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Leseprobe
Folgen wir dem Stern
24 Geschichten, Lieder und Gedanken im Advent
128 Seiten, 10,5 x 15,5 cm, gebundenISBN 9783746241272
Mehr Informationen finden Sie unter st-benno.de
Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.
© St. Benno-Verlag GmbH, Leipzig 2014
24 Adventsgeschichten
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.st-benno.de
Gern informieren wir Sie unverbindlich und aktuell auch in
unserem Newsletter zum Verlagsprogramm, zu Neuerscheinungen
und Aktionen. Einfach anmelden unter www.st-benno.de.
ISBN 978-3-7462-4127-2
© St. Benno Verlag GmbH, Leipzig
Zusammengestellt von Volker Bauch, Leipzig
Umschlaggestaltung: Ulrike Vetter, Leipzig
Gesamtherstellung: Kontext, Lemsel (A)
Inhaltsverzeichnis
Hans Orths: Die Wochen des Advents
Gustav Heinemann : Die alte Frau und der Lagerkommandant
Karl Heinrich Waggerl: Die stillste Zeit im Jahr
Kathrin Schrocke: Ein ganz besonderer Adventskalender
Peter Biqué: Die Fahrt über die Donau
Lisa Wenger: Der Esel des St. Nikolaus
Doris Thomas: Bis zuletzt
Henry David Thoreau: Winterliche Besucher
Luise Rinser: Engelmessen
Friedrich Haarhaus: Es ist für uns eine Zeit angekommen
Max Bolliger: Das Hirtenlied
Gustav Freytag: Wenn die Lichter brannten
Brüder Grimm: Der goldene Schlüssel
Friedrich Haarhaus: Seht, die gute Zeit ist nah
Dietrich Mendt: Von der Erfindung der Weihnachtsfreude
Manfred Kyber: Der kleine Tannenbaum
Ursel Scheffler: Weihnachtsbrief an Oma
Ludwig Thoma: Christkindl-Ahnung im Advent
Autor unbekannt: Der riesengroße Schneemann
Legende aus Russland: Schuster Konrad erwartet den lieben Gott
Ursel Scheffler: Der Ritt nach Betlehem
Karl Heinrich Waggerl: Der Wunschzettel
Friedrich Haarhaus: Morgen, Kinder, wird’s was geben
Wilhelm Raabe: Ein Glockenschlag
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D ie Wochen des Advents
Ich denke an die Zeit während
der Kriegs- und Nachkriegsjahre
gerne zurück. Trotz großer Not
und Angst und Verzweiflung,
die es in jenen Tagen in fast al-
len Familien gab. Als Kinder
haben wir diese schreckliche
Zeit aus einem anderen Blickwinkel erlebt, eben
aus dem eines Kindes, der manches in ein milderes
Licht rückte.
So hatten die Wochen des Advent etwas Geheim-
nisvolles, Spannendes, es waren vom »Warten-auf-
das-Christkind« erfüllte Tage. So stellten wir zum
Beispiel für den Adventskranz aus Talgresten selbst
Kerzen her, es war ja damals alles viel einfacher,
karger und ärmer.
Das Warten auf das Kommen des Erlösers, die Vor-
bereitung auf die Geburt Christi, war für uns Kin-
der, wenn wir ehrlich sind, eher auch das Warten
auf das Kommen des Christkindes, das uns in sehr
bescheidenem Rahmen die Geschenke unter den
Tannenbaum stellte. Die Wochen des Advent wa-
ren eigentlich eine mehr oder weniger geschäftige
Zeit, obwohl sie eine Zeit der Stille und Besinnung
und Einkehr auch damals war.
Fast jeden Tag sangen wir zum frühen Abend Ad-
vents- und Vorweihnachtslieder, im Grunde ge-
nommen waren wir Kinder in diesen Tagen ein
wenig leiser und braver als sonst im Jahr. So haben
wir uns bemüht, jeden Tag eine gute Tat zu tun
und unsere Schulaufgaben besonders eifrig zu ma-
chen.
