FremdspracheDeutsch_31

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    Fremdsprache

    Deutsch

    Sprachenvielfalt

    im Klassenzimmer

    Zeitschrift fr die Praxis des Deutschunterrichts

    Heft 31 I 2004

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    INHALT Heft 31: Sprachenvielfalt im Klassenzimmer

    INGELORE OOMEN-WELKE /HANS-JRGEN KRUMM:

    5 Sprachenvielfalt eine Chancefr den Deutschunterricht

    MICHEL CANDELIER:14 Sprachen- und Kulturenvielfalt

    in der Grundschule

    Evlang: Ein Beitrag zur Verwirklichung von Zielender europischen Sprachenpolitik

    BRITTA HUFEISEN:19 Deutsch und die anderen (Fremd)Sprachen

    im Kopf der LernendenWie man dieses Potenzial im Deutschunterrichtnutzen kann

    24 Der Baum der MehrsprachigkeitVon Eva-Maria Jenkins

    EVANGELIA KARAGIANNAKIS:25 Von schnen Schwestern, politischen

    Brdern und GesetzesmtternFamilien- und Verwandtschaftsbezeichnungenim mehrsprachigen Deutschunterricht

    SUSANNE REIF-BREITWIESER:30 Wir sprechen zehn Sprachen

    Bericht ber ein multilinguales Sprachenprojektin mehreren Teilen

    JUTTA KEPSER:36 Su nerede? Wasser wo?

    Das Modellprojekt InterkulturelleMrchendidaktik

    DORIS WILDENAUER-JSZA:38 Ich vergleiche immer ...

    Wie erwachsene Deutschlernende ihre Sprachen-kenntnisse einsetzen: Beispiel Grammatik

    OLGA ESTEVE:44 Language-Awareness im mehrsprachigen

    Kontext Kataloniens

    Lernaktivitten zum Aufbau eines ganzheitlichenSprachlernkonzepts

    Lnderbericht UngarnMRTA S. RBAI:

    48 Deutsch und andere Sprachen inungarischen Schulen

    Lnderbericht GhanaSEBASTIAN K. BEMILE:

    52 Sprachenvielfalt in Ghana auch im

    Deutschunterricht

    RUBR I K EN

    4 Impressum4 Editorial56 Bcher, Zeitschriften, Internet-Adressen

    zum Thema58 Aktuelles Fachlexikon59 Rezensionen61 Unsere Sprachecke62 Litfasule, Termine64 Unsere Autorinnen und Autoren

    ANGEBOT!Siehe Bestellformular

    in der Mitte desHeftes.

    Fremdsprache Deutsch Heft 31/2004 Sprachenvielfalt im Klassenzimmer, ISBN 978-3-19-199183-8, Hueber Verlag 2007

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    EDITORIALLiebe Leserin, lieber Leser,

    schon beim Durchblttern werden Sie feststellen,dass sich dieses Heft von allen bisherigen strkerunterscheidet, als Sie es gewohnt sind: Siewerden mit einer Vielzahl faszinierender Schrift-zeichen erfreut, verunsichert, neugierig gemacht.Damit luten wir aber keinen Paradigmenwechselin der Fremdsprachendidaktik ein nach demMotto: Von der Einsprachigkeit zum babyloni-schen Sprachenpotpurri, vom Unterricht Deutschals Fremdsprache zum Unterricht von Fremd-sprachen mit u.a. Deutsch.

    Was beabsichtigt dann aber ein Heft mit demThema Sprachenvielfalt im Klassenzimmer?

    Die beiden Herausgeber sagen dazu in ihrem Ein-leitungsbeitrag Spannendes und Bedenkenswertes.Ich mchte diesem Beitrag und dem Heft einigewenige Bemerkungen vorausschicken: Vielfalt undToleranz sind komplementre Begriffe. Je vielfltigerund damit unterschiedlicher unsere Welt ist, destomehr ist gegenber dem Anderen eine offene, tole-

    rante Haltung Voraussetzung fr eine konfliktfreieVerstndigung und schrittweise Annherung.

    Andere Sprachen spielen unter lernpsychologi-schen Gesichtspunkten eine wichtige Rolle injedem Fremdsprachenunterricht. Sie knnen aberauch einen Beitrag zur Verwirklichung einerewigen Utopie leisten: der einer verstndnisvollmiteinander lebenden multikulturellen Gesellschaftund Welt.

    Die sthetische Seite dieser Vielfalt springt ins

    Auge. Dieses Heft zeigt auch, wie sichtbar schnSprachen sein knnen; eine intensivere Beschf-tigung mit dem Heft wird Sie hoffentlich ber-zeugen knnen, wie herausfordernd Sprachen-vielfalt auch in Ihrer Klasse sein kann.

    Einen herzlichen Gru vonBERND KAST

    Sprachenvielfalt im Klassenzimmer4

    IMPRESSUM

    Zeitschrift fr die Praxis des Deutschunterrichtsherausgegeben vom Vorstand des Goethe-InstitutsundPeter Bimmel, Hans-Jrgen Krumm, Gerhard Neunerim Verlag Ernst Klett Sprachen GmbH, Klett EditionDeutsch, Stuttgart

    Schriftleitung und Vertretung des Goethe-Instituts:Bernd Kast, Fortbildungsdidaktik

    Redaktionsbeirat des Goethe-Instituts:Edith Bialk, Robert Fallenstein, Hildegard Kirchner

    Korrespondierendes Mitglied: Diethelm Kaminski(Zentralstelle fr das Auslandsschulwesen)

    Verantwortlich fr dieses Heft: Ingelore Oomen-Welke,

    Hans-Jrgen Krumm

    Redaktion: Eva-Maria JenkinsSatz und Gestaltung: Peter ChalupnikAnzeigenleitung: Klett Edition DeutschDruck: Ludwig Auer GmbH, DonauwrthTitelbild: Sprachenportrt (Sammlung Hans-Jrgen Krumm)Zeichnungen auf den Seiten 24, 26: Dorothee Wolters

    Die Schriftenbeispiele auf den Seiten 14, 19, 36 stammenaus: Harald Haarmann: Universalgeschichte der Schrift.Frankfurt/New York: Campus Verlag 1991, 2. Aufl.

    Themen der nchsten Hefte: Ordnung und Variation in Satz und Text

    Lust auf Internet Prfungsvorbereitung und Evaluation (Arbeitstitel)

    Fr FREMDSPRACHE DEUTSCH gibt es ein Jahres-abonnement mit zwei regulren Heften zum Preis vonEuro 16,50 zuzglich Versandkosten, das Einzelheftkostet Euro 9,60 zuzglich Versandkosten (2005).Die Abonnementdauer betrgt ein Kalenderjahr undluft automatisch weiter, wenn nicht 2 Monate vorAblauf eines Jahres gekndigt wird.

    Beitrge sind urheberrechtlich geschtzt. Alle Rechtevorbehalten. Auch unverlangt eingesandte Manuskriptewerden sorgfltig geprft. Unverlangt eingesandteBcher werden nicht zurckgeschickt.

    Die als Arbeitsblatt oder Kopiervorlage bezeichneten Unter-richtsmittel drfen bis zur Klassen- bzw. Kursstrke ver-vielfltigt werden.

    Adresse der Schriftleitung:Bernd KastGoethe-Institut, Bereich FortbildungsdidaktikPostfach 190419, D-80604 MnchenTel.: 089/15921-295; mailto: [email protected]

    Bezugsadresse:Ernst Klett Sprachen GmbH,Klett Edition DeutschPostfach 106016, D-70049 Stuttgart,Tel.: ++49/711/6672-5730; Telefax: ++49/711/6672-2004Internet: www.klett-edition-deutsch.deE-Mail: [email protected]

    Tel./Fax der Redaktion: ++43/ 1/ 52354 48ISBN 3-12-675559-3

    ISSN 0937-3160

    Heft 31/2004

    Wie die Herausgeber nach Redaktionsschluss erfahrenhaben, ist Hans-Eberhard Piepho, Mitbegrnder und

    Mitherausgeber von FREMDSPRACHE DEUTSCH von1989 bis 1994, am 11. September 2004 im Alter von75 Jahren gestorben. Wir erinnern uns dankbar an diegemeinsame Arbeit und die vielen Impulse, die wir vonihm empfangen haben.

    Fremdsprache Deutsch Heft 31/2004 Sprachenvielfalt im Klassenzimmer, ISBN 978-3-19-199183-8, Hueber Verlag 2007

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    Unser Thema ist das Lernender deutschen Spracheim Kontext der Vielfalt von Sprachen: in der weitenWelt sowie an konkreten Orten, im praktischenGebrauch zwischen Sprachgruppen sowie in denindividuellen Kpfen der Sprechenden, in Sprach-kultur und Sprachenpolitik, wo ber sprachliche

    Bildung und ber Frdermanahmen entschiedenwird oder wo auch Sprachen ins Abseits gedrngtwerden. Davon handeln die Artikel dieses Heftes.

    Die meisten Autoren und Autorinnen habeneine gemeinsame Vision: Das Interesse fr unddie Beschftigung mit eigenen und anderen, auchfremden Sprachen verhilft zu sprachlicher Bewusst-heit; Sprachlernbewusstheit entsteht und unter-sttzt das Sprachenlernen; Offenheit fr andereSprachen und Kulturen fhrt zu Offenheit gegen-ber den Menschen, also zur Verstndigung berinnere und uere Grenzen hinweg. Deutschunter-

    richt als Mutter-, Zweit- und Fremdsprache kannzusammen mit anderem Sprachunterricht dazubeitragen.

    Was den Deutschunterricht betrifft, so beziehenwir uns auf Konzepte, die heute im weiten Sinneunter Language Awareness(Sprachaufmerksamkeit,Sprachbewusstheit) bekannt sind und die auf mg-lichst selbst gesteuerte Methoden des Sammelns,Sichtens, Vergleichens, Konstruierens von Sprach-ausdrcken zielen; das Projekt Evlang, das MichelCandelier in seinem Beitrag vorstellt, nutzt diesen

    Ansatz fr das Sprachenlernen in der Grundschu-le. Auch Olga Esteve nutzt den Ansatz der Sprach-aufmerksamkeit, um den Lernenden ihre Spra-chenbiografien bewusst zu machen und damit zuihrer Lernautonomie beizutragen.

    1. Lebensweltliche Mehrsprachigkeit

    Kinder kommen in allen Lndern auf natrlichemWege mit vielen Sprachen in Berhrung, mit denSprachen in der Familie, in der Nachbarschaft, inKindergarten und Schule, in den Medien.

    Sie erkennen, dass es verschiedene Spra-chen und auch Sprachvarianten gibt(siehe Kasten 1).

    In vielen Lndern der Welt gehrt dieMehrsprachigkeit zum gesellschaftlichenund ffentlichen Leben, und Kinder habenvon klein auf daran teil, sind selbst mehrsprachig.Manche haben zwei oder drei Familiensprachen,

    uerungen von Schulkindern im deutschsprachigen Raum

    Trkisch ist meine Heimatsprache und dann kann ich noch Franzsisch und Englisch(Ilham, 11 J.)

    Ich hab Deutsch im Kindergarten gelernt - da kam so eine extra Frau und hat nurmich genommen zum Lernen - dann hat sie mich auf den Scho genommen und hatso ein Buch gehabt - da waren immer so Bilder drauf - und dann hat sie gesagt dieHaarfarbe ist braun oder das ist ein Mensch - das ist ein Affe - das hat sie immer sogemacht (Sibel, 12 J.)

    ... und dann hab ich auch so mit der Zeit auch gelernt das war was anderes (als dieMuttersprache zu lernen) das war schwieriger - fr die Auslnder ist es schwieriger -Deutsch zu lernen - und bei uns sind die Griechen - und da ist einer - der versucht -dem bring ich jetzt auch Deutsch bei - fr den ist es ziemlich schwierig - (wie?) ja -

    ich sag halt einen Satz - und - da plappert die nach - manchmal schreiben wir auchwas - (es ist schwieriger) weil das eine ganz andere Sprache ist - wenn die - wenn dielnger in ihrem Lan - Land sind - dann kommen sie - in ein anderes Land - mssensie es jetzt erst mal lernen und - wird ganz schn schwierig ... (Valentin, 14 J.)

    5

    SPRACHENVIELFALT EINE CHANCE

    FR DEN DEUTSCHUNTERRICHTVON INGELORE OOMEN-WELKE UND HANS-JRGEN KRUMM

    In vielen Lndern der Weltgehrt die Mehrsprachigkeitzum gesellschaftlichen undffentlichen Leben, und Kinderhaben von klein auf daran teil.

