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The following ad supports maintaining our C.E.E.O.L. service Serbien zwischen Europa und Kosovo. Politische Entwicklungen seit der Unabhängigkeitserklärung «Serbia Between Europe and Kosovo: Political Developments Since the Declaration of Independenceb» by Florian Bieber Source: Southeast Europe.Journal of Politics and Society (Südosteuropa. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft), issue: 03 / 2008, pages: 318335, on www.ceeol.com .

Florian Bieber, Serbien zwischen Europa und Kosovo

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“Serbien zwischen Europa und Kosovo. Politische Entwicklung nach der Unabhängigkeit des Kosovo,” Südosteuropa, Vol. 56, No. 3 (2008), 318-335.

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Serbien zwischen Europa und Kosovo.Politische Entwicklungen

seit der Unabhängigkeitserklärung«Serbia Between Europe and Kosovo: Political Developments Since the Declaration of

Independenceb»

by Florian Bieber

Source:Southeast Europe.Journal of Politics and Society (Südosteuropa. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft),issue: 03 / 2008, pages: 318­335, on www.ceeol.com.

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FLORIAN BIEBER

Serbien zwischen Europa und Kosovo. Politische Entwicklungen

seit der Unabhängigkeitserklärung

Abstract. The fall of the Serbian government, following Kosovo’s declaration of independ-ence in February 2008, triggered the fourth parliamentary elections since the end of the Milošević regime in 2000. Serbia continues to struggle with divided democratic parties and a strong nationalist opposition, the Serb Radical Party. As this article will argue, however, Kosovo and nationalist topics did not resonate with voters in the elections. The Democratic Party of Serbia of former Prime Minister Vojislav Koštunica lost a third of their votes since 2007 despite focusing its campaign on retaining Kosovo in Serbia. The continued success of the Radical Party can be explained primarily by the party’s social populism and the disap-pointment of many voters with their personal economic status. Despite political instability, the election results from May 2008 and the relatively muted Serbian reaction, aside from the protests in Belgrade in February 2008, suggest that the independence of Kosovo has only temporarily delayed the democratization of Serbia and its prospects for EU integration. This article examines the reasons why Serbia, although having at least formally lost a part of its territory in February 2008, did not experience a nationalist mobilization, but rather continued its cooperation with countries that recognized Kosovo. This question will be discussed in the context of the emerging political system in Serbia and the relevance of nationalism as a topic of political discourse.

Florian Bieber ist Lecturer in East European Politics am Department of Politics and Interna-tional Relations, University of Kent, Canterbury, Großbritannien.

Seitdem Slobodan Milošević 1987 die Krise in Kosovo zu seinem Machtaufstieg nutzte, diente diese ehemalige serbische Provinz als Projektionsfläche nationaler Ängste, was eine Demokratisierung Serbiens auf vielfältige Weise erschwerte.1 Auch nach dem Ende der Ära Milošević tat sich die politische Elite Serbiens mit einer offenen Diskussion über Kosovo schwer. Gebetsmühlenartig betonte sie dessen Zugehörigkeit zu Serbien.2 Als das kosovarische Parlament am 17.

1 Ich danke Irena Ristić für ihre hilfreichen Kommentare.2 Von den führenden Politikern deutete außer den Vertretern der Liberaldemokratischen

Partei (Liberalno demokratska partija, LDP) lediglich Präsident Boris Tadić im Dezember 2005

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SeRbIen

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Februar 2008 die Unabhängigkeit der Provinz ausrief, kam es in Belgrad zu gewaltsamen Demonstrationen sowie zu Angriffen auf die Zollposten an den Grenzen zwischen Kosovo und Serbien. Bald ebbten die Proteste jedoch ab, und die Wahlergebnisse vor und nach der Unabhängigkeitserklärung Kosovos weisen nicht auf eine politische Radikalisierung hin. Dieser Aufsatz geht der Frage nach, warum Serbien, das im Februar 2008 einen Teil seines Territoriums zumindest formal verlor, keine nationalistische Massenmobilisierung erlebte, sondern stattdessen die Zusammenarbeit auch mit jenen Ländern verbesserte, die die Unabhängigkeit Kosovos anerkannt haben. Im Mittelpunkt stehen die Entwicklung des politischen Systems in Serbien sowie die Bedeutung von Na-tionalismus als Thema des politischen Diskurses. Seitdem die nationalistische Serbische Radikale Partei (Srpska radikalna stranka, SRS) 2003 zur stärksten Partei in Serbien erwuchs, schien die Unabhängigkeit Kosovos die größte und möglicherweise letzte Gelegenheit für nationalistische Kräfte, an die Macht zu gelangen. Dies erwies sich als Irrtum. Vielmehr gelang es der Demokra-tischen Partei (Demokratska stranka, DS) bei den Parlamentswahlen im Mai 2008 gemeinsam mit ihren Koalitionspartnern ihren Stimmenanteil deutlich zu steigern, und erstmals seit 2003 wurde die SRS nicht die stärkste Fraktion im Parlament. Die letzte Überraschung war der Wandel der Sozialistischen Partei Serbiens (Socijalistička partija Srbije, SPS), die sich für eine weitere Annäherung an die Europäische Union aussprach und eine Koalition mit der DS einging. Wie ist es erklärbar, dass weder die extrem nationalistische SRS noch die De-mokratische Partei Serbiens (Demokratska stranka Srbije, DSS) des ehemaligen Premierministers Vojislav Koštunica, die ständig auf den Erhalt Kosovos als Teil Serbiens gepocht hatten, bei den Parlamentswahlen im Mai 2008 von der Unabhängigkeitserklärung profitieren konnten?

Es gilt, anhand der Bedeutung der Kosovo-Frage nach dem Ende des Milošević-Regimes zu erklären, warum der SRS und anderen nationalistischen Parteien nicht die Machtübernahme bzw. der Verbleib an der Macht gelang, und das trotz einer vermehrten Zahl nationalistischer Medien und Organisationen im Land. Dies wirft nicht zuletzt ein Schlaglicht auf die mögliche weitere Entwicklung des politischen Systems in Serbien und trägt insgesamt zum Verständnis der Frage bei, ob und wie „Statusfragen“ nationalistische Argumentationskraft fördern oder untergraben.

einen möglichen Verlust Kosovos an. Nach heftigen Angriffen in den Medien und durch andere Politiker schloss Tadić dann aber die Unabhängigkeit als mögliches Ergebnis der Statusgespräche aus. Vgl. James Ker-Lindsay, Kosovo: The Path to Contested Statehood in the Balkans. London 2009 (im Druck).

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Statusfragen als Reformhindernisse

Das Ende der Ära Milošević bedeutete in Serbien keineswegs auch ein Ende der Beschäftigung mit der „nationalen Frage“ in der Politik. Neben dem Fortwir-ken nationalistischer politischer Parteien wie der SRS und der DSS baute auch die orthodoxe Kirche ihren Einfluss auf Regierung und Parteien aus. Zwar blieb Serbien von einem weiteren Krieg verschont, doch beeinträchtigten vor allem drei nationalistische Kernthemen die Stabilität und Demokratisierung: Zum einen war dies die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, die nicht nur in Fragen der Kriegsverantwortung zentral, sondern auch eng mit der europäischen Integration Serbiens verknüpft war und ist. Zum Zweiten beendete erst das Unabhängigkeitsreferendum in Montenegro im Mai 2006 und das darauffolgende Ende des Staatenbunds zwischen Serbien und Montenegro die Wirkungen dieses schon lange span-nungsreichen Verhältnisses auf die serbische Politik. Und schließlich, als wohl dominantestes Thema, bestimmten der ungeklärte Status Kosovos und die damit einhergehenden Konflikte zwischen albanischer und serbischer Bevölkerung wellenartig immer wieder die politischen Debatten in Serbien.

