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Zusammenfassung Die Corona-Krise hält die Welt im Bann. Während die un- mittelbaren Risiken der Pandemie breit diskutiert werden, gilt dies eher selten für die zu erwartenden immensen Aus- wirkungen auf die Ernährungssicherheit der absolut Ar- men. Sie entstehen hauptsächlich durch Lockdown-Maß- nahmen (LD-M) zur Bekämpfung der Ansteckung und be- einträchtigen schon jetzt über viele Wirkungsketten alle vier Säulen der Ernährungssicherheit: Der Zugang zu Nah- rungsmitteln wird sich bei abnehmenden Einkommen und schwindender Kaufkraft massiv verschlechtern, die Verfüg- barkeit durch Input-, Ernte-, Handels- und Transportaus- fälle wahrscheinlich ebenfalls. Die neue Instabilität kann sich leicht auf andere Bereiche wie Migration, Sicherheit und Staatlichkeit ausdehnen. Insbesondere Frauen und oft auch Kinder sind gefährdet. Dabei sind verschiedene Haushaltstypen ganz unterschied- lich betroffen. Folgenschwer wird diese Krise zunächst für die nicht landwirtschaftlich orientierten Haushalte, meist städtische Arme. Sofern sie Bezüge zur Landwirtschaft ha- ben, können sie von Nahrungsmitteltransfers profitieren oder zurück-/ teilmigrieren. Subsistenzorientierte klein- bäuerliche Haushalte, die den Großteil der Ärmsten stellen, werden von den Ernährungskonsequenzen dieser Krise (anders als bei naturbedingten Krisen) zumindest kurzfris- tig weniger betroffen sein. Größere landwirtschaftliche Be- triebe, die verlässlich Nahrungsmittel für den Markt produ- zieren können, dürften sich als eine Stabilitätssäule in und nach der Krise erweisen, sofern für sie relevante Märkte nicht massiv einbrechen. Insgesamt werden die Auswirkungen der Corona-Krise auf Er- nährung, neben der Ausgestaltung der LD-M, insbesondere davon abhängen, wieweit die Wirtschaft sowie die Entflech- tung der Landwirtschaft vom Rest der Wirtschaft entwickelt ist und wieweit Staat und wohlhabendere Schichten die Möglichkeit haben und behalten, Transfers zu leisten. In är- meren Ländern gilt, dass bei der Abwägung von Corona-Be- kämpfung und Wirtschaft letztere einen höheren Stellen- wert haben muss als in reicheren Ländern: Die LD-M bedro- hen in armen Ländern Leben und Gesundheit. Ausdrücklich wird hier betont, dass es bei „Wirtschaft“ um die komplexen Wirkungsketten Richtung Ernährungssicherheit geht, nicht nur um Wachstum und Jobs. Für die Länder des armen Südens sollten Corona-Strategien daher anders aussehen als im globalen Norden und in Schwellenländern. Für die Entwicklungszusammenarbeit heißt dies zunächst, die Entwicklung spezifischer lokaler Strategien zu unterstützen. Beiträge müssen kurzfristig und flexibel v.a. Aufklärung, Gesundheit und Hygiene adressie- ren und ggf. Geld- und Nahrungsmitteltransfers sowie Be- schäftigungsprogramme umfassen. Dabei sollten Wirt- schaftsstrukturen und -akteure geschützt und gestützt wer- den. Die Resilienz gegenüber der Corona-Epidemie und an- deren Epidemien kann mittelfristig insbesondere durch die Förderung nachhaltiger Landwirtschafts- und Ernährungs- systeme gestärkt werden. Dabei darf die Resilienz gegenüber anderen Krisentypen nicht vernachlässigt werden, bei denen teilweise andere Wirkungsketten aktiv und damit Maßnahmen nötig sind. So schädigen klimabedingte Krisen oft die lokale Landwirt- schaft; der Zugang zum Weltagrarmarkt ist dann ein wich- tiger Schutz. Die Forschung lehrt, dass umfassende Resili- enz am besten über eine Mischung aus wirtschaftlicher Diversität, Rücklagenbildung, offenen Agrarmärkten, Ver- sicherungen und sozialen Sicherungssystemen erzielt wer- den kann. Ernährungssicherung in Krisenzeiten: Arme Entwicklungsländer sind anders Analysen und Stellungnahmen 6/2020

