Foucault, Michel - Warum Ich Die Macht Untersuche. Die Frage Des Subjekts (1982)

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  • 7/14/2019 Foucault, Michel - Warum Ich Die Macht Untersuche. Die Frage Des Subjekts (1982)

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    Michel FoucaulWARUM ICH DIEMACHT UNTERSUCHE:DIE FRAGE DES SUBJEKTS

    Die Ideen, die ich hier errtern will, stellen wedereine Theorie noch eine Methodologie dar.Zunchst mchte ich darlegen, was das Ziel meinerArbeit whrend der letzten 20 Jahre war.Es warnicht die Analyse der Machtphnomene und auchnicht die Ausarbeitung der Grundlagen einer solchenAnalyse.Meine Absicht war es vielmehr, eine Geschichte derverschiedenen Verfahren zu entwerfen, durch die inunserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht wer-den. Meine Arbeit befate sich darum mit drei Wei-sen der Objektivierung, die Menschen in Subjekteverwandeln.Zunchst waren da die Untersuchungsverfahren, diesich den Status von Wissenschaften zu geben versu-chen; ich denke zum Beispiel an die Objektivierungdes sprechenden Subjekts in der Allgemeinen Gram-matik, in der Philologie und in der Linguistik. Oderetwa die Objektivierung des produktiven Subjekts,des Subjekts, das arbeitet, in der Analyse derReichtmer und der konomie.Oder, drittes Bei-spiel, die Objektivierung der puren Tatsache des Le-bens in der Naturgeschichte oder Biologie.Im zweiten Abschnitt meines Arbeitens habe ich dieObjektivierung des Subjekts durch das, was ich Tei-lungspraktikena nennen werde, untersucht. Das Sub-jekt ist entweder in seinem Inneren geteilt oder von

    den anderen abgeteilt. Dieser Vorgang macht aus ihmeinen Gegenstand. Die Aufteilung in Verrckte undgeistig Normale, in Kranke und Gesunde, in Krimi-nelle und anstndige Jungw illustriert dies.Schlielich habe ich versucht, die Art und Weise, inder ein Mensch sich selber in eine Subjekt verwan-delt, zu untersuchen. Als Beispiel habe ich den Be-reich der Sexualitt gewahlt: wie der Mensch gelernthat, sich als Subjekt einer Sexualittzu erkennen.Nicht die Macht, sondern das Subjekt ist deshalb dasallgemeine Thema meiner Forschung. Aber die Ana-lyse der Macht ist selbstverstndlich unumgnglich.Denn wenn das menschliche Subjekt innerhalb vonProduktions- und Sinnverhltnissen steht, dann stehtes zugleich auch in sehr komplexen Machtverhltnis-Sen.Nun schien mir, da wir mit der Geschichte undTheorie der konomie ber angemessene Werkzeu-ge f r die Analyse der Produktionsverhltnisse ver-fgen; ebenso liefern Linguistik und Semiotik Werk-zeuge fr die Untersuchung der Sinnverhltnisse. FrMachtverhltnisse aber gab es kein bestimmtesWerkzeug. Wir verfugen lediglich ber Weisen, dieMacht zudenken, die sich entweder auf juristischeModelle (Wer legitimiert die Macht?) oder auf insti-tutionelle Modelle (Was ist der Staat?) sttzten.Wollte man sie zur Untersuchung der Objektivierungdes Subjekts verwenden, mute man also die Dimen-sionen einer Definition der Macht erweitern.Brauchen wir eine Theorie der Macht? Da jedeTheorie eine vorhergehende Objektbildung voraus-setzt, kann keine al s Grundlage der analytischen Ar -beit dienen. Aber die analytische Arbeit kommt nichtohne weiterfhrende Begriffsbildung voran. Un d