Die Bedeutung dieser drei Aspekte erwuchs zunächst aus der Unsicherheit, was für ein Staat Serbien sei und wo seine Grenzen liegen. Angesichts unge-klärter und gespannter Beziehungen zu Montenegro und dem Kosovo war die fehlende Konsolidierung der Staatlichkeit ein wichtiger Grund für die verzögerte Demokratisierung.3 Im Kern betrafen die genannten drei Themen die interne politische Orientierung des Landes, seinen Umgang mit den Nachbarn sowie seine Prioritäten in der internationalen Politik. Ihre Bedeutung steigerte sich auch durch das politische Kapital, das nationalistische Kräfte aus ihnen zu schlagen vermochten. Den damit verknüpften Problemen konnten sich die ver-schiedenen Koalitionen seit 2000 nicht entziehen, es kam zu Regierungskrisen, die das politische System bestimmten.

Infolge der Auslieferung Slobodan Miloševićs an das Kriegsverbrechertri-bunal durch die Regierung Đinđić Ende Juni 2001 zerbrach die DOS-Koalition durch den Austritt der DSS. Weiterhin verhärteten sich die Fronten zwischen jenen Parteien, die einer Westorientierung Priorität einräumten, und jenen, die vermeintliche nationale Interessen stärker betonten.4 Mit Ausnahme der SRS lässt sich 2001 aber keine politische Partei eindeutig als Gegner oder Befürwor-ter der Zusammenarbeit mit dem Kriegsverbrechertribunal definieren. Unter der von der DS dominierten Regierung bis Anfang 2004 begann jedenfalls eine

3 Nenad Zakošek, Democratisation, State-Building and War: The Cases of Serbia and Croa-tia, Democratisation 15 (2008), H. 3, 588-610, hier 606-607; Dušan Pavlović / Slobodan Antonić, Konsolidacija demokratskih ustanova u Srbiji posle 2000. godine. Belgrad 2007, 229-236.

4 Vgl. Iavor Ranglov, International Law and Local Ideology in Serbia, Peace Review 16 (2004), H. 3, 331-337.

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Zusammenarbeit mit Den Haag. Jedoch lieferte die erste DSS-Regierung unter Vojislav Koštunica (2004 bis 2007) mit Unterstützung der SPS weitaus mehr Angeklagte nach Den Haag aus. Die Behauptung der Regierung, alle Ange-klagten hätten sich freiwillig dem Gericht gestellt, wurde von vielen Seiten angezweifelt. Die vorerst letzte Verhaftung, jene Radovan Karadžićs Ende Juli 2008, erfolgte nur wenige Tage, nachdem die DS in Koalition mit der SPS eine neue Regierung gebildet hatte. Ob der Zeitpunkt der Verhaftung Karadžićs zufällig mit dem Regierungswechsel zusammenfiel oder ob erst der Wechsel an der Spitze des serbischen Geheimdienstes BIA seine Verhaftung ermöglichte, ist noch unklar.5

Die kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen den serbischen Behörden und dem Haager Strafgerichtshof seit 2001, unabhängig von der jeweiligen Regierung, weist jedoch darauf hin, dass es in Serbien keine „haški lobi“ (Haa-ger Lobby) oder „antihaški lobi“ (Anti-Haager Lobby) im Sinne eines innen-politischen Diskurses gibt. Lediglich die SRS, die einzige größere Partei ohne Regierungsverantwortung, lehnte zwischen 2000 und 2008 eine Kooperation mit dem Strafgerichtshof stets ab. Insbesondere nach dem Ausbleiben von Massenprotesten nach den ersten Verhaftungen und dem Erlass des Bundesge-setzes über die Kooperation mit dem Haager Tribunal im April 2002 büßte das Thema seine innenpolitische Sprengkraft ein. Die ausgebliebenen öffentlichen Reaktionen auf die Überstellung von Kriegsverbrechern und die abnehmende innenpolitische Relevanz des Themas erleichterten künftig zwar die Kooperation mit dem Tribunal, bedeuteten jedoch keineswegs den Beginn einer tatsächlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, trotz verschiedener Initiativen, die Öffentlichkeit mit der Kriegsvergangenheit zu konfrontieren, beispielsweise durch die Veröffentlichung eines Videos, das Erschießungen muslimischer Män-ner und Jugendlicher durch die paramilitärische Einheit „Skorpione“ zeigt.

Das zweite bedeutsame Thema zwischen 2000 und 2006 war das ungeklärte Verhältnis zu Montenegro. Obwohl die Bestrebungen Montenegros nach mehr Eigenständigkeit durch die Politik Miloševićs verursacht waren, bewirkte das Ende seines Regimes und die Machtübernahme der DOS-Koalition in Serbi-en kein Abklingen der Spannungen zwischen den beiden Republiken. Nun konnte Montenegro ohne Furcht vor einem militärischen Eingreifen offen die Unabhängigkeit anstreben, während die neue Führung in Serbien zögerte, die Beziehungen zwischen beiden Republiken neu zu verhandeln. 2003, nach der Intervention des EU-Beauftragten für Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, wurde die Bundesrepublik Jugoslawien in den Staatenbund Serbien und Montenegro umgewandelt. Er erwies sich als kurzlebiges Provisorium, das nur drei Jahre standhalten sollte. Im Mai 2006 sprach die montenegrinische

5 Analitičari: Dobra Vest, B92 Vesti, 22.07.2008.

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Bevölkerung sich in einem von der EU überwachten Referendum knapp für die Unabhängigkeit aus. Anders als im kosovarischen Fall bargen die serbischen Beziehungen zu Montenegro kein Gewaltpotential und auch keine nationalis-tischen Spannungen und Stereotypen. Gleichwohl lenkten sie von der demo-kratischen Konsolidierung Serbiens ab. Bis 2006 bestand eine dysfunktionale Staatsstruktur, die Reformvorhaben um Jahre verzögern konnte und selbst eine interne Debatte um die Staatsform Serbiens aufschob.6

Das dritte Hindernis für die demokratische Konsolidierung Serbiens waren die Spannungen in Kosovo und dessen ungeklärter Status. Wenige Monate nach den Wahlen im September und den Massenprotesten am 5. Oktober 2000, die das Ende des Milošević-Regimes gebracht hatten, sah die neue demokratische DOS-Koalition sich mit einem bewaffneten Konflikt in Südserbien konfrontiert. Der Kleinkrieg zwischen serbischen Sicherheitskräften und der „Albanischen Befreiungsarmee für Preševo, Medveđa und Bujanovac“ (Ushtria Çlirimtare e Preshevës, Medvegjës dhe Bujanocit, UÇPMB) drohte zu eskalieren, ähnlich wie der Krieg in Kosovo 1998. Die Kooperation mit der NATO und die Bemühungen der neuen jugoslawischen bzw. serbischen Führung um eine Deeskalation deuten auf einen anderen Umgang mit interethnischen Spannungen hin, als dies unter dem Milošević-Regime der Fall gewesen war.7 Das Thema Kosovo verschwand, aufgrund anderer Prioritäten der Đinđić-Regierung und der verhältnismäßigen Ruhe in der Region, gleichsam von der politischen Tagesordnung. Die Unru-hen in Kosovo im März 2004 fielen mit der Übernahme der Regierung durch Koštunica zusammen, was den neuerlichen Bedeutungszuwachs Kosovos in der Politik und den Medien besonders ausgeprägt ausfallen ließ.8 Die Tatsache, dass die Vereinten Nationen und die westliche Staatengemeinschaft die Sta-tusfrage Kosovos nach den Ereignissen 2004 auf die Agenda riefen, verstärkte diese Dynamik noch. Die Zugehörigkeit Kosovos zu Serbien wurde zu einer Kernaussage fast aller politischer Parteien stilisiert und durch die Verteilung der neuen serbischen Flagge durch Präsident Tadić in den serbischen Enklaven Kosovos im Februar 2005 unterstrichen.9 In der serbischen Verfassung vom November 2006 heißt es in der Präambel, dass

„[...] die Provinz Kosovo und Metochien ein Kernbestandteil des Territoriums Serbiens ist, dass sie substantielle Autonomie im Rahmen des souveränen Staates Serbiens genießt

6 Vgl. Florian Bieber, Serbien und Montenegro: Provisorium oder Modell des minimalis-tischen Föderalismus?, Jahrbuch des Föderalismus 5 (2004), 322-338.

