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Franz Caiter G R A D U A L E für die Sonn- und Feiertage im Jahreskreis Auszug aus dem Graduale Romanum der Editio Vaticana (Editio Typica 1908) bearbeitet und geordnet nach Ordo Cantus Missae (1972) Stuttgart 2008

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Franz Caiter

G R A D U A L Efür die Sonn- und Feiertage

im Jahreskreis

Auszug aus dem

Graduale Romanum der Editio Vaticana

(Editio Typica 1908)

bearbeitet und geordnet nach

Ordo Cantus Missae (1972)

Stuttgart 2008

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Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. gewidmet

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Mit freundlicher Genehmigung der Benediktiner-

Abtei Solesmes (Autorisation Nr. 109/1997) wurden in

diesem Graduale einige Gesänge aus dem Liber

Usualis Nr. 780 übernommen.

Imprimatur

Congregatio de Cultu Divino et Disciplina Sacramentorum

Prot.n. 635/02/L

Rom, den 24. Mai 2008

Albert Malcolm Ranjith

Erzbischof Sekretär

ISBN:

Graduale mit Hörbeispiel-CD: 978-3-902686-90-9

Graduale: 978-3-902686-91-6

Hörbeispiel-CD: 978-3-902686-92-3

Herstellung/Vertrieb:

dip3 Bildungsservice GmbH

Brunngasse 10, 4073 Wilhering, Österreich

www.dip3.at |[email protected]

© 2008, Alle Rechte vorbehalten

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Vorwort

Auf Weisung Papst Pauls VI. erließ die Heilige Kongregation für

den Gottesdienst am 24. Juni 1972 den Ordo Cantus Missae (Die

Ordnung des Gesangs für die Meßfeier),1) eine Sammlung von

Richtlinien und Verordnungen, nach denen das Graduale Roma-

num der Editio Vaticana aus dem Jahre 1908 an die neuen liturgi-

schen Bücher und den Generalkalender angepaßt werden sollte.

Das setzte einen Meilenstein in der seit Anfang des vorigen Jahr-

hunderts strittigen Frage nach der Aufführungsmethode des Gre-

gorianischen Chorals, denn für die neue Ordnung des Gesangs bei

der Meßfeier wurde nicht die Vorlage mit den rhythmischen Zei-

chen Mocquereaus, sondern die seines Lehrers Dom Joseph Pothier

OSB (1835-1923) vorgeschrieben.

Die Richtlinien und Verordnungen des genannten Ordo Cantus

Missae sowie die Singmethode des Graduale Romanum der Editio

Vaticana aus dem Jahre 1908 bilden die Grundlage des vorliegen-

den Graduale für die Sonn- und Feiertage im Jahreskreis. Nach

dieser Singmethode wird der Gregorianische Choral nichttempe-

riert, das heißt in der reinen Intonation gesungen. Damit ist keine

historische Restitution der Editio Vaticana beabsichtigt, sondern

die Schaffung eines praktischen liturgischen Buches, das auch den

musikalisch unkundigen Menschen das Singen des Gregoriani-

schen Chorals ermöglicht.

Singen wir den Gregorianischen Choral nach der Editio Vaticana,

so müssen wir den Text in den Vordergrund stellen und nicht die

Musik. Im Graduale Romanum ist diesbezüglich zu lesen: �Es mö-

ge darum vor allem dafür Sorge getragen werden, daß man die

Worte, die man singt, auch wirklich vollkommen verstehe.� (Seite

XIII). Der Gregorianische Choral wird dadurch als deklamatori-

sche Musik definiert. Der Sänger soll die Wortakzente hierarchisch

so einordnen, daß jeder Satz seine Grundbedeutung beibehält.

1) Deutsche Übersetzung aus Dokumente zur Kirchenmusik, Hrsg. Hans B.

Meyer SJ und Rudolf Pacik (Pustet: Regensburg, 1981) 380-389.

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Denn es heißt weiter: �Bei allen Lesungs-, Psalm- und Gesangtex-

ten soll Betonung und Zusammenhang der Worte soviel wie mög-

lich beachtet werden, denn davon hängt das Verständnis zum gro-

ßen Teile ab (Instituta Patrum).� (Seite XIV). Die Worte müssen

also melodisch und deklamatorisch so gestaltet werden, daß da-

durch der Text verstanden wird. Damit der Sänger weiß, welche

Worte in erster Linie Träger des oratorischen Rhythmus1) sind,

wurden sie im vorliegenden Graduale in der Textpräsentation je-

des Gesangs mit groß geschriebenen Buchstaben wiedergegeben.

Da manche Gesänge (wie z.B. Ordinarium Missae) zum Teil von

der Orgel begleitet werden, bitte ich die Organisten ihre Beglei-

tung einfühlsam zu gestalten, weil diese Worte getragener, etwas

gedehnter gesungen werden.

Die Orgel wird durch ein kurzes Vorspiel alle Intonationen einlei-

ten. Außerdem kann sie bei einigen Gesängen Nachspiele auffüh-

ren. Die entsprechenden Partituren sind in diesem Graduale ent-

halten. Für das Orgelspiel, sei es Intonation, Nachspiel oder Be-

gleitung, wurde die frühe Falsobordone - Technik angewandt. Der

Cantus firmus liegt dabei ausschließlich in der Oberstimme und ist

meist die gregorianische Originalweise selbst.2) Dem Cantus fir-

mus wurden absichtlich nur zwei Gegenstimmen beigefügt. Wie

zahlreiche Kenner der Interaktion zwischen Instrumentalspiel und

menschlicher Stimme bin ich auch der Meinung, daß das Orgel-

spiel nur in dieser eingeschränkte Form dem Gregorianischen

Choral behilflich und nicht hinderlich sein kann. Folgendes Zitat

soll zur Begründung genügen:

�Muß man eine Begleitung dulden, so wäre jene absolut diatonische die

erträglichste, die aus dreitönigen Akkorden besteht, welche die Betonung

des Wortes und die Interpunktion des Satzes beachten.�3)

1) Joseph Pothier, Der Gregorianische Choral: Seine ursprüngliche Gestalt und geschichtli-

che Überlieferung. Deutsche Übersetzung von P. Kienle OSB (Tournay: Desclée, 1881)

162. 2) Für die theoretische Begründung siehe u.a. Murray C. Brandshaw, The Falsobordone: A

Study in Renaissance and Baroque Musik (Neuhausen-Stuttgart: Hänssler-Verlag, 1978) 73 ff. 3) Aldo Ottolenghi, Canto Gregoriano (Milano: Ulrico Hoepli, 1911) 31

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Bei den Singproben der Schola sollte darum kein Tasteninstru-

ment benutzt werden. Einerseits wird dadurch gewährleistet, daß

die Gesänge des Gregorianischen Chorals in der reinen Intonation

geübt und auswendig gelernt werden, andererseits erübrigt sich

damit die Anwesenheit des Organisten bei den Proben.

