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I ch freue mich sehr, heute hier zu sein. Wir Älteren müssen den Jüngeren raten, wie sie es vermeiden können, den Un- verstand unserer Generation zu wiederholen. Wir müssen also das sein, was Platon „Philoso- phenkönige“ nannte. Ich werde mich auf die Frage der Erzie- hung konzentrieren und dabei einen besonderen Schwerpunkt auf die neue Situation legen, die uns durch den unausweich- lichen weltweiten finanziellen Zusammenbruch aufgezwun- gen wird. Für mich ist das wesentliche Prinzip der Wissenschaft das, was Leibniz „Analysis situs“ nannte, womit die meisten Physiker vertraut sind. Wenn wir es mit einer bestimmten mathematischen Physik zu tun haben, gehen wir vor wie der berühmte französische Mathematiker und Physiker Fermat, der sich mit dem Unterschied zwischen Spiegelung und Brechung von Licht beschäftigte. Man benutzt die Mathematik und stellt damit die Versuchsergebnisse dar. Dabei stellt man oft fest, daß sich widersprüchliche Resultate ergeben. Im besonderen Falle Fermats mußte sich die europäische Zivi- lisation im Zuge seiner Arbeiten an eine neue, relativistische Zeitvorstellung ge- wöhnen. Dies setzte sich fort in den For- schungsarbeiten von Leuten wie Huy- gens, Leibniz, Bernoulli, Abraham Käst- ner und dann Gauß und Riemann. Als Ne- benprodukt der bahnbrechenden Arbeiten Keplers und von Fermats Entdeckung entstand so eine völlig neue Vorstellung der Physik. Am einfachsten läßt sich das Prinzip der „Analysis situs“ in der Sprache der experimentellen mathematischen Physik beschreiben, denn im Experiment werden Wissenschaftsdebatte 26 FUSION 22, 2001, Nr. 3 Erziehung und eine wissenschaftliche Renaissance im 21. Jahrhundert Wir veröffentlichen im folgenden einen Beitrag Lyndon LaRouches bei einem „Round table“ mit 20 polnischen Wissenschaftlern an der Polytechnischen Hochschule in Warschau am 24. Mai sowie die anschließende Diskussion. Lyndon LaRouche wurde von Prof. Jersy Oledzki, früherer stellvertretender Bildungsminister Polens, vorgestellt: „Wir erleben eine Zeit in der Geschichte, wo sich auf der globalen Bühne viele poli- tische und wirtschaftliche Experimente ab- spielen. Gleichzeitig kommen wir uns da- bei recht häufig etwas verlassen vor. Unse- re Aufgabe ist es, der nächsten Generation die Wahrheit zu vermitteln. Die meisten von uns sind Hochschullehrer, und uns obliegt es, die Studenten zu unterrichten. Fragen der Zukunft sind deshalb für uns sehr bedeutsam. Wir freu- en uns, heute jemanden unter uns zu ha- ben, der den Mut hat, sich für weitreichende Pläne einzusetzen. Er ist ein Mann, der mit großen geistigen Fähigkei- ten die derzeitige Lage einschätzt. Er hat jetzt die Möglichkeit, uns seine Ideen vor- zutragen. Das Wort hat Herr LaRouche!“ In Polen traf Lyndon LaRouche (2.v.r., ganz rechts Übersetzer) viele alte Freunde wieder, so Prof. Janusz Czyz, zweiter Vorsitzender des Schiller- Instituts in Polen (links) und Prof. Jerzy Oledzki, ehemaliger Vizeminister für Erziehung. (Foto: Christopher Lewis)

Erziehung und eine wissenschaftliche Renaissance im 21 ... · Am einfachsten läßt sich das Prinzip der „Analysis situs“ in der Sprache der experimentellen mathematischen Physik

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Ich freue mich sehr, heute hierzu sein. Wir Älteren müssenden Jüngeren raten, wie sie

es vermeiden können, den Un-verstand unserer Generation zuwiederholen. Wir müssen alsodas sein, was Platon „Philoso-phenkönige“ nannte. Ich werdemich auf die Frage der Erzie-hung konzentrieren und dabeieinen besonderen Schwerpunktauf die neue Situation legen,die uns durch den unausweich-lichen weltweiten finanziellenZusammenbruch aufgezwun-gen wird.

Für mich ist das wesentlichePrinzip der Wissenschaft das,was Leibniz „Analysis situs“nannte, womit die meistenPhysiker vertraut sind. Wennwir es mit einer bestimmtenmathematischen Physik zutun haben, gehen wir vor wie

der berühmte französische Mathematikerund Physiker Fermat, der sich mit demUnterschied zwischen Spiegelung undBrechung von Licht beschäftigte. Manbenutzt die Mathematik und stellt damitdie Versuchsergebnisse dar. Dabei stelltman oft fest, daß sich widersprüchlicheResultate ergeben. Im besonderen FalleFermats mußte sich die europäische Zivi-lisation im Zuge seiner Arbeiten an eineneue, relativistische Zeitvorstellung ge-wöhnen.

Dies setzte sich fort in den For-schungsarbeiten von Leuten wie Huy-gens, Leibniz, Bernoulli, Abraham Käst-ner und dann Gauß und Riemann. Als Ne-benprodukt der bahnbrechenden ArbeitenKeplers und von Fermats Entdeckungentstand so eine völlig neue Vorstellungder Physik.

Am einfachsten läßt sich das Prinzipder „Analysis situs“ in der Sprache derexperimentellen mathematischen Physikbeschreiben, denn im Experiment werden

Wissenschaftsdebatte

26 FUSION 22, 2001, Nr. 3

Erziehung und eine wissenschaftlicheRenaissance im 21. Jahrhundert

Wir veröffentlichen im folgenden einen Beitrag Lyndon LaRouches bei einem „Round table“ mit 20 polnischen Wissenschaftlern an der Polytechnischen Hochschule in Warschau am

24. Mai sowie die anschließende Diskussion.

Lyndon LaRouche wurde von

Prof. Jersy Oledzki, früherer stellvertretender

Bildungsminister Polens, vorgestellt:

„Wir erleben eine Zeit in der Geschichte,

wo sich auf der globalen Bühne viele poli-

tische und wirtschaftliche Experimente ab-

spielen. Gleichzeitig kommen wir uns da-

bei recht häufig etwas verlassen vor. Unse-

re Aufgabe ist es, der nächsten

Generation die Wahrheit zu vermitteln.

Die meisten von uns sind Hochschullehrer,

und uns obliegt es, die Studenten zu

unterrichten. Fragen der Zukunft sind

deshalb für uns sehr bedeutsam. Wir freu-

en uns, heute jemanden unter uns zu ha-

ben, der den Mut hat, sich für

weitreichende Pläne einzusetzen. Er ist ein

Mann, der mit großen geistigen Fähigkei-

ten die derzeitige Lage einschätzt. Er hat

jetzt die Möglichkeit, uns seine Ideen vor-

zutragen. Das Wort hat Herr LaRouche!“

In Polen traf Lyndon LaRouche (2.v.r., ganz rechts Übersetzer) viele alteFreunde wieder, so Prof. Janusz Czyz, zweiter Vorsitzender des Schiller-Instituts in Polen (links) und Prof. Jerzy Oledzki, ehemaliger Vizeministerfür Erziehung. (Foto: Christopher Lewis)

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Wissenschaftsdebatte

sehr strenge Maßstäbe angelegt, um zudefinieren, was ein echtes Paradox ist.

