12
1 Prof. Dr. Nele Matz-Lück 22. Juni 2018 Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht SACHVERHALT Ärger mit und in der Bundesregierung Erster Aufgabenteil: Am 4. August 2017 nimmt Bundespräsident B im Vorfeld der Bundestagswahl an einer Gesprächsrunde vor mehreren Hundert Berufsschülern im Alter zwischen 18 und 25 Jahren in einem Schulzentrum in Berlin teil. In der Veranstaltung weist der Bundespräsident unter anderem auf die Bedeutung von freien Wahlen für die Demokratie hin und fordert die Schülerinnen und Schüler zu mehr sozialem und politischem Engagement auf. Auf die Frage einer Schülerin geht er auch auf die von der A-Partei organisierten Proteste gegen eine Asylbewerberunterkunft in der Stadt ein, an der neben Mitgliedern und Unterstützern der A-Partei eine Vielzahl weiterer „besorgter Bürger“ teilgenommen haben. Die Demonstranten forderten laut skandierend u.a. den besseren Schutz „unserer deutschen Frauen und Mädchen“ vor „kriminellen so genannten Flüchtlingen“. Als Reaktion darauf organisierte ein Stadteilverein am nächsten Tag spontan ein Straßenfest gegen Rassismus. Zu den Protesten gegen die Unterkunft und die darauf folgenden Veranstaltungen für mehr Toleranz äußert der Bundespräsident sich vor den Berufsschülerinnen und -schülern u.a. wie folgt: „Wir brauchen Bürgerinnen und Bürger, die auf die Straße gehen, um den Spinnern ihre Grenzen aufweisen. Ich bin stolz, Präsident eines Landes zu sein, in dem die Bürger Demokratie und Menschlichkeit aktiv verteidigen, ob auf der Straße oder an der Wahlurne. Ich möchte Sie alle ausdrücklich zu mehr Engagement gegen Fremdenfeindlichkeit auffordern!Bundesjustizminister J wird am selben Abend von der Presse mit den Äußerungen des B konfrontiert. Spontan äußert er sich dazu wie folgt: „Auch ein Bundespräsident hat ein Recht auf eine eigene Meinung. Es steht ihm daher auch zu, Ereignisse mit politischer Relevanz so zu werten, wie er es für richtig hält und jungen Menschen als moralischer Kompass zu dienen. Ob die Bundesregierung insgesamt derselben Auffassung wie der Bundespräsident ist, kann ich nicht sagen. Das steht auch gar nicht zur Debatte. Ich persönlich und als Mitglied einer christlichen Partei teile die Meinung des Bundespräsidenten einschließlich seiner konkreten Äußerungen allerdings uneingeschränkt.“ Da die A-Partei für den 12. August 2017 unter dem Motto „Rote Karte für Merkel“ in Berlin eine Demonstration gegen die Asylpolitik der Bundesrepublik angekündigt hat, lässt J am 5. August 2017 mittels einer Presseerklärung über die Homepage des Ministeriums erklären, dass es Zeit sei, endlich juristische Mittel gegen die A-Partei zu ergreifen. Sprecher der A-Partei würden mittels der geplanten Versammlung der Radikalisierung der Gesellschaft Vorschub leisten. Nicht der Kanzlerin, sondern den Sprecherinnen und Sprechen der A-Partei müsste wegen der offen betriebenen Volksverhetzung die „rote Karte“ gezeigt werden. Das Ministerium sei dabei zu prüfen, ob ein Parteiverbotsverfahren eingeleitet werden könne. Die A-Partei sieht sich durch die jeweiligen Äußerungen des B und des J sowie durch die

Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht …...1 Prof. Dr. Nele Matz-Lück 22. Juni 2018 Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht SACHVERHALT Ärger mit und in der Bundesregierung

  • Upload
    others

  • View
    1

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht …...1 Prof. Dr. Nele Matz-Lück 22. Juni 2018 Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht SACHVERHALT Ärger mit und in der Bundesregierung

1

Prof. Dr. Nele Matz-Lück 22. Juni 2018

Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht

SACHVERHALT

Ärger mit und in der Bundesregierung

Erster Aufgabenteil:

Am 4. August 2017 nimmt Bundespräsident B im Vorfeld der Bundestagswahl an einer

Gesprächsrunde vor mehreren Hundert Berufsschülern im Alter zwischen 18 und 25 Jahren in einem

Schulzentrum in Berlin teil. In der Veranstaltung weist der Bundespräsident unter anderem auf die

Bedeutung von freien Wahlen für die Demokratie hin und fordert die Schülerinnen und Schüler zu

mehr sozialem und politischem Engagement auf. Auf die Frage einer Schülerin geht er auch auf die

von der A-Partei organisierten Proteste gegen eine Asylbewerberunterkunft in der Stadt ein, an der

neben Mitgliedern und Unterstützern der A-Partei eine Vielzahl weiterer „besorgter Bürger“

teilgenommen haben. Die Demonstranten forderten laut skandierend u.a. den besseren Schutz

„unserer deutschen Frauen und Mädchen“ vor „kriminellen so genannten Flüchtlingen“. Als Reaktion

darauf organisierte ein Stadteilverein am nächsten Tag spontan ein Straßenfest gegen Rassismus. Zu

den Protesten gegen die Unterkunft und die darauf folgenden Veranstaltungen für mehr Toleranz

äußert der Bundespräsident sich vor den Berufsschülerinnen und -schülern u.a. wie folgt: „Wir

brauchen Bürgerinnen und Bürger, die auf die Straße gehen, um den Spinnern ihre Grenzen

aufweisen. Ich bin stolz, Präsident eines Landes zu sein, in dem die Bürger Demokratie und

Menschlichkeit aktiv verteidigen, ob auf der Straße oder an der Wahlurne. Ich möchte Sie alle

ausdrücklich zu mehr Engagement gegen Fremdenfeindlichkeit auffordern!“

Bundesjustizminister J wird am selben Abend von der Presse mit den Äußerungen des B konfrontiert.