Die Registrierung der Orgelstücke erfordert besondere Sorgfalt:

Sie sind 3stimmig zusammengesetzt, um möglichst getreu die

kompositorische Manier des 16. und 17. Jahrhunderts nachzuah-

men. Um den Eindruck eines �Falsobordone� (falscher Baß) zu

vermitteln, wähle man daher keine Register aus dem Pedal-Werk

der Orgel (auch keine Manual-Pedalkoppel), da damalige Orgeln

pedallos waren. Als Beispiel erwähne ich die im Jahre 1664 erbau-

te und heute noch funktionsfähige Reichel-Orgel der Marktkirche

zu Halle (Saale). Sie ist pedallos und hat nur 6 Register: Prinzipal,

Grob-Gedackt, Spillflöte, Octava, Sesquialter und Super Octava.

Damit die Orgelintonationen aus dem vorliegenden Graduale ihren

Zweck erfüllen, nämlich der Schola ein klares Incipit zu vermit-

teln, ist die Wahl von Registern aus der Flötenfamilie empfehlens-

wert. Zum Beispiel wähle man aus den verfügbaren Flötenregis-

tern der Orgel Gemsrohrflöte 8� allein oder in Kombination mit

Rohrpommer 4�. Für �Tutti� beim Ordinarium Missae wähle man

Gedeckt 8� und Prinzipal 4� (Prinzipal 8� wäre dazu eher ungeeig-

net, weil zu stark). Eine andere Möglichkeit wäre Gedeckt 8� mit

Octava 2�. Für die Nachspiele wähle man Gedeckt 8� mit Prinzipal

4� oder mit Flötgedeckt 4�. Auf alle Fälle wähle man die jeweilige

Kombination immer nach der Faktur des betreffenden Gesangs.

Die Intonation der absoluten Tonhöhe, sowie die Transposition

vom gegenwärtigen ins mittelalterliche Tonsystem, wird durch die

Anwendung von Tonfindungsformeln verwirklicht. Zu diesem

Zweck soll der Scholaleiter den modernen Kammerton1) blasen und

unmittelbar danach die jeweilige Tonfindungsformel solmisieren.

1) Ein Metallröhrchen, das die derzeit offizielle Tonhöhe des Normaltones �a� wiedergibt.

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Die korrekte Anwendung der Tonfindungsformeln und der Sol-

misation entnehme man der CD, die Bestandteil dieses Graduale

ist und einige Gesänge exemplarisch enthält. Darauf befinden sich

auch die im theoretischen Teil dargelegten Singbeispiele und

Übungen. Manche Übungen wurden mehrmals hintereinander

aufgenommen, um das Auswendiglernen zu erleichtern. An der

Stelle im Text, an der im Verlauf der theoretischen Darlegung der

Hinweis �CD� erscheint, besteht die Möglichkeit, sich das Beispiel

oder den Gesang anzuhören. Wenn der Hinweis als �CD und No-

ten� angegeben wird, so ist damit das gleichzeitige Hören und

Mitsingen gemeint. Mit der Angabe �Ende� auf der CD wird das

Ende des vorgestellten Beispiels vermerkt.

Da aus Platzgründen der theoretische und praktische Teil der

Singmethode nach der Editio Vaticana nur in verkürzter Form

dargelegt werden konnte, empfehle ich dem interessierten Leser

dieses Graduale, der mehr über die Grundsätze der reinen Intona-

tion und die Anwendung der Tonfindungsformeln wissen möchte,

sich mit mir per E-Mail über [email protected] in

Verbindung zu setzen.

Die Zusammenstellung der Gesänge und der Verlauf der Kirchen-

feste im Jahreskreis sind dem anfangs erwähnten Ordo Cantus

Missae entnommen. Diese Ausgabe beschränkt sich jedoch auf die

Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres, da Aussicht auf eine Wie-

derbelebung des Gregorianischen Chorals eben nur in diesem Ma-

ße besteht. Damit dieses Kulturgut der europäischen Geschichte

erhalten bleibt, sollte die Einführung des Choralamtes nach dieser

Singmethode idealerweise einmal im Monat in jeder Gemeinde

stattfinden.

Franz Caiter

Lizentiat der Musik

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Heilige Kongregation für den Gottesdienst

Prot. Nr.631/72

D E K R E T

Das 2. Vatikanische Konzil hat in der Liturgiekonstitution (Nr.114

und 117) ausdrücklich erklärt, daß der Schatz des gregorianischen

Gesangs, den die Überlieferung bis in unsere Zeit weitergegeben

hat sorgfältig bewahrt und nach Möglichkeit verwendet werden

solle.

Damit diese Vorschrift verwirklicht werde, zumal nach der Her-

ausgabe der neuen liturgischen Bücher, die entsprechend der Ab-

sicht desselben Vatikanischen Konzils erneuert wurden, erachtete

es diese Heilige Kongregation für den Gottesdienst als angebracht,

einige Dinge bekanntzumachen, durch die das Graduale Romanum

den neuen Gegebenheiten angepaßt werden und kein Text aus dem

authentischen Schatz des gregorianischen Gesangs verlorengehen

soll.

Deshalb hat diese Heilige Kongregation auf Weisung des Heiligen

Vaters Pauls VI. angeordnet, daß jene, welche die Eucharistiefeier

in lateinischer Sprache feiern, beim Zusammenstellen der zu ihr

gehörenden Gesänge diese neue Regelung beachten sollen.

Alle entgegenstehenden Bestimmungen sind hiermit aufgehoben.

Am Sitz der Heiligen Kongregation für den Gottesdienst, am 24.

Juni 1972, dem Fest der Geburt des hl. Johannes des Täufers.

ARTURUS Card. TABERA

Praefectus

A. BUGNINI

Archiep. tit. Diocletianensis

a Secretis

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Kongregation für den Gottesdienst

Prot. 1140/86

D E K R E T

Nach Herausgabe der liturgischen Bücher auf Geheiß des 2. Öku-

menischen Vatikanischen Konzils hat die Kongregation für den

Gottesdienst im Jahre 1972 den ORDO CANTUS MISSAE (Die

Ordnung des Gesanges für die Meßfeier) veröffentlicht, um das

Graduale Romanum an die neuen Dinge anzupassen, damit der

Schatz des gregorianischen Gesanges, den die Überlieferung bis in

unsere Zeit weitergegeben hat, gewissenhaft bewahrt und auf-

rechterhalten wird und auch in den Eucharistiefeiern Verwendung

finden soll.

Nun liegen bereits 14 Jahren zwischen der ersten und der jetzt

veröffentlichten und sorgfältig durchgesehenen Ausgabe des OR-

DO CANTUS MISSAE, damit diejenigen, die sich bei der Zelebra-

tion der Eucharistiefeier der lateinischen Sprache bedienen, beim

Zusammenstellen der zu ihr gehörenden Gesänge diese hier darge-

stellte Regelung beachten sollen.

Die Kongregation für den Gottesdienst macht diese neue Ausgabe

bekannt und erklärt sie als normativ.

Alle entgegenstehenden Bestimmungen sind hiermit aufgehoben.

Erlassen am Sitz der Kongregation für den Gottesdienst, am 22.

