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Flüchtlingszuzug erschwert Erreichen der Klimaziele Gutachter für "größere Anstrengung" beim Klimaschutz Frankfurter Allgemeine Zeitung 05.01.2016 ami. BERLIN, 4. Januar. Der Zustrom an Flüchtlingen setzt Bundesregierung und Bundespolitik vielfach unter Druck: Beim Haushalt und in der Sozialpolitik, am Arbeitsmarkt und in der Gesundheitspolitik. Auch das Erreichen der ambitionierten Ziele der Klima- und Energiepolitik wird durch die unerwartet starke Zuwanderung erschwert. Schon wollen Baubranche und manche Bauminister strenge Effizienzkriterien für Neubauten aufweichen, um die Baukosten für neue Wohnungen zu senken. Das liefe dem Energiesparziel zuwider. Mehr Einwohner verbrauchen mehr Energie und emittieren mehr Treibhausgase. Andreas Löschel Vorsitzender der von der Regierung berufenen Expertenkommission zur Überwachung der Energiewende, sagt: ,,Bei einer größeren Bevölkerung sind stärkere Anstrengungen zum Klimaschutz notwendig.'' Für die Regierung ist das misslich. Denn ihre Szenarien für einen niedrigeren Energieverbrauch, mehr Effizienz und weniger Kohlendioxidausstoß gehen allesamt von einer schrumpfenden Bevölkerung aus. Statt 81,4 Millionen im Jahr 2011 sollen 2020 eine Million Menschen weniger in Deutschland leben, 2035 sollten es nur noch knapp 78 Millionen sein. Alternativ hatte sie auch eine etwas höhere Zuwanderung unterstellt. Auch dann schrumpft die Bevölkerung, wenn auch weniger schnell, auf 80,6 Millionen im Jahre 2020 und 78,9 Millionen Menschen 15 Jahre später. Ein derart langsames Absinken der Bevölkerungszahl würde die Emissionen bis 2020 um 1,7 Millionen Tonnen Kohlendioxid höher ausfallen, bis 2035 um etwa 7 Millionen Tonnen steigen lassen, hat das Umweltministerium ausgerechnet. Im Vergleich zu 1990 würden die Minderungen im Jahr 2020 um 0,2 Prozentpunkte geringer ausfallen als im Referenzszenario.

Flüchtlingszuzug erschwert Erreichen der Klimaziele

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Der Zustrom an Flüchtlingen setzt Bundesregierung und Bundespolitik vielfach unter Druck: Beim Haushalt und in der Sozialpolitik, am Arbeitsmarkt und in der Gesundheitspolitik. Auch das Erreichen der ambitionierten Ziele der Klima- und Energiepolitik wird durch die unerwartet starke Zuwanderung erschwert.

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Flüchtlingszuzug erschwert Erreichen der Klimaziele

Gutachter für "größere Anstrengung" beim Klimaschutz

Frankfurter Allgemeine Zeitung 05.01.2016

ami. BERLIN, 4. Januar. Der Zustrom an Flüchtlingen setzt Bundesregierung und Bundespolitik vielfach unter Druck: Beim Haushalt und in der Sozialpolitik, am Arbeitsmarkt und in der Gesundheitspolitik. Auch das Erreichen der ambitionierten Ziele der Klima- und Energiepolitik wird durch die unerwartet starke Zuwanderung erschwert. Schon wollen Baubranche und manche Bauminister strenge Effizienzkriterien für Neubauten aufweichen, um die Baukosten für neue Wohnungen zu senken. Das liefe dem Energiesparziel zuwider.

Mehr Einwohner verbrauchen mehr Energie und emittieren mehr Treibhausgase. Andreas Löschel Vorsitzender der von der Regierung berufenen Expertenkommission zur Überwachung der Energiewende, sagt: ,,Bei einer größeren Bevölkerung sind stärkere Anstrengungen zum Klimaschutz notwendig.''

Für die Regierung ist das misslich. Denn ihre Szenarien für einen niedrigeren Energieverbrauch, mehr Effizienz und weniger Kohlendioxidausstoß gehen allesamt von einer schrumpfenden Bevölkerung aus. Statt 81,4 Millionen im Jahr 2011 sollen 2020 eine Million Menschen weniger in Deutschland leben, 2035 sollten es nur noch knapp 78 Millionen sein.