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    diese Begriffsbildung impliziert kritisches Denken:ein stndiges berprfen.Zunchst gilt es zu berprfen, was ich den Be-griffsbedarfa nennen wrde. Ich meine, da die B e-griffsbildung nicht auf einer Theorie des Objektsaufgebaut werden sollte: das begrifflich erfate Ob-jekt ist nicht das alleinige Kriterium einer guten Be-griffsbildung. Wir mssen die historischen Bedin-gungen kennen, die unserer Begriffsbildung zugrun-de liegen. Wir brauchen ein geschichtliches Bewut-sein unserer gegenwrtigen Situation.Als zweites mu man den Realittstyp berprfen,mit dem wir es zu tun haben. Ich bezweifle, da dieFrage der Macht erst im 20. Jahrhundert gestellt wer-den ist. Allerdings ist fr uns die Macht nicht nureine theoretische Frage, sondern ein Teil unserer Er-fahrung. Ich will nur zwei ihrer pathologischen For-men anfhren, jene zwei Krankheiten der Macht,Faschismus und Stalinismus. Einer der zahlreichenGrnde dafr, da sie uns so verwirren, ist, da sietrotz ihrer historischen Einmaligkeit nichts Ur-sprngliches sind. Sie benutzten und erweiterten Me-chanismen, die in den meisten anderen Gesellschaf-ten schon vorhanden waren. Mehr als das: trotz ihresinneren Wahnsinns haben sie in groem Ausmaedie Ideen und Verfahrensweisen unserer politischenRationalitt benutzt. Wir brauchen eine neue kono-mie der Machtverhltnisse, und ich gebrauche hierdas Wort konomie in seinem theoretischen undpraktischen Sinn. Anders gesagt: seit Kant bestehtdie Rolle der Philosophie darin, die Vernunft davorzu bewahren, ber die Grenzen dessen, was unsdurch die Erfahrung gegeben ist, hinauszugehen.Aber seitdem, das heit, seit der Entwicklung des

    modernen Staats und der politischen Lenkung derGesellschaft, hat die Philosophie auch die Funktion,die Machtausbung der politischen Rationalitt zubegrenzen - eine ziemlich hochgeschraubte Erwar-tung.Das Verhltnis zwischen der Rationalisierung undden Auswchsen der politischen Macht ist offen-sichtlich. Es bedarf nicht erst der Brokratie oder derKonzentrationslager, u m die Ex istenz derartiger Ver-hltnisse zu erkennen. Das Problem ist nur, was manmit solch einer offensichtlichen Tatsache anfngt.Sollen wir uns an die Vernunft halten? Nichts wresteriler als das. Zunchst, weil das Feld nichts mitSchuld oder Unschuld zu tun hat. Zweitens, weil essinnlos ist, sich auf die Vernunft als Gegenstck derUnvernunft zu beziehen. Letztlich, weil ein solchesVorgehen und darauf festlegen wrde, die willkrli-che und langweilige Rolle entweder des Rationali-sten oder des Irrationalisten zu spielen.Sollen wir den Typ von Rationalitt untersuchen, de runserer modernen Kultur zueigen scheint und der inde r Aufklrung [im Original deutsch] grndet? Daswar wohl de r Ansatz einiger Mitglieder der Frankfur-ter Schule. Ich h abe ind es nicht vor, eine Diskussionihrer Werke zu beginnen, so wichtig und wertvoll sieauch sind. Vielmehr will ich ein anderes Untersu-chungsverfahren fr die Beziehungen zwischen Ra-tionalisierung und Macht vorschlagen.Vielleicht tten wir gut daran, die Rationalisierungder Gesellschaft oder der Kultur nicht global zu be-trachten, sondern den Vorgang in verschiedenen Be-reichen zu analys ieren, deren jeder auf eine grundle-gende Erfahrung verweist: Wahnsinn, Krankheit,Tod, Verbrechen, Sexualitt usw. Ich halte das Wort