7 Vgl. International Crisis Group, Southern Serbia’s Fragile Peace, 09.12.2003, unter <http://www.crisisgroup.org/home/index.cfm?id=2414&l=1>; Humanitarian Law Center, Albanians in Serbia. Preševo, Bujanovac and Medveđa. Belgrade 2002. Auf alle Internetseiten wurde am 15.12.2008 zuletzt zugegriffen.

8 Vgl. Florian Bieber, What kind of Serbia shall it be? Building State and Nation after the Disintegration of Yugoslavia. Wien 2005 (OIIP Arbeitspapier, 53).

9 Jelena Bjelica, Nezavisnost Kosova je neprihvatljiva, Danas, 14.02.2005.

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und dass aus dieser Situation der Provinz Kosovo und Metochien die verfassungsmäßige Verpflichtung aller staatlichen Organe erwächst, die staatlichen Interessen Serbiens in Kosovo und Metochien in allen internen und externen politischen Beziehungen zu vertreten und zu verteidigen [...]“.10

Seit 2004 hatte in der Kosovo-Politik der serbischen Regierung das Thema der Erhaltung der territorialen Integrität Serbiens dominiert. Maßnahmen zum Schutz der serbischen Minderheit in Kosovo wurden dieser Position meist un-tergeordnet.11 Die Regierung bemühte sich um die Demonstration nationaler Einheit, so dass Parteien oder Politiker, die dieser Kosovo-Politik widersprachen, in der Boulevardpresse und von nationalistischen Parteien häufig als Verräter abgestempelt und ausgegrenzt wurden.12 Trotz der kompromisslosen Rhetorik der dominanten politischen Parteien Serbiens blieb die konkrete Politik relativ gemäßigt. Auf die einseitige Unabhängigkeitserklärung reagierte man gegen-über Kosovo und den Staaten, die die Unabhängigkeit anerkannten, moderat. Weder verhängte die Regierung Sanktionen gegen Kosovo, noch gingen die diplomatischen Sanktionen über den Rückruf der Botschafter hinaus.13 Der Wi-derspruch zwischen rhetorischem Extremismus14 und gemäßigter Politik erklärt

10 „Polazeći i od toga da je Pokrajina Kosovo i Metohija sastavni deo teritorije Srbije, da ima položaj suštinske autonomije u okviru suverene države Srbije i da iz takvog položaja Pokrajine Kosovo i Metohija slede ustavne obaveze svih državnih organa da zastupaju i štite državne interese Srbije na Kosovu i Metohiji u svim unutrašnjim i spoljnim političkim odnosima …“ Ustav Republike Srbije, 09.11.2006.

11 Marc Weller, The Vienna Negotiations on the Final Status for Kosovo, International Affairs 84 (2008), H. 4, 659-681, hier 667-668. Die serbische Regierung schlug 2004 eine weitgehende Dezentralisierung Kosovos vor, zögerte jedoch während der Statusverhandlungen, sich voll zu engagieren, aus Sorge, sie könnte dazu beitragen, einen inakzeptablen Plan zu legitimieren. Vgl. Plan za političko rešenje sadašnje situacije na Kosovu i Metohiji, 29.04.2004, unter <http://www.koreni.net/broj38/plankosovo.htm>. Siehe auch Florijan Biber [Florian Bieber], Vreme za nove prioritete, Politika, 08.12.2004.

12 Goran Svilanović, Außenminister zwischen 2000 und 2004, wurde als Mitglied einer unabhängigen Balkankommission, die eine bedingte Unabhängigkeit Kosovos befürwor-tete, angegriffen und trat aus der Parlamentsfraktion der DS aus. Skup o Kosovo, B92 Vesti, 20.04.2005. Auch die LDP kritisierte später häufig die Kosovo-Politik der anderen Parteien und rief zu einem Boykott des Verfassungsreferendums im Oktober 2006 auf. Ustav, kompromis, jednakost, B92 Vesti, 23.10.2006.

13 Im Juli 2008, kurz nachdem die neue DS-SPS-Regierung das Amt übernommen hatte, kehrten die serbischen Botschafter in die EU-Länder zurück, die Kosovo anerkannt hatten. J. Tasić, Vlada vraća ambasadore u države članice EU, Danas, 25.07.2008. Später kehrten auch Botschafter in andere Länder, die Kosovo anerkannt hatten, zurück, wie z. B. Kroatien. Zugleich reagierte Serbien sehr scharf auf die Anerkennung Kosovos durch Montenegro und Makedonien im Oktober 2008, indem es die Botschafter der beiden Länder zu personae non gratae erklärte. Serbien weist Botschafter von Montenegro und Mazedonien aus, Neue Zürcher Zeitung Online, 10.10.2008.

14 So rechtfertigte z. B. Slobodan Samardžić, Minister für Kosovo und Metochien, das Niederbrennen der Zollkontrollposten zwischen Serbien und dem Kosovo nach der einseiti-gen Unabhängigkeitserklärung. Možda nije lepo, ali je legitimno, Poligraf, TVB92, 19.02.2008.

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sich nicht nur aus der weitgehenden Ohnmacht Serbiens, auf den Status Koso-vos tatsächlich Einfluss zu nehmen, sondern auch aus den unterschiedlichen Prioritäten der dominanten Parteien. Während die Demokratische Partei Tadićs nicht bereit war, die europäische Integration einer harten Linie zu Kosovo zu opfern, verfolgte die Demokratische Partei Serbiens unter Führung Koštunicas zumindest ab 2007 eine zunehmend EU-kritische Linie.15

Die Themen Kosovo, Montenegro und Kriegsverbrechertribunal be-herrschten die innenpolitischen Debatten, die Außenpolitik und die Medienberichterstattung;16 die Bevölkerung hatte andere Sorgen. Die politischen und staatlichen Statusfragen wurden seit 2000 in Umfragen stets existentiellen Problemen wie Arbeitslosigkeit oder Armut untergeordnet. Politische Prioritäten (in Prozent) laut Umfragewerten 2004-2006:17

10 2004

11 2004

12 2004

1 2005

2 2005

3 2005

4 2005

5 2005

6 2005

7 2005

9 2005

1 2006

Arbeits-losigkeit 30 28 31 28 34 30 32 33 32 36 32 30

Wirt-schaft 18 19 13 17 17 14 17 16 17 16 15 17

Lebens-standard 11 14 18 12 14 14 12 12 11 11 15 12

Kosovo 8 8 4 11 8 9 8 9 6 5 7 9ICTY 4 3 4 1 2 2 1 2 1 1 2

Warum spielten der Kosovo, Montenegro und der Strafgerichtshof eine so dominante Rolle im innenpolitischen Diskurs, wenn die Wähler relativ wenig Interesse an diesen Themen zeigten und von der Regierung die Setzung anderer Prioritäten erwarteten? Zunächst gilt es zu erklären, warum nationalistische Rhetorik nur auf eine begrenzte Resonanz bei den Wählern stieß, warum sich aber die Parteien dennoch dieser Rhetorik bedienten und welche Auswirkungen dies auf die Entwicklung des serbischen Parteiensystems hatte. Dies verhilft

Das Transkript der Sendung ist abrufbar unter <http://www.b92.net/info/emisije/poligraf.php?yyyy=2008&mm=02&nav_id=285638>.

