18
Nummer 3 September – Oktober 2011 Exklusiver Auszug Wir sind die Wirtschaft! enorm www.enorm-magazin.de Wir sind die Wirtschaft! Wie neue Mutbürger sich zusammenschließen, ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen – und so eine Wirtschaft von unten formen 10 Seiten Special: Gewinn mit gutem Gewissen NACHHALTIGE GELDANLAGEN Rewe und die Nachhaltigkeit: Das Ziel ist im Weg UNTERNEHMEN Vier Weltkonzerne scheitern in Bangladesch SOCIAL BUSINESS Exklusiver Auszug aus Ausgabe 3/2011

Exklusiver Auszug aus Ausgabe 3/2011 Wir sind die … · Seite 3 Editorial Aufbruch aus Frust und Zorn erlebten Autor Merten Worth-mann und Fotograf Gunnar Knechtel bei ihrer Reise

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Exklusiver Auszug aus Ausgabe 3/2011 Wir sind die … · Seite 3 Editorial Aufbruch aus Frust und Zorn erlebten Autor Merten Worth-mann und Fotograf Gunnar Knechtel bei ihrer Reise

Exkl

usiv

er A

uszu

g W

irts

chaf

t für

den

Men

sche

n

Aus

gabe

2/2

010

Exkl

usiv

er A

uszu

g W

irts

chaf

t für

den

Men

sche

n

Aus

gabe

2/2

010

Nu

mm

er 3

Se

ptem

ber–

Okt

ober

201

1E

xklu

sive

r A

uszu

g W

ir s

ind

die

Wir

tsch

aft!

enor

mw

ww

.eno

rm-m

agaz

in.d

e

Wir sind die Wirtschaft!Wie neue Mutbürger sich

zusammenschließen, ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen – und so

eine Wirtschaft von unten formen

10 Seiten Special: Gewinn mit gutem Gewissen

Nachhaltige geldaNlageN

Rewe und die Nachhaltigkeit: Das Ziel ist im Weg

UNterNehmeN

Vier Weltkonzerne scheitern in Bangladesch

Social BUSiNeSS

Exklusiver Auszugaus Ausgabe 3/2011

Page 2: Exklusiver Auszug aus Ausgabe 3/2011 Wir sind die … · Seite 3 Editorial Aufbruch aus Frust und Zorn erlebten Autor Merten Worth-mann und Fotograf Gunnar Knechtel bei ihrer Reise

Seite 3Editorial

Aufbruch aus Frust und Zorn erlebten Autor Merten Worth-mann und Fotograf Gunnar Knechtel bei ihrer Reise durch Spanien. Seit Monaten campieren noch immer Zehntausen-de vor allem junge Menschen auf den Plätzen ihrer Städte, um gegen die hohe Arbeitslosigkeit von mehr als 20 Prozent, Korruption, die Macht der Banken und Parteien zu demons-trieren. Die Regierung verabschiedete Ende August zwar eine kleine Arbeitsmarktreform, mit der vor allem junge Frauen und Männer leichter einen Job finden sollen – sie wirkt wie ein Feigenblatt. Einige verlassen sich schon längst nicht mehr auf die Mächtigen in Madrid und gehen ihren eigenen Weg. Merten Worthmann, der auch für Die Zeit, SZ und GEO schreibt, und der preisgekrönte Fotograf Gunnar Knechtel (stern, El Pais, The Guardian) besuchten Menschen, die ge-sellschaftliche Probleme mit innovativen Projekten zu Leibe rücken und so gute Alternativen zum bisherigen maroden

System aufgebaut haben. Was offenbar noch nicht alle mitbekommen ha-ben. Als Worthmann im Ministerium für Indust-rie nach Förderprogram-men für Sozialunterneh-mer fragte, wusste man nicht, was er meinte. „Sozialunternehmen? So etwas ist uns nicht be-kannt.“ Auf seine aus-führliche Mail hin, gar-niert mit Links, erhielt er nie eine Antwort. Le-sen Sie seinen Report über Spaniens Aufbruch ab Seite 72.

Von Aufbrüchen und Umbrüchen

tite

lill

ust

rati

on

And

rea

Vent

ura

Fo

tos

Gun

nar K

nech

tel,

priv

at, A

ndre

as L

abes

(2),

Selb

stpo

rtra

it A

ndre

a Ve

ntur

a, U

te S

chm

idt/

bild

folio

55 Prozent weniger Strom verbraucht die Deutsche Bank in ihrer sanierten Zentrale, den Greentowers. Wie das geht, er-fuhren Autor Alexander Heintze und stellvertretender Chef-redakteur Marc Winkelmann bei ihrem Besuch in Frankfurt. Um in den 27. Stock zu gelangen, musste zunächst der Auf-zug programmiert werden. Das neue System optimiert die Transportwege, verkürzt die Wartezeiten und reduziert so den Energiebedarf. Oben angekommen sprachen sie mit Group Sustainability Officer Sabine Miltner über die Möglichkeiten, Nachhaltigkeit auch auf das Kerngeschäft zu übertragen. Die Bank und ihre Kunden stehen vor einem Umbruch. Seite 90

merten worthmann

Gunnar Knechtel

interview im 27. stocK: sabine miltner von der deutschen banK mit alexander heintze (linKs) und marc winKelmann

andrea ventura

Es gibt Künstler, die einen verstehen. Nachdem wir mit Andrea Ventura über Cover und Aufmacherseiten für unsere Titelge-schichte gesprochen hatten, bekamen wir einen Tag später eine erste Kreide-Skizze. Kannten wir das nicht irgendwie? Der mit internationalen Preisen überhäufte Italiener klärte uns auf: eine Adaption von „Il Quarto Stato“, dem Gemälde „Der Vierte Stand“, das den Aufbruch der Arbeiterschaft zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts illustrierte. Damit traf Ventura den Kern unserer Geschichte „Wir sind die Wirtschaft“. Denn auch diesmal geht

es um den Aufbruch in ein neues Zeitalter, allerdings völlig un-ideologisch aus der Mitte der Gesellschaft. Autor Lukas Grasberger besuchte Menschen, die sich Spekulanten und Heuschrecken mit neuen Businesskonzepten mutig in den Weg stellen und so eine neue Wirt-schaft von unten begründen. Fotograf Andreas Labes, nominiert für den Deut-schen Fotobuchpreis 2011, setzte die In-novatoren in Szene. Viel Freude mit dem Werk des Trios ab Seite 16.

andreas labes

luKas GrasberGer

enorm-UmfrageWas bedeutet Nachhaltigkeit für Sie? Wie engagieren Sie sich? Welche Werte sind Ihnen wichtig? Das möchten wir gerne von Ihnen wissen – und haben dieser Ausgabe eine Umfrage beigelegt. Die Teilnahme ist auch unter www.enorm-magazin.de möglich. Unter allen Teilnehmern werden drei Wochenendreisen verlost

Page 3: Exklusiver Auszug aus Ausgabe 3/2011 Wir sind die … · Seite 3 Editorial Aufbruch aus Frust und Zorn erlebten Autor Merten Worth-mann und Fotograf Gunnar Knechtel bei ihrer Reise

Wir sind die Wirtschaft!

Seite 16Titel

Page 4: Exklusiver Auszug aus Ausgabe 3/2011 Wir sind die … · Seite 3 Editorial Aufbruch aus Frust und Zorn erlebten Autor Merten Worth-mann und Fotograf Gunnar Knechtel bei ihrer Reise

sie sind unideologisch, pragmaTisch, kampfbereiT. sie schliessen sich zusammen, um gegen heuschrecken

und spekulanTen anzuTreTen. muTbürger gesTalTen die welT nach ihren wünschen – nachhalTig, fair,

ökologisch. eine reise in die wirTschafT von unTen

TexT Lukas GrasbergerIllusTraTIon Andrea Ventura

FoTos Andreas Labes

Page 5: Exklusiver Auszug aus Ausgabe 3/2011 Wir sind die … · Seite 3 Editorial Aufbruch aus Frust und Zorn erlebten Autor Merten Worth-mann und Fotograf Gunnar Knechtel bei ihrer Reise

Seite 18Titel

FoTo

Mus

eo d

el N

ovec

ento

, Mila

no

Wenn Stefan Palme über die Hügel seiner uckermärkischen Heimat blickt, wird er für einen Augenblick andächtig still. Der Bio-Bauer schaut reglos über diesen wie von

leichter Hand hingestreuten Teppich aus Wiesen, Fel-dern und Hecken. Ein Idyll. Fast. „Erosionsrinnen“, sagt der kantig-wortkarge Mann, und deutet vom Trak-tor aus auf breite Schlammschlieren auf einem Feld neben seinem Acker. „Mais-Monokultur. Der Ober-boden ist kaputt.“ Auch auf der saftig grünen, aber leeren Weide dahinter ist die Welt nur auf den ersten Blick in Ordnung. Ein Arzt aus dem nahen Berlin hat die Wiese gekauft, als Geldanlage. Palmes Nachbar, ein Schäfer, konnte bei der Versteigerung nicht mit-halten. „Es sind vor allem größere außerlandwirt-schaftliche Investoren, die hier jeden Preis zahlen.“

Goldgräber und Glücksritter sind weltweit auf der Jagd nach Land, Boden und Rohstoffe gelten als eine der letzten krisensicheren Anlagen. Im Osten Deutschlands, wo die bundeseigene Bodenverwer-tungs und -verwaltungs GmbH (BVVG) derzeit die letzten zusammenhängenden Großflächen aus DDR-Volkseigentum versilbert, haben Investoren die Prei-

se in schwindelerregende Höhen getrieben. Die BVVG registrierte allein für das erste Halbjahr 2011 einen Anstieg um 21 Prozent, Palmes Kolle-ge Rolf-Friedrich Henke zufolge hat sich der Preis für ihre Böden in den letz-ten Jahren vervierfacht. Preistreiber sind Aktien-gesellschaften, die Bio-gas-Großanlagen in die Landschaft stellen, deren Hunger hochsubventio-niert gestillt wird. Mit Fel-dern von Mais, die bis an den Horizont reichen. Die Folgen: eine Vermaisung der Landschaft – und eine

Verdrängung von Bauern wie Palme, die den boden-schonenden Anbau von Getreide für Babynahrung, aber auch seltener Kulturpflanzen wie Körnerfenchel und Kümmel betreiben.

Nach Auslaufen der Pachtverträge hätten Palme und die anderen Bauern zwar bevorzugt von der BVVG kaufen, die Preise aber kaum bezahlen können. „Wir waren in der Zwickmühle“, so Palme. Entweder zu ruinösen Summen kaufen – oder überlebensnotwen-dige Flächen verlieren. „Das war existenzbedrohend.“

Statt alleine zu kämpfen, schloss sich Palme mit ei-nem Dutzend Kollegen zusammen. Gemeinsam ver-handelten die Bauern mit der BVVG – und trotzten ihr mit Hilfe der sozial-ökologisch ausgerichteten GLS-Bank schließlich den dringend benötigten Bo-den ab. Das Modell: Ein Bio-Boden-Fonds der Bank kauft die Flächen und verpachtet sie langfristig zu ei-nem gesicherten Zins an die Bauern. Diese verpflich-ten sich im Gegenzug, mindestens 18 Jahre biologisch zu wirtschaften. Anleger, die Anteile an dem Bio-Bo-denfonds kaufen, bekommen eine jährliche Rendite von 2,5 Prozent, die sich aus der Pacht speist.

Gemeinsam gelang es so einer Initiative von Bür-gern, die größte biologisch bewirtschaftete Ackerbau-region Europas dem spekulativ freien Spiel der Markt-kräfte zu entziehen. Wie sie gemeinsam gewachsene und bewährte Strukturen sichern – das erinnert frap-pierend an das fast vergessene landwirtschaftliche Modell der Allmende. Ihr Nährboden sind Prinzipi-en einer anderen, alten Ökonomie, die angesichts des multiplen Versagens neoliberaler Märkte sehr mo-dern erscheinen: einer Wirtschaft von unten, die tief in lokalen Gegebenheiten wurzelt und die Bedürfnis-se von Mensch und Umwelt vor Ort berücksichtigt. Die kurzatmige Konkurrenz durch Kooperation zu Gunsten langfristiger Ziele ersetzt. Einer Ökonomie von Menschen, die sich freiwillig selbst begrenzen, statt Getriebene endlosen Wachstums zu sein.

Es sind stinknormale Bürger, die sich gegen den wieder anschwellenden neoliberalen Strom stellen. Aus wegen vermeintlicher Anti-Haltung geschmäh-ten Wutbürgern wächst eine Gegenbewegung. Denn angesichts der verheerenden Folgen des Finanzmarkt-kapitalismus und des Versagens der Politik sind im-mer mehr Menschen bereit zu handeln. Sie wollen dem Alternativlos-Mantra nicht mehr glauben. Ihr Motto: Das machen wir jetzt selbst!

Immer mehr Menschen schaffen Inseln und Halb-inseln im neoliberalen Strom: Auch die Mittelschicht wagt zunehmend, Neuland zu betreten, sagt die Ber-liner Soziologie-Professorin Clarita Müller-Planten-berg. „Ein Teil der Mittelklasse ist nicht mehr zufrie-den damit, was dieses System für sie bedeutet: In elementaren Fragen ständig lebensbedrohlicher Ri-sikotechnologie ausgesetzt zu sein.“ Es sei nicht be-friedigend, nicht zu wissen, wie Kinder und Enkel le-ben werden. Formen solidarischer Ökonomie würden mittlerweile „breit gesellschaftlich diskutiert“, bestä-tigt Oliver Bierhoff von der Uni Münster. „Der linke Akteur ist dabei heute einer unter vielen.“

Für ihre neue Wirtschaft dient den Bürgern keine Ideologie als Kompass, sie verlaufen sich nicht in ein-schüchternden Gebäuden ökonomischer Theorie. Es scheint, als hätten sie bloß eine von der mexi-

Das Gemälde des Italieners Giuseppe Pellizza da Volpedo von 1901 „Il Quarto Stato“ diente als Vorlage für den Einstieg in die Titelgeschichte (s. vorherige Seite). Die Arbeiterschaft wurde sich damals ihrer Macht bewusst, schloss sich zusammen und schritt in eine neue Zeit.

