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FINN UND DIE SCHATTENFRESSER MICHAEL HAMANNT

FINN UND DIE SCHATTENFRESSER - Hamannt...KAPITEL 1 FINN UND DIE SCHATTENFRESSER Finn fluchte. Er hatte Seitenstechen und seine Füßen brann-ten, als liefe er über glühende Kohlen

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  • FINN UND DIESCHATTENFRESSER

    MICHAEL HAMANNT

  • Für a!e,die die Hoffnung niemals aufgeben …

  • Finn und die Schattenfresser

  • KAPITEL 1

    F I N N U N D D I E S C H A T T E N F R E S S E R

    Finn fluchte. Er hatte Seitenstechen und seine Füßen brann-ten, als liefe er über glühende Kohlen. Lange würde er diesesTempo nicht mehr durchhalten.

    Eine Droschke tauchte vor ihm aus der Nacht auf. DasPferd wieherte verängstigt und Finn schreckte zurück. Imletzten Moment sprang er zur Seite und rettete sich in eineGasse. Dunkelheit und ein feuchtmodriger Gestankumfingen ihn.

    Keuchend blieb er stehen und lauschte dem leiserwerdenden Klappern der sich entfernenden Droschke. Nureine Verschnaufpause, dachte er, schloss die Augen und sacktegegen die kühle Hauswand. Sein Herz raste. Das Blutpulsierte ihm in den Ohren. Im Labyrinth der Gassen hatteer seine Freunde verloren und Jenkins war sicher nicht weitweg. Dieser verfluchte Kopfgeldjäger! Mit seinen gelbenAugen sah er nicht nur aus wie ein Wolf, vermutlich hatte erauch einen genauso guten Geruchssinn. Wie sollte es sonstmöglich sein, dass kein Kind ihm entkam?

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  • Finn stieß sich von der Wand ab und stolperte weiterdurch das dunkle Gässchen. Hinter ihm erklangen Schritte.Oder war es bloß das Echo seiner eigenen?

    Er lief schneller, ignorierte den Schmerz in seinenWaden. Niemals würde er sich von Jenkins zurück insWaisenhaus bringen lassen. Es war der grässlichste Ort aufder ganzen Welt. Mr und Mrs Bones behandelten dieKinder wie Sklaven. Sie verliehen sie für ein paar Münzenan Kaminkehrer, die die Jungen und Mädchen zwangen, indie engen und finsteren Schlote zu kriechen.

    Finn schauderte bei der Erinnerung. In den Kaminenwar es stockfinster und es stank entsetzlich nach Ruß. Undder Staub, der beim Auskehren aufgewirbelt wurde, machteeinen krank. Einige der älteren Kinder im Heim hustetenandauernd. Aber was sollten sie tun? Wer sich weigerte, fürdie Kaminkehrer zu arbeiten, wurde von Mr und Mrs Bonesmit Schlägen bestraft und ohne Essen ins Bett geschickt.

    Finn blieb schwer atmend stehen. Er hatte das Ende derGasse erreicht. Vor ihm lag ein weiter, in das schummrigeLicht der Gaslaternen getauchter Platz. An Markttagenboten die Händler hier ihre Waren aus dem Orient feil:kostbare Stoffe, edle Gewürze und fremdländische Süßigkei-ten, deren verlockende Düfte sich über das ganze Viertelausbreiteten und ihm jedes Mal das Wasser im Mundzusammenlaufen ließen, wenn sein Weg ihn am Marktvorbeiführte. Xanthischen Honig liebte er besonders. Alleinbei dem Gedanken daran knurrte sein Magen. Aber fürsolche Träumereien hatte er jetzt keine Zeit.

    Finn rannte hinaus auf den Platz und der anderen Seiteentgegen, wo es weitere Gassen gab. Doch plötzlich stol-perte er über einen Pflasterstein und schlug der Länge nach

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  • hin. Sofort rappelte er sich wieder auf und verzog dann dasGesicht, als er den ersten Schritt machte. Sein Knie tathöllisch weh.

    Egal, dachte er, biss die Zähne zusammen und humpelteweiter. Finn hatte den Platz kaum zur Hälfte überquert, alsaus der Dunkelheit rechts von ihm eine blasse, junge Frau inden Dunstkreis einer Straßenlaterne taumelte. Sie wargenauso ärmlich gekleidet wie er selbst. Kurz starrte sie aufden Boden zu ihren Füßen, dann schluchzte sie auf.

    Bei ihrem Anblick blieb Finn wie gebannt stehen undein seltsamer Widerwille, ja, fast schon Abscheu erfassteihn. Im ersten Moment verstand er selbst nicht, warum. DieFrau hatte ihm nichts getan. Doch dann fiel ihm auf, dass siekeinen Schatten warf, obwohl sie unter der Laterne stand.Wie war das möglich? Ihm blieb keine Zeit, sich weiterdarüber zu wundern, denn schon vernahm er Jenkins’Schritte hinter sich.

    »ICH HAB ES GESCHAFFT!«, JUBELTE FINN, ALS DIE SONNEaufging. Vor zwei Stunden hatte er den Kopfgeldjäger in derGasse der Büchsenmacher abgehängt, indem er in ein leeresSchwarzpulverfass geschlüpft war und den Deckel über sichgezogen hatte. Jetzt, am Tage, wo viele Menschen unterwegswaren, würde Jenkins es sehr viel schwerer haben, seine Spurwiederzufinden.

    Finn fuhr sich über das Gesicht. Die Haut war kühl vomSchweiß. Hingegen loderte in seinem Magen ein Feuer ausAngst, Sehnsucht und Zorn. Er dachte an sein Freunde: dengriesgrämigen Billy, Tom Daumenlos, den schielenden

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  • Ronald und Sarah, deren Haar wie gesponnenes Gold imSonnenlicht funkelte.

    Die vier waren mit ihm zusammen aus dem Waisen-haus geflohen. Ewige Freundschaft hatten sie sichgeschworen, und dass sie immer füreinander da seinwürden, aber dann waren sie getrennt worden. Bestimmthatte Jenkins sie längst wieder eingefangen und zurück zuMr und Mrs Bones gebracht, sodass Finn auf sich alleingestellt war. Er fuhr sich über die Augen. Sie brannten.Außerdem war er schrecklich müde. Trotzdem würde ernicht heulen. Er musste stark sein, wenn er das hier durch-stehen wollte.

    »He, du, Bursche!«Finn fuhr herum.»Willst du dir einen Penny verdienen?« Es war der

    Besitzer eines Gemüseladens. »Ich brauche jemanden, dermir beim Abladen des Karrens hilft.«

    Finn nickte eifrig. Von dem Geld könnte er sich etwaszu Essen kaufen. Schon jetzt knurrte sein Magen wie einwütender Dachs. Er hatte gerade eine Kiste mit rotbackigenÄpfeln ergriffen, als es am Ende des Sträßchens zu einemTumult kam.

    Ein Mann schob sich durch die Schlange von Warten-den, die sich vor der Tür einer Bäckerei gebildet hatte. Erwar knochendürr und hatte einen verfilzten, wolfsgrauenBart.

    Bei den dreizehn Engeln, dachte Finn. Wie konnte Jenkinsmich so schnell finden?

    Die Kiste mit den Äpfeln entglitt seinen Fingern undriss einen Sack Kartoffeln um, der am Karren gelehnt hatte.

    »Was hast du gemacht, du Tollpatsch!«, rief der Ladenbe-

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  • sitzer wütend, als Äpfel und Kartoffeln in alle Richtungendavonkullerten.

    Doch Finn hörte ihn schon nicht mehr. Mit pochendemHerzen schlitterte er dem Ende des Sträßchens entgegen.Die Pflastersteine waren dort feucht von einem stinkendenRinnsal, sodass er fast ausgerutscht wäre. Doch über denDächern der Häuser konnte er bereits die Zwillingstürmeder Kathedrale sehen. Endlich!

    Von dort war es nicht mehr weit bis zu den Katakom-ben. Ein Labyrinth aus unterirdischen Gängen und Tunneln.Zur Zeit der großen Pestepidemie hatte man darin dieToten zur letzten Ruhe gebettet. Heute waren sie einZufluchtsort für die Ärmsten unter den Armen.

    Den Eingang in die Katakomben bildete ein dunklerSchlund auf dem Hinterhof einer Klosterruine. Sie grenztean den alten Friedhof, der gleich hinter der Kathedrale lag.Das Kloster war vor ein paar Jahren abgebrannt und nichtwieder aufgebaut worden. Es hieß, die Geister der Pesttotenhätten das Feuer entzündet, weil sie die Lebenden nichtlänger in ihrer Nähe haben wollten. Finn wusste nicht, obdas stimmte. Er wusste nicht einmal, ob es Geister wirklichgab. Aber wenn es so war, dann lebten sie ganz sicher aneinem Ort wie diesem.

    Mit eingezogenem Kopf schlich Finn zwischen denMauerresten hindurch. Fenster starrten wie leere Augen-höhlen auf ihn hinab, während der Herbstwind sichwispernd am Stein rieb. Finn fröstelte und schlug denKragen seiner Jacke hoch.

    Plötzlich gab es in den Ruinen um ihn herum einGeräusch und er zuckte zusammen. Er blieb stehen, neigteden Kopf zur Seite und lauschte. Bis auf den Wind war

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  • wieder alles still. Nun runzelte er die Stirn. Wieso war hierniemand außer ihm? Warum roch er keine Lagerfeuer?Warum hörte er nicht die Stimme der Bettler und Heimat-losen, die gewöhnlich an diesem Ort Zuflucht suchten?Waren sie wegen der Herbstkälte alle tief hinab in die Kata-komben gestiegen?

    Mit einem Mal war sich Finn gar nicht mehr sicher, obes eine so gute Idee gewesen war, die Ruine zu betreten.Vorsichtig näherte er sich dem düsteren, von dicken Stein-blöcken gerahmten Loch in der Mitte eines von Säulengesäumten Innenhofes. Er sah Stufen, die in die Tiefeführten.

    Er schluckte. »Ha-hallo? Ist da wer?«»Hab ich dich!« Mit einem wölfischen Lachen stürzte

    Jenkins hinter einer Säule hervor und seine Finger kralltensich in Finns Haar und Jacke.

    »Lass mich los, du Bestie!« Finn schlug und trat um sich,worau#in Jenkins nur noch lauter lachte.

    »Gut so, kleiner Junge! Tob dich nur aus, bis du keineKraft mehr hast!«

    Tränen stiegen Finn in die Augen. Alles umsonst! Jenkinswürde ihn zurück ins Waisenhaus bringen.

    »Eine Heulsuse bist du also auch noch«, schnaubte derKopfgeldjäger. »Weiß gar nicht, warum sie dich überhauptzurückhaben wollen. Du wirst eh wieder Ärger machen.Wenn es nach mir ginge, ich würde dich im Fluss erträn-ken.« Seine Lippen verzogen sich zu einem boshaftenGrinsen.