Vor allem jedoch bastelten wir einige Geschenke
für unsere Eltern und Geschwister und auch für
unseren Großvater, »Opa I« genannt, der mit in
unserem Haushalt lebte. Es waren sicherlich be-
scheidene Dinge, die wir anfertigten, wir waren je-
doch immer mit viel Engagement und Herzblut da-
bei. So habe ich einmal aus einem Aststücken eine
Krippe gebaut, die ein schräges Schilfdach hatte.
1. Dezember
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Die Figuren der Hl. Familie, Ochs, Esel, zwei Hir-
ten, einen Hund und vier Schafe, sägte ich mit der
Laubsäge aus und bemalte sie nach Vorlagen in ver-
schiedenen Farben. Als Überraschung holte ich das
Ganze erst nach der Bescherung ins Wohnzimmer,
meine Eltern hatten Tränen in den Augen, als sie
das kleine »Kunstwerk« sahen. Zwei Jahre später
sägte ich ein Kreuz aus Sperrholz, beizte es dunkel
und sägte die Worte »IM KREUZ IST HEIL« müh-
sam Buchstaben für Buchstaben aus und klebte sie
auf Quer- und Längsbalken. Bis zu ihrem Tode hat
meine Mutter dieses Kreuz in ihrem Wohnzimmer
hängen gehabt.
Stichwort Bescherung: Der Heilige Abend hatte
damals in manchen Familien nicht die tragende
Bedeutung wie heute. Das Aufstellen der Weih-
nachtsteller am Abend war das herausragende Er-
eignis. Denn die Bescherung gab es erst nach der
Frühmette und dem Frühstück am Weihnachts-
morgen. Ich wurde mit neun Jahren Ministrant
und freute mich jedes Mal, wenn ich in der Früh-
mette zum Dienen aufgestellt war.
Krippenaufbau und Baumverzierung lagen ganz in
den Händen unserer Mutter bzw. unseres Vaters,
denn er war bereits Ende 1945 aus der Gefangen-
schaft heimgekehrt. Wir wurden dann am Weih-
nachtsmorgen, in jedem Jahr anders gestaltet, mit
einer Krippe, die von einer Landschaft aus Sand,
Steinen, Moos, Rinde, Bäumchen aus Tannengrün
und einem kleinen See umrahmt war, und dem
schön geschmückten Christbaum überrascht.
Jahre später, als ich heiratete, selbst Vater wurde
und heute Großvater bin, der Lebensstandard
sich nach und nach verbesserte, die Geschenke
an Weihnachten demnach immer vielfältiger und
teurer wurden, blicke ich fast mit ein wenig Weh-
mut auf jene Jahre zurück, als wir Kinder waren.
Ich will nicht sagen, dass es damals schöner war
als für die Kinder heute, ich denke nur, jene Zeit
mit ihrer einfacheren und beinahe spartanischen
Lebensweise hatte auch ihr Gutes.
Apropos Gutes: Jeden Tag etwas Gutes tun, das
haben wir uns damals nicht nur in der Adventszeit
vorgenommen, sondern als Mitglieder der Jung-
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schargruppen hier in St. Joseph hatten wir eine
Devise, die für alle Jungschärler in Deutschland
einheitlich war:
»Der Jungschärler dient Christus als dem höchsten
Herrn. Ehrt seine Eltern und Priester. Lügt nicht.
Ist sauber an Leib und Seele. Liebt Gottes schöne
Welt. Hält echte Kameradschaft. Ist froh und hilfs-
bereit. Wirbt für Christi Reich!« –
Ich denke, dieser Text ist aktuell geblieben, er
könnte nicht nur für Kinder und Jugendliche gel-
ten. Er hat etwas zu tun mit der Vorbereitung auf
das Kommen des Erlösers, mit der Vorbereitung
auf die Geburt Christi. Denn wenn wir hiernach
leben, bereiten wir den Weg des Herrn, kommen
IHM ein Stück näher auf dem Weg zur Krippe.