November 1986, dem Gedenktag der hl. Cäcilia, Jungfrau und

Märtyrerin.

PAULUS AUGUSTINUS Card. MAYER

Praefectus

VERGILIUS NOÈ

Archiep. Tit. Voncarien.

a Secretis

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VORBEMERKUNGEN Aus Ordo Cantus Missae, Seite 8 ff. Deutsche Übersetzung aus Dokumente zur

Kirchenmusik, Hrsg. Hans B. Meyer SJ und Rudolf Pacik (Pustet: Regensburg,

1981) Seiten 380-389.

I. Die Erneuerung des Graduale Romanum

Die Erneuerung des Generalkalenders und der liturgischen Bü-

cher, vor allem des Meßbuches und des Lektionars, hat etliche Än-

derungen und Anpassungen auch im Graduale Romanum notwen-

dig gemacht. Denn dadurch, daß einige Feiern im liturgischen Jahr

abgeschafft wurden, wie etwa die Vorfastenzeit, die Pfingstoktav,

die Quatember, mußten auch die entsprechenden Meßformulare

wegfallen; da einige Heiligenfeste auf eine andere Zeit des Jahres

verlegt wurden, mußte man geeignete Anpassungen vornehmen;

andererseits mußten für neu eingeführte Meßformulare eigene Ge-

sänge bereitgestellt werden. Ebenso erforderte die neue Ordnung

der biblischen Lesungen, manche Texte, zum Beispiel Kommunion-

Antiphonen, die mit bestimmten Lesungen enger verbunden sind,

auf andere Tage zu verlegen.

Diese Neuordnung des Graduale Romanum erfolgte unter Berück-

sichtigung der Vorschrift von der Bestimmung Nr.114 der Litur-

giekonstitution Sacrosanctum Concilium: �Der Schatz der Kir-

chenmusik möge mit größter Sorge bewahrt und gepflegt werden.�

Der authentische gregorianische Bestand erlitt nämlich keinerlei

Einbuße, ja wurde in gewisser Weise erneuert: jüngere Nachbil-

dungen wurden beseitigt, alte Texte passender verteilt und einige

Richtlinien hinzugefügt, die einen leichteren und abwechslungsrei-

cheren Gebrauch dieses Bestandes ermöglichen sollen.

Besondere Sorgfalt wurde darauf verwendet, den authentischen

gregorianischen Schatz unversehrt zu bewahren. Deshalb wurden

Gesänge von Meßformularen, die sich im liturgischen Jahr nicht

mehr finden, zur Gestaltung anderer Meßformulare herangezogen

(zum Beispiel für die Wochentage des Advents, für die Wochentage

zwischen Christi Himmelfahrt und Pfingsten), oder sie wurden an

die Stelle anderer gesetzt, die im Jahr mehrmals vorkommen (zum

Beispiel in der Fastenzeit oder an den Sonntagen im Jahreskreis),

bzw., wenn es ihre Eigenart zuließ, Heiligengedenktagen zugeteilt.

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Aber es wurden auch etwa 20 authentische gregorianische Gesän-

ge, die im Laufe der Zeit durch verschiedene Änderungen wegge-

fallen waren, wiederum in den Bestand aufgenommen. Desgleichen

wurde dafür gesorgt, daß kein authentischer Gesang verunstaltet

oder verstümmelt werde, wenn gewisse Elemente, die einer liturgi-

schen Zeit etwa weniger entsprechen, entfernt wurden, wie etwa

die Alleluja, die manchmal im Text von Antiphonen mit Noten

vorkommen, welche einen integrierenden Bestandteil der Melodie

ausmachen.

Die Beseitigung von Stücken, die spätere neugregorianische Nach-

bildungen darstellen, besonders an Heiligenfesten, wird bewirken,

daß nur authentische gregorianische Melodien beibehalten werden;

doch können stets jene, die das vorziehen, diese neugregoriani-

schen Melodien weiterhin verwenden. Denn keine von ihnen wird

gänzlich aus dem Graduale Romanum ausgeschieden. Ja einige,

die in den allgemeinen Gebrauch aufgenommen wurden (zum Bei-

spiel Herz-Jesu-Fest, Christkönigsfest, Unbefleckte Empfängnis),

hat man nicht durch andere ersetzt. Dagegen werden an Stelle der

übrigen [neugregorianischen Melodien] Gesänge angeboten, die

aus dem authentischen Bestand ausgewählt sind und die nach

Möglichkeit denselben Text enthalten.

Schließlich wurde darauf geachtet, den von nichtauthentischen

Melodien gereinigten authentischen gregorianischen Bestand bes-

ser zu verteilen, damit zu häufige Wiederholungen derselben Texte

vermieden werden, und an deren Stelle andere Stücke, und zwar

von bester Qualität, aufzunehmen, die nur einmal im Jahr vor-

kommen. Deshalb wurde jede nur erdenkliche Sorgfalt darauf ver-

wendet, die Commune-Formulare zu bereichern, indem man darin

alle Gesänge zusammenfaßte, die nicht eindeutig zu einem be-

stimmten Heiligen gehören und die man deshalb für alle Heiligen

derselben Gruppe heranziehen kann. Die Commune-Formulare

sind außerdem um mehrere Gesänge aus dem Proprium de Tempo-

re bereichert worden, die selten Verwendung fanden. Die Rubriken

bieten überdies weitere Möglichkeiten, aus den neu geordneten

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Commune-Formularen zu schöpfen, so daß auch den pastoralen

Erfordernissen in höherem Maße entsprochen wird.

Aus dem gleichen Grund wird auch die Möglichkeit geboten, unter

den Gesängen für das Proprium de Tempore auszuwählen; denn

anstelle des Eigentextes eines bestimmten Tages darf man, wenn

es angebracht erscheint, einen anderen aus derselben Kirchenjah-

reszeit nehmen.

Auch die Regeln für den Gesang in der Messe, die am Anfang des

Graduale Romanum stehen, wurden so überprüft und verbessert,

daß die Aufgabe eines jeden Gesanges deutlicher hervortritt.

II. Die Ordnung, die beim Gesang in der Messe zu beachten ist

1. Ist die Gemeinde versammelt, beginnt man beim Einzug des

Priesters und jener, die einen besonderen Dienst versehen, mit der

Antiphon zur Eröffnung. Ihre Intonation kann je nach den Gege-

benheiten kürzer oder länger sein, oder noch besser: der Gesang

kann von allen gemeinsam begonnen werden. Das Sternchen (*),

das sich zur Kennzeichnung der Intonation im Graduale findet, ist

also lediglich als Hinweiszeichen zu verstehen.

Nachdem der Chor die Antiphon gesungen hat, soll der Vers vom

Kantor oder von den Kantoren vorgetragen werden; hernach soll

der Chor die Antiphon wiederholen. Dieses wechselweise Singen

von Antiphon und Psalmversen kann so oft erfolgen, wie es zur

Begleitung der Einzugsprozession erforderlich ist. Bevor jedoch die

Antiphon das letzte Mal wiederholt wird, kann als letzter Vers

Gloria Patri � Sicut erat gesungen werden, und zwar als ein Vers.