Ernährungssicherung in Krisenzeiten: Arme ...tiger Schutz. Die Forschung lehrt, dass umfassende Resili-enz am besten über eine Mischung aus wirtschaftlicher Diversität, Rücklagenbildung,

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Page 1: Ernährungssicherung in Krisenzeiten: Arme ...tiger Schutz. Die Forschung lehrt, dass umfassende Resili-enz am besten über eine Mischung aus wirtschaftlicher Diversität, Rücklagenbildung,

Zusammenfassung

Die Corona-Krise hält die Welt im Bann. Während die un-mittelbaren Risiken der Pandemie breit diskutiert werden, gilt dies eher selten für die zu erwartenden immensen Aus-wirkungen auf die Ernährungssicherheit der absolut Ar-men. Sie entstehen hauptsächlich durch Lockdown-Maß-nahmen (LD-M) zur Bekämpfung der Ansteckung und be-einträchtigen schon jetzt über viele Wirkungsketten alle vier Säulen der Ernährungssicherheit: Der Zugang zu Nah-rungsmitteln wird sich bei abnehmenden Einkommen und schwindender Kaufkraft massiv verschlechtern, die Verfüg-barkeit durch Input-, Ernte-, Handels- und Transportaus-fälle wahrscheinlich ebenfalls. Die neue Instabilität kann sich leicht auf andere Bereiche wie Migration, Sicherheit und Staatlichkeit ausdehnen. Insbesondere Frauen und oft auch Kinder sind gefährdet.

Dabei sind verschiedene Haushaltstypen ganz unterschied-lich betroffen. Folgenschwer wird diese Krise zunächst für die nicht landwirtschaftlich orientierten Haushalte, meist städtische Arme. Sofern sie Bezüge zur Landwirtschaft ha-ben, können sie von Nahrungsmitteltransfers profitieren oder zurück-/ teilmigrieren. Subsistenzorientierte klein-bäuerliche Haushalte, die den Großteil der Ärmsten stellen, werden von den Ernährungskonsequenzen dieser Krise (anders als bei naturbedingten Krisen) zumindest kurzfris-tig weniger betroffen sein. Größere landwirtschaftliche Be-triebe, die verlässlich Nahrungsmittel für den Markt produ-zieren können, dürften sich als eine Stabilitätssäule in und nach der Krise erweisen, sofern für sie relevante Märkte nicht massiv einbrechen.

Insgesamt werden die Auswirkungen der Corona-Krise auf Er-nährung, neben der Ausgestaltung der LD-M, insbesondere

davon abhängen, wieweit die Wirtschaft sowie die Entflech-tung der Landwirtschaft vom Rest der Wirtschaft entwickelt ist und wieweit Staat und wohlhabendere Schichten die Möglichkeit haben und behalten, Transfers zu leisten. In är-meren Ländern gilt, dass bei der Abwägung von Corona-Be-kämpfung und Wirtschaft letztere einen höheren Stellen-wert haben muss als in reicheren Ländern: Die LD-M bedro-hen in armen Ländern Leben und Gesundheit. Ausdrücklich wird hier betont, dass es bei „Wirtschaft“ um die komplexen Wirkungsketten Richtung Ernährungssicherheit geht, nicht nur um Wachstum und Jobs.

Für die Länder des armen Südens sollten Corona-Strategien daher anders aussehen als im globalen Norden und in Schwellenländern. Für die Entwicklungszusammenarbeit heißt dies zunächst, die Entwicklung spezifischer lokaler Strategien zu unterstützen. Beiträge müssen kurzfristig und flexibel v.a. Aufklärung, Gesundheit und Hygiene adressie-ren und ggf. Geld- und Nahrungsmitteltransfers sowie Be-schäftigungsprogramme umfassen. Dabei sollten Wirt-schaftsstrukturen und -akteure geschützt und gestützt wer-den. Die Resilienz gegenüber der Corona-Epidemie und an-deren Epidemien kann mittelfristig insbesondere durch die Förderung nachhaltiger Landwirtschafts- und Ernährungs-systeme gestärkt werden.