Spontan äußert er sich dazu wie folgt: „Auch ein Bundespräsident hat ein Recht auf eine eigene

Meinung. Es steht ihm daher auch zu, Ereignisse mit politischer Relevanz so zu werten, wie er es für

richtig hält und jungen Menschen als moralischer Kompass zu dienen. Ob die Bundesregierung

insgesamt derselben Auffassung wie der Bundespräsident ist, kann ich nicht sagen. Das steht auch

gar nicht zur Debatte. Ich persönlich und als Mitglied einer christlichen Partei teile die Meinung des

Bundespräsidenten einschließlich seiner konkreten Äußerungen allerdings uneingeschränkt.“

Da die A-Partei für den 12. August 2017 unter dem Motto „Rote Karte für Merkel“ in Berlin eine

Demonstration gegen die Asylpolitik der Bundesrepublik angekündigt hat, lässt J am 5. August 2017

mittels einer Presseerklärung über die Homepage des Ministeriums erklären, dass es Zeit sei, endlich

juristische Mittel gegen die A-Partei zu ergreifen. Sprecher der A-Partei würden mittels der geplanten

Versammlung der Radikalisierung der Gesellschaft Vorschub leisten. Nicht der Kanzlerin, sondern den

Sprecherinnen und Sprechen der A-Partei müsste wegen der offen betriebenen Volksverhetzung die

„rote Karte“ gezeigt werden. Das Ministerium sei dabei zu prüfen, ob ein Parteiverbotsverfahren

eingeleitet werden könne.

Die A-Partei sieht sich durch die jeweiligen Äußerungen des B und des J sowie durch die

Page 2: Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht …...1 Prof. Dr. Nele Matz-Lück 22. Juni 2018 Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht SACHVERHALT Ärger mit und in der Bundesregierung

2

Pressemitteilung auf der Homepage des Justizministeriums in ihrem Recht auf Chancengleichheit

verletzt. Der Meinungswettbewerb der Parteien dürfe nicht von staatlicher Seite beeinflusst oder

verfälscht werden. Dem Bundespräsidenten stehe es als „pouvoir neutre“ gar nicht zu, sich zu

politischen Parteien wertend zu äußern oder gar vor ihnen zu warnen. Insbesondere aber dürfe er

dies nicht in der heißen Phase des Wahlkampfs vor einer großen Gruppe von Erstwählern. Im Übrigen

verstießen die vom Bundespräsidenten ausgesprochenen „Warnungen“ auch gegen das

Sachlichkeitsgebot. Die Bezeichnung von Mitgliedern und Unterstützern der A-Partei als „Spinner“

verlasse den Boden einer sachlichen Diskussion und stelle eine unzulässige Schmähkritik dar. Soweit

der J sich die Äußerungen des B zu eigen macht und darüber hinaus eine eigene Stellungnahme zur

A-Partei veröffentliche, ist die A-Partei der Meinung, die Regierung müsse sich im Wahlkampf

ohnehin bei jeglicher Öffentlichkeitsarbeit zurückhalten.

Die A-Partei hat deshalb form- und fristgerecht das BVerfG angerufen und beantragt, festzustellen,

dass B und J durch ihre Äußerungen gegen ihre jeweiligen verfassungsmäßigen Pflichten verstoßen

haben.

Außerdem möchte die A-Partei erreichen, dass die Pressemitteilung noch vor der Versammlung am

12. August 2017 von der Homepage des Ministeriums verschwindet.

B hält dem entgegen, dass seine Äußerung zum einen keine angreifbare Maßnahme darstelle, er zum

anderen aber als Hüter der Verfassung klar Stellung beziehen könne. Auch J bezweifelt, dass seine

Äußerung eine angreifbare Maßnahme darstelle, weil er sich im Gespräch mit der Presse als

Privatperson geäußert habe. Außerdem habe er die Worte des B nicht noch einmal wiederholt, so

dass darin weder eine offizielle Warnung vor einer Partei noch eine ehrangreifende Äußerung liege.

Im Übrigen lägen sachliche Gründe vor, die Aussichten eines Parteiverbotsverfahren zu prüfen und

darüber müsse er als Justizminister die Öffentlichkeit auch informieren dürfen. Mit der Begrifflichkeit

der „roten Karte“ habe er zum einen darauf angespielt und zum anderen nur die Terminologie der A-

Partei aufgegriffen.

Wie wird das BVerfG über die Anträge der A-Partei entscheiden?