Der vierte StanD

Page 6: Exklusiver Auszug aus Ausgabe 3/2011 Wir sind die … · Seite 3 Editorial Aufbruch aus Frust und Zorn erlebten Autor Merten Worth-mann und Fotograf Gunnar Knechtel bei ihrer Reise

ExISTENZ- BEDROHEND“

„WIR

WARENINDERZWICKMüHLE.DASWAR

Nicht mit mir: Bio-Bauer Stefan Palme und seine Nachbarn haben mit Hilfe eines Boden-Fonds die Spekulanten vom Hof gejagt

kanischen Zapatisten-Bewegung ge-borgte Weisheit im Gepäck: fragend voranschreiten – über neue Erfah-rungen zu neuen Erkenntnissen ge-langen. Es ist ein Weg, der erst beim Gehen entsteht und der uns zeigt, „was wir uns vorher gar nicht vorstellen konnten“, wie es die Autorin Friederike Habermann in einem Interview mit dem „Freitag“ formulierte. Die verin-nerlichte, scheinbar naturgegebene kapitalistische Logik müsse durch Erfahrungen aufgebrochen wer-den. Denn auch unser Denken, die „mentalen Infra-strukturen“, wie es der Sozialpsychologe Harald Wel-zer formuliert, müssen sich ändern. Es geht um eine Praxis im Kleinen, die wirklichkeitsverändernd ist – und aus der von unten wie von selber bereits neue Strukturen und Organisationen wachsen, die auf Ko-operation und Kommunikation angelegt sind.

Wer der neuen Bürger-Wirtschaft auf den Grund gehen will, muss sich selbst auf den Weg machen.

Man trifft dabei Bio-Bauern aus dem Osten ebenso wie linke Attac-Aktivisten aus Hessen. Man stößt auf heimatverbundene CDU-Gemeinderäte aus dem Schwarzwald, aber auch auf einen Software-Entwick-ler und Netzbürger, der nur zufällig von der deut-schen Provinz aus an einer besseren Welt arbeitet. Und man begegnet einem Anwalt aus der Hauptstadt, der seine Insel im Strom bereits geschaffen hat.

Man trifft also auf Menschen wie Ulf Heitmann. Der Endvierziger empfängt hinter einer gepflegten Klinkerfassade in Berlin-Prenzlauer Berg. Heitmann kann viel erzählen über die Entwicklungen im Viertel: 80 Prozent der ursprünglichen Bevölkerung sind nach 1989 weggezogen, meist der gestiegenen Mieten

Page 7: Exklusiver Auszug aus Ausgabe 3/2011 Wir sind die … · Seite 3 Editorial Aufbruch aus Frust und Zorn erlebten Autor Merten Worth-mann und Fotograf Gunnar Knechtel bei ihrer Reise

Seite 20Titel

KNAST“

„WIR

STANDEN

MITEINEMBEINIM

Viel Kommunikation, eigene Ressourcen nutzen: Die Genossenschaftsvorstände Ulf Heitmann (3. v. l.) und Barbara König (r.) retteten die Bremer Höhe in Berlin vor dem Verkauf an einen Hamburger Investor

GESETZT“

„DAMALS

HABENWIR

ALLESAUF

EINEKARTE

Page 8: Exklusiver Auszug aus Ausgabe 3/2011 Wir sind die … · Seite 3 Editorial Aufbruch aus Frust und Zorn erlebten Autor Merten Worth-mann und Fotograf Gunnar Knechtel bei ihrer Reise

wegen. Hinter den roten Ziegeln der „Bremer Höhe“ aber scheint die Zeit stillzustehen, was vielleicht auch an der alten Stuhl- und Tischgarnitur in Heitmanns Büro liegt, die er aus einer Ost-Bibliothek in die neue Zeit herübergerettet hat. Möglicherweise liegt es aber auch an der Mieterstruktur, die sich hier kaum ver-ändert hat seit den Neunzigern.

„Damals“, sagt Heitmann, „haben wir alles auf eine Karte gesetzt.“ Damals war das Jahr 1999, und Berlin wollte mit dem Verkauf von 521 stadteigenen Woh-nungen der „Bremer Höhe“ ihre Schuldenlast lindern. Heitmann fand heraus, dass der Käufer, ein Hambur-ger Investor, sehr hohe Mieterwartungen hatte. „Da-mit hatten wir ein klares Feindbild. Das hat uns zu-sammengeschweißt“, bekennt er schmunzelnd. Zu einer ersten Versammlung kamen drei Dutzend An-wohner, zur zweiten schon 400. „Innerhalb weniger Wochen ist hier aus einer normalen Mieterschaft eine richtig starke Gemeinschaft entstanden.“ Dass die

Seite 21Titel

michel bauwens ist vertreter der peer-to-peer-wirtschaft: menschen sollen mit hilfe des internets wissen tauschen und gemeinsam an projekten arbeiten – bis hin zur produktion von gütern

„von top-Down zu netzwerken“

die multis verdienen gut wie nie, auf der anderen sei-te stehen kunden, die nur konsumieren wollen. von ihrer vision einer peer-to-peer-wirtschaft sind wir weit entfernt.Nein. Dass es den US-Großkonzernen gut geht, stimmt nur auf den ersten Blick. Betrachtet man einen längeren Zeitraum, dann zeigt sich, wie wenig zukunftsfähig sie sind. Diese Firmen stehen unter permanentem Stress, sie müssen sich tiefgreifend wandeln.

inwiefern?Die Herstellung materieller Güter bringt Firmen immer weniger Geld ein. Bei Apple, einem der wertvollsten Konzerne der Welt, hat die physische Herstellung der Produkte nur mehr einen sehr geringen Anteil am Gewinn. Die fertigen in China, für die Fir-men dort fallen nur wenige Prozent des Profits ab. Apple selbst hat einen Anteil von 40 Prozent an der Wertschöpfungskette. Warum? Weil sie das geistige Eigentum besitzen, und darüber die Kontrolle über den ganzen Produktions-Prozess.

ist das ein phänomen der computerbranche?Nein, das Problem betrifft alle Branchen. Die Clevereren der Multis reagieren und bewegen sich weg von abgeschlossenen Top-Down-Strukturen hin zur Zusammenarbeit in Netzwerken, die allen offen stehen, und schaffen dafür kreative Plattformen. Beim Konsumgüterkonzern Procter & Gamble kommt so mitt-lerweile die Hälfte der Innovationen von außerhalb. ======== =====================

InTervIew Lukas Grasberger

MIchel Bauwens

Der 53-Jährige arbeitete für BP und den Telekomriesen Belgacom. Nach Zweifeln an der Nachhaltigkeit der neoliberalen Wirtschaft

und zwei Sabbatjahren entwickelte der Belgier Theorien der digitalen Welt und gründete die Stiftung für Peer-to-Peer-Alternativen

haben große konzerne dann noch eine zukunft?Das ist schon eine neue Form von Kapitalismus. Firmen werden künftig nur noch für die Arbeit ihrer Mitarbeiter und das mate-rielle Produkt bezahlt. Der Profit aber, der allein auf dem Wis-sensmonopol basiert, fällt weg.

firmen haben über lange zeit großes wissen über ihre produkte angehäuft. warum sollten lose verbundene einzel-personen bessere produkte schaffen können?Weil Menschen von ihren Bedürfnissen ausgehen, ihre eigenen Probleme lösen wollen. Eine Firma setzt dagegen auf die be-schränkte Lebensdauer ihrer Produkte und auf Verknappung der Güter, um hohe Marktpreise zu bekommen. Man könnte Glüh-birnen herstellen, die hundert Jahre halten – das würde aber kein Unternehmen tun. Beim Open Design geht es nur um das beste Produkt, und darum, es immer weiter zu verbessern. /

Seite 22titel

Seite 23titel

kino, wo sich die Kinder treffen und den Veranstal-tungsraum der Erwachsenen, die „Bremer Höhle“. Von Sozialromantik spricht der Geschäftsführer aber nicht, sondern lieber von einer „versachlichten Welt-sicht einer Genossenschaft“. Da sich jeder als Eigen-tümer des Ganzen verstehe, würden Schäden schnell gemeldet, die Instandsetzung bleibe billig. Zweimal im Jahr entscheidet eine Jury, welche nachbarschafts-fördernde Initiativen aus dem Gemeinschaftstopf fi-nanziert werden. „Die Leute müssen sich dabei schon zusammensetzen, bevor sie einen Antrag stellen“, sagt Heitmann. Für Geschichtswirtschaft, Spielhaus oder Seniorenfahrt gab es Geld. Für Sauna und Hundekot-sauger nicht.

Heitmann glaubt betriebswirtschaftlich an die Schwarmintelligenz seiner Genossen. „über die ge-meinschaftliche Kommunikation zu vielen Themen sind wir letztlich zu Effizienzsteigerungen gekom-men. Allein schon durch die Nutzung vieler gemein-samer Ressourcen, die da sind.“ Ganz wörtlich neh-men das die Genossen bei der Energieversorgung: Blockheizkraftwerke unter den Dächern erzeugen Strom und Wärme für die „Bremer Höhe“, auf den Dächern prangen die Sonnensegel einer Photovol- taikanlage. „Wir haben Heizkosten wie vor acht Jah-ren. Das hat sonst keiner“, sagt Ulf Heitmann stolz. Und wo sie können und die Wohnungspolitik versagt, mischen sie sich weiterhin ein. Sie kauften ein Innen-stadtgrundstück für eine bedrohte Wagenburg. Im letzten Jahr übernahmen sie gar das Mini-Dorf Hob-rechtsfelde, 25 Häuser vor den Toren Berlins.

Die genossenschaftlichen Inseln wachsen – nicht nur in Berlin: Genossenschaften boomen auch bun-desweit. Seit 1980 hat sich die Zahl der Genossen-schaftsmitglieder in Deutschland auf 18,1 Millionen fast verdoppelt. Nach dem Krieg hatten die Genos-senschaften – im 19. Jahrhundert zur Selbsthilfe für Bauern und kleine Handwerker gegründet – eine star-ke Konzentration erfahren. Im Westen gerannen sie oft zu kalten Institutionen, die wie Großkonzerne agierten, in den Konsum- und Produktionsgenossen-schaften der DDR standen Prinzipien wie Selbstver-waltung und -verantwortung nur auf dem Papier.

In jüngster Zeit fällt Experten eine neue Generati-on von Genossen auf, die der erstarrten Idee neues Leben einhauchen. Mehr als 500 neue Genossenschaf-ten registrierte der Deutsche Genossenschafts- und Raiffeisenverband (DGRV) in den vergangenen Jah-ren, laut Genossenschaftsexperte Burghard Flieger haben sich die Neugründungen seit 2006 verdoppelt bis verdreifacht: „Die neuen Genossen spiegeln das wachsende Bedürfnis in der Gesellschaft nach mehr Bürgerbeteiligung wider.“ Für den Genossenschafts-verband zeugt der Trend zu Neugründungen davon,

OBENDIKTIEREN“

„WIR

LASSENUNSNICHTGERNVON

Zur Sonne, zur Freiheit: CDU-Mann Ernst Leimer (2. v. l.) und Mitstreiter machten ihr Dorf Freiamt in Baden-Württemberg energieautark. Mittlerweile kommen Busladungen voll mit Stadträten aus dem ganzen Ländle, um sich das Modell anzusehen

netZWerKe SOLiDariSCHer ÖKOnOMie

Dass ökologisch-soziales Wirtschaften nicht nur in kleinen Strukturen funk- tioniert, zeigt das Beispiel Brasilien. Ein nationales Sekretariat, angesiedelt beim Arbeitsministerium, fördert die Bewegung für solidarische Ökonomie, die Tausende Betriebe um- fasst. Unis schufen Incubadoras, Unterstütz- ungs- und Entwick- lungseinrichtungen für die Gründung von Kooperativen. Italien fördert Übernahmen von Betrieben durch die Belegschaft mit dem sogenannten Marcora-Gesetz, in Regionen wie der Emilia Romagna machen Genossen-schaften fast die Hälfte der Wirtschaftskraft aus. Die weltgrößte Genos- senschaft Mondragon aus dem Baskenland ist über ein zentrales Netz- werk der einzelnen Unternehmen verbunden.

mehr dazu im neuen heft 03/2011

========================

Page 9: Exklusiver Auszug aus Ausgabe 3/2011 Wir sind die … · Seite 3 Editorial Aufbruch aus Frust und Zorn erlebten Autor Merten Worth-mann und Fotograf Gunnar Knechtel bei ihrer Reise

Seite 32Rubrik

Foto

xxx

Wo sind die Danone-Ladies?

Mit unternehmerischen Vorzeigeprojekten wollten Otto, Danone, BASF und Adidas in Bangladesch

soziale Probleme anpacken. Die Zwischenbilanz ist ernüchternd

800 Sales Ladies wie diese Dame verkaufen laut Danone Joghurt. Tatsächlich sind es deutlich weniger

Page 10: Exklusiver Auszug aus Ausgabe 3/2011 Wir sind die … · Seite 3 Editorial Aufbruch aus Frust und Zorn erlebten Autor Merten Worth-mann und Fotograf Gunnar Knechtel bei ihrer Reise

Seite 33Social Entrepreneurship

Foto

s H

ALE

Y/S

IPA

(l.),

MU

NIR

UZ

ZAM

AN

/AFP

/Get

ty Im

ages

(r.)