15 Zunächst wurde Kosovo von Beratern Koštunicas als „NATO-Staat“ bezeichnet und eine engere Anlehnung an dieses Bündnis vehement abgelehnt. Schon vor der tatsächlichen Unabhängigkeitserklärung nahm die Anti-EU-Rhetorik der DSS zu. Danach wurde dann etwa die EU-Mission Eulex als Geburtshelferin des unabhängigen Kosovo dargestellt. Siehe z. B. das Interview mit Dragan Jočić, stellvertretender Präsident der DSS, Kosovo iznad Evrope, Večernje novosti, 09.09.2008.

16 Zur Medienberichterstattung siehe Beogradski Centar za Ljudska Prava (Hg.), Ljudska prava u Srbiji 2007. Beograd 2008, 228-229 und 272-274.

17 International republican Institute, Serbia. Belgrade 2006, unter <http://www.iri.org/europe/serbia.asp>. Anderen Themen, wie die Bekämpfung der Korruption oder die Land-wirtschaft, wurde in diesem Zeitraum gelegentlich ebenfalls mehr Bedeutung zugemessen als Kosovo und deutlich mehr als der Zusammenarbeit mit dem Strafgerichtshof.

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dann zu einer Antwort auf die Frage, weshalb die Unabhängigkeitserklärung Kosovos nicht zu einem nationalistischen Rückschlag bei den Wahlen im Mai 2008 führte.

Die gescheiterte nationalistische Mobilisierung nach 2000

In den ersten Jahren nach dem Sturz des Milošević-Regimes boten sich zwar Themen für eine nationalistische Mobilisierung an, doch hatte die nun domi-nante neue politische Elite kein Interesse daran. Die meisten Medien, die in den neunziger Jahren stereotype Feindbilder und Hass verbreitet hatten, wie Radio Televizije Srbije, Večernje novosti, Politika, standen unter staatlicher Kontrolle und änderten nach dem 5. Oktober 2000 ihre politische Ausrichtung. Somit verfügten weder die SPS noch die SRS in den ersten Jahren nach dem Machtwechsel noch über Foren, die ihre Positionen vertreten hätten. Medien wie der im Besitz der SPS befindliche Fernsehsender Most (Brücke) oder die kurzlebige, gegen die neue Regierung anschreibende Tageszeitung 24 Časa (24 Stunden) gelang es nicht, breitere Bevölkerungsschichten anzusprechen.18 Ab Ende 2002 entstand jedoch eine vielfältige Medienlandschaft, die auch auflagenstarke nationalistische Boulevardzeitungen und -zeitschriften (Kurir, Balkan, Press, Pravda, Nacional, Internacional, Srpski Nacional) umfasste. Obgleich auch viele dieser Publikatio-nen sich als kurzlebig erwiesen, etablierte sich doch durch niedrige Preise und aufreißerische Berichterstattung eine nationalistische Sensationspresse.19 Aber auch die Berichterstattung in den großen staatlichen bzw. regierungsnahen Medien (RTS, Politika, Večernje novosti) gestaltete sich ab 2004 wieder verstärkt nationalistisch, insbesondere in Bezug auf Kosovo.

Außer einer kommerziellen nationalistischen Medienlandschaft entstanden in den vergangenen Jahren eine Reihe nationalistischer, vor allem an Jugendliche und Studierende gerichtete Organisationen, die von neonazistischen Skinheads (z. B. Nacionalni Stroj) bis zu konservativ-religiösen Vereinigungen ein breites Spektrum abdecken.20 Durch medienwirksame Aktionen, wie den Angriff auf die „Gay Pride Parade“ 2001 in Belgrad oder Veranstaltungen, insbesondere an der juristischen Fakultät der Universität Belgrad, im Zuge derer serbische Kriegsverbrechen verleugnet wurden, schufen sich diese Organisationen eine breitere Öffentlichkeit.21 Die tatsächliche Beliebtheit dieser Gruppierungen blieb

18 Aleksandar Ciric, The News Media in Serbia, AIM, 29.04.2001.19 Snježana Milivojević, Tabloidizacija dnevne štampe u Srbiji, Mediacentar Online,

28.12.2007, unter <http://www.media.ba/mcsonline/bs/tekst/tabloidizacija-dnevne-stampe-u-srbiji>.

20 Ich verdanke diesen Hinweis Đorđe Stefanović. 21 Beogradski Centar za Ljudska Prava, Ljudksa prava u Srbiji (wie Anm. 16), 277-278.

Hinzu kamen zahlreiche Angriffe auf politische Gegner. Eine Studie der Youth Initiative for Human Rights identifiziert für einen Zeitraum von sieben Monaten (10/2006 - 4/2007) 57

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jedoch begrenzt. Die seit 1993 bestehende, als orthodox klerikal-faschistisch eti-kettierte Organisation Obraz erfreute sich kurzfristig einer neuerlichen gewissen Aufmerksamkeit, doch verlor sie nach dem Tod ihres Gründers Nebojša Krstić 2001 zunehmend an Profil. Hatten in den neunziger Jahren politische Parteien und meist staatlich gesteuerte oder zumindest kontrollierte paramilitärische Gruppierungen das nationalistische Spektrum abgedeckt, füllte seit 2000 eine wachsende nationalistische, verschiedene Strömungen und unterschiedliche Grade an Gewaltbereitschaft aufweisende NGO-Szene das entstandene Vakuum. Hinter der Vielzahl verschiedener Gruppen und Internet-Präsenzen verbirgt sich aber eine tatsächlich eher geringe Zahl von Anhängern.

Das Gewaltpotential solcher nationalistischer Organisationen und einer durch die Medien aufgeheizten entsprechenden Atmosphäre wurde erstmals bereits 2001 deutlich, als Mitglieder von Obraz und anderen nationalistischen Organi-sationen Teilnehmer der ersten „Gay Pride Parade“ in Belgrad attackierten und die Polizei untätig blieb. Zu gewalttätigen Protesten kam es erneut zwischen dem 17. und dem 19. März 2004, in direkter Reaktion auf Angriffe albanischer Extremisten auf die serbische Minderheit und auf internationale Organisa-tionen in Kosovo. Mehrere Botschaften und die Moscheen in Niš und Belgrad wurden schwer beschädigt, Häuser von Minderheiten in zahlreichen Orten Serbiens angegriffen. In erster Linie waren albanische Geschäfte und Häuser Zielscheibe der Angriffe; allein in Novi Sad kam es während dieser drei Tage zu 54 Übergriffen auf albanische oder vermeintlich albanische Einrichtun-gen.22 Neben dieser kurzen heftigen Gewaltwelle kam es im gleichen Jahr zu zahlreichen Zwischenfällen, die auf Minderheiten in der Vojvodina abzielten. Nach einem verstärkten Engagement der Polizei verebbten die Angriffe dann weitgehend.23

Andere potentielle nationalistische Mobilisierungsmomente verstrichen ohne eine besondere Eskalation. Die Auslieferung mutmaßlicher Kriegsverbrecher an den Internationalen Strafgerichtshof führte wie gesagt zu keinen nennens-werten Massenprotesten. In Kroatien beispielsweise organisierte hingegen die oppositionelle Kroatische Demokratische Gemeinschaft (Hrvatska demokratska

Angriffe auf Personen und Eigentum sowie 51 Drohungen gegen politisch Andersdenkende und Minderheiten. Youth Initiative for Human Rights, Political Violence in Serbia, October 2006 -April 2007. Beograd 2007, 31, unter <http://www.yihr.org/uploads/publications/eng/ 17.pdf>.