So wünsche ich allen Lesern eine gesegnete Ad-
ventszeit!
Hans Orths
Die alte Frau und der Lagerkommandant
Eine alte lettische Frau nahm sich 1945
deutscher Soldaten an, die in sowjetische
Kriegsgefangenschaft geraten waren.
Sooft sie konnte, ließ sie ihnen ein Stück
Brot zukommen. Dabei wurde sie eines
Tages erwischt. Sie wurde vor den sow-
jetischen Lagerchef zitiert. Der fuhr
sie schroff an: »Hast du nicht gele-
sen, dass es strengstens verboten ist,
den Kriegsgefangenen Lebensmittel zu geben?«
Die alte Frau nickte gelassen, ehe sie antwortete:
»Herr Lagerkommandant, ich habe nicht irgend-
welche Lebensmittel gegeben, ich habe Brot ge-
reicht.«
Das sei ja schließlich einerlei, fauchte der Mäch-
tige zurück. »Sag, hast du gewusst, dass es verbo-
ten ist, ja oder nein?«
2. Dezember
12 13
Die alte lettische Frau überlegte einen Moment,
ehe sie antwortete, dabei dem Lagerchef direkt
in die Augen blickend: »Ich habe gelesen, dass
angeschrieben steht, es sei verboten. Aber man
darf nicht verbieten, unglücklichen Menschen zu
helfen.«
Der Russe, jetzt gefährlich leise, fragte zurück:
»Heißt das, dass du ihnen auch weiterhin Brot
geben wirst?«
Die alte Frau sah ihm erneut in die Augen: »Ge-
nosse Direktor, hören Sie mir bitte mal gut zu.
Als die Deutschen die Herren waren, brachten
sie russische Kriegsgefangene hierher zur Arbeit.
Die litten große Not und ich habe ihnen Brot
gegeben. Dann brachten sie Juden hierher, die
hatten auch großen Hunger, und ich habe ihnen
Brot gegeben. Jetzt sind die Deutschen die Un-
glücklichen und leiden Hunger, und ich gebe ih-
nen Brot. Und wenn Sie, Genosse Direktor, eines
Tages das Unglück haben sollten, Gefangener zu
werden und Hunger zu leiden, dann werde ich
auch Ihnen Brot reichen.«
Die alte Frau ließ den Lagerchef stehen, drehte
sich um und ging. Der Russe unternahm nichts
gegen sie …
Gustav Heinemann
34 35
nicht einmal den Kopf wandte, als es Schritte hörte.
»Graues!«, rief St. Nikolaus.
Potztausend, was machte es da für einen Sprung,
und wie lief es hin zu St. Nikolaus, den es, obwohl
es ganz dunkel war, gleich erkannte. Es wieherte
vor Freude, schmiegte sich dich an ihn und rieb
seinen Kopf an dem weichen, wohlbekannten Pelz-
mantel.
»Aber Graues«, sagte St. Nikolaus, »was machst du
für Sachen!« Da schämte sich das Eselchen ganz
gewaltig.
St. Nikolaus nahm es am Zaum; die beiden guten
Freunde trotteten durch den Schnee zur nächsten
Herberge, und als das Eselchen auf sauberem Stroh
im Stalle stand, das duftende Heu vor sich und St.
Nikolaus es hinter den Ohren kraulte, da dachte es
bei sich: Diesmal bist du aber ein wirklicher Esel
gewesen!
Und das ist die Geschichte von St. Nikolaus’ Esel-
chen!
Lisa Wenger
B is zuletzt
Dicht an dicht fallen die Schneeflocken
an diesem Dezemberabend. Schemen-
hafte Gestalten bewegen sich hinter
er leuchteten Fenstern. Jeder nutzt
die letzten Tage und Stunden für seine
persönlichen Festvorbereitungen: Ge-
schenke verpacken, Weihnachtsgrüße
schreiben oder den Baum schmücken.