In einer kleinen Fabrik in Bogra wird ein Joghurt hergestellt, der mit Vitaminen und Mineralstoffen angereichert ist. „Shokti Doi“ steht auf dem Becher, zu deutsch:

„Kraftjoghurt“. Sales Ladies verkaufen ihn, an arme Familien auf dem Land. Die Da­men verdienen damit ihren Lebensunter­halt, die Kinder schützen sich vor Mangel­ernährung; rund ein Drittel aller Kinder leiden darunter. In der Fabrik arbeiten Menschen aus der Umgebung, ihre Milch beziehen sie von kleinen Bauern.

Als Danone seine Pläne vorstellte, die Armut in Bangladesch zu bekämpfen, ern­tete der Lebensmittelkonzern Applaus von allen Seiten. Das Konzept wurde als inno­vativ und durchdacht gelobt, weil es kein Spendenprojekt sein würde, das am Tropf eines Gönners hängt. Die Fabrik sollte sich, nach einer Anschubinvestition, selbst finanzieren. Eine soziale und ökonomisch nachhaltige Fabrik: Das ist die Idee eines Social Business. Muhammad Yunus, der 2006 für seine Idee der Mikrokredite den Friedensnobelpreis erhielt, ist der Erfin­der dieses Modells. Also gingen er und Da­none ein Joint Venture ein. Sie gründeten Grameen Danone. Fünf Jahre ist das her.

Wenn man heute nach der Vorzeigefa­brik fragt, erhält man ernüchternde Ant­worten. „Ich habe meine Kollegen und de­ren Familien, die in und rund um Bogra leben, gefragt, was sie über Shokti Doi wis­sen. Und über die Grameen Ladies, die ihn von Tür zu Tür verkaufen. Eine Familie ist sogar im lokalen Joghurt­Business tätig. Niemand – ich wiederhole – niemand hat je von den Grameen Ladies gehört ge­schweige denn welche gesehen“, sagt Khu­shi Kabir. Seit 1974 kämpft die 63­Jährige mit ihrer NGO Nijera Kori („Wir machen das selbst“) in Bogra für die Rechte der Ar­men, 2005 war sie für den Friedensnobel­preis vorgeschlagen. Kabir hätte von den Erfolgen der Fabrik hören müssen.

Ähnlich steht es um die weiteren Joint Ventures, die westliche Konzerne mit Yunus eingingen – und stolz der Öffent­lichkeit präsentierten. Im März 2009 ver­kündete der Chemiekonzern BASF, mit Insektenschutzmittel präparierte Moski­tonetze und Beutel mit Nahrungsergän­zung an Arme zu verkaufen. Im April 2009

erhielt Grameen Danone für sein „inno­vatives, sozial und finanziell nachhaltiges Unternehmenskonzept“ den Vision Award. Im November 2009 verkündetet das Ver­sandhaus Otto, in Bangladesch eine sozi­ale Textilfabrik zu errichten. Im selben Monat ließ Adidas beim Global Social

Business Summit in Wolfsburg verlauten, einen „Turnschuh für Arme“ herzustellen, der vor Infektionen etwa mit Hakenwür­mern schützt. „In Bangladesch soll nie­mand mehr barfuß laufen“, sagte Yunus – und kündigte zur Überraschung von Adi­das an, dass der Schuh höchstens einen Dollar kosten werde. Michael Otto erklär­te, seine „Fabrik der Zukunft“ solle „Vor­bild werden für die Textilproduktion in Bangladesch und für ähnliche Fabriken auf der ganzen Welt“. Sie sollte nach neu­esten Öko­ und Sicherheitsstandards ge­baut, die Mitarbeiter nach dem staatlichen Mindestlohn bezahlt werden. Seitdem hört man nicht mehr viel über die Projekte.

Distanzieren sich die Kon­zerne von Yunus, weil sein Stern nicht mehr so hell strahlt? Jahrelang wurde der Wirtschaftswissen­schaftler gefeiert, weil er scheinbar einen Weg gefun­den hatte, Armen ein Ein­kommen zu sichern. Dann wuchs die Kritik an seinem Mikrokredit­Modell. In sei­ner Heimat überzog ihn die Regierung, der Yunus schon länger ein Dorn im Auge war, mit Klagen und setzte ihn als Direktor der Grameen­Bank ab. Wer jetzt mit ihm Geschäfte macht, läuft womöglich Ge­fahr, den Unmut von Mi­nisterpräsidentin Sheikh Hasina auf sich zu ziehen. Keine gute Voraussetzung, um in Bangladesch weiter

aktiv zu sein – vor allem bei Textilfirmen gilt das Land als nach wie vor wichtiger Standort.

Hans Reitz beschwichtigt. „Bei allen Projektpartnern ist die Faszination für So­cial Business ungebrochen“, sagt der Chef des Grameen Creative Lab in Wiesbaden, dem Ansprechpartner für Unternehmen, die mit Yunus zusammenarbeiten wollen. „Wenn wir Geschäfte machen in einem Land, das zu den am wenigsten entwickel­ten der Welt gehört, ist es ganz normal, dass es in der Phase der Realisierung He­rausforderungen gibt.“ Trotzdem bleibt die Frage, warum kaum ein Versprechen eingehalten wurde.

Im Juli gab Otto bekannt, dass sich der Zeitplan für die soziale Textilfabrik „durch politische und praktische Implikationen verzögert“ habe. Der Baubeginn war für März 2010 geplant, in diesem Jahr hätten die ersten Kleidungsstücke in den Handel kommen sollen. BASF hat bereits ein Fa­brikgebäude in der Hauptstadt Dhaka er­richtet. Vorstandsvorsitzender Jürgen Hambrecht wollte bis 2013 jährlich 200 000 Moskitonetze und mehr als 15 Millionen Vitaminpäckchen verkaufen. Letztere haben es wegen bürokratischer Hürden gar nicht erst auf den Markt ge­

„Bei allen Projektpartnern ist die Faszination für Social Business ungebrochen“

Mehr dazu im neuen Heft 03/2011

========================

Page 11: Exklusiver Auszug aus Ausgabe 3/2011 Wir sind die … · Seite 3 Editorial Aufbruch aus Frust und Zorn erlebten Autor Merten Worth-mann und Fotograf Gunnar Knechtel bei ihrer Reise

Frau Büchel, Herr Krämer, für das Lebensmittel-Label „Pro Planet“ hat Rewe 2010 den Deutschen Nachhaltig-keitspreis bekommen. Was bedeutet die Auszeichnung für Sie? Daniela Büchel: Das hatte für uns einen großen Schubeffekt, wir arbeiten ja schon seit 2008 an dem Thema. Wenn man ein neues Label auf den Markt bringt, gibt es oft Kritik: Braucht man wirklich noch ei-nes? Von einer so renommierten Jury aus-gezeichnet zu werden, war für uns eine Bestätigung dafür, dass wir mit unserer Strategie, uns der Breite des Marktes zu widmen, richtig liegen.

Es gibt viele Siegel. Worin unter-scheidet sich Pro Planet?Büchel: Natürlich haben wir uns gefragt: Brauchen wir etwas Eigenes oder können wir uns irgendwo anschließen und das vo-ran bringen? Aber wir haben festgestellt: Labels gibt es entweder nur für eine be-stimmte Warengruppe, etwa Fisch oder Kaffee. Oder sie berücksichtigen nur ei-nen Aspekt der Nachhaltigkeit oder der Wertschöpfungskette. Wir wollen die gan-ze Kette vom Rohstoff bis hin zur Entsor-

gung abdecken. Damit sind wir die ersten. Ist Pro Planet eine Vorstufe, die

konventionelle Produktion auf Bio um-zustellen? Laut Weltagrarbericht ist die Öko-Landwirtschaft der globale Schlüs-sel zur Nachhaltigkeit.Büchel: Pro Planet ist für den Massen-markt. Parallel fördern wir explizit Bio-Produkte. Mit Füllhorn haben wir 1988 die erste Bio-Eigenmarke im Handel eta-bliert. Drei Prozent unseres Sortiments sind bio. Mit Pro Planet gehen wir bewusst an die Schnelldreher, da haben wir eine Chance, noch stärker wahrgenommen zu werden, und der Einfluss ist besonders groß. Bio ist eine Nische, das kann sich nicht jeder leisten. Wir werden mit Bio al-lein die Welt nicht retten.

Sie konzentrieren sich auf das Hauptproblem eines Produkts bei der Herstellung. Heißt das, dass Sie Proble-me gegeneinander ausspielen?Büchel: Es gibt eine Hotspot-Analyse, an deren Ende eine Hotspotkarte steht. Wir müssen zu jedem Hotspot Stellung neh-men und auf mögliche Maßnahmen prü-fen. In der Regel sind es mehrere Hotspots,

die zu lösen sind. Wir loben am Produkt den wichtigsten Hotspot aus. Das kann zu Verwirrung führen, weil unterstellt wird, es ist das einzige, was wir machen. Aber wir arbeiten kontinuierlich an der ganzen Wertschöpfungskette.

Wann erhält ein Produkt das La-bel: Wenn das Problem gelöst ist? Büchel: Wir arbeiten prozessbezogen. Die Ziele sind festgelegt, die müssen wir in ei-nem bestimmten Zeitraum erreichen. Mit dem unabhängigen Beirat wird abge-stimmt, wann im Prozess das Label verge-ben werden darf und wann der Hot Spot aufgelöst ist. Bei Obst und Gemüse ist schon viel passiert. Ein sehr schönes Pro-dukt sind die Äpfel vom Bodensee. Da ge-hen wir verschiedene Aspekte an: zum Bei-spiel den Erhalt der biologischen Vielfalt und eine bienen- und insektenfreundliche Bewirtschaftung. Das Projekt wird mit dem NABU national umgesetzt.

Sie bewerben Pro Planet ausführ-lich. Im Supermarkt muss man das La-bel mit der Lupe suchen. Von 30 000 Produkten tragen es nur 80.Büchel: Kommt darauf an, wie man zählt.

„Weniger ist oft mehr“Rewe zählt zu den weltweit größten Lebensmittelhändlern. Trotzdem sei der Einfluss auf die nachhaltige

Herstellung seiner Produkte beschränkt, so der Konzern. enorm-Autorin Kathrin Hartmann fragte Daniela Büchel, Bereichsleiterin Nachhaltigkeit, und Sprecher Andreas Krämer

Seite 68

Hartmann!

Foto

Ste

phan

ie F

uess

enic

h / V

erla

gsgr

uppe

Ran

dom

Hou

se

Page 12: Exklusiver Auszug aus Ausgabe 3/2011 Wir sind die … · Seite 3 Editorial Aufbruch aus Frust und Zorn erlebten Autor Merten Worth-mann und Fotograf Gunnar Knechtel bei ihrer Reise

Seite 69Hartmann

Wir gehen nicht von der bloßen Produkt-Anzahl aus, sondern davon, wie viel jeweils verkauft wird. Unser stärkster Artikel ist die Banane mit rund 50 Millionen Kun-denkontakten. Pro-Planet-Produkte sollen Schnelldreher sein, um im Markt etwas bewegen zu können. Ein gutes Beispiel sind auch die Früherdbeeren aus Spanien.

Für spanische Erdbeeren im Win-ter werden pro Saison 4500 Tonnen Plastik verbraucht, in der Region Huel-va gibt es mehr als 1000 illegale Brun-nen, der Grundwasserspiegel ist fast um die Hälfte gesunken.Büchel: Es sagt keiner, dass diese Erdbee-ren das nachhaltigste Produkt sind, das man sich vorstellen kann. Es geht darum, dieses besser zu machen. Ein Fünftel der Früherdbeeren gehen in Deutschland an Rewe. Als großer Player können wir im Vertragsanbau einiges bewegen. Mit der Tröpfchenbewässerung sparen wir bis zu 20 Prozent Wasser. Unsere Landwirte sind vertraglich verpflichtet, Wasser nur aus le-galen Quellen zu beziehen, sowie legale Anbauflächen zu nutzen. Wir haben Lis-ten von Wirkstoffen, die eingesetzt wer-den dürfen. All das macht die Erdbeere nachhaltiger.

Rewe hat mit WWF und BASF eine Positivliste freigegeben. Die enthält 20 Pestizide, von denen Greenpeace einige als besonders gefährlich einstuft. Ihr Versprechen, nur Produkte auszuzeich-nen, „die Umwelt und Gesellschaft wäh-rend ihrer Herstellung, Verarbeitung oder Verwendung deutlich weniger be-lasten“, halten Sie nicht.Andreas Krämer: Die berühmte Blacklist. Darüber diskutieren wir schon lange mit Greenpeace. Es sind allerdings häufig Stof-fe, zu denen es aus unserer Sicht noch kei-ne Alternative für den konventionellen An-bau gibt.