22 Andere Minderheiten wurden entweder aufgrund ihrer islamischen Religionszuge-hörigkeit zur Zielscheibe der Gewalt oder aufgrund der Verwendung des Albanischen, was insbesondere Ashkali betraf. Ministarstvo Unutrašnjih Poslova Republike Srbije, Uprava Policije, Informacija o međunacionalnim ekcesima gde su identifikovani izvršioci u 2003. i 2004. godini. Belgrad 02.07.2004, 3.

23 Florian Bieber / Jenni Winterhagen, Ethnic Violence in Vojvodina: Glitch or Harbinger of Conflicts to Come? Flensburg 2006 (ECMI Working Paper, 27). Verfügbar unter www.ecmi.de.

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zajednica, HDZ) gemeinsam mit Veteranenverbänden Massenproteste und übte starken Druck auf die Regierung von Ivica Račan (2000-2003) aus.24 In Serbien löste allein die Verhaftung und Auslieferung von Radovan Karadžić im Juli 2008 nennenswerte Proteste aus. Doch auch hier beschränkte sich die Teilnehmerzahl, mit Ausnahme der von der Radikalen Partei mitorganisierten Demonstration am 29. Juli 2008, auf wenige Hundert. Im Vergleich zu früheren Veranstaltungen der Radikalen Partei erscheint selbst die Zahl von 15.000 am 29. Juli mobilisierten Teilnehmern relativ gering.25

Das bedeutendste nationalistische Mobilisierungspotential seit Ende 2000 barg zweifellos die Unabhängigkeitserklärung Kosovos am 17. Februar 2008. Wie kein anderes Thema bedient der Kosovo eine reiche mythologische Requi-sitenkammer, mittels derer Handlungsmotive und -direktiven sowie historische Ansprüche ausgestattet werden. Wie im März 2004 waren es auch dieses Mal Übergriffe gegen Serben bzw. die vermeintliche oder tatsächliche Benachtei-ligung von Serben in Kosovo, die mehr als jedes andere politische Ereignis die Menschen zu mobilisieren vermochte. Auch insofern ist die Reaktion auf die einseitige Unabhängigkeitserklärung von besonderer Bedeutung, um das verbliebene Mobilisationspotential des Nationalismus einzuschätzen. Neben einer Reihe inoffiziell organisierter Proteste in den Tagen nach der Unabhängig-keitserklärung bildete die Regierungsveranstaltung „Kosovo je Srbija“ (Kosovo ist Serbien) am 21. Februar 2008 mit ca. 250.000 Teilnehmern den Höhepunkt der unmittelbaren Reaktionen.26 Als Redner traten überwiegend Vertreter des nationalistischen politischen Spektrums aus Serbien, Bosnien-Herzegowina und Montenegro auf, sowie Vertreter des öffentlichen Lebens, wie der Tennisspieler Novak Đoković. Alle unterstrichen den serbischen Anspruch auf den Kosovo und lehnten dessen Unabhängigkeit ab. Während die Veranstaltung offiziell mit einem Marsch vom Parlamentsgebäude zur Kirche des heiligen Sava endete, fanden gleichzeitig Krawalle gegen Botschaftsgebäude und „Verräter“, z. B. den Fernseh- und Radiosender B92, statt.27 Nichts diskreditierte jedoch die Proteste so sehr wie die Plünderung von Geschäften, insbesondere Sportfachgeschäften, im Zentrum Belgrads. Der mit einem Mobiltelefon aufgenommene entsprechen-de Film zweier junger Belgrader Frauen wurde binnen Kurzem als „Kosovo za

24 Victor Peskin / Mieczyslaw P. Boduszynski, International Justice and Domestic Politics: Post-Tudjman Croatia and the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, Europe-Asia Studies 55 (2003), H. 7, 1117-1142.

25 Radikalski miting završen neredima, Danas, 30.07.2008. An Protestveranstaltungen Mitte August nahmen ca. 50-100 Teilnehmer teil, trotz der Anwesenheit prominenter Abgeordneter der SRS sowie von Karadžićs Bruder Luka. Persönliche Beobachtung, Belgrad, 12.08.2008.

26 Siehe z. B. unter <http://www.youtube.com/watch?v=mq34_YNLrqw&feature=related>.27 Divljanje u centru Beograda, Danas, 22.02.2008.

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patike“ (Kosovo für Turnschuhe) bekannt.28 Die Gewalt und die Plünderungen zeugten von der Unfähigkeit bzw. dem Unwillen sowohl der Regierung als auch der oppositionellen SRS, die Proteste zu kontrollieren.29 Zwar hatten beide zu gewaltfreier Demonstration aufgerufen, im Vorfeld jedoch gewaltsame Proteste gegen die Unabhängigkeitserklärung nicht deutlich verurteilt, was als Zeichen von Hilflosigkeit gedeutet werden kann. Da die Proteste von der Regierung or-ganisiert waren, aber ein unerreichbares politisches Ziel proklamierten, konnte man aus der beeindruckenden Teilnehmerzahl des 21. Februar nachfolgend kein Kapital schlagen. Im Gegenteil sollte die Demokratische Partei, die diese Veranstaltung nur pro forma unterstützt hatte, in den kommenden Monaten politisch am stärksten hinzugewinnen.30

Die ausgebliebene nachhaltige nationalistische Mobilisierung im Zuge der einseitigen Unabhängigkeitserklärung Kosovos oder der Verhaftung Radovan Karadžićs legen den Schluss nahe, dass nationalistisches Gedankengut viel von seiner Zugkraft eingebüßt hat. Eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hat indes nur sehr partiell stattgefunden. Im Zuge der Verhaftung Karadžićs durchgeführte Umfragen spiegeln einmal mehr Hilf- bzw. Orientierungslosig-keit: 33 % aller Befragten hielten ihn für einen Helden und nur 17 % für einen Verbrecher. Sogar 86 % bzw. 82 % schätzten das Tribunal als antiserbisch bzw. als politisches Gericht ein; zugleich befürworten aber 70 % der Befragten die Zusammenarbeit mit dem Tribunal und 42 % erklärten sich für eine Auslie-ferung von Angeklagten.31 Ähnlich weisen Umfragen seit Jahren darauf hin, dass – wenig überraschend – eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung Serbiens für einen Erhalt Kosovos als serbische Provinz ist, während an zweiter Stelle meist die Teilung genannt wird. Dem steht jedoch eine realistische Einschätzung der tatsächlichen Lösung gegenüber, derzufolge eine de facto oder auch de jure Unabhängigkeit Kosovos am wahrscheinlichsten sei.32 Da aber wie erwähnt

28 Die Aufzeichnung fand über You Tube weite Verbreitung, siehe unter <http://www.youtube.com/watch?v=j01e1j251Cs>.

29 Zur Eskalation nationalistischer Gewalt kam es 2001, 2004 und 2008 nicht zuletzt aufgrund ihrer Tolerierung durch die Polizei bzw. die politische Führung. Das mangelnde Eingreifen der Polizei wurde jeweils deutlich dokumentiert, ebenso wie das schnelle Ende der Gewalt gegen Angehörige der Minderheiten in der Vojvodina, nachdem die Polizei ent-schlossen gegen die Täter vorgegangen war. Vgl. Džamija gori, Jočić se cešlja, Blic, 08.06.2005; siehe auch Bieber / Winterhagen, Ethnic Violence in Vojvodina (wie Anm. 23).