Zweiter Aufgabenteil:

Bundeskanzlerin K ist der Auffassung, man müsse sich mit den europäischen Partnern über ein

Neuordnung der Asylpolitik einigen. Einen deutschen Alleingang könne es innerhalb des geltenden

Dublin-Systems nicht geben. Bundesinnenminister I ist demgegenüber der Meinung, es sei endlich

Zeit zu handeln. Er möchte, dass an der deutschen Staatsgrenze geprüft werde, ob ein Asylbewerber

bereits in einem anderen EU-Mitgliedstaat registriert sei. In diesen Fällen müssten Personen direkt

an der Grenze zurückgewiesen werden, weil es sich gezeigt habe, dass die spätere Rückführung nur

unzureichend umgesetzt werde. Mit dem Vorwurf konfrontiert, dass eine solche Praxis mit dem

europäischen Recht nicht konform gehe, bezeichnet er dies als Defizit des Unionsrechts, das

Deutschland nicht zum Nachteil gereichen dürfe. Nachdem keine Einigung innerhalb der

Bundesregierung erzielt werden konnte, weist I die Bundespolizei an, die Grenzen für solche

Asylbewerber zu schließen, die bereits in einem anderen EU-Mitgliedstaat registriert sind.

Welche verfassungsrechtlichen Möglichkeiten hat die K?

Page 3: Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht …...1 Prof. Dr. Nele Matz-Lück 22. Juni 2018 Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht SACHVERHALT Ärger mit und in der Bundesregierung

3

Lösungshinweise:

Bei der Klausur handelt es sich inhaltlich um eine Arbeit im Bereich des unteren Schwierigkeitsgrads.

Es handelt sich im ersten Aufgabenteil in prozessualer und materieller Hinsicht um

Standardprobleme, die zudem sehr eng an die entsprechenden Urteile des BVerfG angelehnt sind.

Auch der zweite Aufgabenteil erfordert die Auseinandersetzung mit einer Standardfrage, wenngleich

im aktuellen Gewand. Der Umfang der Arbeit mit zwei Aufgabenteilen, verschiedenen Personen und

Anträgen erfordert allerdings eine zügige Bearbeitung.

Erster Aufgabenteil

A) Organstreitverfahren gegen B

I. Zulässigkeit des Antrags

1. Zuständigkeit des BVerfG

Das BVerfG entscheidet gem. Art. 93 I Nr. 1 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 5, 63 f. BVerfGG im

Organstreitverfahren über die Auslegung des Grundgesetzes aus Anlass von

Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eine obersten Bundesorgans

oder anderer Beteiligter

2. Beteiligtenfähigkeit

a) Antragstellerin

(P) Art. 93 I Nr. 1 GG verweist auf die Statthaftigkeit des Organstreitverfahrens in

Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundes

Organes oder anderer Beteiligter, die durch das Grundgesetz oder in der

Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet

sind. § 63 BVerfGG beschränkt den Kreis der Antragsberechtigten im

Organstreitverfahren demgegenüber auf bestimmte Staatsorgane und Organteile, zu

denen politische Parteien nicht gehören. Der weiter gefasste Art. 93 I Nr. 1 GG

genießt als Verfassungsnorm Geltung Vorrang, so dass § 63 BVerfGG vor diesem

Hintergrund problematisch erscheint. Teilweise wird die Vorschrift als

verfassungswidrig und teilnichtig angesehen, so das eine Antragsberechtigung

unmittelbar auf das Grundgesetz gestützt wird. Das B könne durch eine

einfachgesetzliche Norm nicht in seinen Zuständigkeiten beschränkt werden. Eine

erweiternde Auslegung des § 63 BVerfGG komme wegen des eindeutigen Wortlautes

nicht in Betracht.

Andere Stimmen in der Literatur nehmen eine solche korrigierende Auslegung vor,

um die Verfassungswidrigkeit der Norm zu vermeiden.

Das BVerfG berücksichtigt den Wortlaut des § 63 BVerfGG bei der Bestimmung des

Kreises der Antragsberechtigten nicht, sondern erkennt die politischen Parteien als

„andere Beteiligte“ an.

„Der Antragstellerin steht zur Verfolgung ihres Anliegens der Organstreit offen. Sie macht geltend

als politische Partei durch eine Maßnahme des Antragsgegners als anderes Verfassungsorgan …

in ihrem Recht auf Chancengleichheit bei Wahlen gemäß Art. 21 Abs. 1, Art. 38 Abs. 1 GG verletzt

Page 4: Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht …...1 Prof. Dr. Nele Matz-Lück 22. Juni 2018 Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht SACHVERHALT Ärger mit und in der Bundesregierung

4

zu sein …“ BVerfGE 136, 323, 330 (Rn. 22).

Die A-Partei ist als politische Partei durch Art. 21 GG (ggf. i.V.m. Art. 38 GG) mit

eigenen Rechten ausgestattet. Nach allen vertretenen Ansichten kann sie trotz des

entgegenstehenden Wortlautes des § 63 BVerfGG daher antragsberechtigt im

Organstreitverfahren sein, sofern ihre Rechte als politische Partei in Rede stehen.

Hinweis: Machen Parteien dagegen Grundrechtsverletzungen geltend, so ist nicht

das Organstreitverfahren einschlägig. In diesem Fall steht Parteien nach

entsprechender Erschöpfung des Rechtswegs (§ 90 Abs. 2 BVerfGG) die

Verfassungsbeschwerde offen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG).

b) Antragsgegner

Der Bundespräsident ist tauglicher Antragsgegner im Organstreitverfahren. Als

oberstes Bundesorgan im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 HS 1 GG ist er in § 63 Hs. 1

BVerfGG ausdrücklich genannt.

3. Antragsgegenstand

Tauglicher Antragsgegenstand ist jede rechtserhebliche Maßnahme oder

Unterlassung. Bei bloßen Meinungsäußerungen, an die keinerlei rechtliche

Auswirkungen genknüpft sind, fehlt es an der Rechtserheblichkeit (BVerfGE 57, 1, 7).