Dabei darf die Resilienz gegenüber anderen Krisentypen nicht vernachlässigt werden, bei denen teilweise andere Wirkungsketten aktiv und damit Maßnahmen nötig sind. So schädigen klimabedingte Krisen oft die lokale Landwirt-schaft; der Zugang zum Weltagrarmarkt ist dann ein wich-tiger Schutz. Die Forschung lehrt, dass umfassende Resili-enz am besten über eine Mischung aus wirtschaftlicher Diversität, Rücklagenbildung, offenen Agrarmärkten, Ver-sicherungen und sozialen Sicherungssystemen erzielt wer-den kann.

Ernährungssicherung in Krisenzeiten: Arme Entwicklungsländer sind anders

Analysen und Stellungnahmen 6/2020

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Lockdown-Maßnahmen in der Corona-Bekämpfung

Die Corona-Krise beherrscht derzeit die Menschheit. Die Epi-demie wird bisher in erster Linie als eine Krise von Gesundheit und des Gesundheitssektors behandelt. Kurzfristig wird ver-sucht, sie durch medizinische Maßnahmen wie den Auf- und Ausbau von Versorgungskapazitäten, Testmethoden und In-tensivmedizin zu bekämpfen. Aber im Mittelpunkt stehen Einschränkungen des Personenverkehrs, Geschäftsschließun-gen, Kontaktsperren und Ausgangsregeln. Im Folgenden wer-den sie als Lockdown-Maßnahmen (LD-M) zusammengefasst, wissend, dass es sehr unterschiedliche Typen und Ausprägun-gen gibt. Corona-Strategien ohne drastische LD-M sind der-zeit fast nirgends zu finden (Ausnahmen: Schweden, Südko-rea). Mittelfristig hofft man auf bessere Therapien und vor al-lem auf Impfungen.

Die immensen wirtschaftlichen Folgeschäden werden zwar thematisiert, aber in die zweite Reihe gestellt. In reicheren Län-dern wird versucht, sie mit gewaltigen Stützungsprogrammen abzufedern. Noch (Stand Ende April) sind Vertreter von wirt-schaftlichen gegenüber denen von gesundheitlichen Argu-menten meist unterlegen; Gesundheitsargumenten wird eine – oft ethisch begründete – Überlegenheit zuerkannt.

Diese Orientierung im öffentlichen Diskurs und in der Politik ist mit den Erfahrungen aus früheren Epidemien, den expo-nentiellen Epidemieverläufen bei Corona und schrecklichen Bildern und Berichten von überlasteten Gesundheitssyste-men zu erklären. Wesentlich ist aber auch, dass in den derzeit hauptsächlich betroffenen und den Diskurs bestimmenden Industrie- und Schwellenländern (im Folgenden der globale Norden genannt) die LD-M relativ wenig gesundheitliche Schäden anrichten. Insbesondere ist die Ernährungssicherheit kaum in Gefahr. Von einer Minderheit abgesehen, die halt-bare Grundnahrungsmittel hortet, herrscht die Zuversicht vor, dass sowohl kurz- als auch mittelfristig die Versorgung

mit Nahrungsmitteln und das Einkommen für ihren Kauf nicht gefährdet sind bzw. dass staatliche Sicherungssys-teme die Ernährung gewährleisten.

In armen Entwicklungsländern sieht die Situation ganz an-ders aus. Hier können gesundheitspolitisch begründete LD-M schnell nicht nur große soziale und wirtschaftliche Konse-quenzen haben, sondern auch sehr unmittelbar ernste Be-drohungen für Ernährungssicherheit und damit für Leib und Leben nach sich ziehen. Daraus ergeben sich, wie im Folgen-den argumentiert wird, Konsequenzen für die Bekämpfung der Corona-Epidemie in diesen Ländern. Darüber hinaus las-sen sich Lehren für mehr Resilienz gegenüber ernährungsre-levanten Krisen ziehen – allerdings mit Vorsicht und ohne übermäßige Verallgemeinerung!