Ein einzelnes Fahrzeug brummt in der
Ferne. Dann ist wieder Stille. Bei so einem
Wetter bleibt jeder in seiner Stube, froh,
nicht hinaus zu müssen.
Das gilt anscheinend nicht für eine kleine, ver-
mummte Gestalt, die sich gegen den Schnee
lehnend die Straße entlangkämpft. Sie dreht sich
vorsichtig nach allen Seiten um und geht dann
7. Dezember
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zielstrebig zum Eingang von Haus Nummer 12.
Ein später Besucher – zumindest keiner, den man
mit offenen Armen begrüßen würde. Nicht die
Haustür ist sein Ziel, ohne auch nur einen Mo-
ment zu überlegen, geht er auf den links dane-
benliegenden Kellerabgang zu. Behutsam, fast
katzenartig, um ja nicht auszurutschen, steigt er
die vereisten Stufen hinab. Ein letzter Blick glei-
tet über das Haus, alle Fenster an der Vorderseite
sind dunkel, nur an der Seitenfront zeichnet das
Licht einen hellen Streifen in den Nachthimmel.
Die Gestalt stellt ihre Tasche ab und öffnet vor-
sichtig die Tür. Was für ein Leichtsinn, unver-
schlossene Türen sind ja geradezu eine Einladung
für ungebetene Gäste. Die Tür knarrt, laut wie
Donnerknall klingt es in den Ohren des Eindring-
lings.
Er dreht sich erschrocken um: Hat einer der Be-
wohner etwas gehört? Nein, alles bleibt ruhig.
Mit noch größerer Behutsamkeit drückt er die
Tür ganz auf, nochmals so ein Lärm, und er ist
entdeckt. Der Lichtstrahl seiner Taschenlampe
streift durch den Kellervorraum. Eine Kiste, einige
Gerätschaften, sonst nichts, keine Menschensee-
le. Er bewegt sich vorsichtig weiter. Zwei Türen
stellen sich ihm in den Weg. Aus der links von
ihm liegenden dringt nur das typische Rasseln
eines Heizkessels an sein Ohr. Vor der weiteren
Tür bleibt er stehen. Vergeblich rüttelt er an der
Klinke, abgeschlossen. Leise geht er zurück zum
Ausgang. Er greift nach seiner Tasche, die er dort
stehen gelassen hat, und zieht einen Schlüssel-
bund heraus. So bewaffnet geht er zurück zur
verschlossenen Tür. Einen Schlüssel nach dem
anderen steckt er ins Schloss – endlich, der letz-
te passt. Langsam tritt er in den Raum, nur kein
weiteres Geräusch! Kann er es wagen, das Licht
anzumachen? Er greift zum Schalter und knipst
das Deckenlicht an. Drei Schritte noch, das Ziel
ist zum Greifen nah.
„Ja, was schleichst denn du hier herum?“ Ent-
setzt dreht er sich um. Diese Stimme ist auch
zum Fürchten.
„Wie oft habe ich dir schon gesagt, du wirst dein
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Weihnachtsgeschenk nicht finden? Jetzt aber
schnell ins Haus, wir warten schon auf dich, und
wenn du noch einmal den Kellerschlüssel mit
außer Haus nimmst, dann fängst du ein paar.“
Verschämt drückt sich Max an seinem Vater vor-
bei, greift die Sporttasche und stapft tapfer durch
den Schnee ins Haus.