Die öffentliche Äußerung des Bundespräsidenten während des Wahlkampfes ist eine

rechtserhebliche Maßnahme i.S.d. § 64 BVerfGG, die mit dem Organstreitverfahren

angegriffen werden kann. Sie ist rechtserheblich, weil sie in die Chancengleichheit

der Parteien eingreifen kann.

„… Die Antragstellerin wendet sich gegen eine rechtserhebliche Maßnahme (…), indem sie

behauptet, der Antragsgegner habe die verfassungsrechtlichen Grenzen seiner

Äußerungsbefugnisse überschritten und damit zulasten der Antragstellerin unzulässig in den

Wahlkampf eingewirkt …“ BVerfGE 136, 323, 331 (Rn. 22).

4. Antragsbefugnis

Die Antragsbefugnis setzt voraus, dass der Antragsteller geltend macht, dass er

(oder das Organ, dem er angehört), durch die Maßnahme oder Unterlassung des

Antragsgegners in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und

Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist (§ 64 Abs. 1 BVerfGG). Die

Verletzung der A-Partei in ihren Rechten aus Art. 21 GG scheint jedenfalls möglich,

weil nicht ausgeschlossen ist, dass der Bundespräsident die Grenzen seiner

verfassungsrechtlich gewährleisteten Rederecht überschritten hat und dadurch das

Recht der A-Partei auf Chancengleichheit im Wahlkampf verletzt hat.

„Nach ihrem Vortrag erscheint es auch nicht von vornherein ausgeschlossen, dass der

Antragsgegner durch die angegriffene Äußerung das Recht der Antragstellerin auf

Chancengleichheit bei Wahlen verletzt hat.“

5. Form und Frist

§§ 23 Abs. 1, 64 Abs. 2 BVerfGG: schriftlich mit Begründung; §64 Abs. 3 BVerfGG:

Page 5: Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht …...1 Prof. Dr. Nele Matz-Lück 22. Juni 2018 Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht SACHVERHALT Ärger mit und in der Bundesregierung

5

sechs Monate nach Bekanntwerden.

Laut Hinweis im SV wurde das Verfahren form- und fristgerecht eingeleitet.

Der Antrag der A-Partei ist zulässig.

II. Begründetheit

Der Antrag ist begründet, wenn die gerügte Maßnahme oder Unterlassung

verfassungswidrig ist.

Auf eine subjektive Rechtsverletzung kommt es nach dem Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr.

1, § 67 S. 1 BVerfGG nicht an. Das BVerfG nimmt eine subjektive Rechtsverletzung

neuerdings in den Obersatz auf, ohne dies jedoch zu begründen. Für die Prüfung eines

Rechtsverletzung spricht die Natur des Organstreitverfahrens als kontradiktorisches

Verfahren.

1. Äußerungsrecht des Bundespräsidenten

Fraglich ist zunächst, ob der B überhaupt zu negativen Äußerungen über politische

Parteien befugt ist. Die Befugnisse des Bundespräsidenten sind weder in einem

Katalog seiner Zuständigkeiten noch in einer Generalklausel aufgeführt, sondern

finden sich in verschiedenen Vorschriften des GG (z.B. Art. 59, 60, 63, 64 GG).

Allgemeine Befugnisse ergeben sich ferner unmittelbar aus seiner Stellung als

Staatsoberhaupt. Dazu gehört neben einer Repräsentationsfunktion u.a. die

Wahrnehmung einer integrativen Rolle im Staatswesen und damit

zusammenhängend auch eine Einflussnahme auf die staatliche Willensbildung. Wie

er diese Rolle ausfüllt, liegt grundsätzlich im Ermessen des Amtsinhabers.

Bei staatlichen Äußerungen wird zunehmend eine gesetzliche

Ermächtigungsgrundlage gefordert, vor allem wenn die Äußerung einen Eingriff in

subjektive Rechte darstellt. Überwiegend wird es jedoch für ausreichend erachtet,

wenn sich das Staatsorgan bei Äußerungen im Rahmen der ihm zugewiesenen

Aufgaben bewegt. Einer besonderen Ermächtigungsgrundlage bedarf es dann nicht.

„[22] Der Bundespräsident kann … den mit dem Amt verbundenen Erwartungen nur gerecht

werden, wenn er auf gesellschaftliche Entwicklungen und allgemein- politische

Herausforderungen entsprechend seiner Einschätzung eingehen kann und dabei in der Wahl der

Themen ebenso frei ist wie in der Entscheidung über die jeweils angemessene

Kommunikationsform. Der Bundespräsident bedarf daher, auch soweit er auf Fehlentwicklungen

hinweist oder vor Gefahren warnt und da- bei die von ihm als Verursacher ausgemachten

Kreise oder Personen benennt, über die seinem Amt immanente Befugnis zu öffentlicher

Äußerung hinaus keiner gesetzlichen Ermächtigung.“

Der B war daher grundsätzlich befugt, zu aktuellen gesellschaftliche Entwicklungen

Stellung zu beziehen und in diesem Zusammenhang auch Warnungen vor Gefahren

für die Demokratie auszusprechen und für mehr gesellschaftliches Engagement zur

Abwehr dieser Gefahren zu werben.