    Finn drehte den Kopf, ignorierte das Ziehen an seinenHaaren und funkelte Jenkins an. »Niemand nennt mich eineHeulsuse«, stieß er hervor und versenkte seine Zähne im

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  • Arm des Kopfgeldjägers. Sie drangen tief durch die dünne,pergamentartige Haut. Jenkins schrie auf vor Schmerz undließ Finn los, der sofort losstürmte. Eine Weile folgten ihmnoch die Flüche des Kopfgeldjägers, aber irgendwannwurden sie leiser und verstummten schließlich ganz.

    Erneut senkte sich die Nacht über die Stadt, und mit derDunkelheit wurde auch der Wind stärker. Er fegte durch dieGassen und heulte dabei wie eine ganze Meute hungrigerWölfe. Finn zog den Kopf ein. Sein Magen grummelte, weiler den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Außerdem war ihmkalt, obwohl er die Hände tief in den Jackentaschenvergraben hatte. Schließlich kam er zu den Docks. Dortstank es nach den Abwässern, die die Färbereien undFabriken in den Fluss leiteten.

    Finn rümpfte die Nase und schlich weiter. Alsbald kamer zu einem schmalen Kanal, einem Nebenarm des Flusses.Wenn er ihm nachging, würde er in der Nähe des Stadtparksherauskommen. Es gab dort ein altes Spukhaus. Vielleichtwäre das ein gutes Versteck? Aber vermutlich würden selbstdie Schauergeschichten, die man sich über diesen Orterzählte, Jenkins nicht davon abhalten, ihm dorthin zufolgen.

    Finn seufzte. Ihm fehlten seine Freunde und er war somüde, dass er sogar sein Bett im Waisenhaus vermisste,obwohl es nur aus einer harten Pritsche und einer löchrigenDecke bestand.

    Was so! ich jetzt machen?, fragte er sich, als er eine Bewe-gung aus dem Augenwinkel wahrnahm. Finn wirbelteherum, aber da war nichts. Nur ein Schatten, der beinahemenschliche Umrisse besaß und in den Dunstkreis einerGaslaterne ragte. Doch dann erstarrte Finn. Wie konnte es

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  • diesen Schatten geben, obwohl da nichts und niemandstand, der ihn warf?

    »Was … was bist du?«, krächzte Finn, als der Schattenlangsam auf ihn zu kroch. Im nächsten Moment fuhr erherum und rannte so schnell ihn seine Füße trugen in dieentgegengesetzte Richtung. Hinter ihm erscholl ein heisererWutschrei und traf ihn wie eine Bö im Rücken. Fast wäreFinn gestürzt, doch er fing sich und taumelte weiter.

    Erst, als jeder Atemzug ihm in den Lungen brannte unddas Seitenstechen so heftig war, als bohre ihm jemandseinen spitzen Finger in die Rippen, wurde Finn langsamer.Suchend blickte er sich um. Nur gab es hier nichts, in demer hätte Unterschlupf finden können.

    Die Häuser zu beiden Seiten des Kanals drängten sicheng aneinander. Hinter keinem der Fenster glomm Licht,sodass Finn sich vorkam, als durchwandere er eine dunkleSchlucht. Er fröstelte, weshalb er die Jacke um sich zusam-menzog. Aber auch das half nicht. Die Kälte, die erempfand, kam aus ihm selbst. Sie wurde von der Verzweif-lung genährt, die seit seiner Flucht aus dem Waisenheimnoch zugenommen hatte.

    Als er au$lickte, bemerkte er die Brücke. Ein geschwun-gener Bogen, der sich wie ein farbloser Regenbogen überdem Kanal spannte. Am Ufer, im Schatten der Brücke,brannte ein Feuer. Finn schöpfte Hoffnung. Wer immer esentzündet hatte, konnte nicht besser als er selbst dran seinund würde sich vielleicht über ein wenig Gesellschaftfreuen.

    Ein alter Mann in Lumpen musterte Finn argwöhnisch,als er zu ihm unter die Brücke kletterte. »Was machst du zudieser Stunde noch hier draußen, Junge?«

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  • Finn hockte sich an das Feuer und streckte seineklammen Finger der Wärme entgegen. »Ich binfortgelaufen.«

    »Du hast dir keinen guten Zeitpunkt dafür ausgesucht,Junge.«

    Finn blickte auf. Wovon redete der Alte?»Sag bloß, du hast es nicht gehört?« Sein Gegenüber

    schüttelte ungläubig den Kopf. »Überall wird vor ihnengewarnt. Selbst in den Zeitungen. Es sind die Schattenfres-ser. Sie gehen wieder um!«

    Finn hatte noch nie von ihnen gehört. »Wer sind die?«Das Gesicht des Alten verdüsterte sich. »Geister«, sagte

    er und stocherte mit einem Stock in den Flammen herum.»Die Seelen der Pesttoten, die man vor langer Zeit in denKatakomben verscharrt hat, anstatt sie anständig zubegraben.«

    »Und was wollen sie?«Der Alte blickte auf. In seinen Augen spiegelte sich der

    rötliche Schein des Feuers. »Sie sind voller Hass«, sagte erund schauderte. »Ein Hass, der sie alle hundert Jahre zurückan die Oberfläche treibt. Sie wollen Rache, weil sie dieLebenden für ihr ruheloses Dasein verantwortlich machen.«

    Finn fühlte einen kühlen Lufthauch im Nacken. SeinKopf fuhr herum, aber da war nichts. Nur die Dunkelheitund das Plätschern des Kanals.

    »O ja«, sagte der Alte, »sie sind überall. Hier und dort.Vielleicht kriecht einer sogar gerade über unseren Köpfenhinweg.« Er warf einen Blick zur Brücke hinauf, kicherteschrill auf und verstummte dann wieder.

    Der Alte ist verrückt, dachte Finn. Doch da fiel ihm dieschluchzende Frau von vergangener Nacht ein und welche

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  • Abscheu er vor ihr empfunden hatte, weil sie keinenSchatten mehr besaß. »Aber was wollen sie von uns?«

    »Sie wollen, dass wir leiden, dass wir genauso unglücklichsind wie sie. Deshalb stehlen sie uns unsere Schatten.«

    Finn runzelte die Stirn. Er wusste, was der alte Mannmeinte, aber er verstand den Grund nicht. »Warum ist es soschlimm, keinen Schatten mehr zu haben?«

    »Was so schlimm daran ist?« Der Alte lachte rau. »DieMenschen verabscheuen jene, die anders sind als sie. Dazugehören auch die Schattenlosen. Sie meiden diese, gehenihnen aus dem Weg, bis sie sich genauso einsam und imStich gelassen fühlen wie die Geister der Pesttoten.«

    »Das ist grausam!« Finns Magen zog sich zusammen, alser daran dachte, dass er am Mittag beinahe in die Kata-komben hinabgestiegen wäre. Hätte Jenkins ihm dort nichtaufgelauert, wäre auch er ein Opfer der Schattenfressergeworden.

    »Tageslicht ist das Einzige, was sie fürchten«, fuhr derAlte fort. »In der Sonne verblassen sie, deshalb gehen sieauch nur in der Nacht auf die Jagd.«

    »Hast du denn keine Angst vor ihnen?«, wollte Finnwissen.

    »Und ob – aber ich habe keinen anderen Ort, an den ichgehen könnte. Erst, wenn der Hunger der Schattenfressergestillt ist, werden meine Brüder und ich in die Kata-komben zurückkehren können.«

    Finn starrte ihn an. »Ist das nicht gefährlich?«»Was bleibt uns denn für eine andere Wahl?« Der Alte

    zog den abgewetzten Mantel enger um seinen hagerenKörper. »Der Winter zieht bald herauf und ohne Schutzwird er sich einen nach dem anderen von uns holen.«

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  • Finn nickte und wandte den Blick dem Feuer zu. DerGeruch des Holzes, das in den Flammen verglühte, erin-nerte ihn an die Kaminschächte, die er hatte reinigenmüssen. Eng und furchtbar dunkel waren sie gewesen.Allein der Gedanke daran trieb ihm Schweißperlen auf dieStirn.

    Finn schluckte.Im Waisenheim hatte er weder hungern noch frieren

    müssen. Dafür behandelten Mr und Mrs Bones die Kinderwie Gefangene. Jetzt war er frei und Finn mochte diesesGefühl. Niemand schrieb ihm vor, was er zu tun hatte.Niemand prügelte ihn, weil er sich davor fürchtete, in einenunheimlichen Kaminschacht zu klettern. Auch wenn dasLeben auf der Straße nicht einfach werden würde, war esallemal besser als sein altes.

    »Was war das?« Der Alte blickte sich ängstlich um. Wieein Fuchs, den die Hundemeute in die Enge getrieben hatte.»Die Schattenfresser kommen!«

    Finn war aufgesprungen. »Woher weißt du das?«»Riechst du sie nicht?«Finn sog die Nachtluft ein. Der Geruch von Tod und

    Verwesung kroch ihm in die Nase.»Ja, ja, das sind sie.« Der Alte nickte, während er sich auf

    die Füße kämpfte. »Lauf, Junge!«»Was ist mir dir?«Der Alte bedachte Finn mit einem traurigen Lächeln.

    »Meine Knochen sind spröde. Mein Rücken schmerzt. Ichwürde dich nur au#alten.« Er strich ihm zum Abschied überden Kopf. »Bring wenigstens du dich in Sicherheit.«

    Finn war noch nicht weit gekommen, als ein Schrei dieNacht durchdrang und alsbald in ein Schluchzen überging.

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  • Finns Augen brannten vor Scham. Der alte Mann hatte sichfür ihn geopfert.

    Ich kann das nicht, dachte er im nächsten Moment. Ichdarf ihn nicht im Stich lassen!

    Er wirbelte herum, um zu dem Alten zurückzukehren,als er am Kragen gepackt und hochgerissen wurde. Entsetztstarrte Finn in eine grinsende Fratze mit gelben Augen.

    »Jetzt gehörst du mir«, knurrte Jenkins.»Nein, nicht«, flehte Finn. »Ich muss ihm helfen. Ich

    muss … !«Er brach ab, als er die Schatten sah, die von allen Seiten

    über das Straßenpflaster auf ihn und Jenkins zu krochen. Siewaren schwärzer als die Nacht und verströmten einenGestank nach modrigen Grüften. Der Kopfgeldjäger, der dieGefahr ebenfalls erkannt hatte, ließ Finn wie einen SackMehl zu Boden fallen.

    »Die Straßenlaterne«, sagte er. »Wenn wir es dorthinschaffen, sind wir sicher.«

    Finn wusste es jedoch besser. Nur Tageslicht konnte denSchattenfressern etwas anhaben. Er musste den Kopfgeld-jäger warnen, aber Jenkins Finger hatte sich bereits in FinnsSchulter gekrallt und zerrten ihn mit sich.

    »Das ist zwecklos«, protestierte Finn.»Unsinn! Du willst nur ...« Jenkins war verstummt, als er

    sah, wie sich ihnen nun auch Schatten aus Richtung derLaterne näherten. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht. »Beiden dreizehn Engeln. Du hast recht, Junge!«

    Finn blickte zurück zum Kanal. Konnten Schattenschwimmen? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufin-den. Er packte Jenkins’ Hand und zog ihn zum Ufer desKanals. Tintenschwarzes Wasser strömte unter ihnen

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  • vorbei. Finn sah zurück. Die Schattenfresser hatten sie fasterreicht. Sie streckten ihre Klauen nach ihnen aus ...

