlagClasen A. (2015): Magersucht (Anorexie): De-finition. http://www.onmeda.de/krankheiten/magersucht-definition-1535-2.html (letzter Aufruf: 23.04.2015)Franke A. (2003): Wege aus dem goldenen Käfig. Anorexie verstehen und behandeln. Weinheim, Basel, Berlin: Beltz Taschenbuch VerlagGawlik W. (2010): Stationäre Therapie von Magersucht. http://www.magersucht-online.de/index.php/therapie-bei-magersucht/30-stationaere-therapie-von-magersucht (letzter Aufruf: 09.07.2014)Herzog W. (2004): Anorexia nervosa. Psycho-therapie im Dialog (1 aus 2004, 5. Jg.), 3–11

Hömberg R. (2006): Psychosomatik Kompakt. Kurzlehrbuch für Pflege- und Gesundheitsbe-rufe. Bern: Hans Huber VerlagJacobi C., Thiel A. & Paul T. (2004): Essstörun-gen. Fortschritte der Psychotherapie. Göttin-gen, Bern, Toronto, Seattle, Oxford, Prag: Ho-grefe Verlag GmbH & Co. KGLanzendörfer C. (1996): Psychosomatik in der Pflege und die „Aktivitäten des täglichen Le-bens“. Stuttgart: Schattauer VerlagSenf W. (2004): Stationäre Psychotherapie bei Magersucht als Behandlungsepisode im Rah-men eines Gesamtbehandlungsplans. Psycho-therapie im Dialog (1 aus 2004, 5. Jg), 1–12Sevecke K. (2014): Schönheitsideale, die krank machen. Gesund in Tirol (Ausgabe 9 2014), 40–42Steinhausen H.C. (2005): Anorexia Nervosa. Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie. Göttingen: Hogrefe VerlagTrojovsky A. (2001): Anorexia Nervosa. Ma-gersucht. http://www.trojovsky.net/alex/anorexia/ (letzter Aufruf: 09.07.2014)Wöckel L. (2014). Magersucht: Körperliche Folgen. http://www.apotheken-umschau.de/Magersucht/Magersucht-Koerperliche-Folgen- 188 90_4.html (letzter Aufruf: 30.05.2014)

Die Perspektive betroffener FrauenIm Rahmen eines Projektes veröffentlichten Autorinnen in einer deutschen Frauen-zeitschrift einen Aufruf und baten Frauen, die an Magersucht gelitten haben, einen Fragebogen auszufüllen (Franke 2003). 34 Prozent der Frauen hatten eine stationäre Therapie hinter sich, davon wurden 62 Prozent zu der Therapie zumeist von der Familie gezwungen.

Als schädliche Faktoren der Therapie benennen Betroffene die Apathie durch Me-dikamente, körperliche Nebenwirkungen der Medikamente sowie Bestrafung bei Nicht-erreichen des Gewichtes. 50 Prozent empfanden die Sondenernährung als schädlich. Bei den hilfreichen Einflüssen wurden Liebe mit 45 Prozent und Trennung mit 16 Pro-zent angegeben. Als fördernd empfanden 26 Prozent auch positive Erfahrungen und wiederum lag für 14 Prozent in negativen Erfahrungen eine Veränderungsmöglichkeit.

Kontrollierende Maßnahmen wie Bettruhe schnitten sehr negativ ab. Als überaus wichtig für den Erfolg einer Therapie ist die Beziehung zu den Therapeuten. Dies bestätigten 75 Prozent der Betroffenen, die Akzeptanz, Zuneigung und korrekte Hilfe-stellung ihrer Therapeuten als wichtige Variable für den Heilungsprozess ansahen (Franke 2003).

Maria Sedetzki ist Gesundheits- und Krankenpflegerin und absolviert derzeit

die Sonderausbildung zur psychiatrischen Gesundheits- und Krankenpflege.

Mail: [email protected]

Christine Rungg, Mag., unterrichtet am Ausbildungszentrum West für Gesundheits-

berufe der Tirol Kliniken GmbH.Mail: [email protected]

Susanne Perkhofer Priv.-Doz.in Dr.in ist Wissenschaftliche Leiterin fhg – Zentrum für

Gesundheitsberufe Tirol GmbH.

Praxis