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    Rationalisierung f r gefhrlich. Wir sollten Spezi-fische Rationalitten untersuchen, statt stndig vomFortschreiten der Rationalisierung im allgemeinenzu reden.Auch wenn die Aufklrung eine sehr wichtige Phaseunserer Geschichte und der Entwicklung der politi-schen Technologie war, glaube ich, da wir auf sehrviel entferntere Vorgnge zurckgehen mssen,wenn wir verstehen wollen, kraft welcher Mechanis-men wir zu Gefangenen unserer eigenen Geschichtegeworden sind. Ich mchte einen Weg in Richtungeiner neuen konomie der Machtverhltnisse vor-schlagen, der empirischer und direkter auf unsere ge-genwrtige Situation bezogen ist, und der mehr Be-ziehungen zwischen Theorie und Praxis umfat. SeinAusgangspunkt sind die Formen des Widerstands ge-genber den verschiedenen Machttypen. Metapho-risch gesprochen heit das, den Widerstand als che-mischen Katalysator zu gebrauchen, mit dessen Hilfeman die Machtverhltnisse ans Licht bringt, ihre Po-sitionen ausmacht und ihre Ansatzpunkte und Ver-fahrensweisen herausbekommt. Statt die Macht vonihrer inneren Rationalitt her zu analysieren, heites, die Machtverhltnisse durch den Gegensatz derStrategien zu analysieren.Um zum Beispiel herauszufinden, was unsere Ge-sellschaft unter vernnftig versteht, sollten wir viel-leicht analysieren, was im Feld der Unvernunft vorsich geht. Wir sollten untersuchen, was im Feld derIllegalitt vor sich geht, um zu verstehen, was wirmit Legalitt meinen, und um zu verstehen, worumes bei den Machtverhltnissen geht, sollten wir viel-leicht die Widerstandsformen und die Versuche zurAuflsung dieser Verhltnisse untersuchen.

    Als Ausgangspunkt knnten wir eine Reihe von Op-positionen nehmen, die sich whrend der letztenJahre entwickelt haben: die Opposition gegen dieMacht der Mnner ber die Frauen, der Eltern berihre Kinder, der Psychiatrie ber die Geisteskranken,der Medizin ber die Bevlkerung, der Verwaltungber das Leben der Leute. Es gengt nicht zu sagen,da diese Oppositionen antiautoritre Kmpfe sind;wir mssen prziser definieren, was ihnen gemein-sam ist:1. Es sind transversale Kmpfe; damit meine ich,da sie nicht auf ein bestimmtes Land beschrnktsind. Sicherlich frdern einige Lnder ihre Entwick-lung und erleichtern ihre Ausbreitung, aber sie sindnicht auf eine bestimmte politische oder konomi-sche Regierungsform beschrnkt.2. Diese Kmpfe zielen auf die Auswirkungen derMacht als solcher. Die Vorwrfe gegen den Berufs-stand der Mediziner richten sich nicht so sehr darauf,da er Profite macht, sondern da er ber die Krperund die Gesundheit der Leute, ber ihr Leben undihren Tod unkontrolliert Macht ausbt.3. Aus zwei Grnden sind es unmittelbare Kmp-fe. In diesen Kmpfen kritisieren die Leute diejeni-gen Machtinstanzen, die ihnen am nchsten sind,jene die direkt auf die Individuen einwirken. Sie fra-gen nicht nach dem H auptfeind, sondern nach demunmittelbaren Feind. Auch setzen sie nicht darauf,da die Losung ihres Problems in irgendeiner Zu-kunft liegen knnte (Befreiungen, Revolutionen,Ende des Klassenkampfes). Gemessen an den theo-retischen Erklrungsmustern oder an der revolu-tionren Ordnun g, die ihnen der Historiker unterlegt,sind dies anarchische Kmpfe. Aber das sind nicht