Die gleiche Frage stellt sich aber auchin der klassischen Komposition. Bei-spielsweise wird hierdurch der Unter-schied zwischen Bach und den anderenklassischen Komponisten einerseits undden Romantikern andererseits eindeutigklar. Bach und nach ihm Mozart, Haydn,Beethoven, Schubert, Schumann, Men-delssohn und Brahms hatten eine genaudefinierte Kompositionsmethode, dievielleicht formal erscheinen mag, dieaber alles andere als formal ist.

Nimmt man beides zusammen — dennachweisbaren wissenschaftlichen Fort-schritt und den nachweisbaren Fortschrittin Komposition und Interpretation klassi-scher Kunst —, ergibt sich darauszwangsläufig ein Verständnis von Zivili-sation, das Empirikern, Cartesianern,Existentialisten u.a. fehlt. Oder andersgesagt, wenn der Formalismus wegen ei-nes unleugbaren Widerspruchs zusam-menbricht, wie ich ihn im Falle Fermatserwähnt habe, werden wir auf etwas ge-stoßen, was sehr begabte Schüler kennen,ältere Professoren aber meist vergessen:das Prinzip der Kognition.

Es ist nicht die formale Logik, welcheden Menschen auszeichnet. Wir könnenbis zum gewissen Grade Maschinen bau-en, die die formale Logik erledigen. Heu-te gibt es ja bereits einige Dummköpfe,die glauben, man könne den Menschendurch irgendwelche Roboter ersetzen.Aber keine logische Maschine kann jeein neues universelles physikalischesPrinzip entdecken — das kann nur dermenschliche Geist.

Infolge dieses Umstandes läßt sich dasUniversum in drei miteinander verknüpf-te bzw. vielfach verknüpfte Grundprinzi-pien einteilen.

„Differentia specifica“ des Lebens

Es gibt Prozesse, die wir als „nichtle-bend“ einstufen. Seit Platon, und spezifi-scher seit Pasteur, gibt es die Vorstellungeines grundlegenden Unterschieds zwi-schen „nichtlebenden“ und „lebenden“Prozessen. Doch zusätzlich finden wir imMenschen eine Fähigkeit, die kein Tierhat: die Erkenntniskraft, die Vernunft, diees uns ermöglicht, für Paradoxa Lösun-gen zu finden, die wir nach strengenMaßstäben als universelle Prinzipien de-finieren können.

Es gibt einen sehr berühmten ukra-inisch-russischen Wissenschaftler, derwahrscheinlich zu den wichtigsten Perso-

nen für das 21. Jahrhundert gehört, dasAkademiemitglied Wladimir Wernadskij(1863-1945). Wernadskij arbeitete in Pa-ris mit Marie Curie und studierte in St.Petersburg bei Mendelejew. Er vertrat dieSchule Mendelejews, Pasteurs und Ara-gos davor, er ging aber darüber hinausund entwickelte das Konzept der „Bio-geochemie“. Ganz im Sinne der SchuleMendelejews zeigte er einen Weg zumVerständnis der Beziehung zwischen le-benden und sog. nichtlebenden Prozes-sen. In seinem Denken stellen die Atmo-sphäre, die Meere und der größte Teil derLandfläche, auf der wir leben, die Bio-sphäre dar. Alles, was darin hervorge-bracht wird, nannte er „natürliche Pro-dukte des Lebens“. Dadurch wurde esmöglich, in den Eigenschaften des Plane-ten jene Veränderungen zu messen, diedurch die ständige Aktivität des Lebensentstehen — d.h. das Leben verändertden Planeten.

In den 30er Jahren ging Wernadskijnoch weiter und definierte die sogenann-

te „Noosphäre“, d.h. wie durch mensch-liche Kognition die Biosphäre verändertwird und sich dadurch die Beziehung desMenschen zum Universum verändert.

Wernadskij begründete 1924-25 außer-dem die Kernforschung in Rußland undder Ukraine, um so mit der Kernphysikeine neue Energiequelle zu erschließen.Die gesamte Kernforschung stand unterdem Einfluß Wernadskijs. Er führte in dieExperimentalphysik ein besonderes me-thodisches Element ein, das für uns heu-te äußerst wichtig ist — ein platonischesKonzept, das ihn in Konflikt mit derSowjetideologie brachte. Er war einer je-ner sowjetischen Wissenschaftler, dietrotz ihrer ideologischen Abweichungenfür das Regime so wertvoll waren, daßman sie weiterarbeiten ließ.

Ich möchte seine Methode aus meinereigenen Sicht verteidigen. Die empiri-

sche oder „materialistische“ Methode,wie sie Lenin vertrat, ist der Auffassung,daß das Universum, die Dinge, die wirsehen, ein genaues Abbild der Objektesind, wie sie wirklich existieren. Mit an-deren Worten, die Sinneswahrnehmungsei die einzige wahre Grundlage des Wis-sens. Wenn man darüber nachdenkt, istdas offensichtlich absurd, denn diemenschlichen Sinnesorgane selbst sind jaein Produkt des lebenden Prozesses. Derlebende Prozeß übersetzt mit Hilfe seinesSinnesapparats die Schatten der Wirk-lichkeit in die Wahrnehmung. UnsereAufgabe als Menschen ist es, dies zu be-greifen und zu entdecken, wie die Wirk-lichkeit hinter diesen von den Sinnenübertragenen Schatten aussieht.

Erkenntniskraft und Erziehung

Alle wahre Wissenschaft beruht auf die-sem Konzept. Wissenschaft ist keineBuchhaltung. Sie ist kein Spiel, bei demman einfach Punkte mit Linien verbindet

oder Gegenstände abzählt. Echte Wissen-schaft wäre die Entdeckung eines relati-vistischen Prinzips der Zeit, wie es Fer-mat bei seinem berühmten Experimentgelang. In den Widersprüchlichkeiten vonExperimenten entdecken wir universellePrinzipien, die die Wirklichkeit des Uni-versums ausdrücken, in dem wir leben.

Wenn wir also Kinder erziehen und ei-ne gerechte Gesellschaft schaffen wollen,müssen wir zuallerst eine bestimmte Bil-dungsmethode verwenden, die sich auch„klassische humanistische Bildungsme-thode“ nennt. Sie hat ihren Ursprung imklassischen Griechenland. Wie bei derGeschichte von der Erziehung des Skla-venjungen in Platons Menon muß unsbewußt sein, daß jeder neugeborenereMensch über alle Potentiale der Mensch-heit verfügt, d.h. im Abbild des Schöpfersgeschaffen ist.

22, 2001, Nr. 3 FUSION 27

Der französische Mathe-matiker und PhysikerPierre de Fermat (1601-1665) untersuchte dieLichtbrechung beim Über-gang zwischen Medienunterschiedlicher Dichteund stellte fest: Das Lichtnimmt stets den Weg, derdie kürzeste Zeit in An-spruch nimmt, und das istnicht der „direkte“ WegAC (gepunktete Linie), sondern der „Umweg“ ABC. In der „Absicht“, den zeitlich kür-zesten Weg zu nehmen, verkürzt der Lichtstrahl den Weg durch das dichtere Medium(z.B. Wasser) und verlängert dafür den Weg durch das weniger dichte (z.B. Luft).