Alternativ hatte sie auch eine etwas höhere Zuwanderung unterstellt. Auch dann schrumpft die Bevölkerung, wenn auch weniger schnell, auf 80,6 Millionen im Jahre 2020 und 78,9 Millionen Menschen 15 Jahre später. Ein derart langsames Absinken der Bevölkerungszahl würde die Emissionen bis 2020 um 1,7 Millionen Tonnen Kohlendioxid höher ausfallen, bis 2035 um etwa 7 Millionen Tonnen steigen lassen, hat das Umweltministerium ausgerechnet. Im Vergleich zu 1990 würden die Minderungen im Jahr 2020 um 0,2 Prozentpunkte geringer ausfallen als im Referenzszenario.

Das sind keine Zahlen, die Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) Kopfschmerzen bereiten. Es zeige sich also, sagt ihr Sprecher, dass veränderte Annahmen zur Bevölkerungsentwicklung in der Tat zu entsprechend veränderten Emissionsentwicklungen in den Szenarien führten. „Der Effekt ist jedoch überschaubar und hängt zudem auch von vielen weiteren Faktoren wie der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts ab." Deshalb gehe das Ministerium auch „nicht davon aus, dass die Realisierung der nationalen Klimaschutzziele durch den Zuzug von Migranten gefährdet wird“.

Tatsächlich sind allerdings schon im abgelaufenen Jahr 1,1 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Ein Ende des Zustroms ist nicht absehbar. Andere sind deshalb weniger optimistisch als die Umweltministerin. Die von Löschel geleitete Expertengruppe zur Energiewende hatte sich unlängst noch betont kritisch über das Erreichen der Ziele geäußert und ein größeres klimapolitisches Engagement verlangt. Der Zuzug der Migranten lindert an seiner Einschätzung nichts, im Gegenteil. Denn die Bevölkerung könnte unter dem Strich wachsen, der Zustrom das Schrumpfen der Wohnbevölkerung überkompensieren. Auf Basis von Annahmen der neuen Bevölkerungsprognose des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung kommt Löschel zu dem

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Schluss, dass die deutsche Bevölkerung im Jahre 2020 um 2 bis 2,5 Millionen Köpfe größer sein könnte, als es die Regierung in ihrem Projektionsbericht angenommen hat.

Vorausgesetzt, das träfe zu, „könnten die Emissionen um etwa 14 Millionen Tonnen CO2 im Jahr 2020 höher liegen beziehungsweise im Jahre 2030 um mehr als 17 Millionen Tonnen“, schreibt er in einer Kurzanalyse „Bevölkerungsentwicklung und Treibhausgasemissionen". Die Folge: Berlin würde seine Einsparziele mit den bisherigen Wegen und Mitteln noch weiter verfehlen.

Löschel weist zwar auf Schwierigkeiten der Abschätzung hin. So hingen die tatsächlichen Emissionen etwa vom Einkommen, dem Mobilitätsverhalten und der Wohnsituation ab. „Wenn man sich die Muster von Energieverbrauch nach Einkommen anschaut, dann sollten Flüchtlinge erst einmal einen niedrigeren CO2-Verbrauch haben“, sagt er. Auch müssten Wechselwirkungen mit der Wirtschaftsentwicklung berücksichtigt werden, denn die habe großen Einfluss auf die Treibhausgasemissionen.

An der Grundtendenz ändere das aber nichts: „Trotz dieser Unsicherheiten wird deutlich: bei einer größeren Bevölkerung sind stärkere Anstrengungen zum Klimaschutz notwendig, um die Mengenziele für den CO2-Ausstoß zu erreichen", sagte Löschel.

In der Koalition machen sich indes schon die ersten Politiker Sorgen darüber, dass die Klimaziele wegen den Zuzugs und deshalb erwarteter höherer Emissionen an anderer Stelle nachgeschärft werden könnten. Mit dieser Bevölkerungsentwicklung habe niemand gerechnet, sagte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Union, Michael Fuchs (CDU). Natürlich stiegen mit dem Zuzug die C02-Emissionen in Deutschland.

„Wir sollten diese Mehr-Emissionen aber nicht beim Klimaziel erschwerend berücksichtigen“, sagte der Wirtschaftspolitiker. Nötig sei vielmehr eine „vernünftige Portion Pragmatismus“. Das müsse für alle Bereiche gelten, auch für den Klimaschutz. „Niemand kann erwarten, dass die Wirtschaft diese Zusatzemissionen an anderer Stelle mit zusätzlichen Anstrengungen kompensieren muss. Das wäre eine faktische Anschärfung des deutschen Emissionsziels.“ Das Umweltministerin versichert derweil, bei dem neuen Klimaschutzplan 2050 werde man die aktuellen Entwicklungen berücksichtigen. Die Auskunft beruhigt nicht jeden.