    »Spring!«, schrie Finn.Der Schock des kalten Wassers hätte ihm fast die

    Besinnung geraubt. Wo war unten? Wo oben? Finnschwebte schwerelos durch das eisige Nass. Erst, als seineFüße den Grund berührten, fand er die Orientierungwieder. Er stieß sich davon ab und schoss der Oberflächeentgegen. Prustend durchstieß er das Wasser und japstenach Luft.

    »Hilf mir!«, keuchte Jenkins dunkle Gestalt ein Stückweit rechts von ihm. »Ich habe mir beim Sprung den Kopfgestoßen und ...« Er sank unter Wasser und tauchte wiederauf. »Du kannst mich doch nicht …« Wieder zog ihn dieStrömung nach unten.

    Finn starrte auf den wild um sich schlagenden Kopfgeld-jäger. Wenn er nichts unternahm, würde Jenkins ertrinken.Aber wenn er ihn rettete, würde er ihn zurück ins Waisen-heim bringen. Was sollte er tun? Finn zögerte nur einenAugenblick. Niemals könnte er es mit seinem Gewissenvereinbaren, Jenkins für sein eigenes Glück zu opfern. Mitdrei kräftigen Schwimmzügen war er bei ihm.

    »Stillhalten«, zischte er mit zitteriger Stimme. Seine vorKälte fast tauben Finger packten Jenkins am Kragen seinerJacke, damit sein Kopf nicht wieder unter Wasser glitt.Doch erst, als er sicher war, dass die Strömung sie weitgenug von den Schattenfressern fortgetragen hatte, kämpfteer sich mit dem Kopfgeldjäger zurück ans Ufer.

    Jenkins starrte aus gelben Wolfsaugen auf Finn herab.Aus seiner Kleidung tropfte Wasser, das sich in Pfützenrund um seine Füße sammelte. »Du hast mir gleich zwei Mal

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  • das Leben gerettet, Junge«, sagte er immer noch leichtbenommen.

    Finn schwieg. Er fror und ihm war schlecht von demvielen Flusswasser, das er geschluckt hatte. Außerdemschwankte der morsche Steg, auf den sie sich gerettethatten, was seine Übelkeit noch verstärkte. Aber das spieltejetzt auch keine Rolle mehr. Er hatte verloren und ihmfehlte die Kraft, weiter gegen Jenkins zu kämpfen.

    »Ich hasse es, bei jemanden in der Schuld zu stehen.«Der Kopfgeldjäger bohrte ihm seinen Finger in die Brust.»Verschwinde, Junge! Und sieh zu, dass wir uns nie wiederbegegnen.«

    Finn starrte zu ihm auf. »Sie lassen mich gehen?«»Ich werde Mr und Mrs Bones sagen, du seist auf der

    Flucht ertrunken. Das ist zu deinem und meinem Vorteil,denn sie werden au#ören, dich zu suchen. Und ich werdeweiterhin in dem Ruf stehen, dass mir noch niemals jemandentwischt ist.«

    Finn nickte. »Danke.«Jenkins' Antwort bestand aus einem Knurren. Im

    nächsten Moment drehte er sich um und schritt den Lager-schuppen auf den Docks entgegen, hinter denen sich derHimmel bereits blauviolett verfärbte. Die Morgendämme-rung. Kurz bevor der Kopfgeldjäger endgültig aus FinnsBlick verschwand, ließ er sich auf alle Viere fallen und jagtedann in der Gestalt eines silbergrauen Wolfs davon.

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  • NACHWORT

    Bei »Finn und die Schattenfresser« handelt es sich umeine Geschichte aus der magischen Welt

    von »Amy und der Zauber des Schwarzen Sterns«.Eine Leseprobe zum Roman findet sich in den

    nachfolgenden Kapiteln.

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  • LESEPROBE

    Amyund der Zauber des Schwarzen Sterns

    Fantasy-Roman

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  • 19

  • PROLOG

    Helle Aufregung herrschte im Astronomieturm des Schlos-ses. Ein feurig roter Komet war am sternklaren Himmelüber der Stadt aufgetaucht und nun drängten sich die könig-lichen Astrologen um ein riesiges Teleskop, machten sicheifrig Notizen und fertigten Skizzen von seiner Flugbahn an.

    Wenig später traten sie in der Mitte des Turmzimmerszusammen, um mit vor Erregung geröteten Gesichtern dasErscheinen des Kometen zu deuten. Es gab nicht dengeringsten Zweifel: Sein Auftauchen, so kurz vor derKrönung des künftigen Königs, konnte nur ein außerge-wöhnlich gutes Omen sein. Kaum hatten sie so entschieden,nickten sie sich lächelnd über ihre silbergrauen Bärte zu.

    Wie falsch die Astrologen lagen, ahnten sie nicht.Woher hätten sie auch wissen sollen, dass das Erscheinendes Kometen das Ende eines tausend Jahre alten Flucheseinläutete? Eines Fluches, der seit langem vergessen war.Und während sie sich wieder in die Betrachtung des

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  • Kometen vertieften, ereignete sich im Süden der StadtSonderbares.

    Eine jähe Windbö traf das Portal der berühmtestenKathedrale der Stadt und hob die schweren Bronzeflügel ausihren Angeln, als wären sie leicht wie Papierdrachen.Krachend stürzten sie zu Boden, während der Wind unge-bremst durch den Mittelgang fegte, sich an mächtigenSäulen und knarrenden Holzbänken rieb und erst erstarb,als alle Kerzen erloschen waren.

    Dunkelheit.Stille.Dann plötzlich ein Ächzen und Stöhnen. Zuerst nur

    ganz leise, kaum hörbar. Als erwachte etwas aus einemlangen und tiefen Schlaf und versuchte nun mühsam dieStei"eit von Jahrhunderten abzuschütteln. Doch schon imnächsten Moment erzitterte die Luft unter einem Grollen,wie wenn harter Fels unter einer schweren Last zerspringt.Ursprung des Grollens war das Herz der Kathedrale.

    Dreizehn Engelsstatuen standen dort und bewachtenden goldenen Thron, auf dem seit jeher die Könige desLandes gekrönt worden waren.

    Wieder drang das Grollen durch die Dunkelheit, undnun begannen sich die Statuen zu regen. Langsam öffnetensie ihre Lider. Die Augen darunter waren golden und leuch-teten von innen heraus, als brenne ein helles Licht darin. Siereckten und streckten die Glieder und uralter Staub rieselteaus den Falten ihrer Gewänder, die nicht länger aus Steinwaren, sondern glatt und weich um ihre Körper wallten.

    Lautlos stiegen die Engel von ihren Podesten. Überir-disch schöne Wesen mit Schwingen, die wie Mäntel aus

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  • Federn um ihre Schultern lagen. Lautlos durchschritten sieden Mittelgang der Kathedrale und glitten hinaus in dieNacht, um zu vollenden, woran sie einst gehindert wurden...

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  • KAPITEL 2

    B E S U C H V O N T A N T E H E S T E R

    Als Amy Tallquist an diesem Morgen erwachte, ahnte sienoch nichts davon, dass sie heute die beiden wichtigstenDinge in ihrem Leben verlieren würde: ihr Zuhause undihren Vater.

    Ein Sonnenstrahl verirrte sich durch eine Ritze imVorhang und kitzelte Amy an der Nase. Gähnend rieb siesich die Augen, dann kletterte sie aus dem Bett und zog denVorhang auf. Es war ein herrlicher Sonntagmorgen mitblauem Himmel und einer goldgelben Herbstsonne. Einungewohnter Anblick in einer Stadt, die oft von dichtemNebel heimgesucht wurde, der zu dieser Jahreszeit regel-mäßig vom Fluss aufstieg.

    Plötzlich wieherte ein Pferd.Amy öffnete das Fenster und beugte sich hinaus. Der

    Karren des Milchmannes hielt vor ihrer Haustür. Wenn ichmich beeile, hab ich das Frühstück fertig, bevor Papa nach untenkommt, dachte sie aufgeregt.

    Amy lief zu der unscheinbaren, ein wenig mitgenommen

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  • aussehenden Kommode in der Ecke ihres Zimmers. Dortstanden eine Kanne und eine Waschschüssel bereit. Sie hobdie Kanne an und ließ vorsichtig etwas Wasser in dieSchüssel plätschern. Anschließend tauchte sie die Händehinein, um sich den Schlaf aus dem Gesicht zu waschen.

    Brrr. Das Wasser war eiskalt.Nachdem sie mit der Morgentoilette durch war,

    schlüpfte Amy in ihr Lieblingskleid und bürstete sich dasHaar; widerspenstige, schwarze Locken, die sich einfachnicht bändigen lassen wollten. Schließlich gab sie es auf undeilte nach unten. Sie holte die beiden Milchflaschen hereinund trug sie in die Küche. Es war eine kleine, gemütlicheKüche, die immer ein wenig nach Pfefferminz duftete, demLieblingstee ihres Vaters. Amy öffnete die Ofenklappe undwarf zwei Holzscheite hinein, um das Feuer wieder in Gangzu setzen, das über Nacht heruntergebrannt war. Dannbegann sie mit den Vorbereitungen für das Frühstück.Gerade als sie mit dem Decken des Tisches fertig war, spieder Wasserkessel eine Wolke aus Dampf aus – begleitet voneinem schrillen Pfeifen. Sie schlang ein Handtuch um denheißen Henkel und goss das dampfende Wasser in dieTeekanne. Geschafft. Jetzt musste sie nur noch ihren Vaterwecken.

    Amy wollte bereits nach oben stürmen, als ihr Blick aufden Brief fiel, der an der Keksdose lehnte. Er steckte ineinem ganz gewöhnlichen weißen Umschlag, dennochumgab ihn eine Aura aus Niedertracht und Boshaftigkeit.Was vor allem an der Handschrift lag, in der ihre Adresseverfasst worden war. Die Buchstaben aus schwarzer Tintewirkten so spitz und schar$antig, dass Amy das Gefühlhatte, sich an ihnen verletzen zu müssen, wenn sie nur

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  • darüberstrich. Sie schauderte. Der Brief stammte von TanteHester. Sie hatte ihn gestern mit einem Boten geschickt, umihren Besuch für heute anzukündigen.