2. Grenzen des Äußerungsrechts

Page 6: Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht …...1 Prof. Dr. Nele Matz-Lück 22. Juni 2018 Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht SACHVERHALT Ärger mit und in der Bundesregierung

6

Trotz der weitgehenden Freiheit ergeben sich Grenzen der Äußerungsbefugnis des

Bundespräsidenten unmittelbar aus dem Grundgesetz. Auch der Bundespräsident

übt Staatsgewalt im Sinne von Art. 20 Abs. 4 GG aus. Er ist daher gemäß Art. 1 Abs. 3

und Art. 20 Abs. 3 GG an die Grundrechte sowie an Gesetz und Recht gebunden. In

der Eile Formel (Art. 56 GG) kommt dies zum Ausdruck. Mittelbar ergibt sich das

auch aus den Immunitätsregeln sowie den Voraussetzungen für eine

Präsidentenanklage.

Daraus, dass der Bundespräsident nicht „über dem Gesetz“ steht, folgt, dass er das

Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG und,

soweit es um die Chancengleichheit bei Wahlen geht, aus Art. 21 Abs. 1 i.V.m. Art. 38

Abs. 1 Grundgesetz zu beachten hat.

Dieses Recht kann insbesondere dadurch verletzt werden, dass Staatsorgane die

Wahl unzulässig beeinflussen, wenn sie zugunsten oder zulasten einer politischen

Partei in den Wahlkampf eingreifen. Da alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht (Art. 20

Abs. 2 Satz 1 GG), folgt für die Staatsorgane die Pflicht die parteipolitische Neutralität

zu wahren. Auch negative Werturteile über die Ziele und Betätigung einer Partei

können die Chancengleichheit verletzen. Sie sind jedenfalls dann unzulässig, wenn

sie auf sachfremden Erwägungen beruhen und damit willkürlich erscheinen.

Für den Bundespräsidenten gelten aufgrund seiner besonderen Stellung als

Staatsoberhaupt im Ergebnis aber weniger strenge Neutralitätspflichten als für die

Bundesregierung.

„Weder steht der Bundespräsident mit den politischen Parteien in direktem

Wettbewerb um die Gewinnung politischen Einflusses, noch stehen im Mittel zur

Verfügung, die es ihm wie etwa der Bundesregierung ermöglichten, durch eine

ausgreifende Informationspolitik auf die Meinung-Willensbildung des Volkes

einzuwirken. Es gehört auch nicht zu seinen Befugnissen, die Öffentlichkeit

regelmäßig über radikale Bestrebungen zu informieren oder über einen Antrag auf

Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei (Art. 21 Abs. 2 GG) zu befinden.

Äußerungen des Bundespräsidenten haben andererseits kraft seiner Stellung

besonderes Gewicht, und eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem

Bundespräsidenten folgt anderen Gegebenheiten als die mit direkten politischen

Konkurrenten oder einer von ihnen getragenen Bundesregierung. Folglich sind die

Grenzen der Äußerungsbefugnis des Bundespräsidenten gesondert zu bestimmen.“

BVerfGE 136, 323, 334 f. (Rn. 30)

Äußerungen des Bundespräsidenten sind dann verfassungsrechtlich zu beanstanden

wenn er mit ihnen unter evidenter Vernachlässigung seiner Integrationsaufgabe und

damit willkürlich zulasten einer Partei eingreift.

Wenn man die Äußerungen des B im Gesamtzusammenhang betrachtet, sind sie von

dem weiten Beurteilungsspielraum der Wahrnehmung seiner Integrationsfunktion

noch gedeckt.

Hintergrund der Äußerungen ist ein konkreter Anlass von Protesten der A-Partei und

Page 7: Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht …...1 Prof. Dr. Nele Matz-Lück 22. Juni 2018 Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht SACHVERHALT Ärger mit und in der Bundesregierung

7

ihren Unterstützern und darauf folgendes Engagement gegen Fremdenfeindlichkeit,

sodass der Vorwurf der Willkür nicht trägt. Auch gibt der Bundespräsident keine

eindeutige Wahlempfehlung für eine konkrete Partei ab, sondern verweist lediglich

darauf, dass politisches Engagement auf der Straße oder an der Wahlurne für die

Verteidigung der Demokratie unerlässlich ist. Aus dem Zusammenhang der

Äußerungen des B lässt sich aber indirekt der Schluss ziehen, dass er empfiehlt, die

A-Partei jedenfalls nicht zu wählen. Hintergrund dafür ist aber wiederum der

konkrete Anlass der Proteste der A-Partei und ihrer Unterstützerinnen und

Unterstützer gegen eine Flüchtlingsunterkunft und der Vorwurf, es an

Menschlichkeit vermissen zu lassen, und keine Willkür. (Andere Auffassung mit

entsprechender Begründung vertretbar).

Fraglich ist außerdem, ob die Verwendung des Wortes „Spinner“ von der

Äußerungsbefugnis mit umfasst ist. Die Bezeichnung als „Spinner“ ist ein negatives

Werturteil über die Antragstellerin. Isoliert betrachtet kann dieses durchaus als

diffamierend empfunden werden und auf eine unsachliche Ausgrenzung hinweisen.

Im Gesamtzusammenhang mit den Äußerungen des B lässt sich dieser Eindruck

möglicherweise relativieren. Es ließe sich argumentieren, dass der B der Auffassung

Nachdruck verleihen möchte, die Antragstellerin und ihrer Unterstützer ließen es an

Menschlichkeit vermissen, fänden sich aber einer Mehrheit gegenüber, die sich

gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zur Wehr setzt. Dann würde auch die

konkrete Wortwahl nicht zu einer Überschreitung des Äußerungsrechts im Hinblick

auf politische Parteien führen. Andere Auffassung gut vertretbar!