30 Snežana Čongradin, Organizatori poriču krivicu, Danas, 06.09.2008. Präsident Tadić hielt sich während der Proteste zu einem Staatsbesuch in Rumänien auf, Državni protest bez predsednika Tadića, Danas, 21.02.2008.

31 Pola-pola oko izručenje, B92 Vesti, 25.07.2008.32 2005 befürworteten 41,8 % den Status Kosovos als autonome Provinz, 24,6 % als Republik

innerhalb Serbiens und Montenegros; 10,3 % sprachen sich für eine Teilung aus und nur 4,5 % für die Unabhängigkeit, bzw. 4,8 % für ein internationales Protektorat. Jedoch erwarteten nur 23,4 %, Kosovo werde tatsächlich unter serbische Herrschaft kommen, während 38,6 % glaubten, Kosovo werde nur formal zu Serbien gehören, und 33,8 % von einer vollen Un-

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weder Kosovo noch der Strafgerichtshof nach Meinung der Bevölkerung zu den höchsten politischen Prioritäten gehören, konnten diese Themen trotz der ambivalenten Einstellungen vieler Bürger zur jüngsten Vergangenheit die Radikale Partei nicht an die Regierung bringen.

Die Wahlen 2008 und die langsame Konsolidierung des politischen Systems

In kaum einem anderen europäischen Land hatten die Bürger seit 1990 so oft die Gelegenheit zu wählen wie in Serbien. Serbische und jugoslawische Parla-mentswahlen fanden 1990, 1992 (dreimal), 1993, 1996, 1997, 2000 (zweimal), 2003, 2007 und 2008 statt. Präsidentschaftswahlen, erfolgreiche und gescheiterte, gab es fast ebenso häufig: 1990, 1992, 1997 (zweimal), 2000, 2002 (zweimal), 2003, 2004 und 2008. In den 18 Jahren seit der Einführung von Mehrparteienwahlen fanden in nur acht Jahren weder Parlaments- noch Präsidentschaftswahlen statt, ein Beleg für die fehlende Konsolidierung des politischen Systems. Jedoch steht dem Umstand, dass seit 1997 keine serbische Regierung bis zum Ende ihres Mandats regieren konnte, andererseits eine erstaunliche Stabilität der Parteienlandschaft gegenüber. Während in anderen postsozialistischen Ländern Parteien oft so schnell wieder verschwinden wie sie entstehen, bestimmen fünf Parteien seit 1992 die politische Szene Serbiens. Neben der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS) sind dies die Serbische Radikale Partei (SRS), die Demokratische Partei (DS), die Demokratische Partei Serbiens (DSS) und die serbische Erneuerungs-bewegung (Srpski pokret obnove, SPO). Kleineren Parteien gelang zeitweise der Einzug ins Parlament, und gelegentlich waren nicht alle fünf großen Parteien dort vertreten, doch entfiel auf letztere stets die überwältigende Mehrheit der Sitze. Entscheidend ist also die Frage nach der Gewichtsverlagerung zwischen den Parteien seit 2000 und insbesondere nach den Wahlen 2008.

Die Ergebnisse der Parlamentswahlen seit 2000 zeigen vor allem zwei Auf-fälligkeiten: Während die Radikale Partei 2003 einen dramatischen Stimmen-gewinn verbuchen konnte – sie erhielt etwa dreimal mehr Stimmen als noch im Dezember 2000 –, blieb ihr Stimmenanteil danach weitgehend stabil. Zum anderen fanden die meisten Verschiebungen seit 2003 zwischen den ehemaligen Mitgliedern des DOS-Wahlbündnisses statt.

abhängigkeit ausgingen. Kosovo formalno u Srbiji, Blic, 11.05.2005. Zwei Jahre später, Ende 2007, befürworteten 56,7 % Autonomie in Serbien, 27,8 % Teilung und 6,1 % Unabhängigkeit, erwarteten jedoch 43,2 % die Unabhängigkeit, 15,9 % die Teilung und 14,9 % eine Autonomie. Beta Daily News, 31.10. - 01.11.2007.

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Ergebnisse der Parlamentswahlen 2000-2008:33

2000 2003 2007 2008Stimmen  % Sitze Stimmen  % Sitze Stimmen  % Sitze Stimmen  % Sitze

SRS 322.333 8,5 23 1.056.256 27,6 82 1.153.453 28,6 81 1.219.436 29,5 78DOS 2.402.387 64,4 176DSS 678.031 17,7 53 667.615 16.6 47 480.987 11,6 30DS 481.249 12,6 37 915.854 22,7 64 1.590.200 38,4 102G17+ 438.422 11,5 34 275.041 6,8 19SPO 114.296 3,7 0 293.082 7,7 22 134.147 3,3 0SPS 515.845 13,5 37 291.341 7,6 22 227.580 5,6 16 313.896 7,6 20LDP 214.262 5,3 15 216.902 5,2 13

Der Wahlerfolg der SRS 2003 erscheint ebenso schwer erklärbar wie die Stag-nation der Partei 2008. Waren 2003 paramilitärische Verbände und vermeint-liche Kriegshelden durch ihre Beteiligung an der Ermordung Đinđićs und weiterer organisierter Verbrechen diskreditiert und hatte das Thema Kosovo an Brisanz verloren, erfolgte 2008 die kosovarische Unabhängigkeitserklärung – also scheinbar eine Inversion der Logik nationalistischer Mobilisierungspoten-tiale. Tatsächlich war 2003 der Erfolg der SRS nur in Maßen nationalistischen politischen Inhalten geschuldet. In diesem Jahr vollzog sich eine Konsolidierung des reformfeindlichen politischen Blocks, nachdem 2000 neben der SPS und der SRS auch die Partei der Serbischen Einheit (Stranka srpsko jedinstva, SSJ) mit 14 Abgeordneten und 5,3 % der Stimmen ins Parlament eingezogen war. Diese Partei des Anfang 2000 ermordeten Mafiabosses und Führers der berüchtigten paramilitärischen Einheit „Tiger“, Željko Ražnatović „Arkan“, profitierte von der Identifikation der SRS mit der Wahlverliererin SPS, der Milošević-Partei.34 2003 dann stellte die Nähe zum Milošević-Regime für die SRS kein Problem mehr dar und es gelang ihr, sich als dominante Oppositionskraft zu stilisieren. Wenn man die Wählerstimmen für die drei Parteien SPS, SSJ und SRS 2000 und 2003 vergleicht, stellt sich der Unterschied zwischen beiden Wahlergebnissen weniger dramatisch dar, als dies auf den ersten Blick erscheint. Von 1.038.025 Stimmen stieg der Anteil der nationalistischen und reformfeindlichen Parteien auf 1.416.134 Stimmen. Zwar zeigt das immer noch einen Stimmenzuwachs um 36,4 %, doch ist dies ein weitaus weniger deutliches Ergebnis als die Verdreifa-chung der Stimmen zwischen 2000 und 2003 für die SRS allein (die SSJ verfehlte

33 2003 trat die Partei Nova Srbija (Neues Serbien, NS) mit dem SPO an, 2007 und 2008 ge-meinsam mit der DSS. 2008 umfasste das Wahlbündnis Za Evropski Srbiju (Für ein europäisches Serbien, ZES) neben der DS auch die G17plus, den SPO und eine Reihe kleinerer Parteien. Die Ergebnisse laut der staatlichen Wahlkommission finden sich unter <http://www.rik.parlament.sr.gov.yu/cirilica/propisi/Rezultati.htm>, für 2000 vgl. Vladimir Goati, Elections in FRY from 1990 to 1998. Second Extended Edition with Addendum: Elections 2000. Belgrade 2001.