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Wissenschaftsdebatte

Offensichtlich werden wir nicht als Er-wachsene geboren. Ein Kleinkind ist in-fantil — jeder kennt das aus Erfahrung.Bei richtiger Erziehung wird aus dem in-fantilen Kleinkind ein kindisches Kind;dann erreicht es einen Zustand der Ver-rücktheit, auch „Heranwachsender“ ge-nannt. (Wenn jemand mit 25 noch wie einHeranwachsender handelt, erklärt manihn für verrückt; mit 16 dagegen ist dasnormal.) Unsere Aufgabe ist es also, Kin-der spätestens mit 25 in Erwachsene zuverwandeln. Aber Kinder sind keine Tie-re, Hunde oder Kühe. Wie erzieht manjunge Menschen im Gegensatz zu einemHund oder einer Kuh? In den VereinigtenStaaten werden Kinder heute so erzogen,daß sie infantil bleiben. Ein gelungenesProdukt dieser Art ist der gegenwärtigePräsident der USA.

Der charakteristische Unterschied zwi-schen Mensch und Tier ist offensichtlichdie Erkenntniskraft, die Vernunft — dieFähigkeit zu grundlegenden Entdeckun-gen über das Universum, die sich alswahr nachweisen lassen. Wir müssen al-so stets daran denken, daß in dem Kinddieser schöpferische Funke, diese Fähig-keit zu schöpferischen Entdeckungenschlummert, und daß es unsere Aufgabeist, diesem Kind die Erfahrung dergroßen grundlegenden Entdeckungenfrüherer Zivilisationen zugänglich zumachen und sie selbst zu verkörpern. Dieheutige „liberale“ Erziehung zerstörtaber dieses Potential im Kind.

Sie haben selbst Erfahrungen mit er-folgreichen Erziehungsprozessen, ausdenen erfolgversprechende junge Men-schen hervorgehen. Man konfrontiert dieSchüler, sobald sie dafür reif sind, mitParadoxen. Man zeigt ihnen eine Ver-suchsaufbau, an dem sie sehen können,wie das Paradox sich im Experimentzeigt. Man versucht, eine möglichst klei-ne Gruppe von Schülern oder Studenten— vielleicht 15 oder 16 in einer Klasse— dazu anzuregen, über das Problemoder Paradox nachzudenken.

Von diesen 15 finden vielleicht zweidie Lösung. Daraufhin hält man sie dazuan, die Lösung den anderen Schülern zuvermitteln. Anschließend zeigt man allendie experimentelle Demonstration desPrinzips. Man tut also zweierlei: Manentwickelt in den Schülern nicht nur dieGewohnheit, auf Lösungen hinzuarbei-ten, sondern auch eine bestimmte Art dersozialen Beziehung.

Hier liegt das entscheidende Problem:Die Fähigkeit, Entdeckungen zu machen,ist immer eine Aktivität des einzelnenMenschen, sie läßt sich nicht mit dem

Sinnesapparat eines Beobachters feststel-len. Erkenntnis läßt sich niemals als Phä-nomen von außen betrachten, man kannsie nur vermitteln, indem man sie in ei-nem anderen Menschen nachvollzieht.So kann eine Gruppe von Schülern er-kennen, daß sie alle die gleiche Erfah-rung von Entdeckungen haben. Sie ken-nen z.B. die Namen der Personen, die dasParadox als erste gelöst haben.

Warum „Heureka?“

Ich verweise manchmal auf Archimedes.Bei ihm ist es ganz ähnlich. Archimedesrief aus: „Heureka!“ (Ich hab’s gefun-den!)

Man fragt also die Schüler: „Warumhat Archimedes ,Heureka’ gerufen? Anwelchem Problem hat er gearbeitet? Wasglaubt ihr, was die Lösung ist?“ Dann be-schreibt man das antike Syrakus, die grie-chische Kultur, man schildert, daß Archi-medes im Briefwechsel mit Eratosthenesin Ägypten stand. Man zeichnet den hi-storischen Rahmen der Entdeckung undder Persönlichkeit.

Doch die Klasse selbst muß die Ent-deckung machen. Der erste Schüler, derdie Lösung findet, sagt: „Heureka!“ Aufdiese Weise wissen die Schüler, daß sieeinen Augenblick im Leben, im Geistedes Archimedes vor 2200 Jahren neu er-lebt haben.

So betreibt man Wissenschaft, so be-

treibt man Musik und Kunst: Man voll-zieht die großen Momente der Ent-deckung im Geist der heute lebendenSchüler nach. In vielen Fällen kennen dieSchüler den Namen des Menschen, derdie Entdeckung machte. Es ist so, als wä-re dieser Mensch noch am Leben, sprächemit ihnen und arbeitete mit ihnen.

Nach und nach sieht es dann im Geistedes Jugendlichen aus wie auf Raffaelsberühmtem Fresko im Vatikan Die Schu-le von Athen. Die Menschen auf diesemGemälde kommen aus verschiedenstenEpochen, sie lebten nicht gleichzeitig.Aber dort sind sie alle vereint im lebhaf-ten Gespräch. Sieht so nicht der Geist ei-nes wirklich gebildeten Menschen aus?Daß Menschen, Entdecker aus einer lan-gen, langen Zeitspanne uns bekannterGeschichte zueinander eine unmittelbarepersönliche Beziehung im Geist desSchülers haben?

Dieses Bild im Geiste des Schülers istsein „wissenschaftliches Gewissen“. In-nerlich will er nichts tun, was in den Au-gen dieser ihm bekannten Leute aus derVergangenheit verwerflich wäre.

Das sollte das Ziel der Erziehung sein,und das bezieht sich nicht nur auf diePhysik und Naturwissenschaft, sondernauch auf die Komposition klassischerKunst.

In der Musik gibt es beispielsweise dasPrinzip der Polyphonie (Mehrstimmig-keit), das schon sehr alt ist. Man kannte

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Archimedes, wohl der größte Mathematiker und Physiker der Antike, wurde 212 v.Chr.bei der Eroberung von Syrakus durch die Römer ermordet.

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es schon zu Zeiten Platons, vielleicht istes noch älter. Leonardo da Vinci hat esdann in verfeinerter Form entdeckt; lei-der ging sein Werk über Musik verloren.Johannes Kepler beschäftigte sich mit daVincis musikalischen Erkenntnissen undwandte sie auf die Frage an, wie das Son-nensystem aufgebaut ist. Und der genia-le Johann Sebastian Bach entwickelte ei-ne kontrapunktische Kompositionsme-thode — die übrigens in den meisten Mu-sikschulen noch heute nicht begriffenwird —, aus der sich die klassische Kom-position entwickelte.

Das gleiche gilt in der Malerei. Imübrigen nennt man das Studium derKunst, der klassischen Methoden in Ma-lerei, Musik usw., zusammen mit denklassischen Methoden der Naturwissen-schaft das Studium der Geschichte: Ge-schichte als Geschichte der Erkenntnissedes Menschen. Und aus dem Studium derGeschichte läßt sich dann das Studiumder Politik entwickeln.

Das Prinzip des „Wissenschaftsmotors“

Damit kommen wir zum entscheidendenPunkt: Jeder Produktivitätszuwachs, je-

der Anstieg der Produktivkräfte des Men-schen entspringt diesem Erkenntnispro-zeß, wie wir ihn mit einer derartigen Bil-dung in Wissenschaft und Kunst verbin-den. Physische Wirtschaft ist die Ver-größerung der Herrschaft des Menschenüber die Natur pro Kopf und pro Qua-dratkilometer, mit einer entsprechendenVerbesserung der demographischen Ver-hältnisse.

In vergangenen Jahrhunderten gab eszahlreiche Projekte, die man als „Wis-senschaftsmotor“ bezeichnen könnte. Ichhabe oft auf die Zeit von Kästner und sei-nem Schüler Gauß verwiesen, auf die Ar-beiten Monges und Carnots bis hin zuRiemann. All das waren „wissenschaftli-che Crashprogramme“. Auch das Werkvon Leibniz und seines Kreises war ein„Crashprogramm“ in der Wissenschaft.