Im zu Grunde liegenden Fall vor dem BVerfG ergab sich klarer, dass der damalige

Bundespräsident eine Einordnung der NPD-Anhänger als unbelehrbar vornehmen

wollte:

„Die mit der Bezeichnung „Spinner Ausführungszeichen vorgenommene Zuspitzung

sollte den Teilnehmern an der Veranstaltung nicht nur die unbelehrbaren Zeit der so

angesprochenen verdeutlichen, sondern auch hervorheben, dass sie ihre Ideologie

vergeblich durchzusetzen hofften, wenn die Bürger ihnen „ihre Grenzen aufweisen“. In

dem der Antragsgegner, anknüpfend an die aus der Unrechtsherrschaft des

Nationalsozialismus zu ziehenden Lehren, zu bürgerschaftlichem Engagement

gegenüber politischen Ansichten, von denen seiner Auffassung nach Gefahren für die

freiheitliche demokratische Grundordnung ausgehen und die er von der

Antragstellerin vertreten sieht, aufgerufen hat, hat er für die dem Grundgesetz

entsprechende Form der Auseinandersetzung mit solchen Ansichten geworben und

damit die ihm von Verfassung wegen gesetzten Grenzen negativer öffentlicher

Äußerungen über politische Parteien nicht überschritten.“ BVerfGE 136, 323, 337 f.

(Rn. 36)

III. Ergebnis

Das Organstreitverfahren gegen B ist zulässig, aber unbegründet. (Andere Auffassung

vertretbar, wenn man entweder die indirekte Empfehlung, die A-Partei nicht zu wählen,

als unzulässige Einwirkung oder die Bezeichnung als „Spinner“ als unsachlich wertet und

daher eine Überschreitung der Äußerungsbefugnis annimmt.)

Page 8: Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht …...1 Prof. Dr. Nele Matz-Lück 22. Juni 2018 Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht SACHVERHALT Ärger mit und in der Bundesregierung

8

B) Organstreitverfahren gegen J

I. Zulässigkeit

Zur Zulässigkeit des Organstreitverfahren gilt im Wesentlichen das oben Gesagte. Der J ist

tauglicher Antragsgegner, weil nicht nur die Bundesregierung als Ganze, sondern auch

einzelne Minister mit Rechten und Pflichten ausgestattet sind (Art. 65 Satz 2 GG).

Der Antrag der A-Partei gegen J ist zulässig.

II. Begründetheit

Im Gegensatz zum Bundespräsidenten unterliegen Staatsorgane aufgrund ihrer

herausgehobenen Stellung einem strikten Neutralitätsgebot, aus dem folgt, dass sie

grundsätzlich nicht zugunsten oder zulasten einer Partei in den Wahlkampf eingreifen dürfen

(BVerfGE 44, 125, 146). Es ist den Staatsorganen zu eigen, dass sie über mediale und

finanzielle Mittel verfügen, die geeignet sind, die Chancengleichheit der Parteien erheblich zu

beeinträchtigen, wenn sie zur Beeinflussung des Wahlkampfes eingesetzt werden.

Fraglich ist im vorliegenden Fall aber der Amtsbezug, d.h. ob J sich in seiner Funktion als

Bundesjustizminister geäußert hat oder als Parteipolitiker oder als Privatmann. Politiker,

auch wenn sie ein Amt bekleiden können vor Wahlen nicht alle Auftritte in der Öffentlichkeit

meiden. Aus dem Neutralitätsgebot folgt also nicht, dass Mitglieder der Bundesregierung

sind in der Wahlkampfphase gar nicht mehr in den Medien zu aktuellen Themen äußern

dürften. Je mehr allerdings das Amt Grundlage der Äußerung war, desto eher handelt es sich

bei einer Äußerung zulasten einer Partei um einen unzulässigen Eingriff in die

Chancengleichheit. Entscheidend ist daher, ob eine Äußerung tatsächlich als Staatsorgan

getätigt wurde und welche Eingriffsintensität diese hatte.

Der J gibt ein Interview. Er handelt sich dabei nicht um eine Inanspruchnahme hoheitlicher

Funktionen. Ob er das Interview als Bundesjustizminister oder als Parteipolitiker gibt, geht

aus dem SV nicht hervor. J distanziert sich aber ausdrücklich von seinem Amt. Er gibt an,

weder im Namen der Bundesregierung zu sprechen, sondern als Privatmann und

Parteipolitiker. Er spricht daher gerade nicht mit der Autorität des Amtes aus einer

herausgehobenen Stellung. Das spricht gegen eine Verletzung des Neutralitätsgebotes von

Mitgliedern der Bundesregierung. Auch ist die Eingriffsintensität im Übrigen eher gering

einzuschätzen, weil er die konkreten Äußerungen selbst nicht wiederholt.

III. Ergebnis

Der Antrag gegen J ist zulässig, aber unbegründet.

C) Einstweilige Anordnung

I. Zulässigkeit

1. Zuständigkeit

Das BVerfG kann gem. § 32 BVerfGG einen Zustand vorläufig regeln, wenn dies zu

Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem

Page 9: Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht …...1 Prof. Dr. Nele Matz-Lück 22. Juni 2018 Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht SACHVERHALT Ärger mit und in der Bundesregierung

9

anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

Immer dann, wenn ein Abwarten des Hauptsacheverfahrens für den Antragsteller

unzumutbar ist bzw. zu einem nicht oder schwer wieder gut zu machenden Zustand

führt, kann einstweiliger Rechtsschutz nach § 32 BVerfGG beantragt werden (BVerfG,

Beschl. v. 17. 7. 2002 – 2 BvR 1027/02

2. Statthaftigkeit des Antrags

§ 32 BVerfGG setzt keine bestimmtes Hauptsacheverfahren voraus, so dass eine

einstweilige Anordnung beantragt werden kann, wenn in der Hauptsache ein

Organstreitverfahren einschlägig ist.