Bei einem Test hat Greenpeace 2008 auf den Rewe-Erdbeeren beson-ders giftige Pestizide gefunden. Krämer: Die Anzahl der Wirkstoffe allein ist nicht aussagekräftig. Wenn ich drei an der Nachweisbarkeitsgrenze habe, ist das weniger schädlich, als einer an der Maxi-malgrenze. Wir müssen Anzahl und Höhe der Rückstände weiter verringern, darüber herrscht Konsens mit Greenpeace. Wo die

Seite 70Hartmann

Seite 71Hartmann

Mit einem Umsatz von rund 51 Milliarden Euro jährlich ist Rewe der zweitgrößte Lebensmittelhändler in Deutschland. Trotz seiner Nachhaltigkeitsstrategie erntet der Konzern immer wieder Kritik: So führte die Rewe-Tochter Penny 2010 als erster Discounter wieder Getränkedosen ein. Zur selben Zeit bewarben die Toom-Märkte, die ebenfalls zu Rewe gehören, Energiesparlampen der Klasse B als Klasse A. Gegen die irreführende Werbung ging die Deutsche Umwelthilfe (DUH) gerichtlich vor. Außerdem verkaufte Toom Energiesparlampen, die die EU-Grenze für Quecksilber überschreiten. REWE weigerte sich, den Verkauf von Energiesparlampen mit mehr als 5 mg Quecksilber zu stoppen. Kritik gibt es an den Elektroladestationen an den Märkten in Berlin: Kooperationspartner ist Vattenfall, mit einem Ausstoß von 890 Gramm CO2 pro Kilowattstunde laut Greenpeace „Deutschlands klimaschädlichster Stromanbieter“. Mit Henkel, Unilever, WWF und GIZ finanziert Rewe das neu gegründete „Forum für nachhaltiges Palmöl“. Die NGO Rettet den Regenwald hält die Initiative jedoch „für Zeitschinderei und einen erneuten Versuch, Palmöl reinzuwa-schen“. Über Siegel seien die Probleme des Palmölanbaus, der Regenwaldrodung, des Landgrabbings und der Vertreibungen nicht zu lösen. / www.rewe-group.com

================================================

================================================

IntervIew Kathrin Hartmann Fotos Selina Pfrüner

rewe

Ist es nicht zu einfach, es auf den Kunden zu schieben? Krämer: Klar kann man fragen: Kauft der Kunde, weil es da steht – oder steht es da, weil der Kunde es will? Unsere Aufgabe ist nicht, unsere Kunden zu bevormunden, sondern ein Angebot zu unterbreiten. Wenn wir sie nicht haben, kaufen die Leu-te die Erdbeeren woanders. Eine ganz nüchterne Wahrheit – und bei einer Han-delsspanne von im Moment etwa zwei Pro-zent müssen wir uns fragen: Können wir

es uns leisten, aus so einem wichtigen Markt herauszugehen?

Ihr Label tragen auch Paprika aus Südspanien. Dort arbeiten Flüchtlinge wie Sklaven ohne Schutzkleidung im Pestizidregen. Rewes Engagement be-schränkt sich auf Unterkünfte und Spen-den ans SOS-Kinderdorf im Senegal. Nö-tig wären Verträge mit den Arbeitern und ein existenzsichernder Lohn. Büchel: Da müsste man zuerst politisch etwas ändern. Die Menschen sind ja offi-ziell gar nicht da. Hilft es, sie einfach weg-zuschicken? Wir gehen in die Länder, um dafür zu sorgen, dass die Menschen eine Schulausbildung bekommen, damit sie ihr Land gar nicht erst verlassen müssen. Zu-dem verbessern wir die Lebensbedingun-gen der Arbeiter in Spanien.

Krämer: Unser Einfluss als Händler ist ge-ring. Wenn ich aus dem Land rausgehe, ist das eine Problemvermeidungsstrategie, die macht sich medial gut, wird die Situ-ation aber nicht notwendig verbessern. Wir unternehmen kleine Schritte. Mit der bloßen Forderung, dass das Lohngefüge quasi über Nacht stimmen muss – selbst wenn wir uns das wünschen – stünden wir am Ende mit leeren Händen da. Wir müs-sen Erzeuger suchen, die uns auf diesem Weg begleiten. Schließlich müssen wir un-

seren Kunden erklären, warum dann ein Produkt teurer wird.

Drastisch formuliert: Sie profitie-ren vom Lohndumping.Krämer: Wir verfolgen das Ziel, mit unse-ren Vertragspartnern verbindliche Stan-dards über die gesamte Lieferkette zu im-plementieren, das gilt auch für die Löhne. Dennoch ist der Wettbewerb in Deutsch-land preisorientiert. Als einzelnes Unter-nehmen kann man sich dem Marktmecha-nismus nicht entziehen. Wir brauchen eine branchenübergreifende Lösung, da-mit sich die Rahmenbedingungen für alle ändern. Eine deutsche Lösung ist da nicht drin, eine EU-Lösung wäre das Mindeste.

Sie könnten politische Forderun-gen stellen. Die Lobbyverbände haben gewaltige Macht innerhalb der EU.

Krämer: Nicht auf globalen Märkten. Als wir damals mit unseren Forderungen von Best Alliance ankamen, wurden wir von einigen Erzeugern ausgelacht. Die sagten: Entschuldigen Sie, Türkei, Russland – die kaufen das gern. Sie finden auch Politiker, die das alles in Ordnung finden.

Menschenrechtsverletzungen sind am zweithäufigsten in der Lebensmit-telproduktion dokumentiert. Laut der Initiative Supermarktmacht liegt das daran, dass Sie bei Lieferanten Rabatte, Werbekostenzuschüsse und Regalmie-ten verlangen. Diesen Druck geben Lie-feranten direkt an die Erzeuger weiter. Krämer: Der Versuch, komplexe Zusam-menhänge monokausal zu erklären, führt in die Irre. Hinter die These, dass alles gut wird, wenn die vermeintliche Supermarkt-macht gebrochen wird, setze ich ein gro-ßes Fragezeichen.

Die Initiative weist in der Studie „Endstation Ladentheke“ den Einfluss deutscher Handelsketten auf Bananen- und Ananas-Bauern in Costa Rica und Ecuador nach. Chiquita und Dole, die Rewe beliefern, wälzen den Druck aus dem Norden auf die Arbeiter ab. Die Folge sind unfaire Verträge, Gewerk-schaftsbehinderung, unbezahlte Über-stunden und Pestizidbelastung. Büchel: Da hat sich schon einiges getan. Unsere REWE-Bananen sind SA 8000 zer-tifiziert. Und in Panama verfolgen wir mit Chiquita und der Rainforest Alliance ein Projekt, um ökologischen und sozialen Auswirkungen entgegenzutreten. Von heu-te auf morgen geht das alles nicht. Der deutsche Lebensmittelhandel hat einen Marktanteil von zehn Prozent an expor-tierten Bananen, wird aber alleine für die Misere verantwortlich gemacht.

Die Rainforest Alliance zertifiziert seit Jahren Plantagen von Chiquita. Trotzdem werden giftigste Pestizide ein-gesetzt. Und die Bauern bekommen 20 Prozent weniger Geld als die, die am fai-ren Handel teilnehmen. Krämer: Egal bei welchem Zusammen-schluss – es gibt immer Kritik. Wir gehen ja nicht hin und sagen: Das haben wir jetzt fertig. Wir entwickeln immer weiter. Wenn es Missstände gibt, müssen die ab-gestellt werden. Diskutieren und aus den

Erkenntnissen den nächsten Schritt ein-leiten. Das ist mühsam.

In Deutschland ist der Markt ge-sättigt. Profite macht man nur noch mit Aufkäufen, Verdrängung, Preiskampf. Bei der Nachhaltigkeit ist mehr als ein Kompromiss nicht drin, oder? Büchel: Wenn Sie schauen, wo wir her-kommen und wo wir jetzt sind, bin ich überzeugt, dass Nachhaltigkeit in fünf bis sieben Jahren ein dominierendes Thema sein wird. Das ist für uns eine Zukunftsvi-sion. Nachhaltigkeit birgt unglaubliche Wachstums- und Umsatzpotenziale. Und der Verbraucher wird das honorieren.

Laut der Ernährungs- und Land-wirtschaftsorganisation der UN wird weltweit ein Drittel der Lebensmittel weggeworfen. Welche Strategie hat Rewe, um das zu vermeiden?Büchel: Wir müssen alle daran arbeiten, dass Lebensmittel nicht vernichtet wer-den. Wir erfassen die Abverkäufe eines je-den Produkts quasi in Echtzeit. Unser Ziel ist, nur so viel Ware zu ordern, wie wir an-hand dieser Prognosen verkaufen können. Aber der Kunde ist unberechenbar. Bei wöchentlich 50 Millionen Kunden führt das zwangsläufig zu einer breiten Ange-botspalette. Wenn ein Kunde Weißbrot kaufen will, reagiert er mit Unverständnis, wenn wir ihm das nicht anbieten können. Ein anderer mag lieber Graubrot. Also müssen wir beides haben.

Dieser riesige Verbrauch von Roh-stoffen sorgt für Umweltschäden und Hunger. Man müsste also vom Massen-konsum wegkommen. Erweckt Pro Pla-net nicht den Eindruck, wir könnten mit gutem Gewissen so weiter machen?Büchel: Die Produkte werden ja stetig ver-bessert. Ich glaube, dass man eine Sensi-bilisierung der Kunden in mehreren Schritten erreichen kann. Wir brauchen auch eine Diskussion über die Wertigkeit von Lebensmitteln. Und darüber, dass we-niger oft mehr ist. Dazu muss aber Ernäh-rungsbildung stattfinden. Auf der anderen Seite lassen sich über 50 Jahre gelernte Konsumgewohnheiten eben nicht über Nacht ändern. /

„Wir sind nicht fertig. Wir entwickeln immer weiter“: Daniela Büchel und Andreas Krämer von Rewe

Mehr dazu im neuen Heft 03/2011

========================

Page 13: Exklusiver Auszug aus Ausgabe 3/2011 Wir sind die … · Seite 3 Editorial Aufbruch aus Frust und Zorn erlebten Autor Merten Worth-mann und Fotograf Gunnar Knechtel bei ihrer Reise

¡Vamos España!

TexT Merten Worthmann FoTos Gunnar Knechtel

Mit ungekanntem Nachdruck protestierten die Spanier wochenlang gegen ihre Regierung. Die Krise ist groß – doch sie könnte

soziale Reformen und neue unternehmerische Modelle hervorbringenFo

To N

atha

lie P

aco/

Dem

otix

/cor

bis

Page 14: Exklusiver Auszug aus Ausgabe 3/2011 Wir sind die … · Seite 3 Editorial Aufbruch aus Frust und Zorn erlebten Autor Merten Worth-mann und Fotograf Gunnar Knechtel bei ihrer Reise

Wer bisher noch sein Jackett anhatte“, ruft Esther Xicota energisch ins allge-meine Gemurmel hinein, „sollte es jetzt vielleicht ablegen.“ Dann schickt sie sämtliche Anwesenden aus dem

Hörsaal hinaus auf den Flur. Dort werden zehn Besen-stiele auf rund 60 Leute aufgeteilt, das macht zehn Grup-pen. „Ein kurzes Spiel“, sagt Xicota, eine langhaarige Blonde von Ende 20: „Der Besenstiel ist euer Unterneh-men.“ Die Besenstiele werden von den ausgestreckten Zeigefingern aller Gruppenmitglieder etwa auf Brusthö-he in der Waagerechten gehalten. Spontan wirkt die Un-ternehmensführung wie eine wackelige Angelegenheit.

„Jetzt bitte die Besenstiele langsam auf den Boden legen“, sagt Xicota, „wer zuerst ankommt, gewinnt“. Aber das ist leicht gesagt. Fast überall steigen die Besen-stiele unversehens in die Höhe oder geraten in gefährli-che Schieflagen. Besorgte Zwischenrufe, hier und da ein spitzes Lachen, grummelnde Verwirrung – und schließ-lich klappt es doch. 20 Management-Studenten, 20 So-zialunternehmer und 20 Führungskräfte aus Spaniens Wirtschaft haben sich erfolgreich zusammengerauft.

Nun streben die Teilnehmer des Momentum Projects zurück in den Hörsaal. Im Juni 2011 gestartet, ist es das bisher ambitionierteste spanische Programm, um en-gagierten Sozialunternehmern einen entscheidenden Kick für das Manövrieren am Markt mitzugeben. Bar-celonas renommierte Wirtschaftshochschule ESADE hat es gemeinsam mit der zweitgrößten Bank des Landes, der BBVA, konzipiert. Über ein Jahr helfen „Mentoren“ aus der Wirtschaft und die MBA-Studenten der Uni ins-gesamt zehn Unternehmen, ihr Geschäftsmodell auf eine neue Stufe zu heben – unter anderem mithilfe eines

Das Volk protestiert gegen die Herrschenden: Ein Demonstrant erklimmt die Reiterstatue von König Karl III. auf dem Platz Puerta del Sol in Madrid

Seite 73Länderreport

Page 15: Exklusiver Auszug aus Ausgabe 3/2011 Wir sind die … · Seite 3 Editorial Aufbruch aus Frust und Zorn erlebten Autor Merten Worth-mann und Fotograf Gunnar Knechtel bei ihrer Reise

Barcelona

Mondragon

Madrid

SPANIEN

Seite 74Länderreport

Businessplans, eines Social Investment Days – zu dem die Bank geeignete Geld-geber einlädt – und kostenloser Consul-ting-Stunden bei PricewaterhouseCoopers.

„Wir wollen durch Momentum eine Art Ökosystem des Social Business in Spanien schaffen,“ sagt Alfred Vernis, Direktor für Studienprogramme an der ESADE, „ein Netzwerk von Kontakten und Kooperati-onspartnern, das dazu beiträgt, das Thema in der Öffentlichkeit endlich gebührend zu verankern – damit sich die Beteiligten selbst nicht länger wie ein paar Versprengte und Verrückte vorkommen.“ Der Moment ist günstig, glaubt Vernis, der aktuellen Krise zum Trotz. „Viele Initiativen und Organisationen des Dritten Sektors müs-sen gerade jetzt nach Finanzierungswegen jenseits von Spendengeldern und staatli-cher Hilfe suchen. Die Krise sorgt da für einen kreativen Schub.“

Im politischen Leben hat es diesen kre-ativen Schub bereits gegeben, jedenfalls auf der Straße. Die dezentrale Protestbe-wegung 15-M schaffte es Mitte Mai paral-lel zu den spanischen Kommunalwahlen, dutzende Plätze in den wichtigsten Städ-ten des Landes zu besetzen. Das begleitende Manifest forderte „Echte Demokratie jetzt!“ und mobilisierte Zehntausende, die wochenlang in improvisierten Volksver-

Hauptstadt: MadridFläche: 505 990 km2

Bevölkerung: 47 Millionen EinwohnerAmtssprache: SpanischStaatsform: Parlamentarische MonarchieStaatsoberhaupt: König Juan Carlos I.Premierminister: José Luis Rodríguez Zapatero

BIP: 1062 Milliarden € (2010)BIP pro Kopf: 23 100 € (2010)Reales Wachstum: -0,1 % (2010)Arbeitslosenquote: 20,33 % (2010)

Geschichte 1939 gelangte Diktator Francisco Franco durch einen Militärputsch an die Macht, er regierte bis zu seinem Tod 1975. Drei Jahre später führte Spanien die Demokratie ein.