Die Herrschaft des Menschen über dieNatur hängt demnach von zwei Dingenab: Der Einzelne muß durch die Ent-deckung und Umsetzung von Prinzipienzum Fortschritt beitragen, und man mußdie sozialen und politischen Bedingun-gen schaffen, die es der Menschheit ambesten ermöglichen, jeden einzelnenMenschen zu entwickeln. Deshalb beto-ne ich mein Spezialgebiet, die physische

Ökonomie, weil darin alle diese Dingezusammenkommen.

Wir brauchen eine Form der „Staats-kunst“, die sich zum Ziel setzt, das Bil-dungswesen in der von mir beschriebe-nen Weise als Motor für die Politik derGesellschaft einzusetzen: zum Verständ-nis der Beziehung des Menschen zur Bio-sphäre, zum Verständnis seiner Bezie-hung innerhalb der Biosphäre und zur Er-höhung der Macht des Einzelnen in derund über die Natur.

Als wir mit dem Flugzeug im Anflugauf Warschau waren, konnte ich von obendie polnische Landwirtschaft sehen. DieProbleme der polnischen Landwirtschaftwaren mir bekannt, ich habe also nichtsgrundsätzlich Neues entdeckt, aber ichbekam doch einen direkten anschauli-chen Eindruck davon. Was tun wir gegendie Arbeitslosigkeit in Polen, besondersin der Landwirtschaft? Das ist ein we-sentliches Problem der Staatskunst. Si-cherlich nicht das größte auf der Welt, esgibt viel größere, aber doch ein typischesProblem der Staatskunst.

Wie löst man das Problem auf nichtbloß mechanische, sondern wirklich ge-rechte Weise? Wenn man wie ein huma-nistischer Wissenschaftler denkt und

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„[Bei einer guten Erziehung] sieht es im Geiste des Jugendlichen aus wie auf Raffaels berühmtem Fresko im Vatikan Die Schule von Athen. Die Menschen auf diesem Gemälde kommen aus verschiedensten Epochen, sie lebten nicht gleichzeitig. Aber dort sind sie alle vereint im lebhaften Gespräch. Sieht so nicht der Geist eines wirklich gebildeten Menschen aus?“

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nicht wie ein Buchhalter, was muß manfür den polnischen Landwirt tun — wiekann man die Umstände so verändern,daß es zu einer gesunden wirtschaftlichenEntwicklung für ganz Polen kommt?

Die offensichtliche Antwort ist ein bes-seres Bildungswesen, eine klassisch-hu-manistische Bildung, wie ich sie hierkurz beschrieben habe.

Die heutige Bildung versagt

Wie Sie alle aus eigener Erfahrung imUniverstitätsbetrieb und anderswo wis-sen, sind die heutigen Bildungssystemefurchtbar. Sie sind darauf angelegt, Men-schen für bestimmte Tätigkeiten abzu-richten, wie man Tiere abrichtet, je nachder Anzahl der Plätze, die zu ihrer Be-schäftigung verfügbar sind. Sie sind nichtdarauf angelegt, Geschöpfe auszubilden,die nach dem Abbild Gottes geschaffensind. „Du bekommst einen Job als Kuhauf dieser Wiese, weil auf dieser Wieseein Platz für eine Kuh frei ist.“ — Das istkeine kompetente Erziehung und keinekompetente Ökonomie.

Sie kennen das Paradox des sowjeti-schen Systems; ich habe es viele Jahrelang studiert. Im militärisch-wissen-schaftlichen Bereich hat die sowjetischeWissenschaft (teilweise sogar mit Hilfevon Forschern, die in GuLags eingesperrtwaren), wahre Wunder vollbracht, wenn

man die knappen Mittel bedenkt. Die so-wjetische Wirtschaft dagegen war beson-ders seit der Ära Chruschtschow eine Ka-tastrophe. Es war nicht möglich, die Wis-senschaft, die im militärischen Bereichpraktiziert wurde, in die Fabriken zubringen. Denn das Menschenbild warfalsch, die Zielsetzungen in der Wirt-schaft waren falsch. Das Ziel der Wirt-schaft ist es, Menschen auf eine höhereEbene der persönlichen Entwicklung zuheben. Sie sollten nicht nur die Fähigkei-ten dazu erhalten, sondern dies sollte ihreigenes Motiv werden. Das größte Pro-blem sind Leute, die die Fähigkeit hätten,etwas Neues zu erlernen, die aber nichtden Willen dazu haben.

Nehmen wir zwei Beispiele aus demuniversitären Bereich. Es gibt Studenten,die keine Fortschritte machen — nicht,weil ihnen das Hirn dazu fehlte, sondernweil sie gar keine Fortschritte machenwollen. Statt sich der Herausforderung zustellen, laufen sie vor ihr davon. Danngibt es den anderen Fall, den ein ameri-kanischer Forscher namens Kubie stu-diert hat. Ein vielversprechender Studentim fortgeschrittenen Semester erscheintsehr kreativ. Aber sobald er seinen Ab-schluß in der Tasche hat, schaltet er seinGehirn aus, denn er will kein Wissen-schaftler sein, sondern nur Karriere ma-chen. Ich habe das bei vielen Menschenerlebt: Sie waren sehr talentiert, aber sie

wollten sich nicht weiterentwickeln.Warum nicht? Weil ihre Absicht eine an-dere war. Ihr Lebensziel war nicht derBeruf, sondern die Karriere.

Das typische Problem. Die arme Fami-lie sagt zu ihrem Kind: „Geh zur Schuleund lern’ was, damit du mit 16 oder 18deinen Lebensunterhalt verdienenkannst!“ Das Ziel unserer Erziehung soll-te aber sein: „Bilde dich aus, um mög-lichst ganz ein Geschöpf im Abbild desSchöpfers zu werden.“ Aus meiner Er-fahrung kann ich sagen: Menschen, diedieses Selbstverständnis haben, werdenin der Regel bei dem, was sie tun müssen,gute Arbeit leisten, weil sie gute Arbeitleisten wollen. Sie werden auch guteStaatsbürger sein, und wahrscheinlichwird es auch ihren Kindern gut ergehen.

Ich meine, wir müssen die jetzt kom-mende große Krise, in der sich dasscheinbare Ansehen aller führenden Au-toritäten der Welt in Luft auflösen wird,als Chance zur Veränderung auffassen,und wir müssen eine Vorstellung vonWirtschaft durchsetzen, wie ich sie hierbeschrieben habe: eine Wirtschaft, derenZiel es ist, die produktive Arbeitskraft zusteigern, indem man die großen Ent-deckungen der Vergangenheit nachvoll-zieht und neue Entdeckungen für dieGegenwart und Zukunft macht. Die Uni-versität muß das Gewissen der Nationsein.

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Klassisch-humanistische Bildung als Voraussetzung für die politische Ordnung

Im Anschluß an Lyndon LaRouches Bemerkungen entwickelte sich ein regerGedankenaustausch mit den anwesenden Wissenschaftlern des Warschauer Polytechnikums.

Prof. Oledzki: Ich möchte Ihre Auf-merksamkeit auf etwas lenken, was inPolen als ein Problem gesehen wird. Um-fragen zufolge würde praktisch die Hälf-te der Bevölkerung für die kommunisti-schen Nachfolgeparteien stimmen. Undjeder fragt jetzt, warum dies so ist. Für je-manden, der Chemie unterrichtet, ist dieAntwort einfach: Es handelt sich um dieSpätfolgen eines Systems, in dem dieMenschen zu Sklaven erzogen wurden.