Wenn das Gloria Patri eine besondere melodische Schlußformel

hat, ist dieselbe bei allen Versen zu verwenden. Sollte es sich erge-

ben, daß durch den Vers Gloria Patri und die Wiederholung der

Antiphon der Gesang zu sehr in die Länge gezogen wird, dann wird

die Doxologie weggelassen. Ist aber die Einzugsprozession eher

kurz, dann nimmt man nur einen Psalmvers oder auch die Anti-

phon allein ohne Vers. Sooft der Messe eine liturgische Prozession

vorausgeht, wird die Antiphon zur Eröffnung gesungen, während

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die Prozession in die Kirche einzieht, oder auch weggelassen, je

nachdem, wie es für die einzelnen Fälle in den liturgischen Bü-

chern vorgesehen ist.

2. Die Rufe des Kyrie, eleison können � je nach den Gegebenheiten

� auf zwei oder drei Kantoren bzw. Chöre aufgeteilt werden. Jeder

Ruf wird in der Regel einmal wiederholt; doch kann man auch wei-

tere Wiederholungen anfügen, sofern sich dies vor allem aus der

musikalischen Form ergibt, wie unten, Nr.491, beschrieben wird.

(An dieser Stelle als Einschub werden die Bestimmungen des § 491

des Ordo Cantus Missae wiedergegeben):

1. Für die gleichbleibenden Gesänge gelten das Kyriale Romanum

und das Kyriale simplex. Wenn auch die Auswahl der Gesänge

in erster Linie von der Begabung und den Fähigkeiten der Sän-

ger abhängt, so soll man doch bei festlicheren Anlässen den rei-

cheren Melodien den Vorzug geben.

2. Für das Kyrie gilt folgendes: Wenn neun Rufe mit ausgedehnter

Notation angegeben sind, dann erfordert die musikalische

�Form�, sie vollständig zu singen. Steht dagegen für die ersten

Rufe des Kyrie nur eine einzige Melodie, die zu wiederholen ist,

dann singt man diesen Ruf lediglich zweimal. Ebenso verfährt

man bei den folgenden Rufen Christe und Kyrie (zum Beispiel

Kyrie V). Wenn jedoch das letzte Kyrie mit einer eigenen Melo-

die versehen ist (zum Beispiel Kyrie I), dann wird das vorher-

gehende Kyrie nur einmal gesungen. Das ist die allgemeine Re-

gelung des Verfahrens, nach der jeder Ruf zu wiederholen ist.

3. Wird das Kyrie als Antwort auf die Anrufungen des Bußaktes

verwendet, so soll man eine dafür geeignete Melodie wählen,

wie etwa Kyrie XVI oder XVIII des Kyriale Romanum bzw. die

Melodien des Kyriale simplex.

4. Wenn sonntags anstelle des Bußaktes die Austeilung des

Weihwassers stattfindet, so sollen die Antiphonen Asperges me,

oder, in der Osterzeit, Vidi aquam, gesungen werden.

3. Den Hymnus Gloria in excelsis stimmt der Priester oder gegebe-

nenfalls der Kantor an. Er wird entweder im Wechsel von Kanto-

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ren und Chor oder alternierend von zwei Chören gesungen. Die

Verseinteilung, wie sie die Doppelstriche im Graduale Romanum

andeuten, muß nicht unbedingt beachtet werden, wenn man eine

geeignetere Form findet, die der Melodie entspricht.

4. Sooft zwei Lesungen vor dem Evangelium vorgesehen sind, wird

die erste, in der Regel dem Alten Testament entnommene, nach

dem Lektions- oder Prophetienton vorgetragen und mit der übli-

chen Form des Punctum abgeschlossen. Der abschließende Ruf

Verbum Domini wird ebenfalls nach der Form des Punctum gesun-

gen; alle antworten darauf Deo gratias nach der am Ende der Le-

sungen üblichen Weise.

5. Nach der ersten Lesung wird das Graduale von den Kantoren

oder vom Chor vorgetragen. Der Vers jedoch wird von den Kanto-

ren oder vom Chor bis zum Schluß gesungen. Auf das Sternchen

(*), das den Einsatz des Chores gegen Ende des Gradualverses, des

Allelujaverses und des letzten Tractusverses bezeichnet, ist also

keine Rücksicht zu nehmen. Wenn es aber angebracht erscheint,

kann man den ersten Teil des Graduale bis zum Vers wiederholen.

In der Osterzeit singt man anstatt des Graduale das Alleluja, wie

unten beschrieben wird.

6. Die zweite, dem Neuen Testament entnommene Lesung wird im

Epistelton gesungen, mit der ihr eigenen Schlußklausel. Man kann

sie aber auch im Ton der ersten Lesung singen. Der abschließende

Ruf Verbum Domini wird nach der in den toni communes angege-

benen Melodie gesungen; alle antworten Deo gratias.

7. Nach der zweiten Lesung folgt das Alleluja oder der Tractus.

Für den Vortrag des Alleluja gilt folgende Regel: Das Alleluja mit

seinem Jubilus wird von den Kantoren ganz gesungen und vom

Chor wiederholt. Je nach den Gegebenheiten kann es jedoch nur

einmal von allen gesungen werden. Der Vers wird von den Kanto-

ren bis zum Schluß vorgetragen; danach wiederholen alle das Alle-

luja. In der Fastenzeit singt man an Stelle des Alleluja den Trac-

tus, dessen Verse im Wechsel zwischen zwei Hälften des Chores

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oder zwischen Kantoren und Chor vorgetragen werden. Den letz-

ten Vers können alle singen.

8. Die Sequenz wird gegebenenfalls nach dem letzten Alleluja im

Wechsel zwischen Kantoren und Chor oder zwischen zwei Hälften

des Chores gesungen, ohne Amen am Schluß. Wird das Alleluja

mit seinem Vers nicht gesungen, so fällt auch die Sequenz weg.

9. Sooft nur eine Lesung vor dem Evangelium vorgetragen wird,

singt man anschließend das Gradualresponsorium oder das Allelu-

ja mit seinem Vers. In der Osterzeit wird eines der beiden Alleluja

gesungen.

10. Dem gesungenen Evangelium wird nach der ihm eigenen

Schlußklausel der Abschlußruf Verbum Domini angefügt, wie er in

der toni communes angegeben ist; alle antworten dann: Laus tibi,

Christe.

11. Das Credo wird in der Regel von allen gemeinsam oder im

Wechsel gesungen.

12. Das Allgemeine Gebet wird nach den örtlichen Gewohnheiten

vollzogen.

13. Nach der Antiphon zur Gabenbereitung können gemäß der Ü-

berlieferung Psalmverse gesungen werden, die man jedoch immer

weglassen kann, auch in der Antiphon der Totenmessen Domine

Jesu Christe. Nach den einzelnen Versen wird ein hierfür geeigne-

ter Teil der Antiphon wiederholt.