Doris Thomas
Winterliche Besucher
Um diese Jahreszeit hatte ich selten
Besuch. Wenn der Schnee am tiefs-
ten lag, wagte sich zeitweise für
ein, zwei Wochen kein Wanderer
in die Nähe meines Hauses. Doch
ich lebte dort behaglich wie eine
Feldmaus oder Vieh und Federvieh, von
denen man sagt, dass sie lange Zeit in Schnee-
wehen begraben überleben, sogar ohne Futter;
oder wie die Familie jenes frühen Siedlers in der
Stadt Sutton im Staate Massachusetts, dessen
Hütte im großen Schnee von 1717 während sei-
ner Abwesenheit vollständig von Schnee bedeckt
wurde; und ein Indianer fand sie allein aufgrund
des Lochs, das durch den Atem des Schornsteins
in der Schneeverwehung entstanden war, und
rettete die Familie. Aber kein freundlicher India-
8. Dezember
84 85
Weihnachtsbrief an Oma
»Jenny, vergesst nicht, den Brief an Oma zu
schreiben!«, ruft die Mutter, während sie den
Mantel anzieht.
»Was sollen wir denn schreiben?«, fragt Jen-
ny.
»Na, dass ihr euch freut, dass sie zu
Weihnachten kommt und so weiter.«
»Ich schreibe nie Briefe. Höchs tens
Postkarten«, mur melt Jonas.
»Ich kann doch nicht schrei-
ben«, mault Felix.
»Dann malst du eben was«,
sagt die Mutter. »Euch wird schon etwas ein-
fallen!« Sie greift nach dem langen Einkaufszet-
tel und schiebt ihn in die Manteltasche. Klapp!
Schon fällt die Tür hinter ihr ins Schloss.
Die Mutter hat recht. Jonas, Jenny und Felix fällt
eine ganze Menge ein! Sie spielen U-Boot unterm
Tisch. Sie springen vom Sofa ins Meer. Sie binden
ein Tischtuch an den Schrubber und bauen ein
Segel. Dann klingelt es. Es sind Peter und Kitty,
die Nachbarskinder. Sie kommen gerade im rich-
tigen Moment: Jonas, Jenny und Felix brauchen
dringend Ruderer für die Rettungsboote. Kurz
darauf verkleiden sich alle als Piraten. Bald tobt
im Bad eine gefährliche Wasserschlacht. Felix
heult, weil Kitty gemeinerweise mit Seifenwasser
spritzt. Er möchte lieber Cowboy und Indianer
spielen. Das ist wenigstens ein trockenes Spiel.
Wasti, der Rauhaardackel, ist das wilde Pony, das
mit dem Lasso eingefangen werden muss. Als das
wilde Pony unterm Sofa liegt und nicht mehr her-
vor zu bewegen ist, fällt Jenny wieder der Brief
an Oma ein.
Da ist es schon halb vier.
»Was schreiben wir bloß?«, jammert Jenny und
kaut an ihrem Bleistift.
Felix lässt auf der großen Wasserlache im Bad
17. Dezember
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Papierschiffchen schwimmen und sagt gar nichts.
»Fang mit dem Datum an!«, rät Peter.
Jonas schreibt das Datum und gibt den Brief an
Jenny weiter.
»Ich fange den Brief an meine Oma immer so an«,
sagt Kitty:
»Liebe Oma, wie geht es dir? Mir geht es gut. Vie-
len Dank für deinen letzten Brief.«
»Das ist doof. Unsere Oma hat so lange nicht ge-
schrieben«, sagt Jenny.
»Dann schreib, dass es schneit!«, meint Kitty.
Jenny schreibt, dass es schneit und dass sie sich
freut, wenn Oma an Weihnachten kommt.
»Sind schon sechs Zeilen!«, sagt Peter bewun-
dernd.
Da kommt Felix aus dem nassen Badezimmer an-
gepatscht.
»Jetzt komm ich dran«, sagt er und grapscht nach
dem Bleistift. Er kritzelt drauflos.
»Mal nicht in meine Zeilen!«, warnt Jenny.
»Das kann doch kein Mensch lesen!«, meint Peter.
»Kann Oma wohl lesen. Oma kann immer lesen,
was ich schreib«, sagt Felix. Er malt einen Tannen-
baum und ein Auto, das wie ein Frosch aussieht.