    Was wi! sie bloß von uns?, fragte sich Amy.Sie mochte Tante Hester nicht sonderlich, denn sie war

    keine sehr freundliche oder höfliche Person. Meistens zogTante Hester ein solch verkniffenes Gesicht, als würde sieschon zum Frühstück in eine Zitrone beißen. Und sielächelte nie – außer, um sich am Leid oder Missgeschickeines anderen Menschen zu erfreuen. Amy hatte sie zuletztvor fünf Jahren gesehen. Auf der Beerdigung ihrer Mutter.An diesem Tag hatte sie gar nicht mehr au%ören können zuweinen. Aber selbst damals hatte Tante Hester nicht eineinziges Wort des Trostes für Amy und ihren Vater übriggehabt. Im Gegenteil. Tante Hester hatte sich sogar nochmit Amys Vater gestritten, denn sie gab ihm die Schuld amTod ihrer Schwester. Dabei war es ein Unfall gewesen.Während eines Badeausflugs an der See war Amys Muttervon einer Welle erfasst und hinaus ins offene Meer getragenworden. Stundenlang hatten sie verzweifelt nach ihrgesucht. Aber Tante Hester hatte Amys Vater noch nieleiden können, weil er ihr nicht gut und reich genug für ihreSchwester gewesen war. Und darum hatte sie ihm ganzeinfach die Schuld geben wollen – ob es nun gerechtfertigtwar oder nicht.

    »Du bist heute aber früh auf.«Amy fuhr erschrocken herum.In der Tür zur Küche stand ihr Vater, ein hagerer Mann

    mit angegrauten Schläfen und blassblauen, fast schon türkis-farbenen Augen. Wann immer Amy in diese Augen blickte,verwirrten und faszinierten sie sie zugleich. Eine geheimnis-

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  • volle Traurigkeit glomm in ihnen. Wie bei jemandem, dermehr von den schlimmen Dingen dieser Welt gesehen hatte,als gut für ihn war. Amy hatte die gleichen Augen. Nurstrahlten ihre ungetrübte Zuversicht aus.

    Beim Anblick des gedeckten Tisches zog ihr Vater eineBraue hoch. »Habe ich heute etwa Geburtstag und es bloßvergessen?«

    »Ach, Papa, ich hatte einfach Lust dazu.«»Hm, und du bist dir ganz sicher, dass das kein Beste-

    chungsversuch ist?«»Ich weiß nicht, was du meinst.« Amy bemühte sich,

    möglichst unschuldig dreinzuschauen.»Dann hat das alles hier« - ihr Vater machte eine umfas-

    sende Bewegung mit der Hand - »nicht zufällig etwas damitzu tun, dass gestern das neue Buch deines Lieblingsautorserschienen ist? Und dass wir heute Nachmittag unbedingt inder Buchhandlung vorbeischauen müssen, weil du sonst fürden Rest deines Lebens Trübsal blasen wirst?«

    Amy grinste. »O, Papa, du bist einfach der Beste!«»Ich habe noch nicht ja gesagt.«Aber sie wussten beide genau, dass Amy bereits

    gewonnen hatte. Ihr Vater liebte Bücher. In seinem Arbeits-zimmer stapelten sie sich bis unter die Decke. Darumwürde er ihr auch niemals einen Wunsch abschlagen, beidem es um ein Buch ging.

    Sie setzten sich an den Tisch und Amy schüttete sich einGlas Milch ein.

    »Mhm, Pfefferminztee«, sagte ihr Vater, der an derTeekanne schnupperte. Er goss sich eine Tasse ein und gabZucker dazu. »Wo ist denn mein Löffel?«

    »Oh, den muss ich wohl vergessen haben.« Amy wollte

    28

  • gerade aufspringen, da wackelte ihr Vater kurz mit demZeigefinger. Darau%in sprang eine Schublade in demSchrank hinter Amy auf und spuckte einen silbernen Löffelaus. Mit sanftem Klirren landete er auf dem Unterteller derTeetasse ihres Vaters.

    Amy verschränkte die Arme vor der Brust und strafteihren Vater mit dem finstersten Blick, zu dem sie fähig war.

    »Tut mit leid, Schätzchen«, sagte ihr Vater. »Ich weiß,dass du die Zauberei nicht magst. Aber so ging es einfachschneller.«

    »Wozu?«Er runzelte die Stirn. »Was meinst du?«»Wir haben doch alle Zeit der Welt, oder nicht? Was

    hätte es da ausgemacht, wenn du einen Augenblick längerauf deinen Löffel gewartet hättest?«

    »Hm, ja, da hast du wohl recht.« Er lächelte entschuldi-gend. »Du hast den Tisch gedeckt, also gelten auch deineRegeln. Keine weitere Zauberei. Versprochen!« Nachdem ersich ein Brot geschmiert hatte, sah er wieder auf. SeineAugen wirkten plötzlich dunkler, so, wie die See kurz voreinem Sturm. »Tante Hester besucht uns ja heute. Ich hattees fast vergessen.«

    »Was sie wohl will?«»In ihrem Brief hat sie darüber nichts geschrieben. Viel-

    leicht kommt sie ja, um Frieden mit uns zu schließen.« Amyschnaubte, was ihrem Vater ein Lächeln entlockte. »Ehrlichgesagt, kann ich mir das bei Tante Hester auch nichtvorstellen«, sagte er.

    »Wir könnten einfach so tun, als wären wir nicht zuHause«, schlug Amy vor.

    »Dann wären wir nicht besser als sie.« Ihr Vater trank

    29

  • von seinem Tee. »Hören wir uns erst einmal an, was sie zusagen hat. Rausschmeißen können wir sie immer noch.« Erzwinkerte ihr fröhlich zu.

    Es wurde ein kurzes Frühstück, denn Amys Vater hattenoch zu arbeiten. Er war Reporter bei der Royal Post, dergrößten und angesehensten Zeitung der Stadt. Schon mehr-mals war es ihm gelungen, verzwickte Fälle aufzuklären, andenen die Polizei gescheitert war. Neuerdings arbeitete er andem rätselhaften Verschwinden der dreizehn Engelsstatuen.Vor vier Wochen war jemand in die Kathedrale im Süden derStadt eingebrochen und hatte sie gestohlen. Das war es,wovon die Polizei ausging. Und wie hätte es sich auch anderszugetragen haben sollen? Immerhin waren die Statuen ausmassivem Stein. Sie konnten also schlecht selbst von ihrenPodesten herabgestiegen sein und sich davongemacht haben.

    Erst vor Kurzem musste Amys Vater auf einen wichtigenHinweis gestoßen sein, denn seit einigen Tagen arbeitete ernoch eifriger als sonst. Allerdings wollte er Amy nichtsverraten, worüber sie ein wenig pikiert war. Wenn er schonkaum Zeit für sie hatte, konnte er sie wenigstens an seinerArbeit teilhaben lassen. Sonst tat er das doch auch immer.

    »Soll ich dir beim Abräumen helfen?«, fragte ihr Vaterund stand von seinem Stuhl auf.

    Amy schüttelte den Kopf und sah ihm dann nach, wie erdie Küche verließ, um sich in sein Arbeitszimmer zurückzu-ziehen. Sie seufzte. Was war an diesem Fall nur so anders,dass er nicht mit ihr darüber reden wollte?

    UM PUNKT VIER UHR LÄUTETE DIE TÜRGLOCKE. DAS

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  • musste Tante Hester sein. Amy strich ihr Kleid glatt,obwohl sie es eigentlich nicht sein wollte, war sie doch einbisschen nervös. Nun öffnete sie die Haustür. Vor ihr standeine hochgewachsene, dunkelhaarige Frau mit einem spin-deldürren Hals und so buschigen schwarzen Brauen, dassAmy beinahe schon erwartete, von ihnen angesprungen zuwerden.

    »Wie groß du geworden bist«, sagte Tante Hester mitihrer unangenehm schrillen Stimme. Sie trug ein tie&lauesKleid und hielt einen glockenförmigen Schirm in der linkenHand, mit dem sie sich vor der Nachmittagssonne schützte.»Dabei bist du erst ...« Sie runzelte die Stirn.

    »Zwölf«, sagte Amy.»Doch schon, so, so.« Tante Hester schürzte die Lippen.

    »Nun ja, für zwölf bist du recht klein. Und obendrein soschrecklich dünn. Kümmert sich dein Vater überhaupt umdich?« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn ich das geahnt hätte,wäre ich längst mal vorbeigekommen.«

    Tante Hester hatte sich nicht im Mindesten verändert.Noch immer verteilte sie Gemeinheiten so großzügig, alswären es Bonbons. »Von meinen Freundinnen bin ich dieGrößte«, sagte Amy trotzig, obwohl das gelogen war. Siehatte nämlich keine Freundinnen, weil die anderenMädchen nichts mit ihr zu tun haben wollten. So ist das eben,wenn man ...

    »Willst du mich nicht endlich hereinbitten?«, fauchteTante Hester. Ohne eine Antwort abzuwarten, schob sieAmy mit ihrem Schirm zur Seite und stakste ins Haus. »Hiersieht es immer noch so erbärmlich aus wie früher. Aproposerbärmlich: Wo steckt dein Vater?«

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  • »Er ist in der Küche«, sagte Amy und streckte TanteHester die Zunge raus, sobald diese sich umdrehte.

    Als ihre Tante die Küche betrat, stand Amys Vater amTisch, den er gerade für den Tee vorbereitet hatte. »Wirhaben uns lange nicht gesehen, Hester.« Er deutete aufeinen Stuhl. »Nimm doch bitte Platz.«

    Sie setzte sich und Amys Vater befahl der Teekanne miteinem Wackeln seines Zeigefingers, Tante Hesters Tasse zufüllen. »Dein Besuch überrascht mich«, sagte er, nachdem erund Amy ebenfalls saßen. »Als wir uns das letzte Malgesehen haben, sind wir nicht gerade als Freunde ausein-ander gegangen.«

    »Sind wir denn jemals Freunde gewesen, Rufus?« Siewandte sich Amy zu. »Zucker«, fauchte sie. »Zwei Stück!«

    Hastig beugte Amy sich über den Tisch, um nach derZuckerdose zu greifen.

    Tante Hester rümpfte die Nase. »Wie ich sehe, hat sichalso nichts geändert. Noch immer beherrschst du nichteinmal ...«

    »Genug«, unterbrach Amys Vater sie. »Vergiss nicht: Dubist nur ein Gast in unserem Haus!«

    Tante Hesters Lippen wurden schmal. »Immer noch socharmant wie früher, was, Rufus?« Zu Amy sagte sie: »Lassnur, Kind. Ich mache das selbst.« Ihr Finger zuckte,worau%in die Zuckerdose Amys Fingern entschlüpfte undzu Tante Hester herüberschwebte. »Siehst du, so gehört sichdas.«

    Amy wurde heiß und sie senkte verlegen den Blick. Siewar sicher, dass ihre Tante das nur getan hatte, um sie zudemütigen. Ihr Vater dachte wohl ganz ähnlich. Seine Augenwaren schmal geworden. »Auch noch etwas Milch, Hester?«

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  • Im nächsten Moment hüpfte das Milchkännchen wie einaufgescheuchtes Kaninchen über den Tisch, wobei es einenGroßteil seines Inhalts über die Tischdecke vergoss.

    Tante Hester warf ihm einen vernichtenden Blick zu.»Das war unnötig, Rufus.«

    »Das Gleiche wollte ich gerade zu dir sagen.« Er sahTante Hester durchdringend an. »Was willst du von uns?«

    »Ich soll etwas von euch wollen?« Tante Hester zog ingespieltem Erstaunen die buschigen Brauen hoch.