14. Nach der Präfation singen alle das Sanctus; nach der Wand-

lung die anamnetische Akklamation: [Mortem tuam annuntiámus,

Dómine, et tuam resurrectiónem confitémur, donec vénias.]

15. Nach der Doxologie des Eucharistiegebetes antworten alle mit

Amen. Danach trägt der Priester allein die Einleitung zum Gebet

des Herrn vor; dieses sprechen alle gemeinsam mit ihm.

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Er fügt dann allein den Embolismus an, den alle mit der Doxologie

abschließen.

16. Während der Brotbrechung und der Mischung der Gestalten

wird von den Kantoren unter Beteiligung aller das Agnus Dei ge-

sungen. Diesen Ruf kann man entsprechend seiner musikalischen

Form so oft wiederholen, wie es zur Begleitung des Brotbrechens

erforderlich ist. Der letzte Ruf schließt mit den Worten: dona nobis

pacem.

17. Während der Priester den Leib des Herrn empfängt, stimmt

man die Antiphon zur Kommunion an. Der Gesang wird in dersel-

ben Weise wie der Gesang zur Eröffnung ausgeführt, jedoch so,

daß die Kantoren leicht kommunizieren können.

18. Nach dem Segen des Priesters ruft der Diakon: Ite, missa est,

und alle antworten: Deo gratias.

III. Zum Gebrauch des Ordo Cantus Missae

19. Da man eine große Zahl von Lesungen in das Römische Meß-

buch eingeführt hat, während die überlieferten Gesänge der Messe

nicht verändert werden konnten, wird dasselbe Gesangformular

mit verschiedenen Lesungen verbunden entsprechend dem drei-

jährigen Sonntagszyklus A, B, C des Lektionars. Ebenso sind für

die Wochentage die Gesänge des vorhergehenden Sonntags wie-

derverwendet; diese werden sowohl mit den jedem Tag der beson-

ders geprägten Zeiten (Advent, Fasten- und Osterzeit) zugeordne-

ten Lesungen verbunden wie mit der ersten Lesung der Zeit im

Jahreskreis entsprechend dem Zweijahreszyklus I und II.

Es ist klar, daß Gesänge, die in einer mehr oder weniger engen Be-

ziehung zu den Lesungen stehen, diesen bei einer etwaigen Verle-

gung folgen müssen.

20. In das Proprium de Tempore etwa einzuführende Änderungen

werden im vorliegenden Ordo Cantus Missae nach jedem Grund-

formular durch folgende Abkürzungen bezeichnet:

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A, B und C für Sonntage, Hochfeste und einige Feste;

I und II mit den Ziffern der Wochentage (Samstag wird mit 7 be-

zeichnet) für die Tage im Jahreskreis;

Wochentagsziffern allein für die Wochentage der übrigen Zeiten.

Diese Abkürzungen verweisen auf den zweiten Teil [des Ordo Can-

tus Missae], in dem alle Änderungen zusammengestellt sind (Nr.

136-141).

21. Der wichtigste Grundsatz, welchem der vorliegende Ordo Can-

tus Missae folgt, besteht in dem Bestreben, die Ordnung des Römi-

schen Meßbuches so weit wie möglich zu berücksichtigen. Aus die-

sem Grund finden sich einige verlegte oder veränderte Gesangfor-

mulare.

Die Kommunionpsalmen

22. Die Numerierung der Psalmen und Psalmverse ist der �nova

Vulgata� (Vatikandruckerei 1969) entnommen. Diese Verse und

Versteile folgen in ihrer Einteilung derjenigen der Liturgia Hora-

rum (Vatikandruckerei 1971).

23. Ein Sternchen (*) nach der Ziffer des Psalms zeigt an, daß die

Antiphon nicht aus dem Psalter stammt und daher der Psalm zum

beliebigen Gebrauch vorgeschlagen ist. In diesem Fall kann man

statt dessen einen anderen Psalm, der besser erscheint, nehmen,

z.B. Psalm 33, der gemäß alter Überlieferung bei der Kommunion

verwendet wird.

Wenn Psalm 33 als Psalm zur Kommunion angegeben ist, werden

meist keine ausgewählte Verse vorgeschlagen, da sich alle Verse

gut eignen.

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Form und Ausführung der Gesangnoten (Auszug aus dem Graduale der Editio Typica 1908)

Der richtigen Aufführung des Gesangs ist sehr dienlich jene Art

und Weise, die Noten zu schreiben und zu verbinden, welche von

den Alten eingeführt und das ganze Mittelalter hindurch überall

praktiziert wurde; diese empfiehlt sich auch heute noch den Her-

ausgebern der Choralbücher. In der folgenden Tabelle werden die

hauptsächlichsten Formen der Noten und Notengruppen (Neumen

genannt) zugleich mit ihren Namen aufgeführt:

Punctum Virga Bivirga Punctum inclinatum

Podatus bzw. Pes Clivis bzw. Flexa Epiphonus Cephalicus

Scandicus Salicus Climacus Ancus Torculus

Porrectus Porrectus flexus Torculus resupinus Climacus resupinus

Pes subpunctis Scandicus subpunctis Scandicus flexus Strophicus

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Pes strophicus Clivis strophica Torculus strophicus Pressus Andere Formen des Pressus

Weitere Formen des Pressus T r i g o n Q u i l i s m a

L ä n g e r e zusammengesetzte N e u m e n

Damit künftig kein Irrtum oder Zweifel bezüglich der Auffassung

und Wiedergabe dieser Formen entstehe, sei folgendes bemerkt:

1. Von den beiden Noten, aus denen der Podátus besteht, ist die

untere Note stets vor der über ihr stehenden Note zu singen:

fa - sol re - la sol - do

2. Die dicke, schräg abwärts gezogene Linie des Porréctus bedeutet

nur zwei Noten, und zwar gibt die obere Spitze der Linie die eine

Note, die untere Spitze die andere an:

la - sol - la la - fa - sol sol - mi - sol fa - sol - re - mi 3. Die Halbnote des Cephálicus und Epiphónus (für die Form die-

ser Neumen siehe Seite 19) befindet sich nur am Ende einer Silbe,

wenn gleichzeitig entweder zwei nach Art der Doppellaute verbun-

dene Vokale zu singen sind, zum Beispiel AUtem, Ejus, allelUIa,

oder mehrere Mitlaute unmittelbar folgen, zum Beispiel oMNis,

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saNCTus. Es liegt sozusagen in der Natur der Silben, daß die

Stimme beim leichten Übergang von der einen zur anderen ir-

gendwie �zerfließt�, indem sie, wie im Munde eingeschlossen

�scheinbar nicht bis zu Ende kommt� und so gewissermaßen die

Hälfte, nicht zwar ihrer Dauer, wohl aber ihrer Kraft einbüßt.

(Vgl. Guido von Arezzo, Micrologus, c. XV.)

Wenn aber die Natur der Silben verlangt, daß der Laut nicht zer-

fließe, sondern bis zu Ende �voller gesungen� werde, so tritt an die

Stelle des Epiphónus der Podátus, und an die Stelle des Cephálicus

die Clívis.