Dann schiebt er Jenny den Bogen wieder hin.
»Die Seite ist erst halb voll«, sagt Jenny.
»Macht doch nichts. Ihr müsst bloß noch ,Viele
Grüße‘ und eine große Unterschrift schreiben«,
schlägt Kitty vor.
Jonas schreibt: »VIELE GRÜSSE, DEIN JONAS.«
Dann unterschreibt auch Jenny und sagt: »Be-
stimmt kommt Mama gleich. Ich geh schnell ins
Bad und wisch die Pfütze auf.«
Als Felix unterschrieben hat, ist die Seite immer
noch nicht voll. Eine volle Seite sollte man Oma
schon schreiben, findet Jenny. Das hat sie verdient.
Oma freut sich immer so über Post. Kitty und Peter
wollen auch unterschreiben. Das füllt die Seite.
»Meinetwegen«, sagt Jonas. Aber Jenny hat etwas
dagegen: »Nein, das ist unsere Oma. Ihr gehört
doch nicht zur Familie!«
Plötzlich hat Jonas eine verrückte Idee: Wasti soll
noch unterschreiben. Der gehört schließlich zur
Familie, oder nicht?«
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»Euer Hund kann doch nicht schreiben!«, sagt Pe-
ter.
»Du wirst dich wundern!«, sagt Jonas.
Mit einem Hundekuchen gelingt es ihm, Wasti
unter dem Sofa hervorzulocken.
»Wasti kann nicht mal malen!«, brummt Felix.
»Denkste. Er kann einen Pfotenabdruck machen.
Den kann Oma genauso lesen wie dein Gekrit-
zel!«, behauptet Jonas und holt geschäftig das
Glas mit der roten Fingerfarbe. Er kleckst etwas
davon auf einen Kaffeeteller und vermischt es mit
Wasser. Mit List und drei Hundekuchen gelingt es
ihm, Wastis rechte Vorderpfote in den Kaffeeteller
zu stippen und auf den Briefbogen zu drücken. Es
klappt! Das Papier ist voll. Es sieht sehr hübsch aus.
»Ich will auch einen Pfotenabdruck machen!«,
sagt Felix und patscht mit der Hand in den Teller.
»Vorsicht! Du verdirbst sonst alles!«, ruft Jonas er-
schrocken und dreht das Blatt um. »Mach ihn auf
die Rückseite.«
Es klingelt. Jonas läuft zur Tür.
»Mama!«, ruft Felix.
Wasti reißt sich los, um die Mutter zu begrüßen.
Er springt an ihrem hellen Wintermantel hoch.
Der bekommt rote Tapser. Genau wie der Teppich-
boden. Felix stützt sich beim Aufstehen mit der
feuchten roten Hand an der Tapete ab und sagt
stolz: »Gerade sind wir fertig mit dem Brief. Und
alles ist ganz voll!«
»Das sehe ich!«, stöhnt Mama und sinkt auf einen
Stuhl.
»Könnt ihr mir das erklären?«
Wortlos starrt sie auf die leuchtend rote Spur, die
von der Haustür den Flur entlang bis ins Schlaf-
zimmer führt. An der Schlafzimmertür taucht jetzt
Wasti auf. Er hat zur Begrüßung Papas Pantoffel
geholt. Das macht er immer, wenn jemand heim-
kommt. Jetzt leuchtet im Flur eine rote Doppel-
spur.
An ihrem Ende steht Wasti. Er hat den Pantoffel
in der Schnauze, wedelt mit dem Schwanz und
sieht die Mutter erwartungsvoll an. Doch keiner
lobt ihn. Er versteht die ganze Aufregung nicht.
Und die Mutter versteht auch nicht, wie das alles
90 91
gekommen ist. Deshalb hat ihr Jenny endlich alles
erklärt.
Übrigens: Die Oma hat sich über den Brief sehr
gefreut. Das hat sie an Weihnachten allen erzählt.