    »Lass das Theater«, sagte Amys Vater. »Ich kenne dichgut genug. Sag, warum du hier bist, oder geh! Aberverschwende nicht länger unsere Zeit!«

    Plötzlich lächelte Tante Hester. Es war jene Art vonLächeln, bei dem Amy eisige Schauder über den Rückenliefen. »Also schön, es geht um deine Tochter, Rufus. Schonseit Jahren wird über sie in der Stadt geredet. Das hat michbisher nicht weiter gestört, da kaum einer von unserenverwandtschaftlichen Banden weiß. Allerdings dringt diesesüble Geschwätz inzwischen bis in meine Kreise vor. Unddas ist etwas, das ich nicht so einfach hinnehmen kann.« Sieschnaubte. »Ich dulde nicht, dass der makellose Namemeiner Familie durch dieses Mädchen« - sie deutete mitspitzem Finger auf Amy - »länger beschmutzt wird.«

    »Wie kannst du es wagen?«, entfuhr es Amys Vater.Tante Hester nippte an ihrem Tee, während Amy sie mit

    einem dicken Kloß im Hals ungläubig anstarrte. »DeineHeirat mit meiner Schwester hat seinerzeit bereits genugSchaden angerichtet, Rufus«, fuhr ihre Tante ungerührt fort.»Meiner Schwester zuliebe habe ich damals darüber hinweg-gesehen. Aber damit ist jetzt Schluss.«

    »Das reicht!« Amy Vater schlug mit der Faust so hart auf

    33

  • den Tisch, dass die Teetassen bedrohlich klirrten. »Bist duetwa nur gekommen, um uns zu beleidigen?«

    »Nicht nur«, erwiderte Tante Hester bissig und recktedas Kinn vor.»Ich möchte dir einen Vorschlag unterbreiten,der diesen Gerüchten ein für allemal ein Ende setzen dürf-te.« Sie warf Amy einen gehässigen Blick zu. »Ich habe einangesehenes Internat ausfindig gemacht, das bereit wäre,meine Nichte trotz ihres, nun ja, Makels aufzunehmen. Esist zwar abgelegen, aber Amy bekäme dort eine hervorra-gende Ausbildung – soweit es ihre eingeschränkten Fähig-keiten zulassen. Du siehst, es wäre nur zu ihrem Vorteil.Und ich müsste mir nicht länger Sorgen um meinen Rufmachen. Selbstverständlich würde ich für alle anfallendenKosten au$ommen.« Sie seufzte. »Nun, Rufus, ich finde, dasist ein mehr als großzügiges Angebot.«

    Amys Herz trommelte wild in ihrer Brust. Das konnteTante Hester unmöglich ernst meinen! Sie wollte auf keinenFall fort von ihrem Vater. Ängstlich musterte sie seinGesicht. Es war völlig reglos. Nichts verriet, was er geradedachte. Natürlich hatte er es nie leicht mit ihr gehabt.Keine Schule war je bereit gewesen, Amy zu unterrichten,deshalb hatte er sich neben seiner Arbeit auch noch um ihreAusbildung kümmern müssen. »Papa, bitte, ich möchtenicht …«

    »Still!« Er hatte den Zeigefinger erhoben und Amy wagtees nicht, ein weiteres Wort zu sagen. Ihr Vater beugte sichüber den Tisch und sein Blick bohrte sich in den von TanteHester. »Ich möchte, dass du unser Haus auf der Stelleverlässt.« Als sie nicht sofort reagierte, donnerte er: »RAUSHIER! Und kehre nie, nie wieder zurück. Haben wir uns ...«

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  • Das ungestüme Läuten der Türglocke schnitt ihm dasWort ab.

    »Wer mag das wohl sein?«, sagte Tante Hester ohne jedeNeugier. »Und das ausgerechnet jetzt, wo diese Unterhal-tung interessant zu werden versprach, liebster Rufus.«

    Wieder erklang die Türglocke. Wer immer an der Türwar, es ging ihm nicht schnell genug, denn nun bollerte erauch noch mit den Fäusten dagegen. »Aufmachen!«, rief einezornige Stimme.

    Amy zuckte zusammen. »Was ist da los?«»Ich gehe besser mal nachschauen«, sagte ihr Vater mit

    merkwürdig besorgter Miene.»Ja, das solltest du wohl«, sagte Tante Hester und

    lächelte.

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  • KAPITEL 3

    H O C H V E R R A T

    Amys Vater war vom Tisch aufgestanden, als etwas mitsolcher Wucht gegen die Haustür krachte, dass das Splitterndes Holzes bis in die Küche zu hören war.

    »Papa!«, schrie Amy.Ihr Vater eilte davon.»Wo willst du hin?«, rief Tante Hester, als Amy von

    ihrem Stuhl aufsprang und ihm nachlief. »Bleib gefälligsthier, Kind!«

    Im Flur wäre Amy fast mit ihrem Vater zusammenge-prallt. »Was ist los, Papa?«

    Er antwortete nicht.Amy lugte hinter seinem Rücken hervor und starrte mit

    aufgerissenen Augen die Haustür an, die einen ziemlicherbärmlichen Anblick bot. Ihre Überreste hingen schief inden Angeln und zischten und dampften wie ein feuchtesStück Stoff, das man ins Feuer geworfen hatte. Amy schlugdie Hand vor den Mund. Jemand hatte die Tür mit einem

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  • Zauber attackiert, dabei verbot das Gesetz es aufsStrengste, Magie zu zerstörerischen Zwecken einzusetzen.

    Ein Mann, groß und breit wie ein Bär, erschien in deraufgebrochenen Tür. Er trug eine rote Uniform, die sichüber einen gewaltigen Bauch spannte und auf deren Brustdas königliche Wappen prangte: ein großer schwarzer Sternauf samtblauen Hintergrund, umringt von dreizehn kleinenweißen Sternen. Ein Polizist. Und hinter seinen massigenSchultern waren die Köpfe weiterer Polizisten zu erkennen.Als er Amys Vater sah, blieb er stehen. »Sind Sie RufusTallquist?«

    Amys Vater nickte. »Ja, ja, der bin ich. Aber ...«»Was zum Teufel geht hier vor?« Tante Hester kam aus

    der Küche herangestürmt. Erhobenen Hauptes baute siesich vor dem Polizisten auf. »Wer sind Sie? Und was wollenSie von meinem Schwager?«

    Amy klappte der Mund auf. Seit wann setzte TanteHester sich für ihren Vater ein?

    Der Polizist trat jedoch einfach an Tante Hester vorbei,hob die fleischige Hand, die groß wie eine Bärenpranke war,und deutete damit auf Amys Vater. »Rufus Tallquist, hiermitverhafte ich Sie wegen Hochverrats!«

    Amy starrte ihren Vater an. Hochverrat? »Was ... wasmeint er damit, Papa?« Ihre Stimme zitterte.

    »Sie müssen sich irren«, brach es aus Amys Vater heraus.»Ich … ich habe nichts Unrechtes getan.«

    Der Polizist gab ein unwilliges Grunzen von sich. »Dassagen sie alle!« Er klopfte auf die Brusttasche seinerUniform. Papier knisterte. »Ich habe hier einen Haftbefehlfür Sie. Alles andere interessiert mich nicht.« Er wandte sich

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  • um. »Worauf wartet ihr noch?«, bellte er zwei Polizisten an.»Nehmt ihn in Gewahrsam!«

    »Papa«, hauchte Amy.Er wandte ihr das Gesicht zu. Es war bleich. Seine

    Lippen zitterten und in seinen Augen stand Angst. Entsetz-liche Angst. Sie schlang die Arme um ihn und vergrub ihrGesicht in seinem Jackett. »Nein, nein, nein«, schluchzteAmy. »Lassen Sie ihn in Ruhe! Er hat noch nie jemandenetwas Böses getan!«

    Hände packten sie an den Schultern und zerrten sie vonihrem Vater weg. Amy wehrte sich, schrie und strampeltemit den Füßen, aber der fette Polizist war einfach zu stark.Hilflos musste sie mit ansehen, wie sie ihren Vater abführ-ten. Kurz bevor er aus ihrem Blickfeld verschwand, drehteer sich noch einmal um. »Hab keine Angst, Amy. Das kannnur ein schreckliches Missverständnis sein. Wir sehen unsschon bald wieder.« Seine Mundwinkel zuckten, alsversuchte er zu lächeln. Dann zogen die Polizisten ihn auchschon weiter.

    Das Einzige, woran Amy in diesem Moment denkenkonnte, war, dass auf Hochverrat die schlimmste allerStrafen stand: der Tod. Tränen schossen ihr in die Augenund ihre Unterlippe begann zu beben. Draußen wurde eineTür zugeschlagen. Im nächsten Moment drangen Hufge-klapper und das Rattern der davonrollenden Gefängniskut-sche an Amys Ohren. Nein! Verzweifelt streckte sie dieHand aus.

    Erst jetzt ließ der fette Polizist Amy los. Rasch trat erzwei Schritte von ihr zurück, als fürchtete er, sie könntewieder um sich schlagen. Ob nun Zufall oder nicht: Jeden-

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  • falls stellte er sich so auf, dass er mit seiner massigen Gestaltdie Tür blockierte.

    »Was wird jetzt aus dem Mädchen?«, erkundigte sichTante Hester in schrillem Ton. »Sie können Sie ja wohlkaum alleine hier zurücklassen.«

    »Sie sind nicht ihre Mutter?«, fragte der Mann.»Nicht doch!« Tante Hester schnaubte. »Ich bin ihre

    Tante.«»Ihre Tante, hm.« Der Polizist kratzte sich am Kopf, dann

    zuckte er die Achseln. »Soll sie doch bei Ihnen wohnen.«»Das geht nicht. Ich kann Kinder nicht aussteh... ich

    meine, ich kenne mich nicht mit ihnen aus.«»Jemand muss sich um die Kleine kümmern, das haben

    Sie selbst gesagt. Und ich muss jetzt weiter.« Damit drehteder Polizist sich um und stapfte aus der noch immer qual-menden Haustür.

    Tante Hesters Kopf fuhr zu Amy herum. »Ich wusste ja,dass dein Vater nichts taugt. Aber Hochverrat?« Sie kniff dieLippen zusammen, womit sie wohl Missbilligung zumAusdruck bringen wollte. Dabei sah es für Amy vielmehraus, als versuchte sie ein Lächeln zu verbergen.

    Amy brachte keinen Mucks heraus. Tränen kullerten ihrüber die Wangen. Das alles konnte nur ein grässlicherAlbtraum sein. Sie warf einen verzweifelten Blick aus derTür, wo das graue Straßenpflaster in der Sonne glänzte.Aber es war zu spät. Von der Gefängniskutsche war nichteinmal mehr das Rattern zu hören.