Epiphónus Podátus Cephálicus Clívis

A sum- mo. In so- le. Te lau- dat. Sol- vé- bant. Zuweilen zerfließen auch die zwei oder die letzte von zwei Noten,

die nach Art des Clímacus auf eine andere, höhere, eine Virga, fol-

gen; dann werden beide kleiner geschrieben bzw. wie ein der Virga

abwärts folgender Cephálicus. Diese dem Clímacus verwandte

Neume wird Áncus genannt. (Für die Form des Áncus siehe Seite

19).

4. Wenn, wie im Stróphicus oder im Préssus und ähnlichen Noten-

gruppen, mehrere einfache Noten auf derselben Stufe nahe beiein-

ander stehen, so ist auf ihnen mit �veränderlichem Ton�, das heißt

mit �bebender Stimme� zu verweilen, wobei die Stimme mehr oder

weniger zu beben hat und zwar wie die Zahl der Noten angibt.

Stróphicus und Préssus unterscheiden sich insofern, als der letzte-

re mit stärkerer oder � wenigstens steht es frei � mit �bebender

Stimme� zu singen ist, der Stróphicus aber mit milder oder ruhi-

ger, vorausgesetzt, daß nicht etwa die Betonung der unterlegten

Silbe einen größeren Nachdruck erfordert.

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5. Noch eine andere Note gibt es, welche mit bebender Stimme zu

singen ist, das ist Quilísma. Dieses tritt im Gesang als eine �melo-

dische Verzierung� auf und heißt bewegliche und nach oben stre-

bende Note. Wer diese bebenden und beweglichen Töne nicht zu

singen gelernt hat, oder - auch wenn er darin geübt ist - mit ande-

ren zusammen singt, möge die dem Quilísma vorangehende Note

etwas kräftiger ansingen, damit so der Ton des Quilísma von

selbst, zwar nicht kürzer, aber doch leichter und feiner erklingt.

6. Das Schwänzchen, mit dem die oberste Note des Clímacus, der

Clívis und des Porréctus versehen wird, ist ein Merkmal und ge-

hört zur �Eigentümlichkeit� ihrer Gestalt, wie die Alten sie im

Gebrauch hatten. Solche Noten werden oft etwas kräftiger

angesungen, nicht weil sie geschwänzt sind, sondern weil sie, ohne

die unmittelbare Verbindung mit der vorhergehenden, einen neuen

Stimmanstoß empfangen. Die manchmal von einer Note zur ande-

ren geführte Linie dient lediglich zur Verbindung.

7. Auch die schräg liegenden Punkte, die in einigen Notengruppen

der höherstehenden Note folgen (siehe Clímacus oder Scándicus

subpunctis Seite 19), wollen an sich nichts über die Zeitdauer an-

deuten; nur der Zusammenhang mit der vorhergehenden Note

wird durch ihre Form und schräge Stellung angezeigt, daher sind

sie mit ihr in einem Zuge zu singen.

Die verschiedenen einzelnen Neumen, mögen ihre Teile wie immer

in der Notenschrift zusammengesetzt sein, bilden jedesmal beim

Singen ein Ganzes, dergestalt, daß die der ersten folgenden Noten

aus ihr gewissermaßen herausfließen und mit ihr in einem unun-

terbrochenen Lauf herausströmen.

Derselbe Grund aber, der einerseits zur Verbindung der Noten ei-

ner Notengruppe sowohl in der Notenschrift als auch im Gesang

führt, fordert andererseits, daß die Neumen voneinander fürs Auge

und Ohr geschieden werden. Dies geschieht je nach den Umstän-

den in verschiedener Weise und zwar:

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1. Wenn mehrere Neumen zu ebensovielen Silben gehören, so wer-

den sie gleich diesen deutlich voneinander geschieden. Jede Neume

entlehnt dann von der Silbe, der sie zugeteilt ist, ihre Beschaffen-

heit und ihr Gewicht, so daß die Neume mit um so mehr Nach-

druck gesungen wird, je stärker die Silbe selbst betont ist, mit um

so weniger, je schwächeren Laut die Silbe ihrer Natur nach ver-

langt.

2. Treffen auf eine Silbe mehrere Neumen, so kann die Reihe in

verschiedenartige Unterabteilungen zerfallen: einige Neumen

hängen unter sich ganz oder fast ganz zusammen und werden in

einem ununterbrochenen Zuge gesungen (siehe bei A); andere sind

durch einen größeren Zwischenraum (siehe bei B) oder einen klei-

nen Teilungsstrich (siehe bei C) von den folgenden getrennt: dabei

wird der Fluß der Melodie durch ein Verweilen auf der letzten No-

te (mora vocis) ein wenig aufgehalten, und zugleich darf, wenn nö-

tig, schnell Atem geholt werden.

D B A C D B A C A B

Ky- ri- e * **

e- lé- i- son. Zu beachten ist außerdem noch, daß ein größeres Verweilen (je-

doch ohne Atemholen) angezeigt ist, wo der geschwänzten Note

nach einem kleinen Zwischenraum eine sich ihr unterordnende

Neume folgt (siehe bei D).

Gemäß der �goldenen� Regel darf am Ende einer Neume, auf die

unmittelbar eine neue Silbe im selben Wort folgt, niemals eine Un-

terbrechung stattfinden, obwohl in der Notenschrift ein Zwischen-

raum gelassen ist: auf der letzten Note darf also durchaus nicht

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länger verweilt werden, und noch weniger darf die Stimme ganz

aussetzen, weil dadurch das Wort in ungebührlicher Weise zerris-

sen würde.

Beim Singen sind stets die verschiedenen Grade der Teilung, wel-

che das Verständnis sowohl der Worte als auch der Melodien ver-

langt oder zuläßt, wohl zu beachten. Als Anhaltspunkte dienen den

Sängern zu diesem Zwecke die Pausen, die in den Choralbüchern

von früher her in Gebrauch sind und die das Maß der Unterbre-

chungen oder Pausen angeben wie folgt:

1. Bei der größeren Trennung, der Abteilungspause, tritt bei den

letzten Noten eine mäßige Verlangsamung des Melodieflusses ein,

und wird ausgiebig Atem geschöpft.

2. Die kleinere Pause, die der Unterabteilung, gestattet etwas zu

verweilen und zugleich kurz Atem zu holen.

3. Die kleinste Pause besteht aus einem ganz kurzen Verweilen

und erlaubt, sofern es nötig ist, ganz kurz Atem zu holen. Glaubt

der Sänger, öfter den Atem erneuern zu müssen, dann tue er es

möglichst unauffällig, wo in der Rede oder im Gesang kleine Ein-

schnitte vorhanden sind, damit niemals Worte oder Neumen aus-

einander gerissen werden.

4. Die Doppellinie hat gewöhnlich in den Choralbüchern noch eine

andere Aufgabe; sie gibt nämlich die Stelle an, wo nach dem An-

stimmen des Gesanges der ganze Chor fortzufahren beginnt, oder

wo sich die Sänger ablösen. Weil aber dieses Zeichen mitten in ei-

ner Abteilung des Gesanges dessen Zusammenhang beeinträchti-

gen könnte, so schien es angemessener, statt desselben zu glei-

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chem Zwecke das Sternchen (*) zu verwenden, wie in dem oben

gegebenen Beispiel Kyrie eléison zu sehen ist.