    Kasten 1

    Fremdsprache Deutsch Heft 31/2004 Sprachenvielfalt im Klassenzimmer, ISBN 978-3-19-199183-8, Hueber Verlag 2007

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    In vielen Lndern lernen fast alle Kinder minde-stens eine Schulfremdsprache (siehe Kasten 2, Bei-spiel Japan). Das heit: berall auf der Welt, imdeutschen Sprachraum und anderswo, wachsenMenschen in mehrsprachigen Kontexten auf. Dasgilt auch fr ein Land wie z.B. Ghana (ca. 60 Spra-chen, davon sind 12 als Schulsprachen zugelassen)und viele andere Lnder in Afrika und Asien, indenen verschiedensprachige Ethnien zusammen-leben. Das gilt ebenso fr Lnder, die wir als schein-bar einsprachig wahrnehmen, in denen es jedochgleichfalls kleine oder groe Sprachgruppen gibt. Sohaben z.B. die Lnder, die 2004 der EuropischenUnion beigetreten sind, Minderheitensprachen(darunter z.B. auch Russisch) mit in die EUgebracht. Schlielich existiert Mehrsprachigkeit in

    Lndern wie z.B. Portugal, Frankreich oder den Nie-derlanden aufgrund der kolonialen Vergangenheitund / oder der Zuwanderung.

    Zweisprachige Familien oder Menschen, die auf-grund ihrer Migrationsgeschichte in vielen Spra-chen zu Hause sind, werden fr den Deutsch-unterricht berall auf der Welt zum Normalfall.

    oft werden sie in der Schule in einer neuen Sprachealphabetisiert und unterrichtet.

    Beispiel Dakar im Senegal: Ein Mdchen,Fatou, lernt in der Familie Bambara von derGromutter, Peul vom Vater, Serer von derMutter. Woloflernt es auf der Strae. Als es indie Schule kommt, wird es in Franzsischunterrichtet. Im Collge bekommt es Englischals erste Fremdsprache. Deutschwhlt es abKlasse 10 des Lyce.

    Evangelia Karagiannakis zeigt in ihrem Beitrag, wieder Deutschunterricht bei den Familienbeziehun-gen und -bezeichnungen der Kinder ansetzen unddabei die verschiedenen Sprachen der Lernenden

    nutzen kann.

    Gekonnte und gelernte Sprachen, Beispiel Japan.1

    Marianne

    1) Ich habe beim Philipinische Sprache mehr gemalt weilmeine Mutersprache ist.

    2) Ich habe auch beim Englisch Sprache ein bisschenmehr gemalt weil auch manchmal meine Muterspracheund ich habe schn frher Englisch gelernt hat als ichnoch Kind war.

    3) Ich habe beim Deutsch Sprache auch nicht mehr gemaltweil ich kann noch nicht so gut Deutsch sprechen kann.

    4) Beim Spanisch habe ich wenig gemalt weil ich kannauch nicht gut Spanisch kann. Und weil auch in unsereSprache gemischt ist.

    5) Meine Lieblings Sprache auf der Welt ist Philipinisch

    und Englisch.

    6) Ein bisschen mag ich Deutsch.

    Sprachenvielfalt im Klassenzimmer6

    Zweisprachige Familien oderMenschen, die aufgrund ihrer

    Migrationsgeschichte in vielenSprachen zu Hause sind, wer-den fr den Deutschunterrichtberall auf der Welt zumNormalfall.

    Kasten 2

    Kasten 3

    Fremdsprache Deutsch Heft 31/2004 Sprachenvielfalt im Klassenzimmer, ISBN 978-3-19-199183-8, Hueber Verlag 2007

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    Es ist erst einmal aufschlussreich, welche Spra-chen der Welt Kinder und Jugendliche in Europanennen knnen. Auer der (oder den) offiziellenSprache(n) ihres Landes nennen sie vor allen ande-ren Englisch. Sie kennen auch weitere Sprachen vonMinderheiten im eigenen Land; Dialekte werdenvon einigen als Sprachen angesehen. Sprachen ver-schiedener Nachbarlnder sind ihnen bekannt. Beientfernteren Erdteilen unterstellen sie eine Sprachefr den Erdteil (Afrikanisch, Amerikanisch), den-noch werden Chinesisch und Japanisch meistgesondert aufgefhrt. Offensichtlich glauben diemeisten, dass genau eine Sprache zu genau einemLand gehre.

    Was unterscheidet Sprachen voneinander? Verbrei-

    tet ist die Antwort, dass sie eben verschieden seien.Es werden Beispiele fr hnliches und Verschiede-nes vorgebracht (siehe Kasten 6).

    Die meisten Kinder und Jugendlichen haben keinoperationales Instrumentarium oder keine Sprach-mittel zur Verfgung, um Unterschiede zu beschrei-ben. Aber meist wissen die Kinder genau, mit wemsie selbst welche Sprachen gebrauchen.

    So fhrten Kinder in Wien bei der Frage nachihren Sprachen die Sprache Parkisch an, jene

    Sprachmischung aus Deutsch, Trkisch, Bosnisch,und Kroatisch, die sie untereinander beim Spielenim Park gebrauchen.4

    Fast alle Antworten von Kindern und Jugend-lichen in der Freiburger Untersuchung orientierensich am Wortschatz, der bei Sprachen offenbar amfasslichsten ist. Manche nennen schon Teilberei-che, in denen sich Verschiedenheit manifestiert, z.B.Aussprache und Rechtschreibung, Lexik und gegen-seitige Unverstndlichkeit und dass man die Spra-che und die Geschichte der betreffenden Lndererst lernen msse. Einige Befragte verweisen in die-

    sem Zusammenhang gegenlufig zur Frage, wasjedoch ihr eigenstndiges Denken dokumentiert

    auf hnlichkeiten durch Wrter gemeinsamer Her-kunft, Lehnwrter und Internationalismen.

    All diese Beispiele geben Aufschluss ber das pro-zedurale Wissen bzw. das operative Knnen. Dabeiwerden meist ungeschult und naiv hnlicheMorpheme und Lexeme ermittelt und semantischeAspekte gestreift. Die vergleichenden Operationenbeziehen sich sowohl auf verschiedene Sprachenals auch auf Standard versus Dialekt (siehe Kasten6). Einzelne Kinder wagen sich bis in theoretischeBereiche vor. Andere sprechen ber Subsprachen(baby talk) und andere Zeichensysteme (Geheim-sprachen, Tiersprachen), ber Sprachentstehungund semantische Aspekte. Das bezeichnen siedann als besonders interessant. Viele haben Detail-kenntnisse oder Bereichswissen, dem der Ort im

    systematischen Zusammenhang meist noch fehlt.Wrter sind fr sie Buchstabenkombinationen, nurgelegentlich bezeichnen sie Wrter als Sinneinhei-ten; den Plural erkennen sie an den Suffixen; Satz-strukturen und der Unterschied der Genera laufenber ein unsystematisches semantisches Erken-nen.

    Einstellungen zu Sprachen

    Einstellungen von Kindern und Jugendlichen zu

    ihren Sprachen kommen unweigerlich zur Sprache,ob man danach fragt oder nicht. Wenn Kinder ihrSprachportrt zeichnen, d.h. jede Sprache mit eineranderen Farbe in ihre Silhouette malen (siehe Titel-bild), dann wird die Muttersprache oft rot undals Herz gemalt, Englisch kommt fters als Reise-sprache in die Fe, die Lernsprache Deutsch inden Kopf.

    Das Gesprch ber Sprachen gibt dem Nachden-ken der Kinder und Jugendlichen oft einen kleinenSchubs in Richtung metasprachlicher Reflexionen.Im Beispiel in Kasten 7 etwa wird die Unterschei-

    dung zwischen Wort und Gegenstand angebahnt.

    Deutlich sichtbar ist in solchen Beispielen dasreflektorische Potenzial der Lernenden. Offensicht-lich bentigen sie ein Ohr (oder einige Ohren), dasihre Reflexionen aufnimmt, sowie die sanfte Len-kung durch einen Lernberater oder eine Lernbera-terin. Sie brauchen kognitive und operationaleKenntnisse fr ihren Umgang und ihre Einstellun-gen zu den Sprachen und Varietten, so dass sie all-mhlich Sprachsicherheit gewinnen knnen.

    Vielsprachiger Deutschunterricht

    Die in den Ksten wiedergegebenen uerungensind mehrheitlich durch direkte Befragung von

    Sprachenvielfalt im Klassenzimmer8

    Schulkinder und Sprachvergleich

    Da gibts auch hnlichkeiten, wenn zum Beispiel house das Haus odergarden derGarten the lamb das Lamm oder was zum Beispiel verschieden ist - flowerBlume

    (Sara, 12 J.)

    (Dialekt ist) ein abgendertes Deutsch ein bichen - I bin hiekeit- ich bin hingefallen...

    Dort sind manche Wrter verndert oder ein paar andere Buchstaben eingesetzt -dort in - das ist ein Moskauer Dialekt - normalerweise heit es auf Russisch Moskwaund wir in Moskau sprechen Maskwa - eigentlich sprechen wir zu Hause diesenMoskauer Dialekt (Michail, 10 J.)

    Kasten 6

    Fremdsprache Deutsch Heft 31/2004 Sprachenvielfalt im Klassenzimmer, ISBN 978-3-19-199183-8, Hueber Verlag 2007

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    Kindern und Jugendlichen gewonnen. Einige Bei-spiele stammen aus dem Anfangsunterricht derjeweiligen Lnder. Dass das Thematisieren vonSprachbeobachtungen durch die Lernenden baldnachlsst, wenn die Lehrperson nichts mit den Mit-teilungen ber Sprache anzufangen wei, ist einbedauerliches Faktum. So entgehen den Lehrper-

    sonen Einblicke in das Denken und die subjektivenTheorien von Lernenden wie auch Anknpfungs-mglichkeiten fr ihren Unterricht.

    Man kann das jedoch ndern! Unsere Aufgabe istes, in den Beobachtungen der Kinder ihr Interesse,ihre Vor-/Pr-Konzepte und ihr reflektorischesPotenzial zu erkennen und darauf Lernprozesseaufzubauen. Die Lernprozesse knnen entwederdirekt an das Denken der Lernenden anschlieen,indem sie deren Beobachtungen und Ideen auf-greifen und sie eventuell modifizieren, in jedem Fal-

    le aber erweitern. Sie knnen der reflektorischenDisposition der Kinder neues Futter geben, indemsie die Prkonzepte und das Gewusste mit neuemSprachmaterial kontrastieren. Das geht, indem wirin den uerungen der Kinder Themenvorschlgesehen und sie aufgreifen.

    Eine einfache Mglichkeit, an die Ideen der Ler-nenden und ihre vielen Sprachen anzuknpfen, istdie Frage: Gibt es in den Sprachen, die ihr kennt,gleich klingende Wrter? Jugendliche Aussiedlerhaben Wrter gesucht, die im Deutschen undRussischen hnlich klingen. Natalja, 14 Jahre, hat

    knapp 400 Wrter gefunden und alphabetischgeordnet (siehe Beispiele in Kasten 8).

    Die hier zitierten Schleruerungen belegennicht nur die in verschiedenen Lndern bestehen-de Sprachenvielfalt, sie zeigen auch Mglichkeitenzur genaueren Untersuchung des sprachlichenMaterials. Dass lsst sich, wie dieses Heft zeigt, imUnterricht erweitern und vertiefen. Man kann mitLauten arbeiten, mit Wrtern und Wortbausteinen,mit Satzstrukturen.

    Schler und Schlerinnen lernen dabei, an Spra-

    chen zu arbeiten, Fragen zu stellen, ihr Vorgehengemeinsam zu planen, genau hinzusehen und zuvergleichen, zu Ergebnissen zu kommen, diese zuprsentieren. Heute nennt man dies Methoden-kompetenz; sie ergibt sich in einem weitgehend

    selbst gesteuerten Unterricht, in dem die Sprachenund Fragen der Lernenden eine Rolle spielen. Die-

    ser Zusammenhang ist uns wichtig.

    Dabei muss der Unterricht nicht stehen bleiben.Die genannten Befragungen zeigen, dass Kinderund Jugendliche sich fr ihre eigenen und fr ande-re Sprachen, fr Sprachenverschiedenheit, frSprachgeschichte und fr Sprachentstehung inter-essieren. Aus diesen Bereichen knnten also fr denUnterricht thematische Angebote und Arbeitsvor-schlge entwickelt werden. Hier einige Beispiele:

    Gearbeitet werden kann an kleinen Texten in

    zwei Sprachen, seien es Sprachen verschiedenerHerkunft, verwandte Sprachen oder eine Stan-dardsprache und einer ihrer Dialekte.

    Schriftsysteme knnen betrachtet, Alphabet-und logographische Schriften verglichen wer-den.5 Beim Schreiben mit dem lateinischenAlphabet lsst sich z.B. herausfinden, dass ver-schiedene Sprachen das graphemische Inventarunterschiedlich nutzen, so u.a. imBereich der Reibelaute [f; v] und derZischlaute [s;].