Aber richten wir lieber unseren Blickin die Zukunft, über die wir gerade etwasWichtiges gehört haben. Es ist nichtleicht, die Möglichkeiten und Fähigkei-ten der Menschen, ihren Geist zu nutzen,zu steigern. Ich habe das Anfang der 90er

Jahre festgestellt, als wir für das Bil-dungsministerium ein Programm für diepolnischen Schulen entwarfen. Ich möch-te daraus den folgenden Abschnitt zitie-ren: „Hintergrund sämtlicher schulischerAktivitäten sollte der Glaube an die Kraftdes moralischen Faktors sein, jene Tu-gend, mittels derer das Individuum sichselbst verändern und ungeahnte Kräfteentfalten kann. Die Schule sollte dieseKräfte zur Entfaltung bringen und diezeitlosen ethischen Werte fördern.“ Die-sen Satz würde das Bildungsministeriumheute in kein öffentliches Dokumentmehr schreiben. Das ist unser Problemheute. Und damit eröffne ich die Diskus-sion.

Frage: Herr LaRouche, ist Ihnen irgend-ein Staat oder eine Gesellschaft bekannt,die das von Ihnen beschriebene Erzie-hungsprogramm verwirklicht haben?Und eine zweite Frage: In welchem Altersollte man die Auseinandersetzung umden „einzelnen Verbraucher“ beginnen?LaRouche: Es gibt vor allem die soge-nannte „amerikanische intellektuelle Tra-dition“, die eigentlich ein Produkt Euro-pas ist. Zur Zeit der Amerikanischen Re-volution war es unmöglich, in Europavernünftige Staatswesen aufzubauen, ob-wohl es überall in Europa Menschen gab,die sich als Leibnizianer verstanden —die Unabhängigkeitserklärung und Ver-fassung der Vereinigten Staaten gründen

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Wissenschaftsdebatte

auf den Ideen von Leibniz. Auch aus Po-len wanderten Menschen nach Nordame-rika aus in der Hoffnung, später in ihreHeimat zurückkehren und dort den ame-rikanischen politischen Erfolg wiederho-len zu können.

Die grundlegende Auseinandersetzungist sehr einfach. Sie findet sowohl in denUSA als auch außerhalb der USA statt.

Wir hatten viele schlechte Präsidenten,aber auch sehr gute wie John QuincyAdams, Abraham Lincoln, F.D. Roose-velt, der trotz seiner Schwächen in derrichtigen Tradition stand; John F. Kenne-dy, der versuchte, in der richtigen Tradi-tion zu stehen, bevor er umgebracht wur-de. In den USA gibt es eine „amerikani-sche intellektuelle Tradition“, die ich ingewisser Weise repräsentiere, die auf dieIdeen von Leibniz und andere zurück-geht. Und das war unsere Politik.

Aber derzeit herrscht weltweit eineganz andere Politik vor, die „oligarchi-sche“ Politik. In dem oligarchischen Mo-dell hält eine kleine Minderheit mit Hilfeihrer Lakaien die Mehrheit der Bevölke-rung geistig und auch sonst auf dem Ni-veau von menschlichem Vieh. Die ge-schichtliche Tradition der europäischenZivilisation, in der sich diese Degenera-tion vollzieht, beruht auf den Methodendes heidnischen römischen Weltreiches.Im antiken Rom bezeichnete man das alsvox populi, heute nennt man es oft „dieöffentliche Meinung“.

Die „öffentliche Meinung“ ist einkünstlich fabriziertes System von Mär-chen und Lügen, mit dem man die Bevöl-kerung so manipuliert wie im alten Rom,als die Bürger ins Kolosseum strömtenund jubelnd der Ermordung der Christenzur Belustigung Neros zusahen. Aber esgibt in der europäischen Geschichte auchgute Bildungspolitik von der Art, wie iches in meiner Rede angedeutete habe. Ichbin gewissermaßen einer ihrer Erben.

So gab es die augustinischen Lehror-den, die klassische humanistische Bil-dungsmethoden für junge Menschen inEuropa einführten. Es gab die „Brüderdes gemeinsamen Lebens“, aus derenReihen viele große Persönlichkeiten derRenaissance stammten. Immer wiederwurde versucht, eine „klassisch-humani-stische Bildung“ durchzusetzen. Die be-sten Bildungseinrichtungen der katholi-schen Kirche haben darauf immer großenWert gelegt. Und man darf natürlich nichtdas Humboldtsche Bildungswesen inDeutschland vergessen.

Ich habe jedoch auch immer wiederhervorgehoben, daß wir darüber hinaus-gehen müssen. Die politische Gestaltung

der Gesellschaft muß aus einem be-stimmten Bildungsprozeß erwachsen, derfestlegt, auf welche Weise politische Par-teien und die Bürger im allgemeinen diePolitik bestimmen: das Wahrheitsprinzip,im Gegensatz zu Märchen, Mythen undLügen.

Wir wissen genug darüber, um zu er-kennen, was wir tun sollten. Das Problemist, die Gelegenheit zum Handeln zu fin-den und den Willen aufzubringen, dieseGelegenheit dann auch zu ergreifen.

Hartnäckiger Optimismus

Frage: Ich habe mich hier an der Univer-sität mit Techniken des kreativen Den-kens auseinandergesetzt. Aber je mehrich darüber nachdenke, desto größer er-scheinen mir die Hindernisse, die einerUmsetzung hier entgegenstehen. Vor al-lem, weil die Professoren nach ihrer Ha-

bilitation ihre Motivation aufgeben. Vie-le Lehrer lieben es, Kinder zu unterrich-ten, weil sie von ihnen positive Rück-meldungen erhalten, die sie wiederumselbst inspirieren. Aber wenn man heuteStudenten etwas über grundlegende Ge-setze beibringen will, erhält man ge-wöhnlich zur Antwort, man könne sichdoch das alles auch über den Computerbesorgen, es reiche aus, wenn man an derrichtigen Stelle mit der Maus klickt. Die-se Art technischer Fortschritt hat sie in-tellektuell verweichlicht.

Ich würde daher gerne mehr über das„Willensproblem“ erfahren: Wie kannman in Menschen den Willen wecken,sich Gott mehr anzunähern? Wie kannman sie inspirieren? Normalerweisemüßte das sehr früh am Anfang der Ent-wicklung erfolgen, aber die Politiker, die

heute im Amt sind, werden alles unter-nehmen, um sie zu stoppen. Und sie wer-den dann sagen, schon Platon habe ver-sucht, einen idealen Staat zu errichten,sei aber gescheitert. Und das werde im-mer so sein, denn heutzutage sei es ein-facher, die Menschen dazu zu bewegen,bessere Verbraucher zu werden, als sichgrößeren Herausforderungen zu stellen.LaRouche: Dieses Problem ist eng ver-knüpft mit einem bösartigen Mann ausVenedig namens Paolo Sarpi. Sarpi wur-de 1582 sozusagen zum „Herrn Vene-digs“ und lebte bis ins 17. Jahrhunderthinein. Er ist der Begründer des Empiris-mus. Er kontrollierte in England eineFraktion um König James I. Er ist derMentor von Francis Bacon, und ThomasHobbes wurde von Sarpis persönlichemLakaien Galileo ausgebildet. So kam eszum Aufstieg des britischen Empirismusund des französischen Cartesianismus.