Hier und in ähnlichen Fällen wird ein einfaches Sternchen gesetzt,

wenn der eine Chor schweigen soll, damit der andere allein begin-

ne; ein Doppelsternchen aber, wenn von da an beide Chöre zu-

sammen singen sollen, so daß der Gesang von der Gesamtheit der

Stimmen zu Ende geführt wird.

Es sei noch darauf hingewiesen, daß das b molle ( ), wo es gesetzt wird, nur Geltung hat bis b quadratum () als Zeichen der Auflö-sung oder ein Teilungsstrich eintritt oder ein neues Wort beginnt.

In Anbetracht all dieses ist es wohl notwendig, daß diejenigen,

welche das Lob Gottes singen wollen, sich mit allen Regeln des Ge-

sangs recht vertraut machen und dieselben sorgfältig beobachten;

aber immer so, daß Herz und Mund in eins zusammenstimmen. Es

möge darum vor allem dafür Sorge getragen werden, daß man die

Worte, die man singt, auch wirklich vollkommen verstehe (Bene-

dikt XIV.), denn der Gesang soll nicht den Sinn der Worte auslee-

ren, sondern ihn bereichern. (Hl. Bernhard, Brief 312.)

Bei allen Lesungs-, Psalm- und Gesangtexten soll Betonung und

Zusammenhang der Worte soviel wie möglich beachtet werden,

denn davon hängt das Verständnis zum großen Teil ab (Instituta

Patrum).

Auch ist große Sorgfalt darauf zu verwenden, daß die heiligen Ge-

sänge nicht durch ungleichmäßiges Singen verunstaltet werden.

Keine Neume oder Note soll über das Maß hinaus verlängert oder

verkürzt wiedergegeben werden. In gleichem Fluß sollen wir sin-

gen, zu gleicher Zeit aufhören und immer einer dem anderen zuhö-

ren. Singen wir getragen, dann soll auch die Pause länger sein.

Damit im Chorgesang, was durchaus sehr notwendig ist, alle

Stimmen sich miteinander verschmelzen, bestrebe sich jeder de-

mütig, seine Stimme aus dem Gesamtklang des Chores nicht her-

vorstechen zu lassen. Alles Unnatürliche und Gesuchte in der

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Stimme, alles Eitle und Auffallende sollen wir verabscheuen, wie

auch alles, was an Theatersitten erinnert. Auch wollen wir weder

jene nachahmen, welche zu schnell singen, noch diejenige, welche

die Silben allzulangsam daherschleppen. Bei allen Gesängen, ob

wir langsam oder schnell singen, sollen wir die Töne immer leicht

und geläufig, die Melodie rund ausführen (Hucbald. Nicetas. Insti-

tuta Patrum).

Diese Anweisungen haben wir von den Vätern übernommen, wel-

che diese Art zu singen von den Engeln gelernt haben, andere er-

faßten sie durch Betrachtung, während der Heilige Geist in ihren

Herzen wirkte. Wenn wir eifrig darum bemüht sind, ihre Singwei-

se nachzuahmen, dann werden wir auch Einsicht und süße Seelen-

freude genießen, indem wir Gott singen in unserem Herzen mit

Geist und Verstand (Instituta Patrum).

Diejenigen, welche in der Kirche Gottes das Amt des Sängers aus-

zuüben haben, müssen nun wohl auch über die Gebräuche ihres

Amtes unterrichtet sein. Darum folgen hierunter die wichtigsten

Regeln über die Gebräuche, die bei den Gesängen des Graduale zu

beachten sind.1)

Die Aussprache des Latein

Das vorliegende Graduale basiert auf der römischen Aussprache

des Latein. Die Römer haben ihr Alphabet ungefähr sechs Jahr-

hunderte vor Christus von den Etruskern übernommen. Ursprüng-

lich waren es 22 Buchstaben, die sie verwendeten: a, b, c, d, e, f, g,

h, i, k, l, m, n, o, p, q, r, s, t, u, x, z. Darunter waren Selbstlaute

(Vokale): a, e, i, o, u. Die übrigen anderen waren Mitlaute (Konso-

nanten). Später kamen j und y hinzu als Varianten des Selbstlau-

tes i.

1) In der Editio Typica aus dem Jahre 1908 folgen hier die damals geltenden

Regeln. Dieses Kapitel wird nicht mehr abgedruckt, denn gegenwärtig gel-

ten die Regeln des Ordo Cantus Missae. (Siehe Seite 13 Nummer 1 bis 23.)

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Die Schreibweise j für i wurde benutzt, um die Bildung einer einzi-

gen Silbe bei der Verbindung des Selbstlautes i mit einem anderen

Selbstlaut anzuzeigen. Die beiden Selbstlaute wurden in diesem

Fall zusammen und nicht getrennt ausgesprochen: ja, je, jo, ju.

Beispiel für ja: Alea jacta est ! (Der Würfel ist gefallen ! Angebli-

cher Ausspruch Caesars beim Beginn des Bürgerkrieges im Jahre

49 vor Christus.) Die Silbentrennung lautet: A-le-a ja-cta est. Da-

gegen beim Wort Glória (auch eine Verbindung zwischen i und a)

lautet die Silbentrennung: Gló-ri-a und nicht Gló-ria.

Eine Ausnahme bildet das Wort Allelúia in dem die Silbentren-

nung Al-le-lú-ia und nicht Al-le-lú-i-a lautet. Die deutsche

Schreibweise des Wortes Alleluja (mit j statt i) hat bis vor kurzem

diesem Sachverhalt Rechnung getragen.

Beispiel für je: Jé-sus, Ma-je-stá-tis. Dagegen: Sa-pi-én-ti-a.

Beispiel für jo: Jó-seph, má-jor. Dagegen: Fí-li-o, glo-ri-ó-sus.

Beispiel für ju: Ju-rá-vit, é-jus. Dagegen: Fí-li-us, á-li-us.

Der Buchstabe y wurde später für die griechischen Worte einge-

führt, in denen y anstelle des i vorkommt, um der griechischen

Schreibweise Rechnung zu tragen. Beispiel: Dionysius (griechisch

Dionysos = Gott des Weines). Ein Relikt aus der urchristlichen Zeit

ist uns hierfür unverändert überliefert: Kyrie eléison, das wort-

wörtlich Eingang in die römische Liturgie fand und nicht übersetzt

wurde.

Sowohl j als auch y werden ausnahmslos wie i ausgesprochen. Es

wird besonders darauf hingewiesen, daß die Aussprache des y zwar

ein etwas dunkleres i, keineswegs aber ü sein soll. Kyrie eléison

zum Beispiel soll besser Kiriä eläison und keineswegs Küriä eläi-

son ausgesprochen werden.