    Das Sprechen ber einzelnde Probleme,zu deren Lsung die Kinder beitragen,muss von Zeit zu Zeit durch ordnendeMomente ergnzt werden. Das Erkann-te wird dabei noch einmal umgewlztund vertieft sowie an seinen Platz ineinem bergeordneten Zusammenhanggestellt: Was haben wir jetzt herausgefunden, undwie erweitert das unser Wissen ber Sprachen?Es istnmlich von erheblicher Bedeutung, dass die Ler-nenden ihren Lernfortschritt erkennen und veror-

    ten knnen, damit sie motiviert weiterlernen.Jutta Kepser berichtet in ihrem Beitrag vonmehrsprachigen Unterrichtsprojekten, die zur Ent-wicklung von Sprachwissen und Sprachbewusstheitbeitragen.

    9

    Schule

    Schule hrt sich bld an - [Hrt sich Schule auf Englischdenn besser an? fragt die Interviewerin] Nee - aber ichglaub das liegt nicht am Wort - das liegt an der Schule

    (James, 11 J.)

    Wrter, die im Deutschen und im Russischen hnlich klingen.

    Deutsches Wort Russisches Wort Aussprache (IPA)*

    Allergie a epsfl Al4r*gi:ja

    Balkon a balk*o:n

    Dialog sa dia*lCk

    Fabrikant apsa fabri*kant

    Motor p m a*to:r

    Pension flecsfl *p4nsija

    Eine einfache Mg-lichkeit, an die Ideender Lernenden und

    ihre vielen Sprachenanzuknpfen, istdie Frage: Gibt es inden Sprachen, dieihr kennt, gleichklingende Wrter?

    Kasten 7 Kasten 8

    * Aussprache einer russischen Deutschlehrerin.

    Fremdsprache Deutsch Heft 31/2004 Sprachenvielfalt im Klassenzimmer, ISBN 978-3-19-199183-8, Hueber Verlag 2007

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    Sprachenvielfalt jugendlicher underwachsener Deutschlerner

    Ein besonderer Blick gilt noch den Jugendlichenund Erwachsenen, auch wenn die Ausfhrungenoben sie einschlieen. Erwachsene ohne schulischeSprachbildung sind sich der Mehrsprachigkeit ihrerLebenswelt vielfach kaum bewusst und Migrationoder Flucht desorientieren sie sprachlich. Umsowichtiger wre es, ihre Spracherfahrungen zu akti-vieren und sie zu ermuntern, aktive Teilnehmendedes Sprachkurses zu werden. SpachlernerfahreneErwachsene dagegen haben im Fremdsprachen-lernprozess oft zu hren bekommen, sie drften dieZielsprache, z.B. Deutsch, mit keiner anderen ver-gleichen. Auf Befragen stellt sich dann fter heraus,

    dass sie es trotzdem tun, aber schlechten Gewissens(vgl. den Beitrag von Wildenauer-Jsza in diesemHeft). Eine Ermutigung zur Nutzung der Sprachenals Lernstrategie hilft ihnen ein Stck weiter.

    Sprachenvielfalt ist auch in Kursen fr Jugend-liche und Erwachsene oft in zweifacher Weisevorhanden: Zum einen sind die Lerngruppen derSprachenschulen meist sprachlich und kulturellheterogen zusammengesetzt, zum zweiten ist fastjeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin schon mitmehreren Sprachen in Kontakt gekommen. Viele

    stammen aus mehrsprachigen Lndern, und dieSprachen dort haben je nach Herkunftsland unter-schiedlichen Status: In Kasachstan z.B. wird Rus-sisch neben Kasachisch gleichberechtigt als zweiteVerkehrssprache gesprochen. In der Trkei wurdenandere Sprachen als Trkisch bisher nicht aner-kannt (z.B. Kurdisch) oder nur fr bestimmteZwecke benutzt (z.B. Arabisch fr den Koran). InWestafrika spielen die einheimischen Sprachengegenber dem Franzsischen im ffentlichenLeben und im Bildungssystem eine untergeordne-te Rolle, im sozialen Leben aber eine bedeutende

    usw. Die Menschen dort haben fast alle Englischgelernt, sei es als Muttersprache, als offizielle Spra-che oder als Fremdsprache, und manche knnenFranzsisch.

    Diese sprachliche und damit verbunden kulturel-le Kompetenz der Lernenden ist ein Potenzial,

    das nicht ungenutzt bleiben darf.Lernkonomisierung, Erweiterungsprachlichen Wissens und nichtzuletzt der Spa am Entdecken und

    Verstehen sprachlicher Phnomenesind berzeugende Argumentedafr, im Unterricht an das vorhandene Wissen undKnnen anzuknpfen und es auszubauen. Norma-lerweise kommt es nicht zur Sprache, weil erst

    wenige Lehrwerke den reflektierenden Bezug zuden Ausgangssprachen vorsehen und die Lehr-person die Sprachen nicht kennt. So spielt sichSprachenvergleich unbegleitet in den Kpfen derLernenden ab und wird nicht wirklich genutzt.

    Knnte das anders sein? Ja, wenn im Kurs Raumdafr wre, dass die Lernenden ihre Beobachtun-gen, Fragen, Theorien zu Gemeinsamkeiten undUnterschieden in den Sprachen, also zum Sprach-vergleich, uern knnten, mglichst von Anfangan. Der Befrchtung, dass sie das nicht knnen,mchte dieses Heft entgegen treten: Befragt manLernende in Deutschkursen, ob und wie sie ihreKenntnisse anderer Sprachen fr das Deutschler-nen nutzen und ob ihnen das hilft, so knnen man-che viel dazu sagen, bei manchen kommt durch das

    Gesprch ber Sprachen der Reflexionsprozess erstin Gang, und schon whrend des Gesprchs erken-nen sie den Nutzen des Sprachenvergleichs. Wirwollen jedoch nicht verhehlen, dass es auch Lern-traditionen gibt, in denen die Lernenden sich nichtmit eigenen Ideen hervortun wollen; hier wrenunsere Vorschlge besser vorsichtig zu gebrauchen.

    Englisch Krake oder Behelfsbrcke?

    Wenn die verschiedenen Sprachen in Kopf und Welt

    einen gemeinsamen Orientierungsrahmen benti-gen, wenn das Lernen verschiedener Sprachen inZusammenhang steht, dann ist die Frage bedeu-tend, welche Rolle Englisch im Kontext von Spra-chenvielfalt und Deutschunterricht spielt. Mussman befrchten, dass Englisch alle anderen Fremd-sprachen verdrngt, weil diese obsolet werden?Dass Englisch die regionale Mehrsprachigkeit undsogar am Ende die Muttersprachen aufsaugt? Oderist ganz im Gegenteil zu erkennen, dass Englischden Erhalt der anderen Sprachen ermglicht, weiles sich fr Regionen bergreifende Zwecke eignet

    und die eigenen Sprachen daneben bestehen lsst?Ja dass es sogar als Brcke zum Lernen andererSprachen genutzt werden kann, z.B. bei Deutsch alszweiter Fremdsprache?6

    Wir vertreten die Auffassung, dass Englisch fr dasLernen des Deutschen als Fremdsprache von Vorteilsein kann:

    Es baut Brcken im Wortschatz, die ein Stckweit leiten; allerdings stellt es auch Fallen durchfalsche Freunde / unechte Kognaten (to become =

    werden, bekommen). Es baut Brcken bei der Wortstellung, aber nur

    den Deutschanfngern, denn die grere Varia-bilitt der Stellung im Deutschen muss eigensgelernt werden.

    Sprachenvielfalt im Klassenzimmer10

    Die sprachliche und damit ver-bundene kulturelle Kompetenz

    der Lernenden ist ein Potenzial,

    das nicht ungenutzt bleiben darf.

    Fremdsprache Deutsch Heft 31/2004 Sprachenvielfalt im Klassenzimmer, ISBN 978-3-19-199183-8, Hueber Verlag 2007

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    Bei der Frage mit Hilfs- und Modalverben ent-spricht die Wortstellung im Englischen weitge-hend dem Deutschen: Are you happy? / Bist duglcklich?(allerdings nicht bei Vollverben).

    Englisch hat auch Artikel (the,a), sie sind jedochnicht grammatisch aufgeladen wie die deutschen.

    Englische finite Verben erfordern Personal-pronomen wie im Deutschen (I,you,he,sheusw.)

    Im Englischen gibt es eine rudimentre Kon-jugation der Verben (3. Person Prsens der Voll-verben: she comes), das kann am Anfang frDeutschlernende hilfreich sein, die aus ihrer Her-kunftssprache keine Konjugation kennen.

    Die zusammengesetzten Tempora (Perfekt, Futurusw.) des Englischen erleichtern das Deutsch-lernen.

    Englisch enthlt Konsonantenverbindungen wie/str/ (strong), /spl/ (splendid), /mp/ (jump) usw.,die es auch im Deutschen gibt und die die Aus-sprache fr manche Sprecher schwierig machen.Von hier aus kann es Brcken zur deutschenArtikulation geben. Usw.

    Aus solchen Grnden kann Englisch eine Basis frden Einstieg ins Deutsche abgeben, aber nur einStck weit. Wir sprechen von einem hilfreichenSteg, von einer praktischen Behelfsbrcke Englisch,

    die man immer mal wieder betritt.Aus Deutschkursen fr Erwachsene, die schonEnglisch gelernt haben und die ihre Mehrsprachig-keitserfahrungen aktivieren drfen, wissen wirum den genannten Anfangsvorteil. Kindern undJugendlichen sollten wir zu solchen Erfahrungenverhelfen, indem wir den Einstieg ber bekannteSprachen also oft Englisch erleichtern und Ori-entierung in der Sprachenwelt schaffen. Allerdingsist zu vermeiden, dass der Eindruck entsteht, nurwer Englisch kann, knne Deutsch lernen. Undnicht alle, die zuvor Englisch gelernt haben, waren

    dabei besonders erfolgreich und wollen dann imDeutschunterricht immer wieder an den Englisch-unterricht erinnert werden. Auerdem bringenviele Lernende gar keine Englischkenntnisse, son-dern Kenntnisse ganz anderer Sprachen mit in denDeutschunterricht. Die Brckensprache Englischsollte also mit Vorsicht genutzt werden.

    2. Sprachenpolitik: Sprachenvielfaltund Sprachenrechte

    Sprachenvielfalt ist ein unumkehrbarer Prozess; nurDiktaturen unterdrcken Sprachen und zwingen denMenschen eine bestimmte Sprache auf. Auch die Sor-ge, Englisch knne als neue Weltsprache alle anderenSprachen verdrngen, hat sich nicht bewahrheitet.

    Das hat verschiedene Grnde:

    Fr die meisten Menschen ist ihre Muttersprachezentraler Bestandteil ihrer Identitt, sie leistenWiderstand, wenn man ihnen diese Mutterspra-che nehmen will. Deshalb malen viele Kinderund Jugendliche, wenn man sie Sprachen-portrts zeichnen lsst, ihre Muttersprache alsHerz oder an die Stelle, wo das Herz sitzt, oft inleuchtenden und warmen Farben.

    Mehrsprachige Menschen werden einem Spra-chenkonflikt ausgesetzt, wenn man sie zwingt,nur eine der verschiedenen, fr sie wichtigenSprachen zu sprechen. Erst in einer mehrspra-chigen Gesellschaft knnen sich Minderheitenund Zuwanderer integriert, aufgenommen und

    zu Hause fhlen, weil sie niemand am Gebrauchihrer Sprache(n) hindert.

    Auch die Globalisierung erfordert Menschen, diemobil sind, und das heit auch, sich in verschie-denen Sprach- und Kulturrumen bewegenknnen. Diese Mobilitt, z.B. der Wirtschaft,bringt es mit sich, dass auch die Teilhabe an derGesellschaft, in der man lebt, Sprachkenntnissein verschiedenen Sprachen erfordert.

    Sprachenvielfalt ist also nicht nur eine

    Angelegenheit des Individuums, son-dern fr die politische und wirtschaft-liche Entwicklung von groer Bedeu-tung. Deshalb haben der Europarat unddie Europische Union in den letzten Jahren eineSprachenpolitik entwickelt, die darauf zielt, dieMenschen zu befhigen, viele Sprachen zu lernen.

    Mehrsprachigkeit als Kennzeicheneiner europischen IdentittDie Europische Union geht davon aus, dass eine

    europische Identitt, d.h. die Bereitschaft derMenschen in Europa, sich als Einheit zu fhlen, nurdann entstehen kann, wenn alle ihre Mutterspra-chen in diesem Europa wiederfinden, und zwarnicht nur in den eigenen nationalen Grenzen (dieja auch immer durchlssiger werden), sondernauch in anderen Lndern, wo diese Muttersprachenals Fremdsprachen gelehrt und gelernt werden. Umsich in einer vielsprachigen Welt zu Hause zufhlen, muss man selbst Fremdsprachen lernen,aber eben auch auf Menschen treffen, die die eige-

    ne Sprache als Fremdsprache gelernt haben. In denverschiedensten Deklarationen und Programmenhat die Europische Union daher festgeschrieben,dass eine entwickelte mehrsprachige Handlungs-fhigkeit der Brger erreicht werden muss, wenn

    11

    Sprachenvielfalt ist nicht nureine Angelegenheit des Individu-ums, sondern fr die politischeund wirtschaftliche Entwicklungvon groer Bedeutung.