Der interessanteste Aspekt des Empi-rismus, das, was ihn zur Wurzel allenheutigen Übels macht, ist folgendes: Sar-pi blickte in seine eigene Seele und er-klärte, der Mensch sei von Grund auf bö-se. Welches Gottesbild hatte Sarpi? Gottist hier nicht der Schöpfer. Vielleicht istIhnen die religiöse Richtung der Bogu-milen ein Begriff? Es gibt viele Glau-bensrichtungen in Europa, die auf dasVorbild der Bogumilen zurückgehen. Vonhier kommt auch die Freihandelsideolo-gie. Die Grundidee ist die, daß es angeb-lich keine Wahrheit gebe; der Mensch seivon Natur aus böse, habgierig und trieb-haft. Deshalb müsse man den Dingen ein-fach ihren Lauf lassen, weil irgendwelche„verborgenen Mächte“, kleine grüneMännchen oder sonst etwas, die Sacheregeln. Daher kommt die Idee der „un-

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Im Anschluß an die Veranstaltung LaRouches im Warschauer Polytechnikum ging der Mei-nungsaustausch mit dem Publikum noch lange weiter. (Foto: Christopher Lewis)

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sichtbaren Hand“ in der Wirtschaft. Die-se geheimnisvollen Kräfte bestimmenauch, daß einige Menschen überlegensind und reich werden. Wenn man demGott des Bösen Opfer bringe, könne er ei-nen reich machen. So etwa lautete dieRationalisierung der britischen Monar-chie als Anhänger der britischen Empiri-sten.

Dieses Problem tauchte in Europa zu-erst im Zusammenhang mit JohannesKepler auf. Kepler wies nach, daß Ko-pernikus und Tycho Brahe sich mathe-matisch geirrt hatten. Wenn man den Be-obachtungsdaten, die Kepler und Brahesammelten, genau folgt, dann ergibt sich,daß die Planetenbahnen keine einheitli-che Krümmung haben und man deshalbdie Geschwindigkeit und den Ort einesPlaneten zu einem bestimmten Zeitpunktnicht durch einfache statistische Metho-den vorhersagen kann.

In erster Annäherung zeigte Kepler,daß die Verbindungslinie Sonne-Planet ingleicher Zeit gleiche Flächen über-streicht. Vom Standpunkt des Kopernikusaus mußte man dazu sagen, daß die Pla-netenbahn nicht durch eine mathemati-sche Formel bestimmt ist, sondern einebestimmte Absicht verfolgt.

Keplers Entdeckung der allgemeinenSchwerkraft, wie sie Gauß später weiterausführte und bestätigte, wurde so zu ei-nem Inbegriff für „wissenschaftlichesPrinzip“ oder „universelles physikali-sches Prinzip“. In anderen Worten, dasUniversum wird von „universellen physi-kalischen Gesetzen“ bestimmt, die wirmit der Methoden des Widerspruchs unddes schöpferischen Denkens entdeckenkönnen.

Dem widerspricht der Empirist und er-klärt: „Wir können das gleiche mit einemfixen statistischen System erreichen, wiees etwa Bertrand Russell, John von Neu-mann oder Norbert Wiener vorschlugen.“Darauf gründete sich dann der heftigeAngriff des Ultraempiristen Ernst Machauf Max Planck in der Frage des Wir-kungsquantums.

In der Wissenschaft gilt folgendesPrinzip, und das können Sie als Lehren-de den Studenten beweisen: UniversellePrinzipien werden entdeckt, indem manParadoxa auflöst und die Lösung experi-mentell beweist. Betrachtet man so dieArbeiten Keplers, stößt man auf das Kon-zept der „Absicht“ (Intention), wie Kep-ler sie definierte. Das gleiche gilt für Fer-mats Entdeckung der Lichtbrechung.Man entdeckt Prozesse im Universum,die sich nicht mit den eigenen Statistikendecken. Aber es gibt eine „Absicht“, die

wir als „universelle physikalische Prinzi-pien“ bezeichnen. Das Universum funk-tioniert nicht so, wie es sich Sarpi undseinesgleichen vorstellten: Das Univer-sum wird durch „Absichten“ bestimmt.

Daraus ergibt sich eine sehr interessan-te theologische Fragestellung: Wenn derMensch geschaffen wurde und wenn erdiese Absicht erkennen und benutzenkann, was ist dann der Sinn seiner Exi-stenz? Der „Sinn“ des Menschen ist einAusdruck des Schöpfergottes. Wenn mandem Konzept zustimmt, daß der Sinn desMenschen durch die Absicht Gottes be-stimmt wird, bedeutet das, daß dem Uni-versum ein Naturrecht zugrundeliegt, dasunter anderem auch vorschreibt, wie derMensch seinesgleichen behandeln muß.

Doch Sie erleben an der Universitätfolgende Situation. Der Student meint:„Es gibt kein Naturrecht.“ Man trifft aufkulturellen Pessimismus — Pessimismusgegenüber Gott, dem Menschen und demUniversum. Es drängt sich das Bild einerGesellschaft auf wie bei den Straßenkin-dern in Rio de Janeiro. Stellen Sie sichacht- bis zwölfjährige Kinder vor, ohneZuhause, ohne Eltern; sie leben vonDiebstählen. Was Sie beschreiben, findetman in Polen ähnlich wie in anderen Tei-len der Welt: Der Kulturpessimismusführte zu diesem Geisteszustand. DieStraßenkinder haben jede Vorstellungvon Menschenwürde verloren, sie wissennicht, was Kreativität bedeutet, wie dasUniversum aufgebaut ist. Man muß die-sen Kindern wieder ein Verständnis vonWahrheit geben.

Wer das versucht, steht vor einer sehrschwierigen Aufgabe, besonders wenn erversucht, sie allein zu bewältigen. Aberer kann andere bewegen, mitzumachen.Eines Tages bricht das ganze alte Systemzusammen — so wie jetzt. An dem Punktkann man die Aufmerksamkeit der Men-schen gewinnen. „Es hat so nicht funktio-niert? Wollt Ihr etwas Besseres kennen-lernen und ausprobieren?“ Man brauchteinen sturen, hartnäckigen Optimismus,dann kann man mit diesen Problemenumgehen. Weil Ihr Optimismus nicht im-mer unmittelbar belohnt wird, brauchenSie eben eine gewisse Sturheit.

Das Erhabene im Lehren

Frage: Meine Frage betrifft ebenfalls dieheutige Bildungspolitik. Wir können dieBildungspolitik nicht einfach von Ameri-ka oder dem heutigen Deutschland über-nehmen. Wir müssen zu den besten Vor-bildern zurückkehren, wie z.B. den Hum-boldtschen Reformen. Zbigniew Brze-

zinski oder die derzeitigen Verfechter ei-ner Bildungsreform in Polen fordern eineInfantilisierung. So heißt es in einerSchrift etwa: „Ich bin ein Verfechter ei-nes möglichst späten Beginns des Schul-unterrichts bei Kindern.“

Den größten Widerstand gegen dieseInfantilisierung und Entmenschlichung— eine „Algorithmisierung“ der Gesell-schaft — sieht man in kleinen Ländernwie Norwegen. Dort ist das Verhältnisder Lehrer- zur Schülerzahl am höchsten,und es sinkt nicht wie etwa in Großbri-tannien. Es hat mich sehr beeindruckt,daß die besten Ergebnisse bei den inter-nationalen Mathematischen Olympi-schen Spielen vom Iran erzielt wurden —besser als Rußland oder die USA.