Wirtschaft Von der Krise waren vor allem der Automobilsektor und der Wohnungsbau (-70 Pro-zent in einigen Regionen) besonders betroffen und die Zahl der Arbeitslosen stieg rasant an. Seitdem moderater wirtschaftlicher Aufschwung.

Umwelt Die zunehmende Verwüstung bedroht die Landwirtschaft und den Tourismus. Sie wird durch den Anbau von wasserintensiven Produk-ten, den Verbrauch für den Tourismus, den Kli-mawandel und illegale Brunnen vorangetrieben.

Proteste Im September 2010 organisierten die Gewerkschaften einen Generalstreik als Protest gegen die Sparmaßnahmen der Regierung. Über 40 Prozent der jungen Spanier sind arbeitslos. Seit Mai halten ihre Proteste gegen die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Missstände an.

LäNDERPROFIL

SPANIeN

sammlungen auf den belagerten Plätzen über die besten Wege zu einer wahrhaft solidarischen Zivilgesellschaft debattier-ten. Dass sie diese vermissten, war kein Wunder: Das entfesselte Profitstreben ei-ner breiten Klasse von Spekulanten wäh-rend der Jahre des Immobilienbooms; eine Arbeitslosenquote um die 20 Prozent; das ewig gleiche volksferne Zwei-Parteien- Gezänk im Parlament; zahlreiche Korrup-tionsskandale von Politikern ohne merk-liches Schuldbewusstsein; dazu eine sozialistische Regierung, die zu wenig mehr in der Lage schien als zu Notopera-tionen, um irgendwie dem Druck der Ka-pitalmärkte standzuhalten – all das gab der Protestbewegung Rückenwind. Rund 80 Prozent der Bevölkerung waren der Mei-nung, die Proteste seien gerechtfertigt.

Sozialunternehmer lösen keine politi-sche Vertrauenskrise. Mitunter bieten sie aber für jene Missstände, an denen die Po-litik notorisch scheitert, originelle Lösun-gen an. Der katalanische Ingenieur Raúl Robert, ein bäriger Typ, kämpft für ein sol-ches Alternativmodell. Mit der Initiative Sostre Civic (Ziviles Dach) versucht der 37-Jährige, die ungesunde Fixierung aufs Wohneigentum zu lockern.

Im ersten Stock eines langsam in die Jah-re kommenden Geschäftsgebäudes in Bar-celonas Innenstadt teilt er sich mit seinem Partner Diego Carillo und vier Teilzeitmit-arbeitern ein paar Büroräume. „Das spa-nische Modell ist unhaltbar geworden“, sagt er. „Familien stecken 40 bis 60 Pro-zent ihrer Einkünfte in die Hypothek. 30 Prozent aller Leute bis 35 Jahre leben noch bei den Eltern. In diesem Jahr wird es wahrscheinlich 150 000 Zwangsräumun-gen geben. Gleichzeitig stehen rund 700 000 Wohnungen leer, viele davon ehe-malige Spekulationsobjekte.“

Sostre Civic will das Baugenossen-schafts-Modell nach Spanien tragen. Mit-glieder erhielten lebenslanges Nutzungs-recht für eine Wohnung und kämen für relativ wenig Geld in den Genuss einer sicheren Bleibe. Roberts Initiative erstritt 2005 die änderung des katalanischen Wohnungsbaugesetzes; so wurde es erst-mals möglich, genossenschaftliche Vorha- Q

uel

len

Aus

wär

tiges

Am

t, Eu

rost

at, e

cono

mic

-gro

wth

.eu,

eur

opa.

eu, s

pain

.info

Page 16: Exklusiver Auszug aus Ausgabe 3/2011 Wir sind die … · Seite 3 Editorial Aufbruch aus Frust und Zorn erlebten Autor Merten Worth-mann und Fotograf Gunnar Knechtel bei ihrer Reise

Seite 75Länderreport

ben kommunal zu fördern. Weil sich Neu-bauten momentan schwer finanzieren lassen, entwickeln Robert und Carillo nun innerhalb des Momentum Project zwei neue „Geschäfts“-Modelle. Eines davon sieht vor, unverkäufliche Boomzeit-Woh-nungen aus Bankenbesitz für genossen-schaftliche Zwecke „zwischenzunutzen“ – über einen Zeitraum von 10 bis 20 Jah-ren, zu sozial verträglichen Konditionen. „Die Rendite, die wir den Banken bieten können, wird gering sein“, sagt Robert, „ganz bestimmt keine spekulative Anlage“. Dann lächelt er. „Vielleicht sollten wir ein-mal mit deutschen Banken sprechen. Die wissen wenigstens, was Wohnungsbauge-nossenschaften sind.“

Für Raúl Robert war es von vornherein selbstverständlich, dass die soziale Saat von Sostre Civic nur mit wirtschaftlichem Kalkül und unternehmerischem Weitblick aufgehen würde. Anna Cohí lernte dies erst im Laufe der Zeit. Die 51-Jährige ist Direktorin von DAU, einer Firma, die Pro-dukte der Pharma- und Kosmetikindustrie halb maschinell verpackt. In der Freihan-delszone von Barcelonas Hafen hat der Be-trieb vor wenigen Monaten einen tiefblau-en Flachbau bezogen. Dort gibt es nun viermal so viel Platz wie zuvor. Das Perso-nal trägt weiße Kittel, die Fußböden sind von klinischem hellgrün. Mehr als 70 Pro-zent der Angestellten sind oder waren we-gen schwerer psychischer Störungen in Behandlung, hauptsächlich wegen Schi-zophrenie. „DAU hat vor 20 Jahren als ein-zigartige Familieninitiative angefangen“, erzählt Cohí in ihrem schmucklosen Büro im ersten Stock. Cohí begleitete das Pro-jekt als Psychologin. „Der psychologische und soziale Erfolg war beeindruckend. Aber wirtschaftlich war das Projekt ein Desaster, trotz staatlicher Beihilfen. Wir dachten zuerst, der Charakter unserer In-itiative brächte das mit sich. Bis wir den Selbstbetrug aufgaben: Die schlechte Bi-lanz hatte nichts mit unseren ‚Schützlin-gen‘ zu tun, sondern mit unserem Mangel an unternehmerischem Know-how.“

Vor zehn Jahren holte DAU ein paar Leu-te aus der Wirtschaft, das Leitungsteam lernte Geschäftsführung, es wurden Markt-

Zwangsräumungen und Leerstände: Raúl Robert will mit

seiner Initiative Sostre Civic (Ziviles Dach) das Modell der Wohnungsbaugenossenschaft

nach Spanien bringen

Seite 77Länderreport

Seite 76Länderreport

studien angefertigt und Planziele abge-steckt. Seit 2003 schreibt die Firma schwarze Zahlen. Heute beschäftigt sie 54 Mitarbeiter (38 davon psychisch gestört) und bereitet in separaten Werkstätten jähr-lich 50 „Patienten“ auf den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt vor. Fast nebenbei sagt Cohí den Satz: „Wir wollen künftig stär-ker automatisieren und mit weniger Leu-ten auskommen.“

Für eine Firma mit sozialer Mission klingt das leicht alarmierend. Doch für Cohí gehört der Schritt unmittelbar zur Wachstumsstrategie. DAU hat gerade rund fünf Millionen Euro in den Umzug und die Modernisierung des Betriebes inves-tiert. Bald werden nicht mehr nur Tuben und Dosen in Schachteln gesteckt, son-dern es wird direkt mit der Rohware gear-beitet: mit Cremes und Tabletten. „Das verbessert deutlich unsere Position am Markt. Wir treten breiter auf und können dadurch mehr Arbeitsplätze schaffen.“

Parallel geht ein Programm in die Test-phase, das den psychisch Geschädigten Aufstiegschancen innerhalb der Firma er-öffnen soll. „Früher fühlte ich mich in der Wirtschaft immer wie ein Zaungast unter Profis“, sagt Cohí. „Doch letztlich geht es uns am Markt wie unseren Mitarbeitern an den Maschinen: Entscheidend ist das Selbstvertrauen.“

In Spaniens Arbeitsministerium, einem festungsähnlichen Klinkerbau aus den 70er-Jahren hinter Madrids zentralem Park Retiro, kümmert man sich von staatlicher Seite um den zweiten wichtigen Bereich des sozial bewussten Wirtschaftens, der Corporate Social Responsibility. Im ver-gangenen März wurde dort das Gesetz zur Nachhaltigen Wirtschaft verabschiedet, das zahlreiche Grundideen von CSR auf-griff. Generaldirektor Juan José Barrera, einer der Architekten des Gesetzes, hat außerdem den Staatlichen Rat für CSR ins Leben gerufen, in dem alle wesentlichen Interessenverbände von Industrie bis Ge-

Aktuell sind Spaniens Großunterneh-men darum bemüht, ihre CSR-Anstren-gungen als selbstverständlichen Teil einer zeitgemäßen Firmenpolitik zu kommuni-zieren. Meist werden die entsprechenden Programme, Verpflichtungen und Maß-nahmenkataloge in umfangreichen Jahres-bilanzen vorgelegt. Handhabbare Ver-gleichsstudien oder Rankings existieren bisher nicht. Es gibt immerhin das „Ob-servatorio RSC“, die CSR-Warte also. Die Initiative, von verschiedenen NGOs und Gewerkschaften gestützt, hat zuletzt einen knapp 700-seitigen Bericht über die Be-mühungen der 35 wichtigsten börsenno-tierten Unternehmen im Jahr 2009 vorge-legt. Eine beeindruckende Fleißarbeit

– und ein starkes Kontrastmittel zu den ausführlichen Verlautbarungen der Fir-men selbst. Ganz allgemein beklagt das Observatorio eine Informationspolitik, die sich in ungenauen Formeln verliert, kon-krete Verpflichtungen scheut und wesent-liche Aspekte komplett ausblendet. Die ausgedehnte Geschäftstätigkeit vieler Un-ternehmen in Steuerparadiesen etwa wi-derspreche grundsätzlich einer sozial ver-antwortlichen Firmenführung.

„Die Einwände des Observatorio sind gerechtfertigt“, sagt Joaquin Garralda, CSR-Experte an der Business School IE in Madrid und Sekretär der spanischen Sek-tion des UN-Programms Global Compact. „Aber wer den Bemühungen um CSR mit extrem strengen Kriterien begegnet, tut der Sache keinen Gefallen, im Gegenteil: Er entmutigt all jene, die innerhalb des Unternehmens wahrhaftig für eine fort-schrittliche Firmenkultur eintreten.“ Gar-ralda hofft auf die Etablierung klarer Kri-terien im CSR-Rat des Arbeitsministeriums, dem auch er angehört. Außerdem tritt er dafür ein, sozial orientierte Investment-Fonds in Spanien steuerlich zu begünsti-gen. Dann machten sich nachprüfbare CSR-Maßnahmen unmittelbarer bezahlt, glaubt Garralda.

Javier Marcos, Unternehmenssprecher der Mondragon Corporation, hat bereits mit dem „Label“ CSR Probleme. Der Hauptsitz seiner Firma, die mit mehr als 80 000 Beschäftigten und einem Umsatz von knapp 15 Milliarden Euro im Jahr 2010 unter Spaniens Top Ten rangiert, befindet sich auf einem grünen Hügel über der bas-kischen Kleinstadt Mondragon. „Für uns klingt der Begriff CSR merkwürdig neu-modisch“, sagt Marcos. „Bei uns ist die soziale Verantwortung der Kern des Un-ternehmens selbst.“

In der Tat kann Mondragon, 1956 ge-gründet, als Sonderfall gelten. Das Unter-nehmen ist Europas größte Genossenschaft und ein Beispiel für die ökonomische Leis-tungsfähigkeit eines partnerschaftlicheren Geschäftsmodells. Jedes Vollmitglied hat eine Stimme in der Generalversammlung. Kein Direktor darf mehr als das sechsfa-che, in Ausnahmefällen achtfache, eines

gewöhnlichen Arbeiters verdienen. In Kri-senzeiten wechseln Beschäftigte aus defi-zitären Firmenzweigen in profitablere, statt entlassen zu werden. Auch über Ge-haltskürzungen, in den vergangenen Jah-ren teilweise bis zu acht Prozent, wird kol-lektiv entschieden. Und der Gewinn wird vor allem – ein Teil des Gründungsgedan-kens – zur Schaffung neuer Arbeitsplätze genutzt. Auch die aktuelle Krise, so ist Marcos überzeugt, könne dem erfolgrei-chen Konzept nichts anhaben. „Die Fähig-keit, eine schwierige Zeit gemeinsam zu überstehen, ist bei uns viel größer als an-derswo. Und wir spüren ein frisches Inte-resse an unserem Modell. Mich wundert das nicht. Man sucht Alternativen zum entfesselten Kapitalismus der letzten Zeit.“

Dies spürt man auch an den Hochschu-len und fördert den Trend. „Immer mehr Absolventen unseres Masters entwerfen, wenn wir einen Businessplan von ihnen fordern, ein Projekt mit sozialem Charak-ter“, sagt Joaquin Garralda. Kurse über So-cial Business und Social Entrepreneurship gibt es mittlerweile an vielen Universitä-ten, vor allem in Madrid und Barcelona. An der ESADE ist bereits seit 2006 ein „Ins-titut für soziale Innovation“ angesiedelt.