    Fremdsprache Deutsch Heft 31/2004 Sprachenvielfalt im Klassenzimmer, ISBN 978-3-19-199183-8, Hueber Verlag 2007

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    Europa als demokratisches Gemeinwesen funktio-nieren soll. (Siehe dazu den Auszug aus dem Arbeits-programm des Europischen Rates zur Umsetzungder Ziele der Systeme der allgemeinen und berufli-chen Bildung in Europa vom 14.02.2004, Dokument6365/02 EDUC 27, Ziel 3.3 in Kasten 9).

    Durch die EU-Erweiterung 2004, mit der sich dieZahl der Amtssprachen der EU auf 21 erhht hat,kommt einem solchen Programm der Sprachen-vielfalt besondere Bedeutung zu. Dieses Programmsignalisiert, dass es nicht um einen Sprachen-kampf gehen soll, sondern um die Entwicklung

    eines Konzeptes von Mehrsprachig-keit, in dem die verschiedenenSprachen Platz haben. Ein solches

    Programm stellt fr den Deutsch-unterricht eine wichtige Zukunfts-perspektive dar. Wrden alle Men-

    schen nur eine Sprache lernen knnen, die meistenwrden Englisch whlen. Erst die Mehrsprachigkeitsichert auch der deutschen Sprache und demDeutschunterricht einen festen Platz im Sprach-angebot. Am Beispiel Ungarns zeigt Mrta Rbai,wie eng die Attraktivitt des Deutschunterrichts mitden Sprachenkonstellationen im jeweiligen Landzusammenhngt. Das heit aber auch, dass der

    Deutschunterricht sich als Beitrag zu einer solchenMehrsprachigkeit verstehen, also die bei den Ler-nenden vorhandenen Sprachen aufgreifen und nut-zen und fr weitere Sprachen Fenster ffnenmuss, wie es auch der Gemeinsame europischeReferenzrahmen (GER) beschreibt (siehe Kasten10). Was hier fr Europa gesagt wird, gilt erst recht

    fr viele asiatische und afrikanische Lnder. Der22-jhrige Pong aus China ist ein gutes Beispieldafr, wie sich eine vielsprachige Identitt ent-wickeln kann (siehe Kasten 11).

    Sebastian Bemile zeigt in seinem Beitrag, wieder Deutschunterricht in Ghana, einem Land mit60 Sprachen, aussieht.

    Wie im Deutschunterricht Mehrsprachigkeit ge-frdert werden kann, dazu hat die Mehrsprachig-keitsdidaktik Konzepte und Materialien vorgelegt(vgl. den Beitrag von Hufeisen in diesem Heft), auchin Lehrwerken kann man inzwischen interessanteUnterrichtsangebote finden8. Dass Mehrsprachig-keit im Deutschunterricht die verschiedenstenBereiche umfassen kann, zeigt der Baum derMehrsprachigkeit von E.-M. Jenkins auf Seite 24.

    Sprachenrechte sind nicht teilbar

    Was die Europische Union und der Europaratso vehement fordern, gilt zur Zeit allerdings nichtfr alle Sprachen und fr alle Menschen. DieSprachenpolitik der EU umfasst die Amtssprachender Mitgliedslnder, nicht die Sprachen von Min-derheiten. Was mit den Sprachen solcher Minder-heiten passiert, ist Sache der einzelnen Lnder, diesehr zgerlich sind, die Sprachen ihrer verschie-

    denen Minderheiten als Reichtum zu erkennenund in das Bildungswesen einzubeziehen. Meintman das Bekenntnis zur Mehrsprachigkeit ernst, sowrde das bedeuten

    a) dass auch die Kinder von Minderheiten gene-rell ein Recht darauf haben, ihre Muttersprache(n)in der Schule zu lernen;

    Auszug aus dem Arbeitsprogrammdes Europischen Rates ... vom14.02.2004

    Europas Vielfalt manifestiert sich besondersdeutlich in seinen Sprachen. Wenn die Br-ger jedoch von dieser Vielfalt profitieren wol-len, mssen sie in der Lage sein, miteinanderzu kommunizieren. Sprachkenntnissegehren zu den Grundfertigkeiten, die dasEuropa der Wissensgesellschaft erfordert; imAllgemeinen sollte jeder zwei Fremdsprachensprechen knnen. Der Fremdsprachenerwerb,gegebenenfalls bereits von frher Kindheitan, muss gefrdert werden, d.h. die Metho-den des Fremdsprachenunterrichts mssenverbessert und der Kontakt zwischen Lehrernund Schlern sowie den betreffenden Fremd-sprachen muss verstrkt werden. Daher stehtdie Ausbildung von Fremdsprachenlehrern imMittelpunkt dieses Ziels.

    Auszug aus dem GER, Europarat2001, S. 163

    Der herkmmliche Ansatz beschreibt dasFremdsprachenlernen so, dass man seinermuttersprachlichen Kommunikationskompe-tenz einzelne Bestandteile der Kompetenz, ineiner fremden Sprache zu kommunizieren,hinzufgt. Das Konzept einer mehrsprachi-gen und plurikulturellen Kompetenz hinge-gen tendiert dazu, ... in Betracht zu stellen,dass ein Mensch nicht ber eine Ansamm-lung von eigenstndigen und voneinandergetrennten Kommunikationskompetenzenverfgt, je nachdem, welche Sprachen mankennt, sondern vielmehr ber die einzigemehrsprachige und plurikulturelle Kompe-tenz, die das ganze Spektrum der Sprachenumfasst, die einem Menschen zur Verfgungstehen.

    Pong, Student aus China, zu seinemSprachenportrt

    Englisch und Deutsch habe ich in den Kopfgemalt, weil das die Sprachen sind, die ichzur Zeit am meisten benutze, deshalb denkeich auch in diesen Sprachen.Spanisch ist in meiner Kehle, denn ich liebees, Spanisch zu sprechen.Chinesisch habe ich in die Gegend von Brustund Herz gemalt, denn zu dieser Sprachegehren meine Gefhle; alle meine Regelnund meine Moral sind damit verbunden,alles, was mit Emotion zu tun hat, passiertauf Chinesisch.Franzsisch sitzt in meinen Beinen, denn ichspreche es nicht mehr gut, aber es ist immernoch irgendwo vorhanden.7

    Sprachenvielfalt im Klassenzimmer12

    Erst die Mehrsprachigkeit sichertauch der deutschen Sprache

    und dem Deutschunterricht einenfesten Platz im Sprachangebot.

    Kasten 9 Kasten 10 Kasten 11

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    b) dass die Sprachen der Minderheiten in denSchulen genau so selbstverstndlich von allengelernt werden knnen wie die bisher blichenSchulsprachen (z.B. Englisch, Franzsisch, Spanisch).

    Von einer solchen Praxis sind wir noch weit ent-fernt, denn noch sind die Sprachenrechte der Men-schen nicht gleich: Es gibt gefrderte Sprachen (zudenen Deutsch und Englisch gehren) und solche,die es schwer haben. So ist zum Beispiel Trkischdie strkste Minderheitensprache in Deutschland,trotzdem ist es weder selbstverstndlich, dass tr-kische Kinder ihre Muttersprache in der Schule ler-nen, noch dass deutsche Kinder dieser Sprache imUnterricht begegnen knnen (siehe dazu Kasten 12).

    Der Beitrag von Reif-Breitwieser in diesem Heftzeigt, wie lebendig Sprachunterricht wird, wie

    Sprachbegegnung entstehen kann, wenn eineSchule alle Sprachen, die die Schlerinnen undSchler mitbringen, aufgreift und stolz auf dieseSprachenvielfalt ist.

    3. Fazit: Deutschunterricht undMehrsprachigkeitAuf die Frage, was den Deutschunterricht die allge-meine Mehrsprachigkeitsdiskussion angehe, lassensich vier Antworten geben:

    1. Einesprachenpolitische Antwort:Sie betrifft die Existenz des Deutschunterrichts, dennohne eine aktive Frderung der Mehrsprachigkeithtte Deutsch als Schulsprache neben oder nachEnglisch keine Chance. Nur wenn im Schulwesenmindestens zwei, nach Mglichkeit drei Sprachenangeboten werden und fr die Lernenden Wahl-mglichkeiten bestehen, kann auch die deutscheSprache ihren Platz auf dem Markt der Sprachenbehaupten.

    2. Einesprachlernpsychologische Antwort:berall auf der Welt bringen Lernende ihre Spra-chen in den Deutschunterricht mit, die immer auchdabei sind, wenn Deutsch gelehrt und gelernt wird.Sprachlernpsychologische Grnde sprechen dafr,diese Sprachen nicht aus dem Deutschunterricht zuverbannen, sondern sie zu nutzen und darauf auf-zubauen.

    3. Einesoziolinguistische Antwort:

    Die Welt, auf die der Deutschunterricht vorbereiten

    soll, ist mehrsprachig. Das beginnt mit all denFremdwrtern, die das Deutsche aus vielen Spra-chen, keineswegs nur aus dem Englischen, aufge-nommen hat und weiterhin aufnimmt; Werbungund Medien sind ebenso vielsprachig wie in-

    zwischen nahezu jede Gebrauchsanleitung. ZurAuthentizitt von Kommunikation gehrt daherauch der Umgang mit mehrsprachigen Texten undMenschen, gehren der Sprachwechsel und die

    Sprachmittlung, die im europischen Referenz-rahmen als neue, im Sprachunterricht zu vermit-telnde Fertigkeit betont werden.

    4. Damit hngt diesprachdidaktischeAntwort zusammen:

    Ein Deutschunterricht, der Lernende auf eine mehr-sprachige Welt vorbereiten will, muss ihnen Ge-legenheit verschaffen, die deutsche Sprache imKonzert der Sprachenvielfalt zu verwenden, d.h.Schler und Schlerinnen mit verschiedenen Spra-

    chen aktiv einzubeziehen und ihr Sprachbewusst-sein weiterzuentwickeln.

    Anmerkungen:

    1 Dieses Beispiel stammt aus einem Projekt der Zentralstelle fr dasAuslandsschulwesen und wurde uns von Frau Christiane Drasdo, ZfA,zur Verfgung gestellt.

    2 Zu dieser Unterscheidung siehe Spitzer 2002, S. 142 ff.3 Diese Angaben wurden von I. Oomen-Welke in zwei Projekten erhoben:

    Sprachaufmerksamkeit (Freiburg) und Ja-Ling. Vgl. Oomen-Welke2003.

    4 Aus einer unverff. Erhebung von Sprachenportrts von Krumm 2003.5 Auf der Internet-Seite www.zompist.com/yingzi/yingzi.htm mit dem

    Titel If Englisch was written like Chinese finden sich fr Jugendlicheund junge Erwachsene, die Englisch verstehen, witzige Schriftversuche.

    Gefunden 2/20046 Vgl. FREMDSPRACHE DEUTSCH20 / 1999: Deutsch als zweite Fremd-

    sprache.7 Im Original hat Pong sein Sprachenportrt Englisch beschriftet; bers.

    H.-J.Krumm.8 Zu nennen ist hier insbesondere das Lehrwerk Dimensionen von

    Jenkins/Fischer/Hirschfeld/Hirtenlehner/Clalna, Hueber Verlag2002 / 2003.

    Literaturverzeichnis:

    Europarat: Gemeinsamer europischer Referenzrahmen fr Sprachen:lernen, lehren, beurteilen. Langenscheidt: Berlin / Mnchen 2001.

    Krumm, Hans-Jrgen: Kinder und ihre Sprachen lebendige Mehrsprachig-keit. Wien: Eviva WienerVerlagsWerkstatt 2001.

    Oomen-Welke, Ingelore: Lunivers des langues: Ce que pensent les enfantset les adolescents en Europe. In : Michel Candelier et al. : Janua Lingu-arum La porte des Langues. Lintroduction de lveil aux langues dansle curriculum. Graz 2003.

    Roth, Gerhardt: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologieund ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt am Main: Suhr-kamp 2.Aufl. 1998.

    Spitzer, Manfred: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens.Heidelberg: Spektrum 2002.

    13

    Der Europarat 2002 zur Bedeutung einer mehrsprachigen Kompetenz(bersetzung Krumm)

    Die Bedeutung einer mehrsprachigen Kompetenzist eine zweifache:

    Zum einen erlaubt sie die Teilhabe an demokratischen Prozessen nicht nur imeigenen Land und der eigenen Sprachregion, sondern auch zusammen mit anderenEuropern in anderen Sprachen und Sprachregionen,

    zum zweiten fhrt der Erwerb einer mehrsprachigen Kompetenz zu einem besserenVerstehen der mehrsprachigen Kompetenz anderer Menschen und zu einem Respektvor dem Recht auf Sprachen, nicht zuletzt den Sprachenrechten von Minderheitenund Sprechern weniger gesprochener und gelehrter Sprachen.