Bedeutet das, daß wir uns der „ge-wünschten“ Wirtschaftsform angenäherthaben? Und können Sie vielleicht aufweitere Beispiele eines solchen Bil-dungswesens eingehen?LaRouche: In der Erziehung ist es sehrwichtig, daß die Klassengröße nicht über16-18 Kinder steigt. Der Lehrer muß derBeziehung zu den Schülern große Auf-merksamkeit schenken. Ein guter Lehrermuß, wie Sie wissen, sich praktisch im-mer des Geisteszustands des Schülers be-wußt sein. Denn jeder Schüler ist einzig-artig, und wenn man eine Klasse unter-richtet, muß man jeden einzelnen Schülermit seinen individuellen Besonderheitenberücksichtigen. Das ist die Grundlagedafür, eine kognitive Interaktion zwi-schen den Schülern aufzubauen.

Was geschieht, wenn man das nicht tut(selbst in einer kleinen Klasse)? Der Leh-rer unterrichtet vor den Schülern, eskommt zu keiner geistigen Auseinander-setzung mit den Schülern. Ein solcherLehrer ist so mit sich selbst beschäftigt,daß er es gar nicht merkt, wenn dieSchüler einschlafen. Hat man es nun miteiner sehr großen Klasse oder Lehrveran-staltung zu tun — Sie kennen das aus ei-gener Erfahrung —, dann ist es extremschwierig, diese nötige Disziplin in derLehrer-Schüler-Beziehung aufrechtzuer-halten. Am schlimmsten sind die über-füllten Hörsäle, wo ein armer Professoran der Tafel herummalt und keinenSchimmer hat, was in den Köpfen seinerStudenten vorgeht. Er reißt ein paar Wit-ze, und wenn sie lachen, denkt er, es wareine gelungene Vorlesung.

Die Beziehung zwischen Lehrer undSchüler ist, ähnlich der zwischen Elternund Kindern, eine der engsten, die mansich vorstellen kann. Man treibt nichtKonversation. Man versucht, einen Er-kenntnisprozeß im Kopfe eines anderen

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Menschen in Gang zusetzen. Man willbeim Schüler bzw. in der Klasse auf dasGesagte eine Reaktion hervorrufen. Da-bei nutzt man aus, daß man schon vorherweiß, wie bestimmte Schüler reagierenwerden. Dann fragt man: „Hans, washältst du davon, was Peter gerade gesagthat?“ Und aus der Reaktion der anderenSchüler kann man so etwas wie einen pla-tonischen Dialog in der Klasse hervorru-fen.

Ich glaube, die beste Lehrerausbildungwäre die, platonische Dialoge gründlichdurcharbeiten zu lassen, und zwar so, daßdie Dialoge nicht nur gelesen, sondernpraktisch als Gruppe „nachgespielt“ wer-den. Einige katholische Theologen ken-nen so etwas als „geistige Übung“, weilman lernt, sich geistig in die inneren ko-gnitiven Fähigkeiten anderer Menschen„einzumischen“.

Eine solche Erziehung hat einen mora-lischen Effekt. Der Lehrer übernimmt ei-ne moralische Verantwortung für dasWahrheitsstreben der Schüler oder Stu-denten. Der erste moralische Grundsatzlautet: Sage niemals einem Schüler, erhabe recht, wenn du nicht genau weißt,was er eigentlich meint. Er wird sich zu-erst widersetzen. „Sie versuchen, michgeistig zu beeinflussen. Ich bin hier dochnicht beim Psychiater.“ Solche Reaktio-nen werden kommen, aber nur so bautman eine moralische Beziehung zu denSchülern auf. Dieses moralische Kon-zept, durch die Interaktion zwischenMenschen Wahrheit zu entdecken, ist derKern von Bildung.

Sie alle wissen, was eine gute Klasseist. Es gibt Klassen, die man liebend ger-ne unterrichtet, und es gibt andere, diesind schrecklich.

Ich möchte nur noch eines hinzufügen.Im klassischen Griechenland und späterin Europa gab es eine Evolution der Dia-logmethode. Diejenigen unter Ihnen, diePlaton kennen, wissen wahrscheinlichauch, daß er die klassischen griechischenTragödiendichter angegriffen hat. Wie erdies tat, zeigt sich an dem Charakter desSokrates in seinen Dialogen. Er nanntediesen Standpunkt „das Erhabene“.

Nehmen wir als Beispiel Jeanne d’Arc.Friedrich Schiller schrieb Die Jungfrauvon Orleans. Darin gibt er — mit einerAusnahme, die im Theater zulässig ist —die wahre historische Geschichte der Je-anne d’Arc wieder. Die Kirche hat dasErhabene geehrt, indem sie sie heiligsprach. Von der Thronbesteigung Hein-rich II. in England an bis zu Richard III.war ganz Europa Geisel einer Allianzzwischen Venedig und den üblen Planta-

genets, speziell dem Haus Anjou. Zu je-ner Zeit entwickelte in Frankreich diesejunge Hirtin die göttliche Mission, denKönig zu zwingen, wie ein König zu han-deln. Sie sagte nicht: „Du sollst Königsein“, sondern sie sagte: „Gott will, daßich Dir sage, daß Du als König handelst,er befiehlt es Dir.“

Sie starb für diese Sache, und sie wur-de heiliggesprochen, denn ihr Handelnführte zum Sieg über die Plantagenets inFrankreich und indirekt zum Sturz Rich-ards III., womit die moderne Gesellschaftin England begann, sie inspirierte zweiPäpste und die Kräfte beim Konzil vonFlorenz, welche die großartige Entwick-lung der Renaissance in Gang setzten.

Das ist das Erhabene. In der Tragödiestirbt der Held wegen eines Fehlers inseinem Charakter oder im Charakter sei-ner Gesellschaft, anders im erhabenenDrama wie z.B. der Jungfrau von Orle-ans: Sie stirbt nicht nutzlos infolge einerSchwäche oder eines Irrtums, sondern siesetzt ihr Leben für eine Mission aufsSpiel und löst damit eine Veränderungder Gesellschaft aus. Ihr Opfer ist eineInspiration für andere.

Polen hat viele Helden, viele starbenfür ihre Sache. Polen ist eine Nation desWiderstands des Volkes. Viele Menschengaben ihr Leben in den vielen Kämpfengegen Besatzungsmächte, um die Nationmöglich zu machen. Deshalb haben Siein Polen dieses Verständnis des Erhabe-nen: „Wir sind nicht umsonst gestorben.“

In der Erziehung ist es das gleiche: DieErziehung ist eine Auseinandersetzungzwischen dem Geist des Schülers und desLehrers. Für einen großen Lehrer ist seinFach eine Mission. So tritt er demSchüler als Repräsentant des Erhabenengegenüber, was diesen moralisch inspi-riert. Aus solchem Holz sind die großenLehrer und Forscher, die große Ent-deckungen auf den Weg brachten.

Es gibt also viele Modelle, aber keinModell ist besser als die Absicht, die da-hinter steht. Menschen, die ein Ziel ha-ben und wissen, wie sie es verwirklichen,werden es schaffen.

Polens moralische Mission

Frage: Ich danke Ihnen, Herr LaRouche,und ich danke den Leuten, die Sie nachPolen geholt haben. Ich hatte engen per-sönlichen Kontakt zu Kardinal Wyszins-ki, dem früheren Primas der katholischenKirche in Polen. Er war nicht nur das Ge-wissen des alten Systems, er war auchsehr kritisch gegenüber westlichen Ideen.Soweit ich weiß, ist das Schiller-Institut

die einzige intellektuelle und moralischeEinrichtung, die den westlichen Gesell-schaften und Ideologien kritisch gegen-über steht. Für besonders wichtig halteich die Synthese von philosophischenund moralischen Ideen und die Fragenach ihrer Umsetzung in konkrete Ent-scheidungen in Gesellschaft, Wirtschaftund Politik.