Ursel Scheffler
C hristkindl-Ahnung im Advent
Erleben eigentlich Stadtkinder Weihnachtsfreu-
den? Erlebt man sie heute noch? Ich will es al-
len wünschen, aber ich kann es nicht glauben,
dass das Fest in der Stadt mit ihren Straßen
und engen Gassen das sein kann, was es uns
Kindern im Walde gewesen ist. Der erste
Schnee erregte schon liebliche Ahnungen,
die bald verstärkt wurden, wenn es im
Haus nach Pfeffernüssen, Makronen
und Kaffeekuchen zu riechen begann,
wenn am langen Tische der Herr Oberförs-
ter und seine Jäger mit den Marzipanmodeln ganz
zahme, häusliche Dinge verrichteten, wenn an
den langen Abenden sich das wohlige Gefühl der
18. Dezember
126 127
ten und Hauben der Weiber schimmern hier und
da die landesüblichen, seltsamen Kugelmützen
von Gold- und Silberstoff, die Kopfbedeckungen
der älteren Bürgersfrauen, hervor. Immer dichter
werden die Scharen, die an mir vorüberziehen.
Jeder Kirchgänger führt ein Wachslicht mit sich,
welches an einer am Eingang der Kirche hän-
genden kleinen Lampe angezündet wird. Schon
flammen Hunderte von Kerzen, schon braust die
Orgel, der Gesang der Menge fällt ein – weit über
die kleine Stadt hin, bis tief hinein in die stillen
Berge, wo der Hirsch und der Fuchs verwundert
aufhorchen, erklingt die Feier des Christmorgens.
Wilhelm Raabe
Quellenverzeichnis
Texte
Max Bolliger, Das Hirtenlied, aus: ders., Ein Duft von Weih-
rauch und Myrrhe © 2009 Verlag am Eschbach der Schwa-
benverlag AG, Eschbach/Markgräflerland
Peter Biqué, Die Fahrt über die Donau © Alle Rechte beim
Autor.
Friedrich Haarhaus, „Es ist für uns eine Zeit angekommen“,
„Seht, die gute Zeit ist nah“, „Morgen, Kinder, wird’s was
geben“ © Alle Rechte beim Autor.
Dietrich Mendt, Von der Erfindung der Weihnachtsfreude ©
Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2012 (2. Auflage)
Hans Orths, Die Woche des Advents. Alle Rechte beim Autor.
Ursel Scheffler, „Der Ritt nach Betlehem“ und „Weihnachts-
brief an Oma“ © Alle Rechte bei der Autorin.
Luise Rinser, Engelmessen, aus: dies., Die gläsernen Ringen
© S.Fischer Verlag, Berlin 1941. Alle Rechte vorbehalten
S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Kathrin Schrocke, „Ein ganz besonderer Adventskalender“;
aus: 24 Geschichten für die Weihnachtszeit, hrsg. von Dia-
na Steinbrede. Copyright © Boje Verlag in der Bastei Lübbe
AG, Köln 2011
Doris Thomas, Bis zuletzt. Erschienen in: Weihnachtsbesche-
rung. Kurze Geschichten. Ausgewählt von Dorette Winter.
© Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart.
128
Karl Heinrich Waggerl, Der Wunschzettel aus: ders., Die stills-
te Zeit im Jahr. Sämtliche Werke. Band II © Otto Müller
Verlag, Salzburg 1981
Karl Heinrich Waggerl, , Die stillste Zeit im Jahr, aus: ders.,
Sämtliche Weihnachtserzählungen © Otto Müller Verlag,
Salzburg 2013
Illustrationen
Umschlag: © Franz Gabriel Walther, Innen: © Christine
Krahl/Fotolia.
Wir danken allen Inhabern von Text- und Bildrechten für die
Abdruckerlaubnis. Der Verlag hat sich bemüht, alle Rechtein-
haber in Erfahrung zu bringen. Für zusätzliche Hinweise sind
wir dankbar.