    Kasten 12

    Fremdsprache Deutsch Heft 31/2004 Sprachenvielfalt im Klassenzimmer, ISBN 978-3-19-199183-8, Hueber Verlag 2007

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    Michel Candelier berichtet vom Umgang mit den Sprachen der Welt in franzsischen Grundschulklassen, die am europischenLINGUA-Projekt Evlang (Eveil aux langues) teilgenommen haben. Diese Erfahrungen bettet er in den theoretischen Kontext

    der Language Awareness ein, und er verweist auf entsprechende Entwicklungen in anderen europischen Lndern.

    Evlang und was dahinter steckt

    Was also sind die Ziele der europischen Sprachen-politik, auf die in der berschrift hingewiesen wird?

    Die Antwort knnte schlicht lauten: Es sind die-jenigen Ziele, die mit der Frderung der Mehrspra-chigkeit in Europa zusammenhngen. Nun muss

    man aber feststellen, dass unter Mehr-Sprachigkeitoft nur Zwei-Sprachigkeit verstanden wird: Zwei-sprachigkeit, basierend auf der Beherrschung dereigenen Nationalsprache und des Englischen; Zwei-sprachigkeit, die einen Bi-Ethnozentrismus fr-dert, die die sprachliche und kulturelle Vielfaltnegiert und derzufolge alle anderen Sprachen undKulturen als von minderem Wert erscheinen.

    Diese Auffassung von Mehrsprachigkeit ist in kei-nem Fall im Sinne der Sprachen- und Kulturen-

    politik weder der europischen Union noch desEuroparats. Beide Institutionen hatten gemeinsamdas Jahr 2001 zum Europischen Jahr der Sprachenerklrt mit dem Zweck, die sprachliche und kultu-relle Vielfalt in Europa zu frdern und die Vorteile

    des Sprachenlernens ins Bewusstsein zu rcken.2

    Aber Viel-falt ist nicht Zwei-falt(oder Zwie-falt??).Genau um diese Vielfalt geht es im ProgrammEvlang. Der Wunsch, der Schule einen Weg zu er-ffnen, damit sie ihrer Pflicht zur Frderung derDiversitt endlich gerecht werden kann, ist eine derMotivationen, die das LINGUA-Programm Evlang

    Eveil aux languesin der Grundschule, 1998-2001 charakterisieren.

    Was unter dem BegriffEveil aux languesverstan-den und praktiziert wird, ist kein Sprachunterrichtim gewhnlichen Sinne, bei dem eine bestimmteSprache gelernt wird (auch wenn natrlich dernormale Sprach- und Fremdsprachenunterrichtebenfalls gefrdert werden soll). Eveil aux languesist eine aktive Auseinandersetzung der Lernendenmit mehreren Sprachen, die sie entdecken, hren,zum Teil sprechen, beobachten, analysieren, ver-

    gleichen usw.. Auf diese Weise macht Eveil auxlangues die Verschiedenheit der Sprachen selbstzum Gegenstand des Unterrichts und kann, untervielen anderen Bildungszielen, das Interesse frderen Vielfalt frdern. Das anspruchsvolle Ziel:

    Sprachenvielfalt im Klassenzimmer14

    SPRACHEN- UND KULTURENVIELFALTIN DER GRUNDSCHULEEvlang: Ein Beitrag zur Verwirklichung von Zielen der

    europischen Sprachenpolitik1

    VON MICHEL CANDELIER

    Kyrillische Schrift: mittelalterlicheZauberformel.Kyrillische Schrift: mittelalterlicheZauberformel.

    Fremdsprache Deutsch Heft 31/2004 Sprachenvielfalt im Klassenzimmer, ISBN 978-3-19-199183-8, Hueber Verlag 2007

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    Evlang, ...

    also Eveil aux langues, wie wir uns das vor-stellen, entstammt direkt dem von Hawkins inGrobritannien seit 1974 dargestellten Konzept

    von Sprache als Brckenfach durch das Curri-culum hindurch (bridging subject). Der Ansatzentwickelte sich in den achtziger Jahren erfolg-reich aus der theoretischen und praktischenArbeit von Eric Hawkins und anderer Forscherund Lehrer innerhalb der Bewegung LanguageAwareness. Dieser Bewegung folgte keineinstitutionelle Anerkennung im Lande.In anderen Lndern Europas hat das Language-Awareness-Gedankengut zu mehreren punktu-

    ellen Initiativen gefhrt (zum Beispiel in Greno-ble). Zur gleichen Zeit arbeitete in DeutschlandIngelore Oomen-Welke (Pdagogische Hoch-

    schule Freiburg) in dieselbe Richtung, allerdingsmit Schwerpunkt auf Klassen, die einen hohenAnteil an Kindern auslndischer Herkunft haben.In Deutschland und sterreich haben zweiLandesinstitute Experimente durchgefhrt, diezum Teil ebenfalls durch die Language-Aware-ness-Bewegung beeinflusst worden waren:Begegnung mit Sprachen in der Grundschule(Landesinstitut fr Schule und Weiterbildung,Soest), Sprach- und Kulturerziehung (Zentrum

    fr Schulentwicklung, Graz). Den hchstenInstitutionalisierungsgrad hat der Ansatz unterdem Namen EOLE (Eveil aux langage et ouver-

    ture aux langues) in der frankophonen Schweizerreicht. An diesem Punkt der Entwicklungdieses Ansatzes angelangt, setzte sich derGedanke durch, dass es notwendig sei, einumfangreicheres Projekt auf die Beine zu stel-len, um die Richtigkeit der damit verbundenenErwartungen zu berprfen. So kam es zumProgramm Evlang, das durch die EuropischeKommission von Ende 1997 bis Juni 2001 imRahmen von LINGUA untersttzt wurde.

    Eveil aux langues ein Beitrag des Sprachunterrichts

    zum Aufbau von solidarischen, sprachlich und kul-turell pluralistischen Gesellschaften!DerEveil-Ansatzwill dazu beizutragen, dass Vielfalt bzw. Verschie-denartigkeit und Solidaritt sich vertragen.

    Dieser Ansatz entspricht also den Zielen derinterkulturellen Bildung. Auch darum geht es in denBemhungen des Europarats zur Frderung derPrinzipien der demokratischen Brgerschaft, zuderen Aufbau u.a. der Sprachunterricht verhelfensoll. Die Schule soll den Lernenden die notwendi-gen Kenntnisse ber die Welt und die Offenheit

    gegenber Anderen vermitteln, die eine unerlss-liche Grundlage fr die Teilhabe an einer demokra-tischen Gesellschaft sind. Zu diesem Zweck kannsich die Schule jedoch nicht damit begngen, denLernenden den Kontakt zu nur einer bzw. zu nurzwei Sprachen anzubieten, die bereits in den Medi-en und in der Kultur, die diese Medien verbreiten,dominierende Sprachen sind.

    Mit den Bildungszielen, die im Eveil-Ansatz vordiesem Hintergrund formuliert werden, sollen beiden Lernenden gnstige Wirkungen in den folgen-den Bereichen ausgelst werden:

    1. Die Entwicklung von positiven Vorstellungen undEinstellungen zu Sprachen und Sprachenvielfaltsowie die Motivation, Sprachen zu erlernen;

    2. Die Entwicklung metasprachlicher Fhigkeiten,um Sprachen zu beobachten und zu analysieren,Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszu-finden;

    3. Die Entwicklung einer Sprachkultur damit isthier gemeint, dass Sprachen als Zugnge zu einersich wandelnden vielfltigen Welt entdeckt und

    genutzt werden.

    Was hier abstrakt formuliert ist, wird deutlicher inder Aufschlsselung von Unterzielen, von denenhier nur eine Auswahl prsentiert wird:

    Wissen, dass die Sprachenvielfalt in der Welt sehr

    gro ist, dass es in einem Land mehrere Sprachengeben kann, aber auch eine Sprache in mehrerenLndern;

    Wissen, dass zwischen den Sprachen Unter-schiede und hnlichkeiten bestehen;

    Neugier entwickeln gegenber dem Funktionie-ren von Sprache und von Sprachen sowie Inter-esse, dazu genauere Beobachtungen anzustellen;

    Ungewohnte Laute in unbekannten Sprachenerkennen und im Gedchtnis behalten;

    Fhigkeit zu einigen Schritten der Sprachanalyse,

    erstes Verstndnis fr die Bauform und dieBedeutung einer schriftlichen oder mndlichenuerung in einer unbekannten Sprache;

    Positive Einstellung zu sprachlicher und kultu-reller Vielfalt bzw. Interesse dafr;

    Wissen, dass Sprachen und Kulturen keine in sichgeschlossenen Welten darstellen, sondern dasssie durch ihre historische Entwicklung bzw.durch den Kontakt der Menschen Gemeinsam-keiten haben und sich miteinander austauschen;

    Entlehnungen, die eine Sprache im Laufe ihrerEntwicklungsgeschichte aus anderen Sprachen

    vollzogen hat, als Bereicherung fr die entleh-nende Sprache betrachten usw.

    Um die Kompetenzen, die die Lernenden im Laufedes Unterrichts durch Sprachaufmerksamkeit er-werben knnen zu erkennen, werfen wir einen Blickin ein Klassenzimmer.

    Blick in ein Evlang-Klassenzimmer

    Wir blicken in eine ganz gewhnliche Klasse in

    einem kleinen Dorf im Dpartement Eure in Frank-reich. Die Schlerinnen und Schler sind im Durch-schnitt 9 bis 10 Jahre alt. Wir befinden uns im Mrz2000, die Klasse nimmt seit einem Jahr an der Er-probung des europischen Programms Evlangteil.

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    Wir htten eine andere Klasse whlen knnen, eineKlasse in einem Stadtzentrum vielleicht, oder in denVororten mit vielen Kindern aus Migrantenfamili-en die gibt es in unserem Eure-Drflein nicht. Tre-ten wir diskret ein, um nicht zu stren

    Die Kinder arbeiten mit einem Lehrmaterialnamens 1, 2, 3 4000 langues (Sprachen), dasspeziell fr Evlangentwickelt wurde. (Ein wichtigesZiel von Evlangist es, den Lehrpersonen didaktischaufbereitete Materialien in vielen Sprachen zu lie-fern, das ihnen Unterricht mit Sprachenvielfaltermglicht.)

    Eines der Ziele der Arbeit mit 1, 2, 3, ... bestehtdarin, Kinder die Verwandtschaftsbeziehungen zwi-schen verschiedenen Sprachen der Welt entdecken

    zu lassen. Die Lernenden befinden sich nun in derzweiten Phase der ersten Unterrichtseinheit undarbeiten in kleinen Gruppen von drei bis vier Kin-dern. Die Lehrerin hat an jede Gruppe neun Papier-krtchen mit Blumen verteilt. Jede Blume hat achtBlumenbltter mit Zahlen in je einer Sprache (esgibt drei romanische, drei germanische und dreislawische Sprachen), siehe Abbildung 1.

    Die Kinder versuchen nun, die jeweils drei Krt-chen derselben Sprachfamilie zusammenzubrin-gen, indem sie die Zahlen in den Blumenbltternvergleichen. Sie wissen, dass ein Gruppenmitglieddanach vor der ganzen Klasse ber ihre Arbeitberichten und erklren wird, wie sie zu ihren Ergeb-nissen gekommen sind.

    Sprachenvielfalt im Klassenzimmer16

    polnisch

    jeden

    dwa

    trzy

    cztery

    pic

    szec

    siedem

    osiem

    englisch

    one

    two

    three

    four

    five

    six

    seven

    eight

    italienisch

    uno

    due

    tre

    quatro

    cinque

    sei

    sette

    otto

    niederlndisch

    een

    twee

    drie

    vier

    vijf

    zes

    zeven

    acht

    tschechisch

    jeden

    dva

    tri

    cty r i

    pt

    est

    sedm

    osm

    franzsisch

    un

    deux

    trois

    quatre

    cinq

    six

    sept

    huit

    spanisch

    uno

    dos

    tres

    cuatro

    cinco

    seis

    siete

    ocho

    slowakisch

    jeden

    dva

    tri

    tyri

    p

    es

    sedem

    osem

    deutsch

    eins

    zwei

    drei

    vier

    fnf

    sechs

    sieben

    acht

    Abb. 1: Zahlen inverschiedenen

    Sprachen

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    In dieser Stunde gibt es zufllig gerade keineArbeit mit Hrbeispielen. Hrbeispiele sind jedocheine wichtige Dimension des Evlang-Ansatzes imPrimarunterricht, denn Tonmaterial ist in die vonder Evlang-Gruppe entwickelten Unterrichtsmittelintegriert. Wenn wir vor einem Monat gekommenwren, htten wir unsere kleinen Schlerinnen undSchler in folgender Situation sehen knnen:

    Die Kinder hren und sehen in vier Sprachen denTitel des Mrchens Rotkppchen (Finnisch: Puna-hilkka, Portugiesisch: O Capuchinho Vermelho,Deutsch: Rotkppchen, Italienisch: Cappuccetto ros-so). Dann wird ihnen auch der Beginn des Mrchensin den vier Sprachen vorgespielt (Es war einmal einkleines Mdchen. Es hie Rotkppchen ...). Jedesmal,wenn sie die Bezeichnung fr Rotkppchenheraus-

    hren, kreuzen sie auf ihrem Arbeitsblatt den Mr-chentitel der betreffenden Sprache an. Das heit,dass sie schon gelernt haben, einige Elemente auseinigen fremden Sprachen wiederzuerkennen.