Inzwischen gibt es einige Dutzend, wo-möglich noch weitaus mehr, Sozialunter-nehmer in Spanien. Ein echtes Netzwerk allerdings fehlt bisher. Noch im vergange-nen Herbst schrieb „El País“, die wichtigs-te Tageszeitung des Landes, in einem ers-ten Artikel zum Thema, Sozialunternehmer würden in Spanien „nur sehr schüchtern damit anfangen, in Erscheinung zu treten“. Vielleicht gibt es der verstreuten Szene Aufwind, dass im Oktober Bill Drayton, Gründer von Ashoka und weltweite Leit-figur des Social Entrepreneurship, mit dem bedeutenden Prinz-von-Asturien-Preis des spanischen Königshauses ausgezeichnet wird. Die Preisvergabe könnte das Kon-zept bekannter machen.

Momentan ist womöglich der Hub Ma-drid das schönste Beispiel für ein kleines Social-Business-Biotop. In der Madrider Altstadt nahe des Prado haben acht Freun-de aus fast ebenso vielen Ländern eine ehe-malige Werkstatthalle zu einem cool ge-

werkschaften vertreten sind. „Zuerst ha-ben viele Unternehmen die möglichen Kosten der CSR gefürchtet“, sagt Barrera, „doch mittlerweile ist der Wandel spürbar. Die großen Firmen akzeptieren CSR als notwendigen Teil der Unternehmensfüh-rung, und kleinere Betriebe bemühen sich nachzuziehen, um auch weiterhin als Zulieferer in Frage zu kommen.“

Barreras Ressort arbeitet an einem Kri-terienkatalog, der in absehbarer Zeit eine Art staatliches Label für sozial verantwort-liche Firmen ermöglichen soll. „Wir wer-den niemanden zwingen, das Label zu be-antragen“, sagt Barrera. „Aber natürlich könnte es später bei der Vergabe öffentli-cher Aufträge eine Rolle spielen.“

„Entscheidend ist das Selbstvertrauen“: DAU integriert psychisch Geschädigte wieder in

das Berufsleben

Joaquin Garralda, CSR-Experte an der Business School IE in Madrid

und Sekretär der spanischen Sektion des UN-Programms Global Compact

„Immer mehr Absolventen entwerfen im Business-

plan ein Projekt mit sozialem Charakter“

Mehr dazu im neuen Heft 03/2011

========================

Page 17: Exklusiver Auszug aus Ausgabe 3/2011 Wir sind die … · Seite 3 Editorial Aufbruch aus Frust und Zorn erlebten Autor Merten Worth-mann und Fotograf Gunnar Knechtel bei ihrer Reise

15% Ihres Abo-Betrages

investieren wir in soziales Unternehmertum

Abonnieren Sie enorm und fördern Sie vielversprechende Ideen!

Lesen Sie 4x pro Jahr für nur 30 € (Studenten 20 €)spannende Geschichten über gute Geschäfte undsoziales Unternehmertum. Mit einem Abonnementvon enorm werden Sie zudem direkter Unterstützer junger Sozialunternehmen, denen wir 15% desAbobetrages* zukommen lassen.

*Gilt nur für nicht rabattierte Abonnements

enor

men

orm

ww

w.e

norm

-mag

azin

.de

03

4191828

907506

€ 7,50

Nr. 3Sept. Nov. 2010

======================

Die Business- Wohltäter

Sie wollen mehr sein als nur Geldgeber: Wie die neuen Philanthropen soziale

Projekte fördern und fordern.Plus: Peter Sloterdijk über Spenden-Ethik

Millionengeschäft HungerZwei Konzerne streiten um das Patent für

eine Paste, die Kinderleben rettet

Raus hier! Eine Agentur in London hilft

frustrierten Bankern, ein neues Leben zu beginnen

ww

w.e

norm

-mag

azin

.de

enor

men

orm

Wir

tsch

aft f

ür d

en M

ensc

hen

Nu

mm

er 1

A

pril

M

ai 2

011

CSR

– d

as n

eue

Wir

tsch

afts

wun

der?

Welcher Antrieb macht das Rennen?

SpeCial Mobilität

Entegas Weg zum Ökostrom

atoM-auSStieg

Die Rückkehr vonTante Emma

KoMMune

Nr. 1April Mai 2011

======================

4191828

907506

€ 7,50

01

CSR – das neue

Wirtschafts- wunder?

ww

w.e

norm

-mag

azin

.de

enor

m

Alles über Fair Fashion: Labels, Siegel, Shops

SpeCial MoDe

In fünf Schritten zumSozialunternehmer

SoCial entrepreneurShip

IKEA: Wie sauber ist Billy?

unternehMen

Nr. 2Juni August 2011

======================

4191828

907506

02

Deu

tsch

land

€ 7,

50 /

BeN

eLux

€ 8

,20

Schw

eiz

sfr

14,8

0 /

Öst

erre

ich

€ 8

,50

Meins ist Deins 3.0

Leihen, tauschen, teilen:Wie mobile Technik

und soziale Netzwerke Konsum und Wirtschaft

verändern

Allahs BankerKeine Zinsen und ethische Geldanlagen

gemäß Koran: Besuch bei der ersten muslimischen Bank in Deutschland

Peter der GroßeNirgends ist das soziale Unternehmertum so stark wie in Großbritannien. Vater des Erfolges ist Peter Holbrook. Ein Porträt

=============================

ww

w.e

norm

-mag

azin

.de

enor

men

orm

Wir

tsch

aft f

ür d

en M

ensc

hen

Im S

og d

er S

tadt

Nu

mm

er 4

N

ov. 2

010

Fe

b. 2

011

Nr. 4Nov. 2010 Feb. 2011

======================

Im Sog der StadtMillionen drängen jedes Jahr in

die Städte. Armut und Müllberge wachsen, Mitsprache Fehlanzeige.

enorm zeigt Wege aus der Krise

04

4191828

907506

€ 7,50

Ihre Vorteile

Sie werden zum Social Business Angel

Sie verpassen keine Ausgabe

Sie erhalten enorm kostenfrei nach Hause

So einfach geht’s

Rufen Sie uns persönlich an +49 (0)40 41 448 472

==========

Besuchen Sie uns im Internet www.enorm-magazin.de/abo

==========

Schreiben Sie uns eine E-Mail [email protected]

www.enorm-magazin.de/abo

Page 18: Exklusiver Auszug aus Ausgabe 3/2011 Wir sind die … · Seite 3 Editorial Aufbruch aus Frust und Zorn erlebten Autor Merten Worth-mann und Fotograf Gunnar Knechtel bei ihrer Reise

Seite 91Special

Seite 90Special

Frau Miltner, Sie leiten seit Juni die Abteilung Group Sustainability der Deutschen Bank. Was muss man sich da-runter vorstellen? Ich gehöre mit meinem Team zum Bereich Kommunikation & Gesellschaftliche Verantwor-tung. Gesellschaftliche Verant-wortung steht bei uns auf zwei Säulen: Nachhaltigkeit (Susta-inability) sowie Corporate Ci-tizenship. Es ist unsere erste Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, Gewinne zu er-wirtschaften, zu wachsen, Ar-beitsplätze zu schaffen und Steuern zu bezahlen. Bei Sus-tainability geht es dann im nächsten Schritt um die Frage, wie wir Gewinne erzielen.

Ihre Abteilung gehört zur Unternehmenskommuni-kation. Das nährt den Ver-dacht, dass Sustainability für die Deutsche Bank eine Fra-ge des Marketings ist. Meine Abteilung gehört wie ge-sagt nicht in den Bereich Mar-keting, sondern zum Bereich Kommunikation und Gesellschaftliche Verantwortung. Nachhaltigkeit ist für uns eine Frage des Eigeninteresses und der ge-sellschaftlichen Verantwortung zugleich. Der Vorteil einer Stabsabteilung wie Kom-munikation und Gesellschaftliche Verant-wortung ist, dass wir über alle Bereiche hin- weg die Fäden zusammenführen können.

Wie weit reicht Ihr Einfluss? Müs-sen die Geschäftsbereiche Transaktio-nen von Ihnen absegnen lassen? Grundsätzlich stehen die Geschäftsberei-che selbst in der Verantwortung, auf nach-

Moment! Herstellung, Verbrei-tung und Handel von Streu-bomben werden von uns nicht finanziert. Darüber hinaus prü-fen wir derzeit auch, ob wir weiter Engagements bei Misch-konzernen eingehen sollen, die neben vielen anderen Produk-ten auch Streubomben herstel-len, obwohl dies nicht Gegen-stand unserer Zusammenarbeit ist. Wir prüfen sehr intensiv, was wir moralisch für vertret-bar halten oder was gesell-schaftlich akzeptabel ist. Dar-über aber – das müssen wir auch sehen – gehen die Mei-nungen in verschiedenen Län-dern auseinander.

Nach Ermittlungen der Nicht-Regierungs-Organisa-tionen Urgewald und Facing Finance beläuft sich die Höhe Ihrer Finanzdienstleistungen für Streumunitionshersteller wie die spanische Firma Ins-talanza auf rund 750 Millio-nen Euro. Erst im Frühjahr hat sich die Deutsche Bank demzufolge an einer Kredit-

zusage für den US-Hersteller Textron über eine Milliarde US-Dollar beteiligt. Diese Vorwürfe und die zahlreichen Me-dienberichte darüber stimmen alle nicht?Wie gesagt, wir überprüfen im Moment unsere Beziehungen zu Mischkonzernen, denen die Produktion von Streumunition vorgeworfen wird. Zu einzelnen Firmen und unserer jeweiligen Geschäftsbezie-hung kann ich nichts sagen.

Bei den Kunden ist das Bedürfnis nach Transparenz gewachsen. Sie aber

haltiges Wirtschaften zu achten. Dazu leis-ten wir Hilfestellung und bei bestimmten Transaktionen geben wir auch konkrete Empfehlungen ab.

Greift dieser Prozess wirklich? Die Deutsche Bank finanzierte oder finanziert Hersteller von geächteten Streubomben und -munition sowie Atomfirmen und ging fragwürdige Swap-Geschäfte mit Kommunen ein. Der Frankfurter Professor Martin Faust sagte kürzlich: Banken fehlt ein ethi-scher Filter.

„Wir sind keine Moralprediger“Die Deutsche Bank will eine führende Rolle im nachhaltigen Finanzgeschäft spielen. Sabine Miltner, Group Sustainability Officer, erklärt, wie sie das Ziel erreichen will –

ohne die großen Energieversorger und AKW-Betreiber als Kunden zu verlieren

sagen: Über Kundenbeziehungen spre-chen wir nicht.Das dürfen wir schon rein rechtlich nicht. Und es wäre auch nicht im Sinne unserer Kunden. Die wären zu Recht empört.

Ein anderes Thema ist die Atom-kraft. Laut Urgewald unterstützte die Deutsche Bank 28 Atomfirmen zwi-schen den Jahren 2000 und 2009 mit rund 7,8 Milliarden Euro. Sie zählen da-mit zu den weltweit „führenden“ Ban-ken. Im August 2010 hat Josef Acker-mann zudem den „Energiepolitischen Appell“ unterschrieben, mit dem deut-sche Manager für längere AKW-Lauf-zeiten warben. Werden Sie nach Fuku-shima weiter in Atomkraft investieren?Zu den sogenannten „Atomfirmen“ zäh-len unter anderem die großen deutschen

Energieversorger, zu deren Energiemix auch Kernkraft gehört. Diese gilt in den meisten Ländern, auch innerhalb Europas, grundsätzlich als akzeptabel. Wir sind eine globale Bank, wir können uns nicht allein daran orientieren, was in Deutschland Mehrheitsmeinung ist. Wir stehen zu un-seren Kunden im Bereich der Energiever-sorger, die im Rahmen geltender Normen und Standards tätig sind.

Die Deutsche Bank hat auch Tep-co finanziert, den japanischen Betrei-ber der Kraftwerke in Fukushima. Tep-co hat über Jahre Sicherheitsprotokolle gefälscht. Werden Sie ihre Geschäfts-partner zukünftig stärker kontrollieren? Tatsächliche oder angebliche Kundenbe-ziehungen kommentieren wir grundsätz-lich nicht.

Trotzdem: Werden Sie stärker da-rauf drängen, dass bei ihren Kunden al-les korrekt abläuft? Auch, um Ihre eige-ne Reputation zu schützen? Wir sind keine Aufsichtsbehörde. Aber wir sehen uns unsere Kunden schon an. Mein Team hat die Aufgabe, Umwelt- und Sozi-alrisiken zu minimieren.

Ihr Vorstandschef hat wörtlich ge-sagt: Es ist besser, ein Geschäft nicht zu machen, wenn daraus mittel- und lang-fristig Reputationsrisiken erwachsen. Kann man noch Geschäfte machen, wenn man nicht weiß, welchen Repu-tationsschaden es später gibt? Herr Dr. Ackermann hat gesagt: „Kein Ge-schäft ist es wert, den guten Ruf und die Glaubwürdigkeit der Bank aufs Spiel zu setzen.“ Wirtschaften ist immer ein Ab-wägen von Risiken. Unser Ziel ist es, mög-liche negative Auswirkungen unserer Ge-schäftsaktivitäten auf die Umwelt und die Gesellschaft und damit auch Reputations-risiken zu vermeiden oder so gering wie möglich zu halten.