Die unterschiedliche Ausgangssituation in armen Ländern

In armen Ländern lebt ein großer Teil der Menschen unter-halb der absoluten Armutsgrenze von etwa zwei US-Dollar pro Tag. Die Wohn- und Arbeitsbedingungen sind äußerst beengt. Alten- und Pflegeheime sind fast unbekannt. Ein Drittel der Menschen ist unterernährt, ähnlich viele haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Malaria, ernäh-rungs- und hygienebedingte Krankheiten sind fast überall, HIV/Aids und Tuberkulose v.a. im südlichen Afrika weit ver-breitet. Anzahl und Qualität der öffentlichen und selbst vie-ler privater medizinischen Einrichtungen sind äußerst schlecht. Insgesamt ist die Sterblichkeit in diesen Ländern daher schon in Normalzeiten hoch, nur fünf Prozent der Be-völkerung ist über 60 Jahre alt. Es gibt aber, wie bspw. die Eindämmung von Ebola in Nigeria gezeigt hat, auch pockets of efficiency im Gesundheitswesen, und in manchen Ländern und Regionen einen lange geübten Umgang mit Epidemien. Für einzelne Entwicklungsindikatoren ist die Lage auf dem Land meist deutlich schlechter als in der Stadt, dennoch ist

Abbildung 1: Schematische Einteilung ländlicher und städtischer Haushalte nach Kriterien der Ernährungssicherheit

Quelle: Autor. Unterschiedliche Segmentgrößen symbolisieren unterschiedliche Größenordnung, entsprechen aber nicht der realen Verteilung

Verfügbarkeit Nutzung Zugang

Stabilität

Märkte und Tauschbeziehungen

Ernährungssicherung in Krisenzeiten: Arme Entwicklungsländer sind anders

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die Sterberate im ländlichen Raum zwar für Kinder deutlich höher, aber nicht für Erwachsene. Erwachsene v.a. in den Städten leiden an der doppelten Bürde von klassischen Ar-muts- (Unterversorgung, Infektionen) und neuen Zivilisati-onskrankheiten (Fehlernährung, Diabetes, Herzkrankhei-ten). Insgesamt ist die Bevölkerung sehr jung, im Durch-schnitt unter 20 Jahre.

Mittelbare Risiken durch Ernährungsunsicherheit

Betrachten wir im Folgenden, welche Änderungen bei den vier Säulen der Ernährungssicherheit – Verfügbarkeit, Zu-gang, Nutzung und Stabilität – für die verschiedenen Bevöl-kerungsgruppen durch LD-M zu erwarten sind. Für ländliche Haushalte wird das Modell der fünf ländlichen Welten ge-nutzt. Für die städtischen Haushalte wurde ein analoges Mo-dell entworfen, das einen Fokus auf den Zugang zu eigener Landwirtschaft (U2 versus U3 und U4 versus U5) durch urba-nen Gartenbau und Tierhaltung, Landwirtschaft in der Peri-pherie kleinerer Städte und in den Ursprungsdörfern hat (Ab-bildung 1). Die Grundannahme für diese Haushaltstypologie ist, dass die Beziehung zur Landwirtschaft ausschlaggebend für die Wirkungen von LD-M auf Ernährungssicherheit in ar-men Ländern ist.