    Wie wird man Lehrer oder Lehrerin frEvlang?Im Rahmen des internationalen Unterrichts Evlanghaben mehr als 150 Klassen in fnf Lndern (Frank-reich, Italien, sterreich, Schweiz, Spanien/Katalo-

    nien) acht bis dreizehn Monate lang ein Eveil auxlangues-Programm durchlaufen. Bei den Durch-fhrenden handelte es sich um allgemein ausge-bildete Grundschullehrerinnen und -lehrer ohnespezielle Kompetenzen fr dieses Programm. Dasheit z.B., dass diese Lehrerinnen und Lehrer dievielen Sprachen, die in dem Programm benutztwerden, natrlich nicht selbst beherrschen. DieseLehrkrfte erhielten eine zwei- bis dreitgige Schu-lung. Dann arbeiteten sie in ihren blichen Klassenmit Hilfe spezieller Print- und Ton-Unterrichtsma-terialien, die von der Forschergruppe unter Mitar-

    beit von anderen Lehrkrften entwickelt wordenwaren und in denen nicht weniger als sechsund-sechzig Sprachen mit unterschiedlichem Status(Amtssprachen, Minderheitensprachen, Migrations-sprachen, Kreole usw.) fr didaktische Zwecke ver-wendet wurden. Wenn sich in ihren Klassen Kindermit verschiedenen Muttersprachen befanden,konnten und sollten sie diese und deren Familienals Informationsquellen mit einbeziehen.

    Die Ergebnisse liegen nun vor. Sie lsen zwar keine

    Begeisterungsstrme aus, aber sie entsprechendem, was man bei pdagogischen Innovationendieser Art und bei dieser Form von Evaluation frgewhnlich erreicht und man kann sagen, dassdie Evlang-Arbeit insgesamt Frchte getragen hat.

    Schauen wir uns den Bereich Einstellungen undFertigkeiten an.

    Vernderte Einstellungen und

    FertigkeitenAls Auswirkungen von Evlangauf die Einstellungender Schlerinnen und Schler wurden ihr Interes-se an der Vielfalt und ihre Offenheit gegenberUngewohntem getestet. Im Bereich der sprachli-chen Fhigkeiten zielte die Untersuchung auf audi-tive Diskrimination und Gedchtnisleistung absowie auf syntaktisches Konstruktionsvermgennach Dekompositions- und Rekonstruktionsauf-gaben anhand von Beispielen aus unbekanntenSprachen (siehe Abbildung 2).

    In beiden Fllen sowohl bei den Einstellungenwie auch bei den Fhigkeiten wird die Wirkungvon Evlang auf die jeweils erstgenannte Kompo-nente der Untersuchungspaare (Interesse, auditiveFhigkeiten) in einer groen Mehrheit der Proben

    17

    Exemple:

    Voici trois phrases crites dans une langue que tu ne connais pas, elles sonttraduites en franais.

    En inu betsiaki Jai vu le jaguar.

    je le Jaguar ai vu

    En baka betsiaki Jai vu le poisson.je le poisson ai vu

    Min baka betsiaki Tu as vu le poisson.tu le poisson as vu

    Regarde bien comment sont construites ces phrases et essaie d' crire, dans cettelangue, la phrase suivante:

    Tu as vu le jaguar: _______________________________________________

    Beispiel:

    Hier sind drei Stze in einer Sprache, die du nicht kennst.Sie sind jeweils ins Franzsische (fr unsere Zwecke ins Deutsche) bersetzt.

    En inu betsiaki Ich habe den Jaguar gesehen.ich den Jaguar habe gesehen

    En baka betsiaki Ich habe den Fisch gesehen.ich den Fisch habe gesehen

    Min baka betsiaki Du hast den Fisch gesehen.du den Fisch hast gesehen

    Schau dir genau an, wie diese Stze gebaut sind und versuche jetzt, den folgendenSatz in der neuen Sprache zu konstruieren:

    Du hast den Jaguar gesehen: __________________________________________

    Original:

    Abb2:Rekonstruktionsaufgabemitbersetzung

    bersetzung:

    Fremdsprache Deutsch Heft 31/2004 Sprachenvielfalt im Klassenzimmer, ISBN 978-3-19-199183-8, Hueber Verlag 2007

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    besttigt. Bei der zweiten Komponente (Offenheitund syntaktisches Konstruktionsvermgen) hatsich der Evlang-Effekt ebenfalls gezeigt, allerdingsnur in einigen Fllen: Offenheit ist eine deutlichhhere Anforderung als bloes Interesse, und wasdie Dekompositions-/Rekonstruktionsbungenbetrifft, so wissen wir, dass sie weniger hufigdurchgefhrt wurden als das Hrtraining. Die ein-zige kleine Enttuschung betrifft die positiven Aus-wirkungen von Evlangauf die Kompetenzen in derUnterrichtssprache, sie konnten nmlich nichtbesttigt werden, auch wenn die Lehrkrfte in dendurchgefhrten mndlichen und schriftlichenBefragungen zu der Annahme neigen, dass es siegibt. In den meisten Fllen hatten die Initiatorenund Initiatorinnen von Evlang selbst schon dies-

    bezgliche Zweifel angemeldet.Die Ergebnisse treffen fr einen Erprobungs-

    durchlauf zu, dessen allgemeine Dauer 35 Stundenumfasst. Eine Untersuchung ber den Zusammen-hang zwischen Stundenanzahl und Wirkungsinten-sitt zeigt deutlich, dass ein lnger dauernderDurchlauf mehr Chancen hat, Auswirkungen vonallgemeinerer Gltigkeit sowie von bedeutendererTragweite zu erreichen.

    Festgehalten werden soll, dass der Beitrag, den

    Evlangzur Entwicklung der Einstellungen erbringt,im Wesentlichen die leistungsschwchsten Schle-rinnen und Schler betrifft. Es lsst sich auch erken-nen, dass Eveil aux languesden Wunsch, Sprachenzu lernen, deutlich steigert. In mehreren Fllen(und dies ganz besonders in Frankreich) verstrktEveil aux languesauch das Interesse, Minoritten-sprachen Immigrationssprachen inbegriffen zulernen.3

    Wie geht es weiter?

    Zunchst geht es vorrangig um die Verbreitung desEvlang-Ansatzes und gleichzeitig weil wir der Auf-fassung sind, dass bei jedem Transfer der Kontextausschlaggebend ist um die Erforschung derBedingungen fr die Einfhrung in die Curriculaverschiedener Schulsysteme.

    Allmhlich hat sich ein Konsens ber einigeGrundprinzipien gebildet. Eveil aux Langues-Akti-vitten sollten gleich zu Beginn der Schullaufbahnstarten (schon im Kindergarten) und sich dabeimglichst weit auf die in der Klasse bzw. Umge-

    bung vorhandenen Sprachen sttzen. Der Ansatzsoll nach der Primarstufe weitergefhrt werden,und sei es nur, weil er dazu beitragen kann, diebedauerliche Isolierung der einzelnen sprachlichenFcher zu berwinden, indem er sprachliches

    Orientierungswissen bereit stellt. Eveil aux langueshat also eine Empfangsfunktion (Empfang der Ler-nenden in der vielfltigen Welt der Sprachen, Emp-fang der Lernenden in der Vielfalt ihrer Sprachen)und eine Begleitfunktion (Begleitung durch die Weltdes Sprachenlernens). Es besteht generell auch einKonsens ber ein Curriculummodell in Form einesauf den Kopf gestellten Trichters, mit einer breite-ren Basis, wo sich dieser sprachenpluralistischeAnsatz weit ausdehnen knnte, zum Beispiel biszum zweiten oder dritten Jahrgang der Grund-schule (also bis zum Alter von 7-8 Jahren). Daraufaufbauend knnte eine Weiterfhrung durch dieganze weitere Schullaufbahn folgen, in der Formeines Rckgrats mit Anschwellungen bei bestimm-ten Wirbeln, dort etwa, wo es darum geht, die Ein-

    fhrung weiterer Sprachen in das Curriculum vor-zubereiten.

    Einer der Orte, an denen diese Diskussion statt-findet, ist das europische InnovationsnetzwerkJanua Linguarum (Tor zu Sprachen)4, das seitJanuar 2000 durch das Europische Fremsprachen-zentrum (Europarat) in Graz gefrdert wird. Es setztsich zusammen aus Forschern und Forscherinnen,Lehrerausbildern und -ausbilderinnen sowie Leh-rern und Lehrerinnen, die in sechzehn LndernEuropas ttig sind. Die meisten von ihnen befinden

    sich zugleich in einem Comenius-Programm glei-chen Namens.

    Anmerkungen:1 Eine ausfhrlichere Darstellung des Evlang-Ansatzes befindet sich in der

    Dokumentation der Tagung Europische Sprachenpolitik (Juni 2002, Uni-versitt Wrzburg), die 2003 beim Universittsverlag C. Winter in Heidel-berg erschienen ist. Einige Stellen dieses Beitrags beruhen auf vorherigenvon mir auf Franzsisch geschriebenen Texten, die zum Teil durch EdithMatzer (Atelier Mehrsprachigkeit, Graz) ins Deutsche bertragen wurden.Siehe auch http://www.zse3.asn graz.ac.at/download.

    2 Tagung des Rates Bildung/Jugend am 28. Mai 2001 in Brssel Mit-teilung an die Presse.

    3 Detaillierte Darstellungen der Evaluationsmethode und der Ergeb-nisse befinden sich auf der Website des Programms Ja-Ling:http://jaling.ecml.at/ Vgl. Michel Candelier, ed.: Evlang lveil auxlangues lcole primaire, Bruxelles: De Boek Duculot, 2003.

    4 Der deutsche Partner dieses Netzwerks ist die Pdagogische Hoch-schule Freiburg unter der Leitung von Prof. Dr. Ingelore Oomen-Wel-ke ([email protected]).

    Sprachenvielfalt im Klassenzimmer18

    L E S E T I P P :

    Michel Candelier u.a.: 2003: Janua Linguarum La porte des langues.Lintroduction de lveil aux langues dans lecurriculum. Graz: CELV. (franzsiche Fassung) 2004: Janua Linguarum The gateway to langua-ges. The introduction of language awareness into

    the curriculum: Awakening to languages. Graz:ECML. (englische Fassung)Bericht ber Schulklassen in 15 europischen Lndern,

    in denen mit Vielsprachigkeit gearbeitet wird.

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    DEUTSCH UND DIE ANDEREN

    (FREMD)SPRACHEN IM KOPFDER LERNENDENWie man dieses Potenzial im Deutschunterricht nutzen kannVON BRITTA HUFEISEN

    Britta Hufeisen stellt die schon vorhandenen und sich vergrernden Sprach- und Lernerfahrungen der Deutschlernenden

    ins Zentrum ihrer berlegungen. An einem (andernorts genauer erluterten) Faktorenmodell macht sie klar, was alles beim

    Sprachlernen eine Rolle spielt. Da die Lernenden auf der Basis dieser Erfahrungen handeln, sollte der Deutschunterricht

    diese Potenziale nutzen. Dazu liefert sie Beispiele aus verschiedenen Bereichen.

    1. Deutschlernende als alte Hasen inSachen Fremdsprachenlernen

    Wie wir bereits im Einfhrungsartikel gesehenhaben, knnen viele unserer Lernenden, die mit

    Deutsch als Fremdsprache beginnen, als alteHasen im Fremdsprachenlernen und Spracher-werb bezeichnet werden, denn sie sprechen viel-leicht mehr als eine Muttersprache, verwendenmglicherweise eine oder sogar mehrere andereSprachen als berregionale Verkehrssprachen imtglichen Leben und im Umgang mit Behrden(Beispiel hierfr sind Lernende in vielen LndernAfrikas, Thailands, Malaysias oder Indonesiens)und lernen vielleicht noch weitere Fremdsprachenin der Schule oder an der Universitt. Whrend die

    Erstsprache oder Muttersprache (= L1) und dieunmittelbaren Kommunikationssprache(n) meistungesteuert erworben werden, werden die ber-regionalen Verkehrssprachen, die jeweilige LinguaFranca, und die regulren Schulfremdsprachen oft

    in einem gesteuerten Kontext gelernt. Dieses alleshat oft bereits stattgefunden, wenn wir diese Ler-nenden kennen lernen, um ihnen beim Lernen desDeutschen zur Seite zu stehen. Auch wenn, wie sooft beklagt wird, die erste offizielle berregionale

    Schulfremdsprache Englisch kaum oder nur schlechtbeherrscht wird, sind die Lernenden dennocherfahren in Bezug auf die Unterrichtssituation desFremdsprachenlernens. Sie kennen das Vokabeln-lernen, sie wissen, dass es beim Fremdsprachen-lernen immer wieder um Texte geht und dass esdauernd Situationen gibt, in denen sie nicht gleichalles verstehen. Auch die individuellen Interlangu-ages der anderen (Fremd)Sprachensind im Kopf der Lernenden vorhandenund knnen gar nicht ignoriert werden.