    »Jetzt hör schon auf zu heulen!« Tante Hester verdrehtedie Augen. »Ich kann das nicht ausstehen. Außerdem könn-test du ruhig ein wenig mehr Dankbarkeit zeigen, schließ-

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  • lich bin ich bereit, dich bei mir wohnen zu lassen. Nun ja,zumindest bis zum Ende der Gerichtsverhandlung. Sobalddein Vater dann verurteilt und ich zu deinem neuenVormund ernannt wurde, werde ich dich auf dieses Internatschicken. Etwas mehr Strenge wird dir guttun.«

    Amy sah mit tränenverschleiertem Blick zu ihr auf. FünfJahre lang hatten sie sich nicht gesehen, trotzdem hatte ihreTante bisher kein einziges freundliches Wort für sie übriggehabt. Selbst jetzt war sie noch gemein zu Amy, wo ihrgerade das Schlimmste zugestoßen war, das sie sich hattevorstellen können. Da runzelte Amy die Stirn. Warum warihre Tante überhaupt so wütend? Eigentlich müsste sie dochfrohlocken, wo ihrem Plan, Amy aus der Stadt zu schaffen,nun nichts mehr im Wege stand.

    »Himmel, worauf wartest du noch?«, keifte Tante Hester.»Jetzt geh schon nach oben und pack deine Sachen!«

    Amy gehorchte ohne Widerworte. Stufe für Stufeschleppte sie sich hinauf ins Obergeschoss. Ganz dumpf undtaub fühlte sie sich in ihrem Inneren, als wäre sie plötzlichmit einem riesigen Wattebausch ausgestopft. Kaum war siein ihrem Zimmer, warf sie sich aufs Bett und vergrubschluchzend das Gesicht in den Kissen. Von unten riefTante Hester: »Und beeil dich gefälligst! Ich habe nicht denganzen Tag Zeit!«

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  • KAPITEL 4

    D E R V E R Z A U B E R T E G A R T E N

    Tante Hester wohnte im Pfauenpark, einer vornehmenWohngegend auf der anderen Seite der Stadt, die nur denwohlhabendsten und einflussreichsten Familien vorbehaltenwar: den Angehörigen des Adels und natürlich den Minis-tern und Ratgebern des Königs. Und dorthin machten siesich nun auf den Weg.

    Nachdem sie das Haus verlassen hatten, rief TanteHester eine Droschke herbei. Ratternd rollte einEinspänner heran, der von einem schwarzen Pferd gezogenwurde. Mit einem Wink seines Fingers brachte derKutscher zunächst Amys Koffer unter, anschließend half erihr und ihrer Tante beim Einsteigen. Er selbst klettertezurück auf den Kutschbock und ließ die Peitsche knallen.Wiehernd setzte sich das Pferd in Bewegung.

    Die Droschke ruckelte in einem solchen Tempo überdas Kopfsteinpflaster, dass Amy gehörig durchgeschütteltwurde. Aber das war ihr egal. Sie war viel zu traurig. War die

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  • Welt eigentlich immer schon so trist und hoffnungslosgewesen?

    Wohin sie auch blickte, sah sie zerlumpte Kinder, die inden Zugängen düsterer Hinterhöfe spielten oder Passantenum Geld anbettelten. Es gab so viele arme Menschen indieser Stadt. Zwar waren sie alle mehr oder weniger magischbegabt, doch was nützte es ihnen, wenn sie kein Geld besa-ßen, um auf die Schule zu gehen oder sich einen Hauslehrerleisten zu können, der sie in Magie unterrichtete? Sobeherrschten die meisten von ihnen nur unbedeutendeZaubertricks, aber nichts, was ihnen hätte helfen können,ihrem Schicksal zu entrinnen. Und doch war es so viel mehr,als Amy je in ihrem Leben zustande bringen würde.

    Amy wischte sich über die Augen. Was würde jetzt ausihr werden? Und erst aus ihrem Vater?

    Alsbald bog die Droschke in eine breite Straße ab, die zubeiden Seiten von kleinen, eleganten Geschäften gesäumtwurde. Frauen flanierten in prächtigen Kleidern und mitSchirmen, die sie vor der ungewöhnlich warmen Oktober-sonne schützten, die Gehwege entlang. Und die Männertrugen elegante dunkle Anzüge und Zylinder. Dies wareindeutig eines der reicheren Viertel der Stadt.

    Der Anblick lenkte Amy ein wenig ab. Besonders diezahlreichen bunten Wimpel und Flaggen, die an Häusernund von Straßenlaternen hingen, zogen ihre Aufmerksam-keit auf sich. Sie flatterten aufgeregt im Wind und erin-nerten an die bevorstehende Krönung. Seit Wochen war dieStadt mit den Vorbereitungen dafür beschäftigt.

    »Ist es nicht furchtbar?«, beschwerte sich Tante Hesteraus heiterem Himmel. Vielleicht, weil es ihr einfach unmög-lich war, längere Zeit zu schweigen, ohne dann und wann

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  • etwas Gehässiges zu sagen. »In zwei Wochen wird PrinzHenry zum König gekrönt. Ein Junge von gerade einmalsiebzehn Jahren. Er weiß doch gar nicht, was es heißt, zuregieren.«

    Amy konnte es nicht glauben. Wie konnte ihre Tantesich über so etwas aufregen, wo doch gerade erst ihr Vaterverhaftet worden war?

    »Was ist? Hat es dir die Sprache verschlagen?« TanteHester schüttelte den Kopf. »Ich sage dir, wir braucheneinen richtigen König. Jemanden mit Erfahrung, der weiß,was er will. Und nicht so einen Grünschnabel.« Sie funkelteihre Nichte an. »Ist es nicht so?«

    Amy nickte, nur um ihre Ruhe zu haben. Für einenStreit mit ihrer Tante fehlte ihr im Augenblick einfach dieKraft. Außerdem wusste sie nicht genug über Prinz Henry,um beurteilen zu können, ob er ein guter König sein würdeoder nicht. Sie drückte sich tiefer in ihre Ecke der Kutsche,in der Hoffnung, auf diese Weise von Tante Hester über-sehen zu werden und wandte den Blick nach draußen.

    Zu ihrer Rechten tauchte hinter einer Reihe von flachenHäusern der Fluss auf. Ein breiter Strom von mattgrauerFarbe, der die Stadt in der Mitte teilte. Lastkähne glittenlangsam auf ihm dahin. Und da war auch eines dieserneumodischen Dampfschiffe, die man seit einiger Zeitimmer öfter sah. Amy krauste die Nase, als der Wind drehteund den Geruch von Abwässern und totem Fisch herüber-wehte. Den »Preis des Fortschritts« hatte ihr Vater diesenGestank einmal genannt.

    Plötzlich machte die Straße einen Schlenker nach linksund nun ragten vor Amy die Türme der alten Festung auf. Infrüheren Zeiten war sie der Sitz des Königs gewesen, heute

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  • diente sie nur noch als Gefängnis für Diebe, Verräter undMörder. Dorthin mussten sie auch ihren Vater gebrachthaben. Allein bei dem Gedanken daran traten ihr erneut dieTränen in die Augen. Amy zwinkerte sie jedoch rasch fort,um Tante Hester nicht zu einer weiteren Gemeinheit zuprovozieren.

    DIE VILLA, IN DER IHRE TANTE WOHNTE, LAG AN EINEMgroßen runden Platz am Ende einer Straße. Sie schimmerteweiß wie frisch gefallener Schnee und war um ein Vielfachesgrößer als das Haus, in dem Amy mit ihrem Vater wohnte.Amy war die Villa jedoch unheimlich. Aus dem Dach ragtenso viele spitze Giebel, dass sie sie an die Reißzähne eineshungrigen Wolfes erinnerten. Sie fröstelte bei demGedanken.

    »Worauf wartest du noch?«, nörgelte Tante Hester undstieß sie beinahe aus der Droschke.

    Erst jetzt fiel Amy auf, dass der Kutscher ihr die Handhinhielt. Nachdem auch ihre Tante ausgestiegen war, zogdiese ihre Geldbörse, um den Mann zu bezahlen. Amynutzte die Gelegenheit, um sich ein wenig umzuschauen.Früher, als ihre Mutter noch gelebt hatte, waren sie TanteHester gelegentlich besuchen gefahren. Allerdings lag dasschon so lange zurück, dass Amy sich kaum daran erinnernkonnte.

    Sie blickte die Straße zurück. Uralte Kastanien wuchsenzu beiden Seiten. Hinter diesen lagen noch mehr Villen.Nicht ganz so imposant wie die von Tante Hester, aberimmer noch protzig genug, um zugleich einschüchternd undbeeindruckend zu wirken. Amy wollte sich gerade wieder

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  • umdrehen, als ihr ein Mann auffiel. Fast hätte sie ihn überse-hen, weil er sich im Schatten unter einer Kastanie verborgenhielt. Er trug einen indigoblauen Anzug und einen ebensol-chen Zylinder. Als er merkte, dass Amy ihn gesehen hatte,tippte er sich an den Hut und schlenderte davon.

    »Was tust du da, Kind?«, fragte Tante Hester hinter ihr.»Nichts«, sagte Amy.»Worauf wartest du dann?« Tante Hester deutete auf

    Amys Koffer. »Der trägt sich nicht von alleine!« Damitwandte sie sich um und rauschte davon.

    Amy folgte ihr in die Villa. Das Erste, was ihr auffiel, wardie ungeheure Stille. Wie ein lebendiges Wesen füllte sie dasganze Haus. Ein Raubtier, das sich auf jedes noch so kleineGeräusch stürzen würde, um es zu verschlingen und dadurchdiese unnatürliche Ruhe aufrechtzuerhalten. Amy stelltensich die Nackenhärchen auf. Es war, als hätten sie einenFriedhof betreten. Und tatsächlich kam auch niemand ange-laufen, um sie zu begrüßen oder Amy den Kofferabzunehmen.

    »Wer wohnt hier sonst noch?«, fragte sie.»Nur wir zwei«, sagte Tante Hester.Amy sah sie ungläubig an. Ihre Tante war sagenhaft

    reich, und trotzdem hatte sie nicht einmal ein Haus-mädchen?

    »Heutzutage kann man sich auf niemanden mehr verlas-sen«, sagte ihre Tante, als hätte sie Amys Gedanken erraten.»Wenn man will, dass die Dinge richtig gemacht werden,erledigt man sie am besten persönlich.« Sie deutete aufAmys Koffer. Mit einem Ruck befreite er sich aus ihrerUmklammerung und schwebte zur Garderobe.

    »Das hätte ich auch selbst machen können«, sagte Amy

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  • und erntete dafür ein herablassendes Lächeln von ihrerTante. »Ja, natürlich.«

    Amy senkte den Blick. »Ich meinte, dass ich den Kofferhätte hintragen können. Die Garderobe ist schließlich nurdrei Schritte entfernt.«

    »Deine Gegenwart ist mir schon unangenehm genug,auch ohne dass ich mir von dir ständig deine Unfähigkeitvor Augen führen lassen muss«, erwiderte Tante Hester undschritt durch den langen Flur davon. »Wo bleibst du?«, riefsie, ohne überhaupt nachgesehen zu haben, ob Amy ihrnicht schon längst folgte.