Verfügbarkeit: Global gesehen ist 2020 ein gutes Agrarjahr. Die ersten Anzeichen der Auswirkungen von LD-M im globalen Norden deuten aber darauf hin, dass die Verfügbarkeit von Nahrung dennoch abnehmen könnte, trotz der Versuche, nur den Personenverkehr und nicht Warenproduktion und -handel zu begrenzen. Schon kurzfristig (Wochen) fehlen je nach Kultur Erntehelfer, die nicht mehr reisen dürfen. Auch durch Spekula-tion und Hamsterkäufe werden Agrarprodukte rar. Vor allem aber leidet der Transport, der insbesondere in armen Ländern personalintensiv ist. Mittel- und längerfristig (Monate bis Jahre) kann die Produktion stärker behindert werden, ebenfalls durch Personalmangel oder etwa, wenn für modernere Betriebe (v.a. R1, R2) und für die kleine aber wichtige Cash-Crop-Produktion subsistenzorientierter Bauern (R3) aufgrund von Produktions- oder Transportproblemen weniger Dünge- oder andere Be-triebsmittel verfügbar sind. (Beispiele sind China, wo in der Pro-vinz Huabei die Düngemittelproduktion zurückging und In-dien, wo der Reismarkt durch den Lockdown empfindlich ge-stört wurde.) Grundsätzlich dürften Kleinbauern (R2) in dieser Krise für Produktionsausfälle weniger anfällig sein, da sie einen hohen Anteil familieneigener Arbeitskräfte aufweisen, weniger externe Betriebsmittel nutzen, kaum Kredit aufnehmen und e-her lokale Märkte beliefern. Allerdings ist das Ausgangsniveau sehr niedrig, viele dieser Haushalte sind Netto-Zukäufer von Nahrung. Die globale Nahrungsverfügbarkeit kann ebenfalls durch LD-M (bspw. setzten indische Händler Reisexporte aus) oder Exportverbote (bspw. Weizen aus Kasachstan, Reis aus Vi-etnam) reduziert werden.

Zugang: Viel bedeutender als die Verfügbarkeit sind zumin-dest kurzfristig die Folgen von LD-M für den Zugang zu Nah-rungsmitteln. In armen Ländern geben Haushalte durch-schnittlich 50 – 85 Prozent ihrer Einkommen für Nahrung inklusive Subsistenzproduktion aus. Die LD-M führen bei vielen Haushalten zu massiven Einkommensverlusten, ins-besondere im dominanten Dienstleistungssektor. Arme Haushalte haben außer den je nach Jahreszeit auf dem Feld

stehenden und/oder gelagerten Agrarprodukten kaum Rücklagen, um auch nur wenige Wochen ohne fremde Un-terstützung überstehen zu können. Dies trifft insbesondere arme städtische Haushalte (U4 und U5) und mit Verzöge-rung, nach Aufbrauch der Reserven, auch die Mittelschicht (U2 und U3). Und obwohl ein erstaunlich hoher Anteil städ-tischer Haushalte in armen Ländern Landwirtschaft betreibt (U2 und U4) und diese bedeutend für die Subsistenz wie für Geldeinnahmen ist, ist nicht gewiss, ob diese Zugänge wäh-rend der Corona-Krise sicher sind: Durch die LD-M sind der physische Zugang zu den Feldern, Transport und Vermark-tung gefährdet. Auch die reiche Oberschicht (U1) betreibt oft Landwirtschaft, teilweise mit modernen Methoden; sie dürfte aber auch ohne diese keine Probleme mit der Ernäh-rungssicherheit haben.

Auf dem Land, wo Haushalte Nahrung in unmittelbarer Nähe selber anbauen (R1-R3) oder über Nachbarschaftshilfe erhalten können (R1, R4 und R5), sind die Zugangsprob-leme durch LD-M wahrscheinlich geringer. Mittelfristig dürf-ten aber auch die ländlichen Agrar- (R1-R3) und agrarnahen Haushalte (R4-R5) negativ betroffen sein, wenn die Produk-tions- und Absatzbedingungen und damit Einkommen sin-ken und außerdem durch Wirtschaftskrise und staatliche Mindereinnahmen die öffentlichen Leistungen und Investi-tionen zurückgefahren werden. Der ländliche Bereich wird dadurch meist besonders hart getroffen.