    Und diese Erfahrung sollten wir nachKrften ausnutzen! Das heit: Wir kn-nen das vorhandene Wissen und dievorgngigen Erfahrungen ganz offensiv nutzen undsollten keine Angst davor haben bzw. den Einbezug

    Im Deutschunterricht solltenwir das vorhandene Wissen

    und die vorgngigen Erfahrun-gen ganz offensiv nutzen.

    Malayalam-Schrift, Sdindien

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    z.B. von Englisch in den Deutschunterricht nichtvorschnell ablehnen: Ach, deren Englisch ist dochso schlecht, davon kann man nichts nutzen!

    Wir mssen uns berlegen, an welchen Stellen undin welchen Situationen wir das Englische oderandere Fremdsprachen als Hilfe, als Kontrast oderals Brcke zum Deutschen verwenden knnen undwo wir vor dem Englischen besser warnen oder esexplizit ausschlieen. Gerade im Bereich der Lexikz.B., aus der wir die viel gescholtenen FalschenFreundekennen, berwiegt der gemeinsame Wort-schatz zwischen dem Deutschen und dem Engli-

    schen gegenber den paar falscheingeschtzten ungleichen Bedeu-tungen. So hilft Englisch beispiels-

    weise sehr bei der Perzeption, d.h.beim Verstehen von Neuem, beimLesen oder Hren, entweder weilGeschriebenes dem Englischenhnelt, oder weil man bestimmteStrukturen bereits aus dem Engli-

    schen kennt. Hier kann man Lernende ermuntern,bei einer neuen Vokabel zu berlegen, ob sie diesevielleicht schon aus dem Englischen oder aus ande-ren Sprachen kennen. Man kann sie gezielt fr sol-che Suchen sensibilisieren.

    Bei der Produktion hingegen scheint es tatsch-lich hufig so zu sein, dass das Englische behindert,weil Englisches einfach bersetzt wird und imDeutschen dann falsch ist, oder weil Lernende sichnicht vorstellen knnen, dass zwei Formen im Eng-lischen und Deutschen tatschlich gleich sind undentsprechende Formen im Deutschen vermeiden.Aber trotzdem denke ich, dass es besser ist, wennLernende kreativ unter Zuhilfenahme ihrer anderenSprachen etwas im Deutschen erfinden, als dasssie gar nichts sagen.

    Selbstverstndlich mssen wir auch die Kehrsei-te dieser Medaille mit einbeziehen: Vielleicht habendie Lernenden schlechte Erfahrungen mit ihremvorgngigen Fremdsprachenunterricht gemacht,vielleicht war er methodisch sehr einseitig ausge-legt, so dass die Lernenden wenig an diesen Unter-richt erinnert werden mchten, vielleicht haben sieschlechte Noten bekommen, so dass sie nun mitder neuen Fremdsprache Deutsch auch ein neuesKapitel in Sachen Fremdsprachenlernen aufschla-gen mchten. Oder vielleicht haben ihnen ihre vor-gngigen Fremdsprachen einfach nicht gefallen,und sie bauen darauf, dass Deutsch die bessere,interessantere, schnere oder ntzlichere Fremd-sprache ist. Auch diesen Bedenken mssen wirRechnung tragen und in solchen Fllen den direk-

    ten Vergleich und Kontrast zwischen den verschie-denen vorhandenen (Fremd)Sprachen und der neu-en Zielfremdsprache in den Hintergrund stellen, umuns auf die vorgngigen individuellen Lernerfah-rungen, die auch unabhngig von Einzelsprachengesehen werden knnen, zu konzentrieren.

    Deshalb knnen wir zwischen den sprachbezo-genen Vorerfahrungen und -kenntnissen und denfremdsprachenlernspezifischen Erfahrungen unter-scheiden. Erste beziehen sich auf die Sprachenselbst, letztere auf das, was mit dem Fremdspra-

    chenlernen zusammenhngt: Lernstrategien, Be-wusstsein usw. Auf diese Aspekte geht der folgendeAbschnitt ein.

    2. Zum Faktorenmodell des multiplenFremdsprachenlernensEs gibt nicht nur eine Menge allgemeiner Faktoren,die das Lernen des Deutschen in irgendeiner Formbeeinflussen, wie z.B. das Alter, die Mutterspra-che(n) oder die Lerntradition, sondern auch einige

    Sprachenvielfalt im Klassenzimmer20

    Englisch hilft bei der Perzeption,d.h. beim Verstehen von

    Neuem, beim Lesen oder Hren,entweder weil Geschriebenes

    dem Englischen hnelt, oder weilman bestimmte Strukturen bereits

    aus dem Englischen kennt.

    Neurophysiologische Faktoren: Generelle Spracherwerbsfhigkeit, Alter, ...

    Lernerexterne Faktoren: Lernumwelt(en), Art und Umfang des Inputs, ...

    Emotionale Faktoren: Motivation, (Lern)Angst, Einschtzung der eigenen Sprachliteralitt,empfundene Nhe / Distanz zwischen Sprachen, Einstellung(en) zu den Sprachen, zu denzielsprachigen Kulturen, zum Sprachenlernen, individuelle Lebenserfahrungen, ...

    Kognitive Faktoren: Sprachbewusstsein, metalinguistisches Bewusstsein, Lernbewusstsein,Wissen um den eigenen Lerntyp, Lernstrategien, individuelle Lernerfahrungen, ...

    Fremdsprachenspezifische Faktoren: Individuelle Fremdsprachenlernerfahrungen

    und Fremdsprachenlernstrategien, Interlanguages der vorgngigen Fremdsprachen,Interlanguages der jeweiligen Zielfremdsprache, ...

    Linguistische Faktoren: L1, L2, Lx, ...

    Lx (x>2)

    Faktorenkomplexe beim Lernen des Deutschen in einem mehrsprachigen KontextAbb.1

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    ganz besonders fremdsprachenspezifische, dieeinen erheblichen Einfluss auf das Lernen des Deut-schen haben knnen, wenn Deutsch wie in denmeisten Fllen die zweite oder oft sogar weitereFremdsprache ist, und die beim Lehren und Lernenbercksichtigt werden knnen. Im Folgendenmchte ich einige dieser Faktoren vorstellen unddiskutieren. Selbstverstndlich kommen in der kon-kreten Unterrichtsstunde so genannte situative Fak-torenhinzu wie z.B. Sprech- und Kommunikations-angst oder die jeweiligen Kommunikationspartner.

    Aus Platzgrnden stelle ich mein Faktorenmodellzum multiplen Sprachenlernen nicht in den vierStufen vom Erwerb der Muttersprachen(n) ber dasLernen der ersten bis zum Lernen der zweiten und

    weiteren Fremdsprache(n) vor, sondern kompri-miere es zu einem berblick ber das gesteuerteFremdsprachenlernen bzw. das Lernen des Deut-schen als zweiter oder weiterer Fremdsprache (sie-he Abbildung 1).

    3. Diskussion einiger Faktoren anhandvon BeispielenDie folgenden berlegungen und Vorschlgebeschrnken sich brigens nicht allein auf die Pha-

    se des anfnglichen Deutschunterrichts, sondernknnen m.E. auch in spteren Lernsituationenangewendet und aufgefrischt werden.

    3.1. Ausgangspunkt aller weiteren Aktivitten undAnleitungen fr die Lernenden ist die Bewusst-machung, die Bewusstmachung ber die verschie-denen Sprachen (Sprachbewusstsein), die Bewusst-machung ber den Vergleich, den Kontrast, dieBeschreibung der Sprachen und die eigene Distanzzu den Sprachen (metalinguistisches Bewusstsein)und die Bewusstmachung des eigenen Lerntyps

    und der eigenen verwendeten und bevorzugtenLernstrategien in Bezug auf Fremdsprachen (Lern-bewusstsein). Die folgenden Fragen werden den Ler-nenden nicht am Stck / auf einmal gestellt, son-dern entsprechend dem Gesprchsverlauf.

    Beispiel: Vokabeln

    Typische Fragen und Arbeitsauftrge knnen sein:Wie lernen Sie normalerweise Vokabeln? Beschrei-ben Sie dies so, dass auch die anderen Lernenden

    es kennen lernen und ausprobieren knnen. Hatdas funktioniert? Kennen Sie andere Arten, Voka-beln zu lernen? Vergleichen Sie Ihre Art, Vokabelnzu lernen, mit Ihren Nachbarn und stellen Sie dieverschiedenen Mglichkeiten zusammen.

    Ziel einer solchen Phase (die immer wieder einenPlatz im Deutschunterricht finden kann) ist die Vor-stellung mglichst vieler verschiedener Arten, Voka-beln zu lernen, das ben und das Herausfinden frdie Lernenden, welche fr sie wirklich die beste(n)ist bzw. sind (vgl. fr konkrete Einzelbeispiele beiRampillon in Hufeisen / Neuner 2003 sowie Rieger1999).

    Beispiel: Lernerfahrung in denvorherigen FremdsprachenTypische Fragen und Arbeitsauftrge knnen sein:Hat Ihnen der Fremdsprachenunterricht in Ihrenanderen Fremdsprachen Spa gemacht? Wasfanden Sie gut und was mchten Sie im Deutsch-

    unterricht genauso machen? Gab es Dinge, dieIhnen nicht gefallen haben? Was wrden Sie des-halb im Deutschunterricht jetzt anders machen?Wie? Haben Sie Ideen? Wie haben Sie z.B. Texte inIhren anderen Fremdsprachen gelesen? MusstenSie sie Wort fr Wort erschlieen, oder sind Sie ausder Vogelperspektive herangegangen? Was hilftIhnen besser, den Text zu verstehen? Wie habenSie bislang Grammatik behandelt?Schauen Sie sich viele Beispiele anund bauen Sie neue Stze nach dem

    gleichen Muster, oder haben SieTabellen und Regeln bekommen undversuchen, daraus konkrete Beispie-le abzuleiten? Was ist Ihnen lieber,womit knnen Sie besser lernen?

    Ziel solcher Nachfragen ist es, denLernenden einerseits behilflich zusein, nach und nach mehr ber ihreneigenen Lerntyp herauszufinden, damit sie ge-zielter und effektiver lernen knnen; andererseitskann man Wiederholungen von eventuell als nega-

    tiv empfundenen Erfahrungen aus vorgngigemFremdsprachenunterricht vermeiden bzw. positi-ve Erfahrungen als Basis fr das weitere Lernenbenutzen.

    3.2 Sie knnen, falls es Ihr Lehrwerk nicht ohnehinvorsieht, hin und wieder kleinere Einheiten desexpliziten Sprachvergleichseinbauen (dafr mssenSie gar nicht alle im Klassenraum vorhandenenSprachen selbst beherrschen) und diesen Vergleichz.B. an Englisch (oder einer der anderen der vorher

    gelernten (Fremd)Sprachen) und der ZielspracheDeutsch zeigen: Ich habe festgestellt, dass Lernen-de bei Themen, bei denen sie selbst nach Paralle-len und Unterschieden forschen knnen, sehr fin-dungsreich sein knnen.

    Im Zentrum aller Unter-richtsaktivitten steht dieBewusstmachung, die

    Bewusstmachung ber dieverschiedenen Sprachen,ber den Vergleich, denKontrast, die Beschreibungder Sprachen und dieBewusstmachung deseigenen Lerntyps.

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    Beispiel: Komparation

    Typische Fragen und Arbeitsauftrge knnen sein:Vergleichen Sie die Komparation im Deutschen(nett, netter, am nettesten) und Englischen (nice,nicer, the nicest) mit Ihrer Muttersprache bzw.ihren anderen (Fremd)Sprachen, z.B. Franzsisch(gentil, plus gentil, le plus gentil). Was fllt Ihnenauf? Welche beiden Funktionsprinzipien erkennenSie? Welches Funktionsprinzip (Steigerung desAdjektivs selbst, Kennzeichnung der Steigerungauerhalb des Adjektivs) gilt fr Ihre anderen Spra-chen?

    Beispiel: Farbplakat

    Eine Plakatrolle wird lngs ausgerollt und an dieWand geklebt, entweder werden horizontale Strei-fen bunt gemalt und dann ausgefllt, oder dieNamen fr die Farben werden in den entsprechen-den Farben in den jeweiligen Sprachen aufge-schrieben. Entlang jeder Farbe werden die Farb-namen in allen Sprachen der jeweiligen Lerngrup-pe aufgelistet, ganz vorne stehen die deutschenFarbbezeichnungen. Das Farbplakat wird aufge-hngt und bei Bedarf ergnzt (siehe Abb. 2).