    Kurze Zeit später saßen sie im Wohnzimmer und TanteHester erklärte ihr die Hausregeln. Die erste und wichtigstelautete, dass Amy niemals alleine die Villa verlassen durfte.Zweitens war es ihr verboten, außerhalb der Küche oder desEsszimmers zu essen, es sei denn, ihre Tante ordnete es an.Und auf den Schränken und den Fenstern hatten wederNasen- noch Fingerabdrücke etwas zu suchen. Überhauptsollte Amy am besten für alles um Erlaubnis fragen. Selbstwenn sie nur in den Garten gehen wollte. Amy wollte schonfragen, warum ihre Tante sie nicht einfach in die Besen-kammer sperre und den Schlüssel fortwarf, unterließ es dannaber, um Tante Hester nicht auf dumme Ideen zu bringen.

    Im nächsten Moment tat diese etwas, das so gar nicht zuihr passen wollte: Sie zauberte ein Fotoalbum herbei. Darinbefanden sich viele Schwarz-Weiß-Bilder von ihr und AmysMutter als junge Mädchen. Und dann sagte Tante Hesterdas erste und einzige Mal in ihrem Leben etwas Nettes zuAmy. »Dieses Foto zeigt deine Mutter, als sie etwa in deinemAlter war. Ich hatte ganz vergessen, wie ähnlich ihr euchseid. An dem Tag, als das Foto gemacht wurde, waren wir im

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  • Stadtpark und ...« Sie brach mitten im Satz ab. »Ist ja auchegal.« Die Wärme und Zuneigung, die ihrer Stimme füreinen kurzen Moment Leben eingehaucht hatte, war wiedererloschen.

    Tante Hester schnippte mit den Fingern und die Seiteblätterte sich um. »Das sind deine Mutter und ich als jungeFrauen«, sagte sie dieses Mal in einem Tonfall, als verlese sieeine Anklage. »Sieh nur, wie sie lächelt. Damals war sie nochglücklich – und dann traf sie deinen Vater, diesenTaugenichts.«

    »Mein Vater ist kein Taugenichts«, protestierte Amy.»Und warum sitzt er dann im Gefängnis?«Amy presste die Lippen zusammen, damit ihr nicht die

    Worte entschlüpften, die ihr auf der Zunge lagen. Dochplötzlich runzelte sie die Stirn. Ja, warum war ihr Vaterüberhaupt verhaftet worden? Der Polizist hatte zwar etwasvon Hochverrat gesagt, aber nicht, was genau er getanhaben sollte. »Wann kann ich meinen Vater besuchen?«,fragte Amy, die mit einem Mal das Gefühl hatte, ganz drin-gend mit ihm reden zu müssen.

    Tante Hester gab eine Art Glucksen von sich. »Über-haupt nicht.«

    »Aber ...«»Du kannst dir ja wohl denken, dass seine Gerichtsver-

    handlung nicht eher beginnen wird, bis die Krönungsfeier-lichkeiten vorüber sind. Das ist das Einzige, was dieMenschen in dieser Stadt im Moment interessiert«, erklärteTante Hester im bissigen Tonfall. »Bis dahin darf er auchkeinen Besuch empfangen.«

    »Woher willst du das wissen? Wir haben es nicht einmalversucht.«

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  • »Weil es zwecklos wäre.«Genug war genug! Amy reckte angriffslustig das Kinn

    vor. »Das sagst du nur, weil du ihn nicht magst!«»Weißt du was, Kind? Du hast recht. Und wie recht du

    hast. Trotzdem kann ich an unseren Gesetzen nichtsändern. Und selbst wenn ich es könnte, würde ich meinenEinfluss nicht an jemanden wie ihn verschwenden.«

    Amy sprang mit einem Ruck auf, sodass ihr Stuhl nachhinten wegkippte. »Ich hasse dich!«

    Tante Hester erhob sich ebenfalls von ihrem Stuhl. Ihrerechte Braue war nach oben gerückt. Voller Verachtungblickte sie auf Amy herab. »Du bist nichts weiter als einlästiger Quälgeist. Ich verstehe nicht, warum sie überhauptan dir interessiert ist. Was ist bloß so besonders an dir?«

    »Was … was meinst du?«, fragte Amy. »Wer ist an mirinteressiert?«

    »Warum kannst du nicht mehr wie deine Mutter sein?«,fuhr Tante Hester fort, ohne ihr zu antworten. »Sie war sobegabt. Was alles aus ihr hätte werden können. Stattdessenheiratete sie deinen Vater und wurde mit einem Kind wiedir gestraft.«

    Amy öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Gestraft?Was redete ihre Tante da? Ihre Mutter hatte sie dochgeliebt, oder nicht?

    »Ich begreife es nicht! Ein Mensch, der nicht zaubernkann. Das ist wider die Natur!« Tante Hesters Nasenflügelblähten sich auf. »Wie willst du überhaupt in dieser Weltbestehen, wenn du nicht einmal die einfachsten Zauberbeherrschst? Kannst du überhaupt alleine dein Zimmeraufräumen?« Sie schnaubte. »Ich werde dir jedenfalls nichthinterherputzen, du … du kleine Missgeburt!«

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  • »Das ist auch gar nicht nötig. Wenn ich saubermachenwill, nehme ich einen Besen.« Heiße Tränen rannen Amyüber die Wangen. »Einen Besen«, wiederholte sie schluch-zend. »Und ich bin keine Missgeburt!« Sie drehte sich umund stürmte davon.

    Amy lief von Zimmer zu Zimmer. Jedes einzelne war mitkostbaren Möbeln und edlen Teppichen ausgestattet. Undtrotzdem wäre Amy am liebsten auf der Stelle in das kleineHäuschen zurückgekehrt, in dem sie mit ihrem Vater lebte.Dort war sie glücklich gewesen. Dort hatte sie sich zuHause gefühlt. Dagegen war dieser Ort so heimelig wie einMuseum. Und wo befand sich überhaupt der Ausgang?

    Dieses Haus war durch die vielen Flure und Korridore soverwinkelt wie ein Labyrinth. Vielleicht hatte Tante Hesteres ja auch verhext, um zu verhindern, dass Amy entfliehenkonnte. Wieder riss Amy eine Tür auf, zuckte dieses Maljedoch zurück. Dahinter lag eine gewundene Kellertreppe,die nach wenigen Metern in der Dunkelheit verschwand.Ein modriger Geruch kroch Amy in die Nase, wie vonetwas, das schon viel zu lange dort unten in der Finsternisvor sich hin faulte. Angewidert warf sie die Tür wieder zuund öffnete eine andere. In diesem Zimmer befand sichnichts weiter als ein Piano.

    Sonnenlicht fiel durch eine Terrassentür, dahintererstreckte sich ein weitläufiger Garten. Er war so wunder-schön, dass Amy für einen Moment alles andere vergaß. Wiein Trance öffnete sie die Terrassentür und trat hinaus. DerGarten war erfüllt vom Summen der Bienen. Amy schnup-perte. Die Luft roch süß und nach Sommer, obwohl längstder Herbst angebrochen war. Und da war noch ein andererDuft, für den sie keinen Namen wusste, der aber ein so

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  • friedliches Gefühl in ihr auslöste, wie sie es sonst nur hatte,kurz nachdem sie aus einem glücklichen Traum erwachtwar.

    Verwundert blickte Amy sich um. In dem Gartenwuchsen exotische Pflanzen, wie sie sie noch nie zuvorgesehen hatte. Farben und Formen waren so fantastisch,dass sie ihr wie ein Traum vorkamen. Da war ein gewaltigerStrauch, um einiges größer als sie selbst und über und übermit Blüten besetzt, die wie Sterne aufleuchteten und wiederverblassten. An anderer Stelle wuchsen üppige Rosensträu-cher, von deren Blüten bunte Farbwolken aufstiegen, sobaldder Wind darüberwehte. Überhaupt war der Wind sehr vielwärmer, als er um diese Jahreszeit sein dürfte, was nurbedeuten konnte, dass er verzaubert war. So, wie vermutlichder ganze Garten.

    Plötzlich hörte Amy Kichern.Sie ging um eine blaurot gestreifte Hecke herum und

    entdeckte einen kleinen Seerosenteich. Eine Bank stand anseinem Ufer. Amy ging hin und setzte sich. Alles hier war sofriedlich, so magisch, so ... Sie vergrub das Gesicht in denHänden und schluchzte auf. Das war einfach nicht fair!Wieso hatte ein Mensch wie Tante Hester so viel Glück imLeben, während Amys Vater, der niemals auch nur einschlechtes Wort über einen anderen gesprochen hatte, imKerker saß?

    »He, alles okay bei dir?«Amy hob überrascht den Kopf. Vor ihr stand ein Junge.

    Er trug einen Strohhut auf dem Kopf, den er nun abnahmund sich gegen die Brust drückte. »Ich heiße Finn«, sagte ermit einem schüchternen Lächeln und setzte sich neben ihrauf die Bank.

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  • KAPITEL 5

    F I N N

    »Darf ich fragen, wie du heißt?« Der Junge konnte kaumälter als Amy sein. Er hatte strubbeliges, blondes Haar undhaselnussbraune Augen, die sie besorgt musterten.

    »Ich bin Amy.« Sie fuhr sich über die Wangen. »Amy Tall-quist. Und ich dachte, ich wäre alleine hier. Meine Tante hatgesagt, dass außer ihr niemand im Haus lebt.«

    »Das stimmt auch.« Finn setzte den Strohhut wieder aufund runzelte die Stirn. »Und es geht dir auch ganz bestimmtgut?«

    »Ja«, sagte Amy, worau"in Finn lächelte. »Da bin ichaber wirklich erleichtert«, gestand er. »Du hast vorhin sotraurig gewirkt, dass ich gar nicht gewusst hätte, was ichsagen soll.«

    Der Junge war seltsam, aber wenigstens ehrlich. Undneugierig obendrein. »Bist du zu Besuch hier?«, wollte er alsNächstes wissen.

    Amy schüttelte zuerst den Kopf, dann nickte sie.

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  • Finn blinzelte verwundert. »Was denn jetzt? Ja odernein?«

    »Na ja, ich werde zumindest so lange hier wohnen, bismein Vater wieder zurückkommt.« Und das wird er!, fügtesie in Gedanken hinzu.

    »Dann ist er verreist?«»Er ist ...« Amy presste die Lippen zusammen. Warum

    ließ sie es zu, dass dieser fremde Junge sie ausfragte? »Wastust du überhaupt hier?«

    »Ich arbeite für Meister Chang«, sagte Finn wie selbst-verständlich. »Er ist der beste Gärtner der Welt. Ich bin soglücklich, dass er mich als Lehrling genommen hat. Das isteine Ehre. Ja, wirklich!« Seine braunen Augen leuchteten vorStolz. »Meister Chang hat diesen Garten ganz alleine ange-legt. Ist das nicht unglaublich?«

    »Und dieser Meister Chang wohnt auch hier?«, wollteAmy wissen.