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    ihre ursprnglichen Kennzeichen. Spezifischerscheinen mir die folgenden:4. Es sind Kmpfe, die den Status des Individuums inFrage stellen: Einers eits behaupten sie das Recht, an-ders zu sein, und unterstreichen all das, was Indivi-duen wirklich individuell macht. Andererseitsbekmpfen sie all das, was das Individuum abson-dert, seine Verbindungen zu anderen abschneidet,das Gemeinschaftsleben spaltet, das Individuum aufsich selbst zurckw irft und zwanghaft an sein e Iden-titt fesselt.Diese Kmpfe sind nicht im engeren Sinne fr odergegen das Individuum gerichtet, sondern eherKmpfe gegen das, was m an Regieren durch Indivi-dualisieren nennen knnte.5. Sie bekmpfen jene M achtwirkungen, die anWis-sen, Kompetenz und Qualifikation gebunden sind. Essind Kmpfe gegen die Privilegien des Wissens.Aber sie wenden sich auch gegen Verheimlichung,Entstellung und Mystifiziemng in den Darstellun-gen, die den Leuten aufgezwungen werden. In alldem liegt kein Szientismus (das heit keinerleidogmatischer Glaube an den Wert wissenschaftli-chen Wissens), aber auc h keine skeptische oder rela-tivistische Verweigerung jeglich er erwiesenen Wahr-heit. Was in Frage steht, ist die Weise, in der Wissenzirkuliert und funktioniert, seine Beziehungen zurMacht. Kurz, das Regime des Wissens.6. Schlielich kreisen all diese gegenwrtigenKmpfe um dieselbe Frage: Wer sind wir? Sie wei-sen die Abstraktionen a b, die konomische und ideo-logische Staatsgewalt, die nicht wissen will, wer wirals Individuen sind, die wissenschaftliche und admi-nistrative Inquisition, die bestimmt, wer man sei.

    Man kann zusammenfassen: Das Hauptziel dieserKmpfe ist nicht so sehr der Angriff auf diese oderjene Machtinstitution, Gruppe, Klasse oder Elite,sondern vielmehr auf eine Technik, eine Form vonMacht. Diese Fo rm von Macht wird unmittelbar imAlltagsleben s prbar, welches das Individuum in Ka-tegorien einteilt, ihm seine Individualitt aufprgt, esan seine Identitt fesselt, ihm ein Gesetz der Wahr-heit auferlegt, das es anerkennen mu und das ande-re in ihm anerkennen m ssen. Es ist eine Machtform,die aus Individuen Subjekte macht. Das Wort Subjekthat einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle undAbhngigkeit jemandem unterworfen sein und durchBewutsein und Selbsterkenntnis seiner eigenenIdentitt verhaftet sein. Beide Bedeutungen unter-stellen eine Form von Macht, die einen unterwirftund zu jemandes Subjekt macht.Allgemein kann man sagen, da es drei Typen vonKmpfen gibt: die gegen Formen der (ethischen, so-zialen und religisen) Herrschaft; die gegen Formender Ausbeutung, die das Individuum von dem tren-nen, was es produziert; die gegen all das, was das In-dividuum an sich selber fesselt und dadurch andernunterwirft (Kmpfe gegen Subjektivierung, gegenFormen von Subjektivitt und Unterwerfung).Die Geschichte ist reich an Beispielen fr diese dreiTypen gesellschaftlicher Kmpfe, ob sie nun isoliertoder vermischt auftreten. Aber selbst wenn sie ver-mischt sin d, dominiert fast immer einer von ihnen. Inden Feudalgesellschaften etwa berwogen dieKmpfe gegen die Formen ethnischer oder sozialerHerrschaft, auc h wenn die konomische Ausbeutungeine wichtige Ursache des Aufruhrs htte abgebenknnen.