3. Antragsberechtigung

Jeder, der im Hauptsacheverfahren antragsberechtigt ist. Die A-Partei ist im

konkreten Fall der Rüge der Verletzung in ihrer Chancengleichheit als Partei im

Organstreit antragsberechtigt (s.o.).

4. Keine offensichtliche Unzulässigkeit der Hauptsache

Es bestehen vorliegend keine Anhaltspunkte für eine Unzulässigkeit der Hauptsache.

5. Keine Vorwegnahme der Hauptsache

Durch die einstweilige Anordnung darf ein Zustand nur vorläufig geregelt werden.

Liegt darin zugleich die abschließende Entscheidung über die Hauptsache, ist der

Antrag unzulässig. Das BVerfG macht davon in engen Grenzen Ausnahmen.

Vorliegend begehrt die A-Partei, dass das Statement von der Homepage noch vor der

Versammlung entfernt wird. In der Hauptsache geht es um die Frage, ob der J ein

solches Statement, das terminologisch Bezug zur geplanten Versammlung hat, im

Übrigen aber auf ein mögliches Parteiverbotsverfahren hinweist, veröffentlichen

durfte oder ob dieses die Chancengleichheit der Parteien gem. Art. 21 Abs. 1 GG

(i.V.m. Art. 38 GG wegen des zeitlichen Zusammenhangs mit der Bundestagswahl)

verletzt. Diese Frage wird durch eine einstweilige Anordnung nicht endgültig

entschieden. Selbst wenn J das Statement vor der Versammlung vorerst von der

Internetseite entfernen muss, steht es im frei, im Falle des Obsiegens in der

Hauptsache das Statement wieder zu veröffentlichen und über die Möglichkeit der

Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens zu informieren. Es entfällt lediglich der

zeitliche Zusammenhang mit der Versammlung und ggf. der zeitliche Zusammenhang

mit der Bundestagswahl. Die Frage aber, welche Grenzen der Bundesregierung von

der Verfassung gesetzt werden, wenn sie sich zu Parteien äußert und in welcher

Form sie dies tun darf, bleibt bestehen.

6. Rechtsschutzbedürfnis

Das Rechtsschutzbedürfnis kann entfallen, wenn über die Hauptsache rechtzeitig

entschieden werden kann oder der Antragsteller sein Ziel auf anderem Weg leichter

erreichen kann. Dafür sind keine Anhaltspunkte ersichtlich. Insbesondere wird über

den Antrag in der Hauptsache nicht kurzfristig und vor der Versammlung entschieden

werden.

7. Form und Frist

Page 10: Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht …...1 Prof. Dr. Nele Matz-Lück 22. Juni 2018 Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht SACHVERHALT Ärger mit und in der Bundesregierung

10

Eine Frist ist nicht vorgesehen. Aufgrund des Zusammenhangs von einstweiliger

Anordnung und Hauptsache, ist erstere unzulässig, wenn der Antrag in der

Hauptsache verfristet ist. Das ist vorliegend aber nicht der Fall. Der Antrag ist

schriftlich zu stellen und zu begründen, § 23 BVerfGG.

II. Begründetheit

Das BVerfG nimmt eine Folgenabwägung im Sinne einer Doppelhypothese vor. Eine

summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache (wie bei §§ 80 Abs. 5, 123

VwGO) findet nicht statt. Trotzdem gilt, dass wenn der Antrag in der Hauptsache

offensichtlich unbegründet ist, auch Antrag gem. § 32 BVerfGG unbegründet ist. Ist die

Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, dann wird grundsätzlich auch eine Anordnung

gem. § 32 BVerfGG ergehen.

Wenn der Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache weder offensichtlich begründet noch

unbegründet ist, findet eine Nachteilsabwägung statt.

Doppelhypothese: Abwägung der Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige

Anordnung nicht erginge, das Hauptsacheverfahren aber Erfolg hätte, gegenüber den

Nachteilen, die entstünden, wenn die einstweilige Anordnung erlassen würde, sich das

Hauptsacheverfahren aber als anschließend als unbegründet erweisen würde.

Im vorliegenden Fall könnte erörtert werden, ob das Hauptsacheverfahren offensichtlich

begründet ist, wenn man davon ausgeht, dass zumindest in der heißen Wahlkampfphase

seitens des J auch nicht sachlich über die mögliche Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens

informiert werden dürfe. Der J nutzt sein Amt, um vor einer bisher nicht verbotenen und am

Wahlkampf beteiligten Partei zu warnen. Ein Parteiverbotsverfahren ist bisher nicht

eingeleitet, so dass der Hinweis auf die Möglichkeit im Vorfeld der Bundestagswahl einem

Werturteil des J bezüglich der Gefährlichkeit der A-Partei für die Demokratie gleichkommt.

Ein solches mit der Autorität des Amtes vorgetragenes Urteil über eine bisher nicht

verbotene Partei, ist offensichtlich geeignet, die Chancengleichheit einer Partei im

Wahlkampf zu beeinträchtigen. Hier sind verschiedene Auffassungen vertretbar.