    Solche Plakate mit Parallelformen eignen sich auchfr die Sammlung von Familienbezeichnungen(Mutter, mother, mre, ... usw., vgl. Karagiannakisin diesem Heft), Esswaren, Haushaltsgegenstnden.Die Lernenden knnen sehen, wie nah und fern dieverschiedenen Sprachen aussehen im Vergleichzum Deutschen. (Dieses Beispiel stammt aus Huf-eisen 2003a; hier und in Hufeisen 2003b findet sicheine Reihe weiterer konkreter Beispiele.)Ziel: Indem Sie ganz zielgerichtet die anderen Spra-chen im Deutschunterricht ansprechen, werden dieLernenden ermuntert, ihr vorhandenes Wissen bei

    einer konkreten Aufgabe einzusetzen und sie nichtisoliert zu behandeln. Die (vorhandenen) Netz-werke werden gezielt genutzt und die Lernendenknnen ben, diese Netzwerke auszubauen undganzheitlich an die Sprache heranzugehen (vgl. frweitere Beispiele Hufeisen/Neuner 2003).

    3.3.Wenn Interferenzenproduziert werden, knntenoder sollten auch diese Gegenstand der Bewusst-machung sein, aber weniger unter dem Aspekt, dasssie etwas Drohendes oder ganz Schlimmes sind, son-dern dass sie genau wie die Parallelen auch Teildes Sprachenkontaktes im Kopf der Lernenden sind.Zwar sind sie keineswegs so erstrebenswert wie rich-tige Sprachformen, aber wenn man sie unter demAspekt behandelt, dass sie nun einmal die andereSeite der Medaille sind und dass man auch auf sieAcht geben muss, knnen sie als integraler Bestand-teil des Fremdsprachenunterrichts gesehen werden.

    Auch hier gibt es verschiedene Mglichkeiten, da-mit umzugehen:

    Interferenzen thematisieren und erklren, wenn

    sie produziert werden. Die Lernenden knnenihre eigenen, individuellen Interferenzlisten er-stellen und stndig erweitern. Wenn es sich um einefeste Lerngruppe handelt mit eigenem Unter-richtsraum, kann man diese Lernfallen auf Plaka-ten sammeln. Fr ganz wichtig halte ich es jedoch,aus dieser Fehlermcke keinen Elefanten zumachen: Auch wenn Fehler, die auf Transfer be-ruhen, rgerlich sein knnen, sind sie doch Teil derindividuellen Sprachent-wicklung, und sie sind

    nicht die Hauptsache derLernresultate: In einemsprachsystematischen Ver-gleich gibt es oft viel mehrParallelen als Interferenz-mglichkeiten!

    Lustig wird es insbeson-dere fr jngere Lernende,wenn Interferenzen aufder lexikalischen Ebene, die zugleich falsche Freun-de sind, aus allen in der Lerngruppe vorkommen-den Sprachen als Wortschlangen auf Plakaten

    gesammelt und mit Beispielen veranschaulichtwerden:Waiter, when do I become a beefsteak? ?=? Wannbekomme ich ein Beefsteak? !=! Wannwerde ichein Beefsteak, guten Appetit!Det r en hygglighund! ?=? Das ist ein hgeliger,bergiger Hund! !=! Das ist ein wohlerzogenerHund!

    Ziel: Die Lernenden sollten gewarnt und sensibili-siert, aber nicht verschreckt werden.

    3.4. Bei all diesen Kontrasten und Vergleichensollte(n) die Muttersprache(n) gar nicht ausgespartwerden, denn sie ist bzw. sind genau so im Kopf derLernenden wie die anderen, vorgngigen (Fremd-)

    Sprachenvielfalt im Klassenzimmer22

    Deutsch English Franais Svenska Italiano

    blau blue bleu bl blu, azzurro

    grn green vert grn verderot red rouge rd rosso

    schwarz black noir svart nero

    gelb yellow jaune gul giallo

    Interferenzen sollteman thematisieren

    und erklren, wennsie produziert werden.ber Interferenz-fehler sollte man sichnicht rgern, sie sindTeil der individuellenSprachentwicklung.

    Abb. 2

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    Sprachen und kann bzw. knnen deshalb gar nichtausgeschaltet werden! Inzwischen wurde allerdingsin Studien festgestellt, dass die L1 (die Muttersprache)einen doch anderen Status im mentalen Lexikonund in der Sprachverarbeitung zu haben scheintals die Fremdsprachen, die einander oft nher zuliegen scheinen. Dafr wurde der Begriff foreignlanguage mode geprgt und man meint damit, dasswir beim Fremdsprachenlernen und -verarbeitenoffenbar den Lernschalter auf Fremdsprachenumlegen und die L1 dann nicht unbedingt im Vor-dergrund stehe. Neurologische Studien besttigendiese Annahme: Die nicht frh gelernten Fremd-sprachen verarbeiten wir offenbar (gemeinsam) ineinem anderen Hirnareal als die Muttersprache(n)und die frh gelernten Fremdsprachen.

    Die Muttersprache drngt sich anders als beianderen Spracheinheiten allerdings insbesonderebei derAussprachein den Vordergrund; dies wiedermeist unbewusst. Auch hier hilft meiner Erfahrungnach nur die Transformation des muttersprachlichUnbewussten in bewusst gemachtes Wissen, dasdann im Vergleich mit der Zielfremdsprache ausge-schaltet oder zumindest zurckgedrngt und mini-miert werden kann. So merken beispielsweise vie-le meiner Studierenden mit Spanisch und Italie-nisch oder einer osteuropischen Sprache als L1 gar

    nicht, wie prominent ihr r auch im Deutschen istund besonders wenn es am Silbenende produziertwird wie stark dies das Verstehen behindert!

    An diesem Beispiel kann man abschlieendzugleich zeigen, dass es bei solchen bewusstmachenden Verfahren fr die Lehrkraft keineswegsnotwendig ist, alle in einer erstsprachlich hetero-genen Lerngruppe vorkommenden Herkunftsspra-chen zu beherrschen: Die Fehler weisen uns denWeg, und zusammen mit den Lernenden kann mandie Vergleiche und Kontraste anstellen.

    Weiterfhrende Literatur:

    Hufeisen, Britta / Neuner, Gerhard: Mehrsprachigkeitskonzept Tertir-sprachen Deutsch nach Englisch. Graz: Europisches Fremdspra-chenzentrum 2003.

    Hufeisen, Britta (a): Muttersprache Franzsisch Erste Fremdsprache Eng-lisch Zweite Fremdsprache Deutsch. Sprachen lernen gegeneinanderoder besser miteinander? In: Meiner, Franz-Josef / Picaper, Ilse (Hrsg.):Mehrsprachigkeitsdidaktik zwischen Frankreich, Belgien und Deutsch-land. Tbingen: Gunter Narr 2003, 49-61.

    Hufeisen, Britta (b), L3-Didaktik fr polnische Deutschlernende. In:Stasiak, Halina (Hrsg.): Hallo! Kannst du schon Englisch? Jetzt ist esZeit, Deutsch zu lernen. Materialien fr den studienbegleitendenDeutsch-Unterricht an Fremdsprachenlektoraten in Polen. Danzig:

    Universitt Danzig 2003, 25-37.Hufeisen, Britta: Deutsch als Tertirsprache. In: Helbig, Gerhard / Gtze,Lutz / Henrici, Gert / Krumm, Hans-Jrgen (Hrsg.): Deutsch alsFremdsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin: Walter deGruyter 2001, 648-653.

    Rieger, Caroline: Lernstrategien im Unterricht Deutsch als zweite Fremd-sprache. In: FREMDSPRACHE DEUTSCH 20 / 1999, 12-14.

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    Sprachenvielfalt im Klassenzimmer24

    Eva-MariaJenkins

    Erstmals erschienen in: G. Schneider /M. Clalna: Mehrsprachigkeit undDeutschunterricht, bulletin vals-aslaSonderheft 2002.

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    VorbemerkungTrotz gegenteiliger Erkenntnisse und didaktischerForderungen wird Sprachenvielfalt im Klassenzim-mer sowohl im muttersprachlichen als auch imfremdsprachlichen Unterricht noch immer zuwenig genutzt. Dabei bringen gerade Fremdspra-

    chenlernende ein hohes Potenzial an sowohl theo-retischem als auch analytischem Wissen ber For-men und Struktur von Sprache(n) mit, welchesbewusst in den Fremdsprachenunterricht mit ein-bezogen werden kann. Grnde hierfr gibt es viele,allen voran die Forderungen der EuropischenUnion nach einer mehrsprachigen und pluri-kulturellen Kompetenz, die m. E. keineswegs aufEuropa beschrnkt bleiben darf.

    Zu den wichtigsten Methoden eines Unterrichts,

    der auch andere als die Zielsprache in Betrachtzieht, zhlt der Sprachvergleich. Von den vielenZwecken, die dieser erfllen kann, sind zwei beson-ders hervorzuheben:

    Das Vergleichen von Strukturen verschiedener

    VON SCHNEN SCHWESTERN,

    POLITISCHEN BRDERN UNDGESETZESMTTERNFamilien- und Verwandtschaftsbezeichnungen im

    mehrsprachigen DeutschunterrichtVON EVANGELIA KARAGIANNAKIS

    Evangelia Karagiannakis untersucht mit ihren erwachsenen Deutschlernenden die Benennungen von Familienbeziehungen,

    die ja hufig auch in Lehrwerken thematisiert werden. Dabei geht es um die Wahrnehmung von hnlichkeiten und

    Unterschieden in verschiedenen Sprachen. Ihre konkreten Unterrichtserfahrungen zeigen darber hinaus, wie motivierend

    gerade in diesem Bereich (jede und jeder hat eine Familie) die emotionale Einstellung der Lernenden sein kann.

    Sprachen frdert die Einsicht sowohl in einzelneBereiche einer bestimmten Sprache als auch indie Funktionsweise von Sprachen allgemein (meta-linguistische Kompetenz).

    Das Vergleichen von Sprachen fhrt auch zumVergleichen von Welten der jeweiligen Sprecher

    und damit zu einem besseren Verstndnis fr dieLebensart und die Denkweisen anderer Menschen,wodurch schlielich Vorurteilen entgegenwirktwerden kann.

    Sprachvergleichendes Arbeitenim UnterrichtAls Beispiel whle ich das Thema Familien- undVerwandtschaftsbezeichnungen, weil Familie einesder Hauptthemen in Lehrwerken fr Deutsch als

    Fremdsprache ist. bungen wie die folgendenknnten also direkt an die entsprechende Lektioneines Lehrwerks anknpfen. Auerdem ist diesesThema Lernenden aller Altersstufen und Natio-nalitten vertraut, spricht sie an und motiviert sie.

    GriechischesVolkslied

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    Zudem ist es realittsbezogen, denn oft wollen /sollen / mssen sie ber sich und ihre Familie Aus-kunft geben.

    Die vorgestellten Materialien und bungsfor-men sind grundstzlich fr jede Altersgruppe geeig-net. Sie basieren auf Erfahrungen in internationa-len Gruppen erwachsener Deutschlernender. ImEinzelfall mssen sie an die konkreten Bedingun-gen der jeweiligen Gruppe angepasst werden.

    Erste Schritte: Die engere Familie

    Als Einstieg bietet sich ein Bild bzw. ein Foto einerFamilie mit einem dazu gehrenden Stammbauman (Beispiel siehe Abb. 1). Hier tauchen schon ersteBezeichnungen fr die engere Familie auf, die

    Anzahl der Personen und Ausdrcke bleibt insge-samt jedoch berschaubar. Bild / Foto und Stamm-baum bieten verschiedene Redeanlsse: Wer sindwohl die dargestellten Personen? Welcher Namegehrt zu wem? Wie alt sind die Personen? Wo

    wohnen sie? Bei welcher Gelegenheit wurde das Bildgemacht? Meine Gromutter / Mein Grovater heit... Habe ich Tanten / Onkel?usw. Die Gesprche dar-ber knnen in Kleingruppen oder im Plenumstattfinden, nur mndlich gefhrt oder schriftlichfixiert werden. Entscheidend ist, dass die Lernen-den ber das Bild mit den dazu angebotenen Infor-mationen in die Thematik eingefhrt werden, dabeiin Kommunikation zueinander treten und dassauch schon erste bertragungen auf den eigenen,persnlichen Lebensbereich Familie stattfinden.Falls die Mitglieder einer Familie aus zwei odermehr verschiedenen Lndern stammen, ist damitvon Anfang an auch das Thema Kontakt zwischenverschiedenen Kulturen prsent, ohne dass ex-plizit darauf hingewiesen werden muss. Hieraus

    lassen sich zu einem spteren Zeitpunkt auch an-dere, neue Themen, etwa zur Namengebung, zuFamilientraditionen usw., ableiten und vertiefen.

    Bereits dieses sehr begrenzte Sprachmaterial kannnun im nchsten Schritt Grundlage fr einen inten-siven Sprachvergleich werden. Hierzu sollten dieLernenden zunchst, ausgehend von den Familien-bezeichnungen im Stammbaum, Entsprechungenin anderen Sprachen suchen. Grundstzlich gibt e