Allerdings habe ich auch gewisse Pro-bleme. Das erste ist, allgemein gesagt,die Wirksamkeit. Steckt nicht in der Bot-schaft ein Übermaß an Philosophie undanspruchsvollem Denken, welches ihreWirksamkeit schwächt? Die zweite Fra-ge ist, wie setzen wir diese sehr grundle-gende, hochphilosophische Haltung inwirksame Programme für das Handelnum?

Das führt uns zum nächsten Problem.Wenn wir die gegenwärtige Lage verfol-gen, sehen wir, daß die oligarchischenIdeen beliebter sind, daß sie vorherr-schen. Die kritischen Bewegungen gegendiese oligarchische Richtung werdenzwar toleriert, aber an den Rand ge-drängt. Sie sind nicht vorherrschend, dik-tieren uns nicht, was wir tun. Deshalb ha-be ich eine Frage nach der Mission. Jederhat eine Mission, auch ich. Was sagen Sieaus der Sicht Amerikas oder Deutsch-lands: Wie sieht die Mission Polens indieser großen, globalen Welt aus?LaRouche: Ich sehe eine eindeutigeMission für Polen. Ich habe mich teil-weise schon darauf bezogen, als ich vonWernadskij sprach, denn Wernadskij isttypisch für Menschen mit einer Mission.Er diente einem Staat, mit dem er in po-litischer und philosophischer Hinsichtnicht übereinstimmte, dennoch lieferte erdiesem Staat große Beiträge, und trotzseiner politischen Abweichung bewun-derte ihn der Staat für diese Beiträge. Erwar auch in gewisser Weise ein ukraini-scher Patriot und Held, was für Polensehr bedeutsam ist, weil die Menschen inPolen sehr aufmerksam beobachten, wasin der Ukraine und Nachbarländern wieder Slowakei usw. geschieht. Solche Din-ge sind für die Menschen, die am Randedes riesigen Rußland leben, sehr wichtig.

Ich habe dazu eine ganz bestimmteVorstellung; ich habe dazu einiges ge-schrieben und arbeite immer noch daran.Trotz meines Alters kandidiere ich wie-der für das Amt des Präsidenten der Ver-einigten Staaten. Und diesmal habe ichvor, zu gewinnen, nicht weil ich beson-ders ehrgeizig wäre — ich habe alles, wasich brauche —, sondern weil ich in die-ser Position gebraucht werde. Es ist keinanderer in Sicht, der qualifiziert wäre.

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Wie sollte man aus meiner Position diepolnische Lage betrachten? Wie ichschon öfter gesagt habe, gibt es auf die-sem Planeten nur drei Kulturen, die fähigsind, wirklich global zu denken. Die eineist die britische Monarchie, die vor allemBöses denkt, aber weltweit denkt. Es isteine Kultur, die für sich in Anspruchnimmt, zu entscheiden, wie die Welt re-giert werden sollte. Die große russischeKultur denkt immer noch in Begriffen ei-ner Weltmacht. Die Vereinigten Staatendenken in Begriffen einer Macht, die nie-mals besiegt wurde, und sie denken glo-bal. Die Nationen Kontinentaleuropastun das nicht. Sie wurden zu oft erobert,und es gibt zu viele Großmächte, diemächtiger sind als sie. China, die bevöl-kerungsreichste Nation der Erde, kannnicht global denken. Es mag in ChinaMenschen geben, die in weltweiten Be-griffen denken, aber die chinesische Kul-tur tut es nicht. Sie sehen nur China unddie Außenwelt, sie denken nicht global.

Die Lösung der Krise besteht darin, ei-ne Kombination souveräner Nationen zubilden, die das gegenwärtige Problem an-packen kann.

Die USA wären offensichtlich die Na-tion, die die Verantwortung zum Aufbaueiner solchen Partnerschaft übernehmenmüßte. Das Zentrum der Partnerschaftmuß aber Eurasien sein. Asien weist diegrößte Bevölkerungskonzentration derErde auf, aber zwischen Zentral- undNordasien liegt eine riesige Öde. Auf deranderen Seite sind Ostasien und Südasi-en.

Am einen Ende Eurasiens liegt daswestliche Kontinentaleuropa, mit dem

klassischen griechischen Erbe. Das istdie europäische Zivilisation, die starkvom Christentum beeinflußt ist. In Asiengibt es eine andere Kultur — obwohl esauch Elemente gibt, mit denen man über-einstimmen kann, wie z.B. den Konfu-zianismus in China. Trotzdem ist allge-mein die Kultur, das Menschenbild, dieAuffassung von Gott und dem Univer-sum verschieden.

Alle Menschen, die wie ich klar undglobal denken, kommen zu dem gleichenSchluß, so etwa Papst Johannes Paul II.:Wir brauchen Gerechtigkeit für Afrika,aber wir brauchen eine ökumenischeHerangehensweise zur Versöhnung mitAsien, zur Versöhnung ganz Eurasiens.Die Beziehung zwischen Europa undSüd- und Ostasien quer durch Eurasienist der entscheidende Faktor in derzukünftigen zivilisierten Menschheitsge-schichte.

Wir brauchen ein neues Menschenbild,eine Rückkehr zum souveränen National-staat und eine Partnerschaft, die Ländernwie Polen gestattet, als polnische Nationfür sich selbst innerhalb dieser Partner-schaft, statt nur als Satrapie eines aggres-siven Weltimperiums zu handeln.

Beitrag: Ich möchte Ihnen dafür danken,daß Sie die Bedeutung der physischenWirtschaft so herausheben. Diese physi-sche Wirtschaft, ich verstehe es als inter-disziplinären Einsatz der Produktion fürdie Bedürfnisse der Menschen, wurdeheute ersetzt durch die Geldwirtschaft.Wir erleben heute die Vorherrschaft derGeldwirtschaft, die — unterstützt von derInformationsindustrie — große Summen

von der Versorgung der Menschen inbloßen Wucher und Spekulation umlenkt,was sich für das gesamte Wirtschafts-sytem schwächerer Länder zerstörerischauswirkt.

Die Abhängigkeit kleinerer Länder vondiesen großen Geldsummen, die von ei-nem Land ins andere wechseln, ist eineGefahr für alle Menschen — nicht nur ei-ne wirtschaftliche Gefahr, sondern aucheine moralische. Denn heute ist „Erfolg“der Maßstab für Moral, und Erfolg wirdgemessen an der kurzfristigen Karriereund nicht am „strategischen Blick“, denSie betont haben — Dieser „strategischeBlick“ richtet sich in die fernere Zukunftund betrifft die Planung der Wirtschaftund die Entwicklung der Menschen, wel-che interdisziplinär sein sollte.

Wir stehen kurz vor dem Einbruch die-ses bösartigen Systems. Sie zeigen unseinen Weg, wo es von uns allen abhängenwird, ob wir diese Philosophie der zeitlo-sen psychologischen und ökonomischenWerte aufgreifen und entwickeln. Unddies wird davon abhängen, ob wir —auch wenn die nächste Zeit sehr hart wird— die Krise überwinden und uns von die-ser Anbetung des Geldes befreien.

Ich danke Ihnen sehr für Ihre Antwort,weil es etwas sehr Wichtiges ist: Wirmüssen jetzt nach Wegen suchen, vondem oligarchischen Besitz dieser großenGeldsummen unabhängig zu werden,weil er zerstörerisch ist — nicht nur fürdie armen Länder, sondern für das ganzeSystem der internationalen Solidarität al-ler Länder, die auf dem Planeten keinChaos wollen.

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