Auch kann die Mitteilung als Boykott-Aufruf bezüglich der geplanten Versammlung

verstanden werden, so dass auch nicht ausgeschlossen erscheint, dass die A-Partei in ihrem

Recht aus Art. 8 Abs. 1 GG verletzt wird. Die Versammlungsfreiheit erfasst den gesamten

Vorgang des „Sich-Versammelns“ und kann durch faktische Maßnahmen beeinträchtigt

werden (zum Originalfall: BVerfGE 40, 225, 228 (Rn. 10)).

Geht man davon aus, dass eine Nachteilsabwägung vorzunehmen ist, überwiegen die

Nachteile für die A-Partei, wenn die „Warnung“ vor der Versammlung und in der weiteren

Wahlkampfphase auf der Homepage bestehen bleibt, sich in der Hauptsache aber

herausstellt, dass die Pressemitteilung verfassungswidrig ist. Die Beeinträchtigung in der

Chancengleichheit und in der Versammlungsfreiheit kann nicht nachträglich ausgeglichen

werden. Demgegenüber bleibt die Möglichkeit, im Anschluss an die Entscheidung über die

Möglichkeit eines Parteiverbotsverfahrens zu informieren und entsprechend vor der A-Partei

zu warnen bestehen, sollte sich der Antrag in der Hauptsache als unbegründet erweisen. Es

entfällt lediglich der zeitliche Zusammenhang zur Versammlung und entsprechend die

Page 11: Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht …...1 Prof. Dr. Nele Matz-Lück 22. Juni 2018 Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht SACHVERHALT Ärger mit und in der Bundesregierung

11

terminologische Bezugnahme auf das Motto der Veranstaltung, die die Pressemitteilung

aufgreift.

III. Ergebnis

Der Antrag der A-Partei ist erfolgreich. Das BVerfG wird eine einstweilige Anordnung

erlassen, dass die Pressemitteilung von der Homepage vorübergehend, d.h. bis zu einer

Entscheidung in der Hauptsache zu entfernen ist. (siehe auch BVerfGE 40, 225)

Korrekturhinweis: Falls die Bearbeiterinnen und Bearbeiter ein Organstreitverfahren gegen J

auch hinsichtlich der Pressemitteilung bereits geprüft haben, kann sowohl im Rahmen der

Zulässigkeit als auch der Begründetheitsprüfung der eA auf die Hauptsache verwiesen

werden, dennoch ist die Praxis der Prüfung der Doppelhypothese zu erläutern.

Zweiter Aufgabenteil

Fraglich ist, ob K sich mit der Richtlinienkompetenz (Art. 65 S. 1 GG) gegenüber der

Ressortzuständigkeit der Minister (Art. 65 S. 2 GG), hier des I, durchsetzen kann und welche

Möglichkeiten das Grundgesetz zur Durchsetzung bietet.

Die Richtlinienkompetenz und die Ressortzuständigkeit stehen in einem

verfassungsrechtlichen Spannungsverhältnis. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

zu den Inhalten und zur Reichweite der Richtlinienkompetenz gegenüber der

eigenverantwortlichen Leitung der ministeriellen Geschäftsbereiche besteht nicht. In der

Praxis ist dies eine Frage, die regelmäßig politisch aufgelöst wird.

Grundsätzlich folgt aus der verfassungsrechtlichen Stellung des Amtes des Bundeskanzlers,

dass ein weiter Einschätzungsspielraum bezüglich des politischen Führungsanspruches

besteht. Begründen lässt sich dies damit, dass der Bundeskanzler die Gesamtverantwortung

für die Bundesregierung trägt (Art. 63,67, 68 GG). Ferner werden die Minister vom

Bundeskanzler ausgewählt (Art. 64 GG). Im vorliegenden Fall liegt es nahe, dass ein

innerstaatlich und europäisch so bedeutsames Thema wie die Frage der Grenzkontrollen im

Zusammenhang mit massenhaften Migrationsbewegungen eine zentrale Herausforderung

der Bundesregierung insgesamt ist. Es spricht daher vieles dafür, dass dieses Thema vom

politischen Führungsanspruch der K und damit von ihrer Richtlinienkompetenz umfasst wird.

Fraglich ist, ob die Zuweisung einer Thematik zu Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers

eine Einzelweisung gegenüber einem Bundesminister deckt. Dann könnte die K den I

anweisen, seinerseits die Anweisung an die Bundespolizei zurückzunehmen. Die K selbst ist

gegenüber den dem Innenministerium unterstellten Bundesbehörden nicht

weisungsberechtigt, weil sie nur die Richtlinien der Politik bestimmt und gerade nicht selbst

für die Ressorts zuständig ist.

Die Frage, ob im vorliegenden Fall eine Einzelweisung der K an den I von ihrer

Richtlinienkompetenz umfasst wäre oder einen verfassungswidrigen Eingriff in die

Page 12: Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht …...1 Prof. Dr. Nele Matz-Lück 22. Juni 2018 Examensübungsklausur im Öffentlichen Recht SACHVERHALT Ärger mit und in der Bundesregierung

12

eigenverantwortliche Leitung des Geschäftsbereiches des I darstellt und dadurch das

Ressortprinzip verletzt, ließe sich wiederum im Wege des Organstreitverfahrens gem. Art. 93

Abs. 1 Nr. 1 GG vor dem Bundesverfassungsgericht klären.

Eine andere Möglichkeit, die das Grundgesetz der K bietet, ist den Bundespräsidenten um die

Entlassung des I zu bitten (Art. 64 Abs. 1 GG). Einem solchen Vorschlag hätte der

Bundespräsident zu entsprechen. Da es sich um eine politische Entscheidung handelt, steht

im kein Prüfungsrecht zu.