Ein solcher Unfall ist in den USA passiert. Der Vorwurf lautet, dass die Deutsche Bank Häuser, die ihr während der Krise zugefallen sind, verkommen lässt und die Bewohner aus den Häu-sern wirft, wenn sie die Miete nicht zah-len können. Dabei heißt es in Ihrem Ko-dex: Wir eröffnen Menschen die Chance, Arbeitslosigkeit und Armut zu überwinden und ihre Zukunft selbst zu gestalten. Wie passt das zusammen?Reputationsrisiken können auch dann ent-stehen, wenn falsche Beschuldigungen ge-gen ein Unternehmen erhoben werden. In so einem Fall muss man sich mit allen rechtlichen Mitteln wehren. Das tun wir. Denn anders als vielfach behauptet haben wir als Treuhänder keine rechtliche Mög-lichkeit, über Zwangsversteigerungen zu entscheiden oder über leerstehende Häu-ser zu verfügen.

Sie sagen, dass die Vorwürfe falsch sind und Sie sich mit allen rechtlichen Mitteln wehren. Trotzdem hat Josef Ackermann den Aktivisten der NGO Common Ground auf der letzten Haupt-versammlung 2,5 Millionen Dollar zu-gesagt, nachdem er mit den Problemen konfrontiert wurde.Dr. Ackermann hat einen bestimmten Be-trag für Projekte in US-Regionen zugesagt, die besonders von Hausversteigerungen betroffenen sind. Dabei handelt es sich aber um eine Spende im Rahmen unserer Corporate-Citizenship-Aktivitäten. Einen Zusammenhang mit den rechtlichen Aus-einandersetzungen gibt es also nicht.

Die promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin Sabine Miltner war u. a. beim Internationen Währungsfonds tätig, ehe sie zur Deutschen Bank wechselte. Dort ist sie auch Deputy Chairman des Environmental Steering Committee (ESC)

„Wir sind keine Aufsichts-behörde. Aber wir sehen uns unsere Kunden schon an“

UnternehmensbewertUng

Wie nachhaltig ist die Deutsche Bank?

Note Sozial-Rating: C Note Umwelt-Rating: C

gesamtnote: c

durch

ABD C +– +– +–+–

Prime*

STäRKEN+ konzernweites Nachhaltigkeitsmanagement-system implementiert+ umfassendes Leitbild und Management für das gesellschaftliche Engagement + UN Global Compact unterzeichnet + umfassende Richtlinien und Management-strukturen hinsichtlich Aus- und Weiterbildung

SCHWäCHEN– geringe Transparenz bezüglich Maßnahmen zur Integration von Nachhaltigkeitsaspekten in die Kreditvergabe – größere Entlassungen in den letzten Jahren ohne angemessene Sozialpläne zur Abfederung der Auswirkungen auf betroffene Mitarbeiter

AUSSCHLUSSKRITERIEN**– Glücksspiel: Die Deutsche Bank besitzt das Cosmopolitan Casino in Las Vegas – Kontroverse Wirtschaftspraktiken: In den USA wird einer Tochtergesellschaft vorgeworfen, sich jahrelang mit falschen Angaben Zugang zu einem Regierungsprogramm erschlichen zu haben, das Immobiliengeschäfte absicherte

SCHLÜSSELTHEMEN DER BRANCHEZu den drängendsten Themen der Finanzbranche zählen die Kunden- und Produktverantwortung (z. B. freier Zugang zu Finanzdienstleistungen, Umgang mit der Überschuldung von Kunden, Kreditprogramme mit einem hohen gesellschaftli-chen Nutzen), die Berücksichtigung von ökologi-schen und sozialen Aspekten in der Kreditvergabe sowie die Integration von Nachhaltigkeitsaspek-ten in das Kapitalanlagengeschäft.

* Prime: Die Deutsche Bank erfüllt die branchenspezifischen Mindestanforderungen und zählt zu den führenden Unternehmen der Branche ** Kriterien bzgl. ethisch kontroverser Geschäftsfelder/Praktiken. Ein Verstoß kann dazu führen, dass Anleger nicht investieren

AUFTAKT

KinderleichtVom Theaterprojekt ins Berufsleben: Das Consol Theater in Gelsenkirchen verknüpft Kunst mit sozialem Auftrag

SociAl EnTrEprEnEUrShip

Unsere kleine FarmDas wegweisende Modell der Food-Kooperative versorgt Hamburger Stadtbewohner mit frischen Lebensmitteln.

Eine Reportage

Der Dschungel-BloggerEin Lehrer in Sri Lanka schließt Dörfer

ans Internet an – und erhöht so die Chancen der Einwohner, Arbeit zu finden

cSr

Ein Mann, ein WerkDer Philosoph Frithjof Bergmann predigt eine neue

Form des Arbeitens. Wirtschaftsbosse aus aller Welt erhören ihn

FinAnZEn

Special: GeldanlageNur wenige Privatanleger investieren bisher nachhaltig. Plus: Interview mit Sabine Miltner, Group Sustainability

Officer der Deutschen Bank

Weitere Highlights der Ausgabe 3/2011

enor

mw

ww

.eno

rm-m

agaz

in.d

e

Deu

tsch

land

€ 7,

50 /

BeN

eLux

€ 8

,20

Schw

eiz

sfr

14,8

0 /

Öst

erre

ich

€ 8

,50

41

91

82

89

07

50

6

03

Nr. 3September Oktober 2011======================

Wir sind die Wirtschaft!Wie neue Mutbürger sich

zusammenschließen, ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen – und so

eine Wirtschaft von unten formen

10 Seiten Special: Gewinn mit gutem Gewissen

Nachhaltige geldaNlageN

Rewe und die Nachhaltigkeit: Das Ziel ist im Weg

UNterNehmeN

Vier Weltkonzerne scheitern in Bangladesch

Social BUSiNeSS

Bestellformular

Seite 11Kinderleicht

Foto Dominik Asbach

Wenn man ein aufmerksamer Beobachter seines Innersten ist und ein kreativer Geist, führt der Weg aus der weiten, bisweilen dunklen Welt der Gefühle manchmal ins Licht. Michael Gees saß auf seinem Klavierstuhl und spürte Einsamkeit, trotz Publi-kum und Prominenz. Das kann es nicht sein, hämmerte es im Hirn, dieses Leben als Pianist, als Privilegierter unter Privilegier-ten, Kunst könne so viel mehr. „Kunst vereint – das hatte ich als Begriff im Kopf“, sagt der heute 58-Jährige. „Sie kann Menschen helfen.“ Also machte sich Gees, der schon im Alter von drei Jah-ren am Piano saß, gefeiert als „Westfälischer Mozart“, von sei-nem Klavierstuhl auf den Weg. Nach Gelsenkirchen-Bismarck.

Hier, inmitten untergehender Schlote, Massenarbeitslosigkeit und Migrationsproblemen, startete er sein Projekt: forum kunst-vereint, aus dem 2001 das Consol Theater hervorgehen sollte, benannt nach seiner Heimstätte, der Zeche Consolidation. Kin-der und Jugendliche spielen hier Theater wie auch Senioren, es gibt Konzerte, Jazz- und Chansonabende, alles mal professionell, mal von Amateuren aus dem Viertel. Jede Produktion hat eine Partnerklasse an einer der Kooperationsschulen. Die Ziele: Par-tizipation, Potenziale wecken, Integration fördern.

Eine der Hauptrollen am Theater spielt das Projekt „!Stage“. 15 bis 20 junge Erwachsene aus der Region lernen neun Mona-te lang alle Bereiche des Theaters kennen, Technik, Handwerk, Organisation, ja sie stehen sogar selbst auf der Bühne. „Wir fül-len eine Lücke zwischen Schule und Berufswahl“, sagt Gees. „Wir bieten benachteiligten jungen Menschen eine Orientie-rung.“ Sie haben einen geregelten Acht-Stunden-Arbeitstag, Coa-ching für Bewerbungsgespräche, „wir geben ihnen Struktur“, so der Chef. Mit Erfolg: Die Vermittlungsquote in die Berufsaus-bildung liegt pro Durchgang bei bis zu 75 Prozent – und das in einer Stadt mit stets mehr als 14 Prozent Arbeitslosigkeit.

Staatliche, hochdefizitäre Theater in der Region schielen nei-disch auf die Nachbarn unterm Förderturm. Theaterbetrieb mit Social Impact und profitabel! Wie geht das? Die Finanzierung basiert auf vier Säulen: Einnahmen aus dem Theaterbetrieb (30%), aus Kooperationsprojekten wie etwa das Erzählfestival mit der Stadt Gelsenkirchen (30%), Unternehmensspenden (30%) und Förderung von Stadt und Land. „Die Finanzierung steht und fällt mit dem Produkt“, so Gees. „Wenn Qualität, Team und Netzwerk nicht stimmen, kann man einpacken.“ / TF

Lehrstück von der Zeche

!Stage-Teilnehmerin Theodora Wange schminkt sich vor einem Auftritt

Michael Gees

Der Gründer von forum kunstvereint e.V. ist bis heute Pianist und Dozent an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln.

Am Consol Theater ist er für die künstlerische Leitung verantwortlich. Er ist ein großer Anhänger der Improvisation.

Das Consol Theater in Gelsenkirchen verknüpft erfolgreich Kunst mit sozialem Auftrag

================================ Foto

priv

at

Seite 86Special

Alternative Antriebe

Grü

ne E

nerg

ie

Entw

ickl

ungs

- hi

lfe

Alte

rsvo

rsor

geÖ

ko-A

ktie

nBa

uspa

ren

Chan

ce

Windkraft Brunnenbau

Bio-Baumwolle Bau-Genossenschaft

Fair TradeOrganische

Landwirtschaft

Bildungs-projekte

Saatgutfonds

Seite 87Special

Nachhaltige ReNteNfoNds...

... investieren in Anleihen von Unternehmen oder Staaten, die bestimmte Kriterien er- füllen. Es sind zumeist Unternehmen ausge- schlossen, die im Atombereich oder mit Rüstung Geschäfte machen. Staaten dürfen z. B. keine Kinderarbeit zulassen und keine Menschenrechtsverletzungen begehen. Al- lerdings legen viele Fonds nach dem Best- in-Class-Ansatz an, müssen also nur besser sein als die Konkurrenz.

chancen/Risiken:

In der aktuellen Niedrigzinsphase bieten Unternehmensanleihen höhere Renditen als Staatsanleihen. Große Zinsgewinne lassen sich hier derzeit aber nicht erfüllen.

Wo kaufen?

Die Fonds bekommt man bei seiner Bank oder bei Online-Brokern. Bei der Bank muss man manchmal explizit danach fragen.

Fair gewinnt!

Nur drei Prozent der privaten Anleger in Deutschland besitzen nach-

haltige Investments. Viele glauben noch immer, diese Anlagen werfen

keine Rendite ab – ein Irrtum

Geld wird erst dann ungerecht, wenn es das eigene Porte-monnaie verlässt. Der Aus-spruch stammt vom Kabaret-tisten Dieter Nuhr. Richtig

ungerecht wird es in den Augen vieler Menschen dann, wenn es die Banken ha-ben. Sie sind Schuld an der Finanz- und an der anschließenden Wirtschaftskrise. Ihre Manager sind gierig und unethisch. Das ist die weitverbreitete Meinung seit der Finanzkrise. Zu Recht?

Weitgehend ja, findet der Schweizer Wirtschaftsethiker Professor Hans Ruh, früherer Direktor des Instituts für Sozial-ethik der Universität Zürich und heute Prä-sident des Verwaltungsrates bei der Blue-Value AG, einem Beratungsunternehmen für Ethik in Wirtschaft und Investment. Wobei ihm die Bezeichnung „gierig und unethisch“ etwas zu vereinfacht ist. Doch der fahrlässige Umgang mit Schuldnern, eine zu starke und kurzfristige Gewinn-orientierung, unanständige Lohn- und Bo-ni-Systeme sowie ein zu weicher Nachhal-tigkeitsbegriff führen für ihn dazu, dass viele Banken bei ihren Investitionen zu wenig nachhaltig handeln.

Zu wenig Nachhaltigkeit in der Geldan-lage beweisen allerdings nicht nur die Ban-ken. Nur zwei bis drei Prozent der priva-ten Anleger in Deutschland besitzen nachhaltige Investments. „Es gibt ein la-tentes Bedürfnis, aber es wird selten aktiv eingefordert“, sagt Ingo Speich, der bei der Fondsgesellschaft Union Investment für nachhaltige Investments zuständig ist.

Auswahl gäbe es genug. Nach Zählung des Sustainable Business Institute (SBI) stehen Anlegern insgesamt 357 nachhal-tige Investmentfonds in Deutschland, Ös-

terreich und der Schweiz zur Verfügung. In diese Ethik-, Öko- und andere Nachhal-tigkeitsfonds waren bis Ende März 2011 mehr als 34 Milliarden Euro investiert. Eine geringe Summe im Vergleich mit den 695 Milliarden Euro, die in Deutschland insgesamt in über 6600 Publikumsfonds investiert sind.

Neben mangelnder Aufklärung ist es si-cher auch ein Stück Hilflosigkeit. Viele Anleger glauben nicht daran, dass sie et-was dazu beitragen können, den Unter-nehmenslenkern Mores zu lehren.