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    Im 19. Jahrhundert ist der Kampf gegen die Ausbeu-tung in den Vordergrund getreten. Und heute wirdder Kampf gegen die Formen der Subjektivierung,gegen die Unterwerfung durch Subjektivitt zuneh-mend wichtiger, auch wenn die Kmpfe gegen Herr-schaft und Ausbeutung nicht verschwunden sind,ganz im Gegenteil. Ich vermute, da unsere Gesell-schaft es nicht zum ersten Mal mit dieser Art vonKampf zu tun hat. All die Bewegungen zwischendem 15. und 16. Jahrhundert, die ihren Hauptaus-druck und ihren Niederschlag in der Reformationfanden, mssen alsAnzeichen einer groen Krise derabendlndischen Erfahrung von Subjektivitt und alsAufstand gegen den Typ religiser und moralischerMacht, der im Mittelalter diese Subjektivitt geprgthatte, verstanden werden. Das damals versprte Be-drfnis nach direkter Teilhabe am geistlichen Leben,am Werk der Erlsung, an der Wahrheit, die im heili-gen Buch liegt - ll das war ein Kampf fr eine neueSubjektivittIch wei, welche Einwnde man vorbringen kann.Man kann sagen, alle Typen der Subjektivierungseien blo abgeleitete Phnomene, Konsequenzenanderer konomischer und gesellschaftlicher Prozes-se: Produktivkrfte, Klassenkonflikte und ideologi-scher Strukturen, die die Form der Subjektivitt be-stimmen. Es ist klar, da man die Subjektivierungs-mechanismen nicht studieren kann, ohne ihre Bezie-hungen zu den Ausbeutungs- und Herrschaftsmecha-nismen zu bercksichtigen. Gleichwohl stel en sienicht blo den Endpunkt anderer, grundlegendererMechanismen dar, sondern unterhalten komplexeund zirkulre Beziehungen zu den anderen Formen.Der Grund dafr, da dieser Kampfestyp in unserer

    Gesellschaft berhand nimmt, liegt darin, da sichseit dem 16. Jahrhundert kontinuierlich eine neueForm politischer Macht entwickelt hat. Diese neuepolitische Struktur ist bekanntlich der Staat. DerStaat wird jedoch zumeist als ein Typ politischerMacht wahrgenommen, der die Individuen nicht zurKenntnis nimmt, da er sich nur mit den Interessender Allgemeinheit oder vielmehr einer Klasse oderGruppe bestimmter Brger befat. Das ist vollkom-men richtig. Ich mchte aber unterstreichen, da dieMacht des Staates (und das ist einer der Grnde frihre Strke) eine zugleich individualisierende und to-talisierende Form der Macht ist. Ich glaube, da esniemals in der Geschichte der menschlichen Gesell-schaften, nicht einmal in der altchinesischen Gesell-schaft, eine so verwickelte Kombination von Indivi-dualisierungstechniken und Totalisierungsverfahreninnerhalb ein und derselben politischen Struktur ge-geben hat. Das liegt daran, da der moderne abend-lndische Staat eine alte Machttechnik, die denchst li chen Institutionen entstammt, nmlich die Pa-storalmacht, in eine neue politische Form integrierthat.Man hat oft gesagt, das Christentum habe einen ethi-schen Code hervorgebracht, der sich von dem der an-tiken Welt grundlegend unterschied. Was man weni-ger betont, ist, da das Christentum der gesamten an-tiken Welt neue Machtverhltnisse beschert hat. DasChristentum ist die einzige Religion, die sich als Kir-che organisiert hat. Als solche vertritt das Christen-tum prinzipiell, da einige Individuen kraft ihrer reli-gisen Eigenart befhigt seien, anderen zu dienen,und zwar nicht als Frsten, Richter, Propheten,Wahrsager, Wohltter oder Erzieher usw., sondern

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    als Pastoren (Hirten). Dieses Wort bezeichnet jeden-falls eine ganz eigentmliche Form von Macht.1. Sie ist eine Form von Macht, deren Endziel es ist,individuelles Seelenheil in der anderen Welt zu Si-chern.2. Pastoralmacht ist nicht blo eine Form von Macht,die befiehlt; sie mu auch bereit sein, sich fr dasLeben und Heil der Herde zu opfern. Darin unter-scheidet sie sich von der Knigsmacht, die von ihrenSubjekten Opfer fordert, wenn es gilt, den Thron zuretten.3. Sie ist eine Machtform, die sich nicht nur um dieGemeinde insgesamt, sondern um jedes einzelne In -dividuum whrend seines ganzen Lebens kmmert.4.Man kann diese Form von Macht nicht ausben,ohne zu wissen, was in den Kpfen der Leute vorsich geht, ohne ihre Seelen zu erforschen, ohne sie zuveranlassen, ihre innersten Geheimnisse zu offenba-ren. Sie impliziert eine Kenntnis des Gewissens undeine Fhigkeit, es zu steuern.Diese Form von Macht ist auf das Seelenheil gerich-tet (im Gegensatz zur politischen Macht). Sie istselbstlos (im Gegensatz zum Prinzip der Souver-nitt) und individualisierend (im Gegensatz zur juri-dischen Macht). Sie erstreckt sich ber das gesamteLeben und begleitet es ununterbrochen; sie ist miteiner Produktion von Wahrheit verbunden, der Wahr-heit des Individuums selbst.All dies, werden Sie sagen, ist Geschichte; das Pasto-rat hat, sofern es nicht verschwunden ist, doch seineWirksamkeit weitgehend eingebt. Da s stimmt,aber ich denke, wir sollten zwischen zwei Aspektender Pastoralmacht unterscheiden: der kirchlichen In-stitutionalisierung, die verschwunden ist oder seit