34 Ebd., 262.

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2003 den Einzug ins Parlament).35 Nach 2003 wuchs die Stimmenzahl der SRS in weitaus geringerem Maße, während die Stimmen für die SPS zurückgingen, so dass die Gesamtzahl abgegebener nationalistisch orientierter Stimmen weit-gehend gleich blieb.

Der Erfolg der Radikalen Partei fiel mit dem Ende der Ära Šešelj zusam-men. Im Dezember 2002, einen Monat bevor Vojislav Šešelj sich dem Haager Kriegsverbrechertribunal stellte, erreichte er im zweiten Wahlgang der Prä-sidentschaftswahlen 36,08 % der Stimmen (1.063.296). Tomislav Nikolić und Aleksandar Vučić, die die Partei danach in Šešeljs Abwesenheit führten, bauten diesen Erfolg weiter aus. Der Erfolg der Partei bei den Parlamentswahlen Ende 2003 in Abwesenheit Šešeljs scheint darauf zu verweisen, dass die weniger extreme Rhetorik Nikolićs und Vučićs die Partei für breitere Bevölkerungs-schichten wählbar machte. Jedoch begann der Aufstieg der Partei, wie das gute Ergebnis auch des Vorjahres zeigt, bereits mit Šešelj und nicht erst nach seinem Abgang. In den Wahlkämpfen ab 2002 betonte die Radikale Partei soziale statt nationalistische Themen, versprach beispielsweise im Wahlkampf 2003, den Brotpreis von 20 auf 3 Dinar zu senken.36 Man hatte also durchaus erkannt, dass nationalistische Themen kaum mehr Relevanz besaßen: Der tatsächliche Einfluss auf die Realitäten in Kosovo war gering, und die Beziehungen zu Montenegro schienen durch den Staatenbund stabilisiert. Gleichzeitig resultierte der Erfolg der SRS 2003 auch aus dem inhaltlichen Substanzmangel und der Zerstrittenheit der ehemaligen DOS-Parteien; insbesondere die DS war nach der Ermordung Đinđićs durch interne Flügelkämpfe geschwächt.

Die SRS setzte auch in den folgenden Wahlkämpfen mehr auf sozialpopu-listische und weniger auf nationalistische Themen als beispielsweise die DSS, was breite Wählerschichten erfolgreich ansprach, die wie gesagt überwiegend eine politische Priorität auf sozialen Problemen befürworteten.37 Zugleich schwächte die Partei einige ihrer nationalistischen Positionen ab, befürwortete beispielsweise vor der Unabhängigkeitserklärung Kosovos und wohlgemerkt nur rhetorisch einen serbischen EU-Beitritt und lehnte die gewaltsame Her-stellung eines Großserbiens ab. Diese deeskalatorischen Maßnahmen hingen sicherlich auch mit den Unterschieden zwischen dem Demagogen Šešelj und dem ruhigeren Nikolić zusammen, gleichwohl bedeutete der weniger schrille Ton keine grundlegende Änderung in der Parteipolitik. Weiterhin hielt man am Ziel eines Großserbien fest – die Parteizeitschrift heißt nach wie vor Velika Srbija (Großserbien) –, und regelmäßig werden politische Gegner als „Verräter“,

35 Bei den Wahlen 1992 und 1997 stieg der Stimmenanteil der SRS von knapp 600.000 auf 1,2 Millionen.

36 Zoran Đ. Slavujević, Izborne kampanje: pohod na birače. Slučaj Srbije od 1990. do 2007. godine. Belgrad 2007, 145-146.

37 D. Spalović, Više se ne veruje ekspertima, Politika, 05.12.2003.

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„Ustaše“ und „antiserbisch“ bezeichnet.38 Anders als z. B. die HDZ nach 2003 in Kroatien war die SRS nicht bereit bzw. in der Lage, ihre politischen Inhalte grundlegend zu ändern.39 Die Strategie, an den nationalistischen Themen fest-zuhalten, ohne diese jedoch ständig zu betonen, ging auf: Die SRS konnte ihre nationalistischen Kernwähler halten und neue Wählerschichten hinzugewinnen. Der an die Transformationsverlierer gerichtete Sozialpopulismus, gekoppelt mit der Unterstützung Miloševićs bei den Wahlen 2002/03, half der Radikalen Partei, viele Wähler der Sozialisten für sich zu gewinnen. 80 % der Wähler der Radikalen schätzten sich als Bauern, Arbeiter oder allgemein als Angehörige unterer sozialer Schichten ein; 50 % sahen sich als Verlierer der Transforma-tion.40 Das Lavieren zwischen dem Radikalismus von Vojislav Šešelj und der gemäßigteren Rhetorik Nikolićs wurde indes nach den Parlamentswahlen im Mai 2008 unhaltbar, als es der Partei trotz nochmaligen Stimmzugewinns erneut nicht gelang, an die Macht zu kommen. Der Konflikt zwischen Nikolić und Šešelj und die erste nennenswerte Spaltung innerhalb der Partei seit ih-rer Gründung deutete im September 2008 auf eine tatsächlich grundlegende Änderung des politischen Systems hin. Die Parteispaltung schwächte die seit 2003 erstarkte Position der SRS weiter, und ob Teile der Radikalen Partei sich zu einer gemäßigt-konservativen Partei zu reformieren wissen, ist unklar. Der Partei droht somit ein ähnliches Schicksal wie auch anderen rechtsextremen Parteien in Mittel- und Südosteuropa – der langsame Niedergang. Mit seiner neu gegründeten Serbischen Fortschrittspartei (Srpska napredna stranka, SNS) konnte Nikolić sowohl die bekanntesten SRS-Politiker auf seiner Seite halten wie auch, laut entsprechenden Umfragen, die Mehrheit der ehemaligen SRS Wähler. Trotzdem bedeutet die Parteispaltung eine weitere Schwächung des nationalistischen Lagers; beide Parteien gemeinsam würden weitaus weniger Stimmen erhalten als die SRS noch im Mai 2008.41

Der zweite wichtige Aspekt in der politischen Wahlanalyse seit 2000 ist der Umgewichtungsprozess zwischen den Parteien des ehemaligen DOS-Wahlbünd-nisses. Spätestens die Parlamentswahlen 2008, gekennzeichnet durch die Koali-

38 Siehe Vojvoda reformator, e-novine, 08.09.2008, unter <http://www.e-novine.com/sr/srbija/ clanak.php?id=16707>.

39 Die HDZ und die SRS sind allerdings insofern nicht vergleichbar, als die HDZ als Re-gierungspartei einen stärkeren technokratischen Flügel besaß und nach dem Machtwechsel 2000 gezwungen war, sich neu zu erfinden. Die SRS hingegen war in den 1990er Jahren nur zeitweise Koalitionspartner gewesen. Weder besaß sie einen pragmatischen Flügel, noch konnte sie sich als „selbstverständliche“ Regierungspartei profilieren.

40 Nur 4 % sahen sich als Gewinner, während bei den Unterstützern anderer Parteien, mit Ausnahme der SPS (0 %), die Zahl der sich als Transformationsgewinner Einschätzenden hö-her lag. Die Zahl der Angehörigen mittlerer sozialer Schichten unter den Unterstützern von DS und DSS war weitaus größer (49 % bzw. 42 %). Srečko Mihajlović u. a., Političke podele Srbije u kontekstu civilnog društva. Belgrad 2005, 6-9.