Denn kann eine Geldanlage überhaupt moralisch und ethisch korrekt sein, wenn man darauf aus ist, maximalen Gewinn zu machen? „Prinzipiell nein“, sagt Wirt-schaftsethiker Ruh. Aber eine ethische Geldanlage könne, „gerade weil

text Alexander Heintze

Seite 57CSR

Ich habe etwas wahnsinnig Aufre-gendes mitgebracht“, sagt Frithjof Bergmann verschwörerisch. Der Mann mit dem wilden Bart und weichen Augen zieht ein Plastik-

tütchen aus der Tasche. Darin: ein in Form gepresster, bräunlicher Klumpen, der ihn bei einer Drogenkontrolle mit Sicherheit in Schwierigkeiten gebracht hätte. „Das ist Ökozement“, erklärt Bergmann seinen Zuhörern. Kunstpause. Dann grinst er.

Den Klumpen hat Bergmann aus Südaf-rika mit ins österreichische Schlierbach genommen zu einem Workshop der Spes Zukunftsakademie. Bergmann hält hier Vorträge und diskutiert mit Experten aus Regierung, Wirtschaft und Wissenschaft. Der Ökozement, sagt er, soll das Bauen in Entwicklungsländern revolutionieren. Hergestellt werde er aus einer Art Kleb-stoff und Erde. „Ökozement ist günstig und leicht zu handhaben“, schwärmt Berg-mann. Zehn ungeübte Personen könnten daraus an einem Tag ein Haus bauen.

Bergmann, Jahrgang 1930 und in Sach-sen geboren, reist nahezu ununterbrochen durch die Welt – aus den Slums in Johan-nesburg in Österreichs dörfliche Idylle, aus armen indischen Landstrichen ins vom Niedergang der Automobilindustrie ge-beutelte Detroit. Braune Klumpen hat er nur ausnahmsweise dabei, immer im Ge-päck aber ist sein Konzept: New Work, also Neue Arbeit, ein Modell des Wirt-schaftens und Arbeitens, das die Menschen von ihren ökonomischen Zwängen befrei-en, ihnen eine neue Form des Wohlstands und eine höhere Lebensqualität ermögli-chen soll. Bergmann diskutiert darüber mit Regierungsvertretern, Managern und sozialen Institutionen, er arbeitet mit Ar-

beitslosen, Indianerstämmen und den Ärmsten der Armen in der Dritten Welt.

Das Konzept New Work, von Bergmann in jahrzehntelanger Denkarbeit und prak-tischer Erprobung entwickelt, klingt für viele Zuhörer seiner Vorträge bestechend – ist aber auch komplex, vielschichtig und erklärungsbedürftig. Zu stark will es in die bestehenden Strukturen eingreifen, for-dert in großen Teilen ihre komplette Um-wandlung. Bergmann wiederholt einen Satz fast wie ein Mantra: „Unser Jobsys-tem hält uns im Würgegriff. Die einen ar-beiten bis zum Burn-out, die anderen ver-sinken in Arbeitslosigkeit und Lethargie. Es gibt keine andere Möglichkeit als einen radikalen Neuanfang.“

Der Visionär sprudelt nur so über von Ideen für mögliche Projekte. Nicht nur der Ökozement, auch die Algenzucht des Ös-terreichers Johann Staudinger, der auch am Workshop in Schlierbach teilnimmt, hat es ihm angetan: Die Algen wandeln klimaschädliches CO2 in Sauerstoff um, eignen sich als schnell wachsender Brenn-stoff und gesundes Nahrungsmittel. Berg-manns Vorstellung ist, dass diese Algen künftig in armen Dorfgemeinschaften ge-züchtet werden.

Ebenso begeistert Bergmann sich für die Produktion eines an der TH Aachen ent-worfenen Elektroautos, das zu einem Preis von 5000 Euro auf den Markt kommen soll. Ginge es nach ihm, würde es als Bau-satz konzipiert und in regionalen Werk-stätten zusammengesetzt: Selbstproduk-tion und Selbstversorgung stehen für eine der großen Umwälzungen, die Bergmann mit New Work verfolgt. Im Sinne der so-genannten Grundwirtschaft sollen alle technischen Errungenschaften dazu ge-

nutzt werden, die Dinge des täglichen Le-bens nicht in großen Konzernen, sondern in kleinen Gemeinschaften vor Ort zu pro-duzieren – in den Zentren für Neue Ar-beit. Das gilt für Nahrungsmittel, für Klei-dung, für Häuser, für Energie und eben auch für Autos. Neue Computertechnolo-gien könnten dabei zunehmend Möglich-keiten eröffnen, etwa 3D-Drucker für Pro-dukte aus Kunststoff, mit denen sich in Zukunft auch ohne große Fertigungsanla-gen Bauteile herstellen ließen.

Die Selbstversorgung vor Ort, sagt Berg-mann, sei günstiger und mindere die Ab-hängigkeit von der Lohnarbeit. Zudem bie-te sie Menschen einen Lebensinhalt, die im bestehenden Jobsystem keinen Platz haben. Sinn- und ziellose Warenproduk-

tion sowie gedankenloser Konsum fänden ein Ende, weil die Menschen dann selbst entscheiden, was sie zu einem erfüllten Leben benötigen. „100 verschiedene Sor-ten Zahnpasta werden es ganz sicher nicht sein“, sagt Bergmann.

Ebenfalls mit Selbstbestimmung hat die zweite große Säule des Modells Neue Ar-beit zu tun. Bergmann will den Menschen zu einer Beschäftigung verhelfen, die sie ausfüllt und glücklich macht, die ihnen Kraft gibt. Er sagt: „Nicht wir sollten der

Ein Mann, ein WerkEr war Hafenarbeiter, Preisboxer und Einsiedler, ehe er seine Bestimmung fand: Seit über 50 Jahren

predigt der Philosoph Frithjof Bergmann mit „New Work“ eine neue Form des Arbeitens. General Motors war der erste Konzern, der ihn erhörte. Heute sind es Wirtschaftsbosse aus aller Welt

Scharfsichtiger Visionär: Um für sein ModellNew Work zu werben, ist Frithjof Bergmann bis in den letzten Winkel der Welt unterwegs

Bergmann will Menschen zu einer Beschäftigung

verhelfen, die sie ausfüllt und glücklich macht, die ihnen Kraft gibt

Mit einem Abonnement von enorm erhalten Sie nicht nur das Magazin, Sie werden direkt zum Förderer viel versprechender Ideen:

15 Prozent des Abo-Preises investieren wir in Projekte aus dem Bereich des sozialen Unternehmertums.

Weitere Themen dieser und aller bisher erschienen Ausgaben

erhalten Sie im Online-Shop unter

www.enorm-magazin.de

Gute Vorbereitung ist alles: Am Morgen besprechen die Mitarbeiter des Kattendorfer Hofs die Aufgaben des Tages. Manchmal auch, wer die anreisenden Stadtmenschen in die Landwirtschaft einführt

Seite 39So kanns gehen

Wirtschaftsgemeinschaften zwischen Verbrauchern und Erzeugern gelten als ein mögliches Modell für die Landwirt-

schaft der Zukunft. Die Vorteile: Der Bauer hat Planungssicherheit und ein festes Einkommen, die Kunden

erhalten gesunde Produkte vom Hof ihres Vertrauens

TexT Michael Kraske FoTos Tim Hoppe

Unsere kleine Farm

Der Freitag ist ein besonderer Tag für die Mitglieder der Food-Kooperative Hamburg-Eimsbüttel. Dann kommt „der Otti“ mit seinem Trans-

porter 50 Kilometer vom Kattendorfer Hof gefahren und beliefert die kulinarische Schatzkammer mit frischer Bioware. In den eigens angemieteten Keller schleppen Otfried Rautenberg und Pavel Bogdanovic von der „Koop“ die ganze Auswahl, die der Bio-Hof hergibt: Kartoffeln, Karotten, Sel-lerie, Blumenkohl und Wirsing. Rinder-braten, Rouladen, Kassler und Wurst. Die Hofkäserei hat außerdem sieben Sorten Käse geschickt, nur Milch und Butter sind derzeit Mangelware, weil die jungen Käl-ber die Milch brauchen. Am Nachmittag kommen die Mitglieder, allesamt Famili-en aus der Umgebung, und decken sich für die kommende Woche ein. Die Lebens-mittel müssen sie nicht einzeln bezahlen. Für 150 Euro pro Monat haben sie einen „Ernteanteil“ erworben, dafür dürfen sie

sich etwa 700 Gramm Fleisch und Wurst nehmen, dazu reichlich Gemüse und Milchprodukte. Ein Ernteanteil entspricht dem, was auf 2500 Quadratmetern wächst. Wer mehr braucht, kauft zwei Anteile. Im Keller bedient sich jeder selbst, keiner kon-trolliert. Die Währung, mit der hier ge-handelt wird, heißt Vertrauen.

Seit acht Jahren gibt es die Kooperative. Pavel Bogdanovic, IT-Spezialist, ist mit seiner Familie von Anfang an dabei. „Uns kommt es auf den Geschmack an“, sagt er, „Käse und Wurst aus dem Supermarkt schmecken nicht. Die Lebensmittel vom Hof werden zudem nachhaltig und nach-vollziehbar produziert, das verschafft uns ein gutes Gefühl.“ In Zeiten von Gammel-eiern und Dioxin im Schweinefleisch ist dem Familienvater wichtig zu wissen, wo-her sein Essen kommt. Früher hat er mit seiner Frau ausgefeilte Menüs aus dem Kochbuch zubereitet. Das geht nun nicht mehr so leicht. Tomaten und Paprika gibt es nur wenige Wochen im Jahr. Jetzt ko-

chen sie, was die Jahreszeiten hergeben. „Unser Essen ist einfacher, aber hochwer-tiger geworden“, sagt Pavel Bogdanovic. Ab und zu kauft er beim Metzger Fleisch dazu. Ansonsten bestimmt das Angebot des Kellers den Speiseplan. Wer eine üb-liche Biokiste abonniert, bekommt meist ein zusammengestelltes Sortiment ver-schiedener Erzeuger. Der Kattendorfer Hof bietet Vollversorgung.

Der Hof nördlich von Hamburg sieht nach ländlicher Idylle aus, nicht nach Ag-rarindustrie. Katzen schleichen über den matschigen Innenhof, ein Hund döst vor dem Hofladen. In alten Ziegelbauten woh-nen die Familien Tenthoff und von Mir-bach neben den Ställen für Kühe und Schweine, hinter einem Teich beginnen die Felder. Die beiden Familien sind nicht Eigentümer, sondern haben 170 Hektar Land von einer Stiftung gepachtet. Mathi-as von Mirbach stapft in Gummistiefeln und Wollpulli über den Hof. Er ist ein Landwirt mit eigener Philosophie: „Ich

Manchmal kommt es anders: Die Wirtschaftsgemeinschaft mit einem Hof erfordert von den Empfängern der Produkte auch ein bisschen Flexibilität. Immer wieder freitags:

Pavel Bogdanovic von der Food-Kooperative hilft, die Lieferung des Kattendorfer Hofs auszuladen

Seite 48Social Entrepreneurship

Seite 49Social Entrepreneurship

Wanni,der

Blogger-Königdes

Dschungels

TExT Michael Gleich foTos Paul Hahn

Ein Lehrer in Sri Lanka hatte die irre Idee, sein Dorf im Dschungel ans World Wide Web anzuschließen – für mehr Bildung und bessere Arbeitschancen der Einwohner.

Heute erobert das Projekt von Nandasiri Wanninayka das ganze Land

Wanni sitzt mit seinem silbern glänzenden MacBook unter dem Mangobaum. Sein Lieb- lingsplatz. Er wird über-

dacht von weit ausladenden Ästen, die ein tropisches Tohuwabohu aus Schlingpflan-zen, Geckos und Kolibris beherbergen. Für Wanni ein guter Ort, um eine Meldung für seine Webseite hochzuladen. Von ih-rem Plastiksessel aus wirft seine 70-jähri-ge Mutter skeptische Blicke herüber. Fragt man die Reisbäuerin, was sie von der Ar-beit ihres Sohnes halte, der oft weg ist und Computer ins Dorf bringt, füllen Tränen ihre Augen: „Ich habe ja keine Ahnung von alldem. Geheuer ist es mir nicht. Aber Gott möge ihn schützen.“

Unterentwickeltes Landleben und Com-puterzeitalter – hier in Mahavilachchiya im Norden Sri Lankas prallen sie aufein-ander. Mittendrin, quasi zwischen Reis-feldern und Cyberspace, hockt seelenru-hig Nandasiri Wanninayka, genannt Wanni, 38 Jahre alt, Bauernsohn und Eng-lischlehrer, Computerfreak und Sozialun-ternehmer, und sagt lächelnd: „Das passt alles wunderbar zusammen.“

Er klettert auf sein Moped, etwas unbe-holfen wegen des Sarongs. Auf dem Dorf trägt er statt Jeans den traditionellen Wi-ckelrock für Männer. Sein chinesisches Zweirad knattert hüpfend durch die Schlaglöcher, die schlafenden Hunde am Wegesrand lassen sich davon nicht stören. Mahavilachchiya besteht aus kaum mehr

als Reisfeldern und Dschungel, der an drei Seiten das Dorf umwuchert. Dazwischen Gehöfte, die sich in dem grünen Flicken-teppich verlieren, Heimat von 20 000 Menschen. Die meisten von ihnen sind

Reisbauern. Sie kommen über die Run-den, mehr aber auch nicht.

Wanni saust an einem Sendemast vor-bei, der knapp die Baumwipfel überragt. Ein Wahrzeichen des Neuen. Das Inter-net kommt per Funk. Ein Netz kleiner Router und Rechner, auf englisch „Mesh

Kontrast: Das moderne Computerzentrum in Mahavilachchiya, im Rückspiegel eines Mopeds eine einfache Hütte

Englischlehrer und Computerfreak: Nandasiri „Wanni“ Wanninayka genießt das abendliche Bad im Dorfteich

Viele sind Reisbauern. Sie kommen über die Runden, mehr aber auch nicht