    dem 18. Jahrhundert viel an Lebenskraft verlorenhat, und der Funktion selbst, die sich ausgebreitetund auerhalb der kirchlichen Institution vermehrthat. Um das 18. Jahrhundert hat sich ein wichtigesPhnomen ergeben: eine neue Verteilung, eine neueOrganisation dieser Art von individualisierter Macht.Ich glaube nicht, da wir den modernen Staat alseine Entitt betrachten sollten, die sich unterMiachtung der Individuen entwickelt hat und nichtwissen wollte, wer diese sind noch ob sie berhauptexistieren, sondern im Gegenteil als eine sehr raffi-nierte Struktur, in die Individuen durchaus integrier-bar sind -unter einer Bedingung: da die Individua-litt in eine neue Form gebracht und einer Reihe spe-zifischer Modelle unterworfen werde. In gewisserHinsicht kann man den modernen Staat als eine Indi-vidualisierungs-Matrix oder eine neue Form der Pa-storalmacht ansehen.Noch einige Worte zu dieser neuen Pastoralmacht.1.Man beobachtet einen Wechsel ihrer Ziele. Es gehtnicht mehr darum, die Leute zur Erlsung in der an-deren Welt zu fiihren, sondern ihnen das Heil in die-ser Welt zu sichern. Und in diesem Kontext nimmtdas Wort Heil mehrere Bedeutungen an: es meint Ge-sundheit, Wohlergehen (das heit: ausreichende Mit-tel, Lebensstandard), Sicherheit, Schutz gegen Un-flle. Eine Reihe weltlicher Ziele ersetzt die reli-gisen des traditionellen Pastorats, und das um soleichter, als letztere aus verschiedenen Grndenimmer schon zustzlich manche der ersteren mit ab-gedeckt hatten; man denke an die Rolle der Medizinund ihre soziale Funktion, die lange Zeit durch diekatholischen und die protestantischen Kirchen wahr-genommen worden ist.

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    2. Zugleich verstrkte s ich die Verwaltung der Pasto-ralmacht. Manchmal ist diese Machtform vomStaatsapparat ausgebt worden oder zumindest voneiner ffentlichen Institution wie der Polizei. (Ver-gessen wir nicht, da die Polizei im 18. Jahrhundertnicht nur dazu erfunden worden ist, um b er die Auf-rechterhaltung von Gesetz und Ordnung zu wachenund um den Regierungen im Kampf gegen derenFeinde zu helfen, sondern auch um die Versorgungder Stdte zu gewhrleisten, Hygiene und Gesund-heit zu schtzen und die Bedingungen zu gewhrlei-sten, die fr die Entwicklung des Handwerks und desHandels notwenig waren.) Manchmal ist die Machtvon Privatunternehmungen , Frsorgevereinen, Wohl-ttern und Philanthropen ausgebt worden. Es sindaber auch alte Institutionen, wie zum Beispiel d ie Fa-milie, mobilisiert worden, um Pastoralfunktionen zubernehmen. Diese Macht ist auch von komplexenStrukturen wie der Medizin ausgebt worden, die so-wohl Privatinitiativen - inschlielich des Verkaufsvon Dienstleistungen auf der Grundlage der Markt-wirtschaft - als auch ffentliche Einrichtungen wiedie Hospitler umfate.3. Schlielich hat die Vervielfachung der Ziele undder Agenten der Pastoralmacht dazu gefhrt, da8sich das Wissen ber den Menschen nach zw ei Polenhin entwickelte: der eine, globale und quantitative,betraf die Bevlkerung, der andere, analytische, dasIndividuum.Eine der Konsequenzen ist, da Macht vom pastora-len Typ, die jahrhundertelang, j a lnge r als ein Jahr-tausend an eine bestimmte Institution gebunden ge-wesen war, pltzlich den gesamten Gesellschaftskr-per durchdrang; dabei konnte sie sich auf eine