41 CESID: Najpopularniji ZES i SNS, B92 vesti, 14.11.2008.

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tionsbereitschaft der DSS mit der SRS und der Regierungskoalition von DS und SPS, stehen für das Aufbrechen der beiden zuvor beschriebenen Blöcke. Welche sind jedoch die neuen Trennlinien in der serbischen Politik nach der Auflösung der Unterscheidung zwischen ehemaligen Regime- und Oppositionsparteien? Trotz der Zugehörigkeit zu europäischen Parteifamilien, z. B. der DS zur Sozia-listischen Internationale und der DSS zur Europäischen Volkspartei, lassen sich klassische Links-Rechts-Klassifizierungen auf die serbische Parteienlandschaft kaum anwenden.42 Die Präferenzen der Stimmberechtigten werden eher durch bestimmte Themen und die entsprechenden Positionen der Parteien bzw. ihrer Vorsitzenden konditioniert. So wurde der Wahlkampf 2008 durch das Thema Kosovo bestimmt. Während die Radikalen und Koštunicas Koalition aus DSS und Neues Serbien (Nova Srbija, NS) eine aggressive Politik befürworteten und einer weiteren EU-Annäherung kritisch gegenüberstanden, versprach die von Boris Tadić angeführte Koalition aus DS und einigen kleineren Parteien eine beschleunigte EU-Integration, ohne jedoch den Anspruch auf den Kosovo auf-zugeben. Bereits vor den Wahlen deuteten DSS und SRS ihre Bereitschaft zu einer Koalition an. Im Gegensatz zu 2003 und 2007 erlangten sie jedoch keine für eine alleinige Koalitionsbildung ausreichende Zahl von Sitzen im Parlament, und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die beiden Parteien sich erst dann zu einer gemeinsamen Koalitionsbildung bereit erklärten, nachdem sie dies zweimal trotz ausreichender Mehrheit vermieden hatten. Obwohl die DSS seit ihrer Gründung eine nationalistische Linie verfolgt hatte – diese war einer der Gründe für die Trennung von der Demokratischen Partei 1992 gewesen –, war eine Koalition mit der Radikalen Partei lange Zeit undenkbar.43 Noch 2002 war Vojislav Koštunica bei den Präsidentschaftswahlen gegen Vojislav Šešelj angetreten und hatte sich klar durchgesetzt, ohne jedoch die Wahlen für sich zu entscheiden, da die nötige Wahlbeteiligung von 50 % unerreicht blieb. Die langsame Annäherung zwischen der DSS und der SRS seit 2001 lässt sich durch die erwähnte Abschwächung der nationalistischen Rhetorik in der Radikalen Partei einerseits erklären, und andererseits durch die Verstärkung derselben innerhalb der DSS, die zunehmend unfähig wurde, mit kleineren demokrati-schen Parteien (G17plus oder SPO) zu kooperieren.

Nicht zuletzt die unterschiedlichen sozialen Schichtzugehörigkeiten und wirtschaftlichen Interessen der Wähler erklären, weshalb die beiden Parteien

42 Versuche, die serbischen Parteien nach einem klassischen Links-Rechts-Schema zu ordnen, führen oftmals zu Verzerrungen, da sich etwa SPS und LDP beide als linke Parteien identifizieren, obwohl ihre politischen Inhalte kaum unterschiedlicher sein könnten. Siehe Jovan Komšić u. a., Osnovne linije partijskih podela. Belgrad 2003; Zoran Stojiljković, Par-tijski sistem Srbije. Belgrad 2006, 288-293; Pavlović / Antonić, Konsolidacija (wie Anm. 3), 254-259.

43 Vgl. Florian Bieber, Nationalismus in Serbien vom Tode Titos zum Ende der Ära Milošević. Wien 2005, 298.

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trotz ähnlicher nationalistischer Positionen lange Zeit nicht bereit waren, eine Koalition einzugehen. In einer Umfrage 2005 erklärten Unterstützer der DSS, der Partei stünden alle anderen größeren Parteien außer der SPS näher als den Radikalen. Ähnlich pflegten Unterstützer der SRS ein überwiegend negatives Bild der DSS.44 Die DSS konnte jedoch nach dem Höhepunkt ihres Erfolgs 2003 nicht mehr vom Thema Kosovo profitieren und verlor sowohl 2007 als auch 2008 Stimmen, obwohl sie sich dem Thema Kosovo stärker als jede andere Partei verschrieben hatte. Der Erfolg der DSS 2003 war mit Korruptionsvorwürfen gegen die DS und enttäuschten Erwartungen an die Transformation zusam-mengefallen; in den folgenden Jahren konnte die Partei an der Regierung aber nicht mehr von diesen Themen profitieren.45

Insgesamt blieben die Umschichtungsprozesse im serbischen Parteiensystem nach 2000 weniger dramatisch, als dies zunächst erscheinen mag. Weitaus be-deutsamer waren die inhaltlichen Änderungen und neuen Koalitionsoptionen. Die Annäherung von DS und SPS einerseits und DSS und SRS andererseits kann als Normalisierung der serbischen Parteienlandschaft gewertet werden, da sich SPS und DS als sozialistische bzw. sozialdemokratische und DSS und SRS als konservative bzw. nationalistische Parteien identifizieren. Diese Entwicklung hängt jedoch weniger mit einem grundlegenden ideologischen Wandel zusam-men als einmal mehr mit punktuellen inhaltlichen Prioritäten und materiellen Interessen.46 Die Wahlergebnisse zeugen davon, dass ein nationalistischer Wahlkampf bzw. nationale Themen nach 2000 keiner Partei Vorteile eingebracht haben. Im Gegenteil trug ein diesbezüglich zu einseitiger Wahlkampf im Mai 2008 zum Misserfolg z. B. der DSS bei.

Schlussfolgerungen

Serbien ist weiter als seine Nachbarn von einer demokratischen Konsolidie-rung entfernt. Erst im Februar 2008 wurde die letzte Statusfrage — zum Nachteil Serbiens — gelöst, und nach wie vor birgt die ungeklärte Stellung des serbisch kontrollierten Nordkosovo Konfliktpotentiale. Die Analyse natio nalistischer Mobilisierungsmomente und der Parteienlandschaft vermag zu erklären, wa-rum nach der einseitigen Unabhängigkeitserklärung Kosovos nationalistische Parteien wider Erwarten nicht die nächste serbische Regierung stellten. Obwohl nationalistische Themen den öffentlichen Diskurs bestimmten, fanden sie in der Bevölkerung nur eine begrenzte Resonanz, wie Umfragen und Wahlergebnisse belegen. Dies bedeutet nicht, dass die jüngste Vergangenheit erfolgreich auf-

44 Mihajlović u. a., Političke podele (wie Anm. 40).45 Slavujević, Izborne kampanje (wie Anm. 36), 147, 151-152.46 Hierzu siehe Vesna Pešić, State Capture and Widespread Corruption in Serbia. Brussels

March 2007 (CEPS Working Document, 262).

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gearbeitet wäre oder die europäische Integration widerspruchslos befürwortet würde. Es sind vielmehr die anderen, soziopolitischen Prioritäten der serbischen Bevölkerung, die die Appelle nationalistisch eingestellter Institutionen und Medien verhallen lassen.

Nachdem die seit 2000 dominierenden Statusfragen großteils gelöst sind, verbleiben in Serbien heute kaum noch Themen, die zum Katalysator für eine Mobilisierung der Bevölkerung durch nationalistische Organisationen oder Medien werden könnten. Somit scheint es, als hätte Serbien 18 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Wasserscheide im Reformprozess erreicht. Eine Rückkehr zu einem nationalistischen autoritären System ist sehr unwahrschein-lich geworden.