Auch der Zugang zu Nahrung durch Transfers dürfte durch LD-M gefährdet sein. Obwohl die sozialen Sicherungssysteme in den vergangenen Jahren deutlich ausgebaut wurden, sind Staat und Regierung häufig zu arm, unfähig und manchmal sogar unwillig, Hilfsbedürftige in Krisenzeiten zu versorgen, wie zahlreiche Beispiele wie in Mosambik (Zyklon Idai), Soma-lia und Südsudan (Dürre) oder Liberia (Ebola) zeigen. Ohne in-ternationale Hilfe würden sicher noch deutlich mehr Katastro-phen zu humanitären Krisen. Gerade Nichtregierungsorgani-sationen sind in der Corona-Krise aber in ihrer Bewegungsfrei-heit behindert. Familien und lokale Solidarnetze sind und blei-ben damit die wichtigsten Auffangmechanismen, die eben-falls durch LD-M gefährdet sind, aber oft funktionieren, wenn auch auf sehr niedrigem Niveau.

Nutzung: Wie Nahrungsmittel genutzt werden, ist von Be-deutung für eine gute Ernährung. Wissen um Nahrungsqua-lität, -zubereitung, Hygiene, innerhaushaltliche Verteilung von (gutem) Essen etc. spielen hier eine Rolle. Diese Faktoren scheinen von der Krise nicht direkt betroffen zu sein. Aller-dings haben arme Haushalte weniger Möglichkeiten, selbst einfache Vorsichtsmaßnahmen, die gegen Corona-Infektio-nen helfen und unabhängig von LD-M beachtet werden kön-nen, umzusetzen – ohne sauberes Wasser, ohne individuelle Wasserstelle, ohne Geld für Hygieneartikel. Es ist auch be-kannt, dass in Stresssituationen die Schwächeren im Haushalt oft besonders unter Mangelernährung leiden, insbesondere Frauen und häufig auch Kinder. Für letztere sind die Folgen in Form von langfristigen körperlichen und geistigen Entwick-lungsstörungen besonders gravierend.

Stabilität: Stabilität bezieht sich auf die Dauerhaftigkeit der anderen Säulen der Ernährungssicherheit. Die Corona-Krise, insbesondere die LD-M, sind nicht nur ein kurzfristiger

Michael Brüntrup

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© Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE)Tulpenfeld 6 · 53113 Bonn · Tel.: +49 (0)228 94927-0 · Fax: +49 (0)228 94927-130 [email protected] · www.die-gdi.de · twitter.com/DIE_GDI · www.facebook.com/DIE.Bonn · www.youtube.com/DIEnewsflash ISSN (Online) 2512-9325

Das DIE ist ein multidisziplinäres Forschungs-, Beratungs- und Ausbildungsinstitut für die deutsche und die multilaterale Entwicklungspolitik. Es berät auf der Grund-lage unabhängiger Forschung öffentliche Institutionen in Deutschland und weltweit zu aktuellen Fragen der Kooperation zwischen Industrie- und Entwicklungsländern.

Schock für viele Aspekte in den drei anderen Säulen. Sie ris-kieren die Ernährungssicherheit auch mittel- und langfristig weiter zu gefährden. Es kann zu strukturellen Instabilitäten auf den Weltagrarmärkten kommen und zu negativen Aus-wirkungen auf Sicherheit, Staatlichkeit und Konflikte in Län-dern und ganzen Regionen.

Schlussfolgerungen und Empfehlungen Noch ist unklar, wie die gesundheitlichen Konsequenzen der Corona-Krise in armen Ländern sein werden, wo sie mit Ver-zögerung begann. Sicher ist, dass diese Länder nicht nur im Gesundheitssektor schlechter aufgestellt sind, sondern auch, dass die Wirkungen von LD-M und vor allem die Mög-lichkeiten, diese aufzufangen, anders sind als im globalen Norden. Die wirtschaftlichen und sozialen Wirkungen von LD-M sind ungleich negativer, sie treffen vor allem die Schwächsten und die Jüngeren, urbane mehr als ländliche Bevölkerung, solche ohne Möglichkeit des Rückgriffs auf die Landwirtschaft mehr als solche mit. Diese negativen Neben-effekte von LD-M gefährden Gesundheit, Leben und Wege aus der absoluten Armut. Regierungen und Entwicklungs-zusammenarbeit (EZ) sollten bei der Corona-Bekämpfung in diesen Ländern Folgendes berücksichtigen:

• Jede LD-M sollte sorgfältig auf ihre Auswirkungen auf Er-nährungssicherheit analysiert werden. Erkannte negativeAuswirkungen müssen von zielgerichteten ernährungs-unterstützenden Aktivitäten begleitet werden. Viel öfterals im globalen Norden wird man zu dem Schluss kom-men, dass einzelne LD-M (selbst mit realistischen Begleit-maßnahmen) zu größeren Ernährungs- und Gesund-heitsschäden führen als die zusätzliche Ausbreitung vonCorona. Sie sollten dann verworfen werden.

• Beiträge der EZ sollten kurzfristig v.a. Aufklärung, Ge-sundheit und Hygiene adressieren und ggf. Geld- und Nahrungsmitteltransfers sowie Sozial- und Beschäfti-gungsprogramme umfassen. Dabei sollten Wirtschafts-strukturen und -akteure soweit wie möglich geschützt und gestützt werden sollten.

• Die Bedeutung der Landwirtschaft als Fall-Back-Option inder Corona-Krise, für andere Epidemien, aber auch für viele andere kollektive und individuelle Risiken sollte klarer aner-kannt werden. Die Resilienz des Großteils der Haushaltekann durch die Förderung nachhaltiger Landwirtschafts-systeme gestärkt werden, die unterschiedlichen Haushalts-typen angepasst sein müssen, bspw. kitchen gardening (U5, R3 und R4), Low-Input-Landwirtschaft (R3), semi-professi-onelle Anbausysteme (R2). Breitenwirksames Wirtschafts-wachstum bleibt ein weiterer Schwerpunkt der Resilienz-stärkung; die Ernährungswirtschaft als wichtigster Wirt-schaftszweig armer Länder und Partner der Landwirtschaft bietet sich hier als Förderbereich an.

• Andere Krisen dürfen nicht vernachlässigt werden. Dabeisind teilweise andere Wirkungsketten aktiv und damitMaßnahmen nötig. So schädigen klimabedingte Krisen(z.B. Dürren) oft gerade die lokale Landwirtschaft; der Zu-gang zum Weltagrarmarkt ist dann eine wichtige Rück-falloption. Die Forschung lehrt, dass umfassende Resilienzam besten über Diversität, Rücklagenbildung, soziale Si-cherungssysteme und Versicherungen erzielt werdenkann. Die EZ sollte Resilienz gegen verschiedene Risikenexplizit anstreben und Übergänge zwischen Entwick-lungs- und Krisenmodi planen (contingency planning).

Literatur Brüntrup, M. (2016). Erweiterung des OECD-Modells der fünf ländlichen Welten für die sektorübergreifende armutsorientierte Analyse, Kommunikation

und Planung (Analysen und Stellungnahmen 12/2016). Bonn: Deutsches Institut für Entwicklungspolitik.

Heidhues, F., & Brüntrup, M. (2001). Subsistence agriculture in development: Its role in processes of structural change. In S. Abele & K. Frohberg (Hrsg.), Subsistence Agriculture in Central and Eastern Europe: How to Break the Vicious Circle? (S. 1-27). Abgerufen von http://www.iamo.de/fileadmin/documents/sr_vol22.pdf#page=17

DOI: 10.23661/as6.2020

Dr. Michael Brüntrup Wissenschaftlicher Mitarbeiter „Transformation der Wirtschafts- und Sozialsysteme“ Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE)

Dies ist eine Open-Access-Publikation, die kostenfrei gelesen und unter www.die-gdi.de/publikationen/analysen-und-stellungnahmen/ heruntergeladen werdenkann. Gemäß den Bedingungen der CC BY 4.0 Lizenz darf sie frei vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden.

Ernährungssicherung in Krisenzeiten: Arme Entwicklungsländer sind anders