    Menge von Institutionen sttzen. Anstelle einer pa-storalen und einer politischen Macht, die mehr oderweniger miteinander im Bunde waren und mehr oderweniger m iteinander rivalisierten, gab e s nun eine in-dividualisierende Taktik, die das Kennzeicheneiner Reihe von Mchten wie der Familie, der Medi-zin, der Psychiatrie, der Erziehung, der Arbeitgeberusw. war.Ende des 18.Jahrhunderts verffentlichte Kant in derBerlinischen Monatsschrift einen kurzen Text unterdem Titel Was ist Aufklrung?. Man hat ihn lange- nd bis heute - ls relativ unbedeutenden Text be-trachtet. Ich hingegen halte ihn fr sehr interessantund erstaunlich, weil hier zum ersten Mal ein Philo-soph es als politische Aufgabe darstellt, nicht nur dasmetaphysische System und die Grundlagen des wis-senschaftlichen Wissens zu analysieren, sondern eingeschichtliches, noch junges, ja aktuelles Ereignis.Als Kant 1784 fragte: Was ist Aufklrung?, dameinte er: Was geht jetzt eben vor sich? Was ge-schieht mit uns? Was ist das fr eine Welt, eine Zeit,ein Moment, in dem wir leben? Oder, mit anderenWorten: Wer sind wir? Wer sind wir alsAufklrer, alsTeil der Aufklrungsbeweg ung? Vergleichen wir dasmit der cartesischen Frage: Wer bin ich? Ich als eineinmaliges, doch universales und unhistorischesSubjekt? Wer bin ich - ich ist fr D escartes jeder,berall und zu jeder Zeit. Kant hingegen fragt etwasanderes: Wer sind wir in diesem przisen Momentder Geschichte? Kants Frage zielt analytisch zu-gleich auf uns und unsere Gegenwart. Dieser Blick-winkel der Philosophie ist, so denke ich, zunehmendwichtiger geword en, man denke an H egel, Nietzsche.Der andere Blickwinkel der Universalphilosophie

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    ist nicht verschwunden. Doch die Aufgabe der Philo-sophie, kritische Analyse unserer Welt zu betreiben,wird immer wichtiger. Das zentrale philosophischeProblem ist wohl d as der Gegenwart und dessen, waswir in eben diesem Moment sind. Wobei das Zielheute weniger darin besteht, zu entdecken, als viel-mehr abzuw eisen, was wir sind. Wir mssen uns das,was wir sein knnten, ausdenken und aufbauen, umdiese Art von politischem double-bind abzuscht-teln, der in de r gleichzeitigen Individualisierung undTotalisierung durch moderne Machtstrukturen be-steht. Abschlieend knnte man sagen, da das poli-tische, ethische, soziale und philosophische Problem,das sich u ns heu te stellt, nicht darin liegt, das Indivi-duum vom Staat und dessen Institutionen zu befrei-en, sondern uns sowohl vom Staat als auch vom Typder Individua lisierung, der mit ihm verbunden ist, zubefreien. Wir mssen neue Formen der Subjektivittzustandebringen, indem wir die Art von Individua-litt, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat,zurckweisen.

    (Von Michel Foucault auf englisch verfat)Deutsch von Claus Ra h und Ulrich Raulff

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