    »Nicht im Haus, falls du das denkst.« Finn schnaubte.»Das würde deine Tante nie erlauben. Wir sind schließlichnur … Dienstboten.« Er betonte das Wort genauso abfällig,wie es wohl auch Tante Hester tun würde. »Nein, wir lebenin einem winzigen Häuschen, das sich zwischen Lavendel-und Ginsterbüschen am Ende des Gartens verbirgt.« Erneigte den Kopf zur Seite und seufzte. »Willst du mir nichtdoch verraten, warum du vorhin geweint hast? MeisterChang sagt immer, dass einem das Herz gleich viel leichterwird, wenn man über seinen Kummer spricht.«

    »Ach, sagt er das, ja?«, murmelte Amy und riss imnächsten Moment überrascht die Augen auf. Zwischen denSeerosen im Teich tummelten sich winzige Nixen mit schil-lernden Fischschwänzen und kleine blaue Wassermänner

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  • mit Dreizacken. Zuvor hatte sie die gar nicht bemerkt. Stau-nend beobachtete sie, wie ein Wassermann einer Nixe etwasins Ohr flüsterte, worau"in diese hinter vorgehaltenerHand kicherte. Es war das gleiche Kichern, das Amy zu demkleinen Teich gelockt hatte.

    »Du magst wohl wirklich nicht darüber reden, was?«,meinte Finn.

    Nein, das wollte sie nicht. Wenigstens nicht im Augen-blick, daher musste sie Finn unbedingt auf andereGedanken bringen. »Hast du schon die Wasserleute gese-hen? Woher kommen ...?«

    »Meister Chang hat sie mitgebracht. Weiß auch nicht,woher er sie hat«, fiel er ihr ins Wort. »Komm schon, ich binauch ein guter Zuhörer.«

    Und hartnäckig obendrein! Amy stieß hörbar den Atem aus.»Ich kann nicht darüber reden«, sagte sie und starrte auf ihrezitternden Hände, mit denen sie unsichtbare Fussel vonihrem Kleid zupfte.

    »Kannst du nicht oder willst du nicht?«Amy schoss einen säuerlichen Blick auf Finn ab. Bei

    ihrem Vater half das immer. Finn schien jedoch nicht imMindesten davon eingeschüchtert, sondern lächelte sie nurauffordernd an.

    Ich geb’s auf, dachte sie schließlich. Finn würde nicht eherRuhe geben, bis er die ganze Geschichte kannte. Nur:Konnte sie ihm trauen? Vielleicht war er ja ein Spion ihrerTante. Aber selbst wenn es so wäre, was konnte sie ihmschon erzählen, das Tante Hester nicht längst wusste? »Dubist eine Nervensäge!«

    Finn grinste. »Das sagt Meister Chang auch immer.«Amy holte tief Luft und kämpfte gegen die Tränen an,

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  • die wieder in ihr aufzusteigen drohten. »Es ist wegenmeinem Vater. Er wurde heute Morgen verhaftet.« Miteinem Mal sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus undwollten nicht eher versiegen, bis sie alles erzählt hatte. Finnhörte geduldig und mit ernster Miene zu, ohne sie eineinziges Mal zu unterbrechen. Als Amy endlich fertig war,fühlte sie sich tatsächlich ein wenig leichter ums Herz.

    »Also deshalb bist du so traurig.«»Und weil ich mich mit meiner Tante gestritten habe. Sie

    hasst mich! Es ... es ist, na ja, weil ich nicht zaubern kann.Nicht mal ein winziges bisschen. Ich bin eben zu nichtsnutze.« Amy zuckte beschämt die Schultern.

    »Aber jeder kann doch zaubern!«, platzte Finn heraus.»Ich nicht!« Amy funkelte ihn an. »Ich habe alles

    versucht. Immer wieder habe ich geübt und geübt, aber esist nie etwas passiert. Als ich noch klein war, hat es meineEltern fast zur Verzweiflung getrieben, dass ich nicht maldie allereinfachsten Zauber erlernte. Und sie haben sich sobemüht.« Amy wandte den Blick ab und fuhr kaum hörbarfort: »Kannst du dir vorstellen, wie schlimm es für mich war,zusehen zu müssen, wie all die anderen Kinder in meinenAugen kleine Wunder vollbrachten, während mir klarwurde, dass ich anders war als sie, dass ich das alles niemalswürde tun können? Und dass das der Grund war, warumihre Eltern sie von mir fernhielten?«

    Finn berührte sie zaghaft an der Schulter. »Tut mir leid,das habe ich nicht gewusst.«

    »Wie solltest du auch?« Amy schluckte. »Meine Tantehat eben doch recht. Ich bin eine Missgeburt.«

    Finn prustete los.

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  • Amy zuckte zusammen. »Das ist überhaupt nichtkomisch«, zischte sie.

    »Ist es auch nicht«, gab Finn ihr recht. »Aber dichdeshalb gleich als Missgeburt zu beschimpfen … Das istecht fies! Dann kannst du eben nicht zaubern. Na und? Umehrlich zu sein, geht es mir ganz ähnlich.«

    »Wirklich?«, fragte Amy.Finn nickte. »Ich bin der mieseste Zauberer der Stadt.«Amy musterte ihn mit hochgezogener Braue.»Ehrlich«, sagte er. »Ich wurde nie in Magie unterrichtet.

    Natürlich schnappt man mit der Zeit auch auf der Straßeden ein oder anderen Zauberspruch auf, aber währendmeine Freunde sie mit Leichtigkeit erlernten, wollten siemir nie gelingen. Das Einzige, was ich wirklich kann, istTrugbilder heraufzubeschwören.«

    »Trugbilder?«»Dinge, die real aussehen, es aber nicht sind. Sie zu

    rufen, kostet mich sehr viel Kraft. Zudem halten sie nichtbesonders lange.« Finn verzog das Gesicht und ließ dieSchultern hängen. »Tja, das ist auch nicht wirklich besser.«

    Da lächelte Amy, denn plötzlich fühlte sie sich sehr wohlin Finns Gegenwart. Es war das erste Mal, dass siejemandem begegnete, dem die Zauberei fast ebenso zuschaffen machte wie ihr selbst.

    »Meister Chang hat mir inzwischen sogar verboten, michüberhaupt an Magie zu versuchen«, erzählte Finn kleinlautweiter. »Ich habe nämlich mal versucht, mit einem Zauber-spruch, den ich aufgeschnappt habe, eine umgefalleneSchubkarre wieder aufzustellen. Das hättest du sehenmüssen! Die hat mit einem Mal gebockt wie ein wildes

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  • Pferd.« Er grinste. »Zu allem Übel hat sie Meister Changauch noch gebissen.«

    Amy lachte. »Der Ärmste!«»Er konnte ein paar Tage lang nicht sitzen, was er mir

    ziemlich übel genommen hat.«»O, nein, hat er dich etwa dafür bestraft?«»Ach, was.« Finn winkte ab. »So ist Meister Chang

    nicht.« Seine braunen Augen suchten ihren Blick. Es war einkomisches Gefühl, so direkt von einem Jungen angesehen zuwerden. Amy biss sich auf die Unterlippe und blickte raschfort. »Ich glaube, ich weiß etwas, dass dir gefallen wird«,plauderte Finn bereits weiter. »Hier im Garten wächst eineseltene Blume. Sie heißt Mondfeuer, weil sie nur bei Voll-mond blüht. Und das ist schon in vier Tagen. Das darfst duauf keinen Fall verpassen! So etwas Schönes hast dubestimmt noch nicht gesehen!«

    »Hm, ich weiß nicht, dann müsste ich mich ja nachts ausdem Haus schleichen. Wenn mich meine Tante dabei ...«Amy verstummte. Ach, was interessierte sie, was TanteHester tat oder sagte? Noch schwerer konnte sie ihr dasLeben ohnehin nicht machen. »Abgemacht!«

    Finn strahlte. »Ich muss dich jedoch warnen«, fügte erhinzu. »Mit der Nase solltest du dem Mondfeuer auf keinemFall zu nahe kommen.«

    »Warum nicht?«»Die elfenbeinfarbene Flamme in der Mitte der Blüte ist

    kalt wie Eis. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche.« Errieb sich die Nasenspitze.

    Amy kicherte. »Versprich mir, dass du mich holenkommst, wenn es so weit ist, ja?«

    »Hand aufs Herz!«, sagte Finn. Dann beugte er sich zu

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  • ihr vor. »Das Beste weißt du ja noch gar nicht: Wenn manzusieht, wie die Blüte sich öffnet, darf man sich etwaswünschen.«

    »Ist das wahr?« In dem Fall wusste Amy ganz genau, wassie sich wünschen würde.

    Finn zuckte die Achseln. »Meister Chang glaubt jeden-falls fest daran.«

    »O, das wird bestimmt ganz wundervoll«, sagte Amy undschloss ihn vor Aufregung in die Arme. Als sie ihn gleichdarauf wieder freigab, war Finns Gesicht puterrot angelau-fen. Selbst seine Ohren glühten. »Ich sollte dann mal gehen«,meinte Amy. »Je eher ich mich meiner Tante stelle, destoschneller habe ich es hinter mir.« Sie stand auf und liefzurück zur Terrassentür.

    »Amy?«, rief Finn ihr hinterher.Sie blieb stehen und sah zurück.»Und falls du mal wieder jemanden zum Reden brauchst

    …« Finn lüftete mit einer Verbeugung seinen Strohhut.»Weißt du ja jetzt, wo du mich findest.«

    DIE GESCHICHTE GEHT WEITER IN »AMY UND DERZauber des Schwarzen Sterns«.

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  • A M Y U N D D E R Z A U B E R D E SS C H WA R Z E N S T E R N S

    Autor: Michael HamanntCover: Timo KümmelE-Book oder Broschüre: 300 SeitenSprache: DeutschISBN: 9781098660130

    Für Amy bricht eine Welt zusammen, als ihr Vater insGefängnis geworfen wird. Sie muss zu ihrer Tante ziehen,die nur Verachtung für sie übrig hat. Doch Amy gibt nichtauf: Zusammen mit ihrem besten Freund Finn sucht sienach Beweisen für die Unschuld ihres Vaters. Dabeikommen die beiden einer Gruppe mächtiger Magier auf dieSpur, die nun auch Jagd auf Amy und Finn machen. Siehaben nur eine Chance, um zu überleben: Sie müssen hinterdas Geheimnis des Schwarzen Sterns kommen …

    Ein Fantasy-Roman voller Magie - so spannend, dass auchErwachsene ihn verschlingen werden!

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  • VORSEHUNG

    Autor & Illustrator: Timo KümmelBroschüre: 60 SeitenVerlag: Atlantis VerlagSprache: DeutschISBN-10: 3864025621ISBN-13: 978-3864025624

    Timo Kümmel ist eine bildgewaltige Säule der deutschenPhantastik. Seit nahezu zwei Jahrzehnten entfalten sichseine visionären Panoramen und entführen seine Illustra-tionen in fremde Welten.

    Er wurde für alle wichtigen Genre-Preise nominiert undbereits zweimal mit dem renommierten Kurd Laßwitz Preisfür die beste Science Fiction-Graphik ausgezeichnet.

    Dieser Bildband präsentiert die stärksten Arbeiten des

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  • Künstlers, besondere Wegmarken und persönliche Einblickein seinen Werdegang.

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