Der Buchstabe k existiert nur im Wort kalendae (der erste Tag ei-

nes Monats).

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Der Buchstabe h wird aspiriert. Im Wort mihi zum Beispiel wird h

wie im deutschen Wort hier ausgesprochen. Die Verbindung ch

wird aber wie k ausgesprochen.

Die Doppellaute ae und oe werden wie e ausgesprochen. Sollen sie

getrennt ausgesprochen werden, so wird der Buchstabe e wie ë

ausgeschrieben: aëris, poëta.

Die Kombinationen ei, eu und ie werden immer als zwei selbstän-

dige Silben ausgesprochen: e-i, e-u, i-e. Die Kombinationen c+e (i)

und g+e (i) werden tsche, tschi und dsche, dschi ausgesprochen.

Paradebeispiele dazu sind die zwei allbekannten Namen Caesar

und Cicero, welche im römischen Latein der katholischen Kirche

immer Tschesar und Tschitschero ausgesprochen werden müssen.

Agere soll adschärä und Virginis wirdschinis ausgesprochen wer-

den. Ein oft gemachter Fehler wird bei der Aussprache des Wortes

�Regina� beobachtet, da dieses Wort bei uns als Name verwendet

wird. Die Kombination gi soll auch hier wie im italienischen Na-

men Luigi ausgesprochen werden.

Die Kombinationen xc+e und xc+i werden kstsche und kstschi aus-

gesprochen. Beispiele: excelsis soll äkstschälsis und excito

äkstschito ausgesprochen werden.

Die Kombinationen cc+e und cc+i werden ktsche und ktschi ausge-

sprochen. Beispiele: ecce wird äktsche und accipite aktschipite

ausgesprochen.

Die Konsonantenverbindung gn ist buchstäblich so auszusprechen.

Als Beispiel gilt die Aussprache des im deutschsprachigen Raum

bekannten Namens Magnus (vgl. Albertus Magnus). Die Ausspra-

che nach dem französischen Wort agneau oder dem spanischen ni-

ño ist zu vermeiden, weil diese Sprechweise einer historisch späte-

ren sprachlichen Entwicklung dieser jeweiligen Völker zuzurech-

nen ist.

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Die Konsonantenverbindung ti vor einem Selbstlaut wird �zi� aus-

gesprochen. Das Wort Justitia wird wie unser Begriff dafür (die

Justiz) ausgesprochen. Dieselbe Verbindung wird aber nach den

Mitlauten s, t und x buchstabengetreu wiedergegeben. Beispiele:

ostium, mixtio, Bruttius. Das Wort totius wird ausnahmsweise

buchstabengetreu und nicht tozius ausgesprochen.

Verdoppelte Mitlaute werden länger ausgesprochen: terra, missio.

Die Quantität und die Betonung der Silben

Die einfachen Selbstlaute können lang oder kurz sein. Sie sind

lang nur wenn sie mit einem Akzent versehen sind und kurz, wenn

sie keinen Akzent haben. Ein Beispiel für a im selben Teil eines

Wortes: compará-vi und compara-tióne, veranschaulicht am besten

diesen Unterschied:

comparávi (�á� hat den Akzent: ist lang)

comparatióne (�a� hat keinen Akzent mehr: ist kurz)

Die Worte im Latein können nur einen einzigen Akzent haben. Die

einsilbigen Worte haben den Akzent auf dieser einzigen Silbe, auch

wenn dies schriftlich nicht angezeigt wird. Beispiel: nón. Die zwei-

silbigen Worte haben den Akzent auf der ersten Silbe. Beispiel:

Páter, óra (auch hier werden schriftlich keine Akzente ange-

bracht). Die drei- und mehrsilbigen Worte haben gewöhnlich den

Akzent auf der vorletzten Silbe. Es gibt aber genug Fälle, in denen

die Betonung nicht auf der vorletzten, sondern auf der vorvorletz-

ten Silbe liegt. Dies wird immer schriftlich angezeigt. Die Beto-

nung der Worte spielt in der Deklamation des Textes, wie zu zei-

gen sein wird, eine sehr wichtige Rolle.

Die Römer haben die betonten Silben etwa doppelt so lang wie die

nichtbetonten ausgesprochen. Dies muß auch im Gesang berück-

sichtigt werden:

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Ist zum Beispiel die betonte Silbe mit einem punctum und die

nichtbetonte Silbe mit einem podatus oder clivis versehen, so soll

die Dauer der Töne, welche hier zueinander im Verhältnis 1:2 ste-

hen, vergleichbar gleichlang sein (vgl. Guido von Arezzo: Microlo-

gus, Hauptstück XV: �... doch immer entweder durch die Anzahl

der Töne oder im Tonverhältnis miteinander in Beziehung stehen

und sich gegenseitig entsprechen, hier Gleiches dem Gleichen, da

Doppeltes oder Dreifaches dem Einfachen, oder anderweitig im

Verhältnis von 2:3 oder 3:4�).

Durch Betonung der mit einem Akzent versehenen Silben in den

Worten und das Hervorheben bestimmter ganzen Wörter im Satz

entsteht beim Singen des Gregorianischen Chorals nach der Editio

Vaticana der sogenannte �oratorische Rhythmus�. Es ist dies die

Anpassung der Dauer der Töne an die Quantität und die Betonung

der Silben.

Wird die Tondauer für die betonten Silben nicht respektiert, oder

es werden nicht betonte Silben ungebührlich verlängert, so führt

dies zu einem Bedeutungswandel des betreffenden Wortes. Als

Beispiel soll hier der in der römischen Liturgie oft wiederholte Ruf

des Priesters Orémus (Lasset uns beten) dienen: Das Wort hat drei

Silben und die Betonung liegt auf die mittlere Silbe ré : O-ré-mus.

Wird nun O beim Singen ein wenig länger gehalten, so wird Oré-

mus zu O Rémus ! Das bedeutet aber: �Ach, Remus� ! Wird dage-

gen die Silbe mus länger gehalten (etwa im Verhältnis: mus so

lang wie O und re zusammen), so wird daraus Óre mus (zwei Wör-

ter, welche �die Maus mit ihrem Maul� bedeuten). Aus diesem kur-

zen Beispiel sieht man am besten wie wichtig es ist, beim Singen

des Gregorianischen Chorals nach der Editio Vaticana dem Text

und nicht der Melodie Vorrang zu gewähren.

Wie jede indogermanische Sprache, kennt das Lateinische den

Wortton, den Satzton und den Unterscheidungston. An Beispielen

aus der deutschen Sprache sollen diese drei Betonungsmerkmale

verdeutlicht werden:

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a) Wortton: héute, Besúch, Stráßenlampe (Stráße+Lámpe) usw.

(der Wortton liegt auf der betonten Silbe)

b) Satzton: Der Wirtschaftsminister hat ein neues Kraftwerk

in BETRIEB gesetzt.

(Der Satzton ruht auf der Prädikatsergänzung BETRIEB)

c) Unterscheidungston:

Der Unterscheidungston überlagert Satzton und Wortton und

kann von jedem Funktionsteil des Satzes übernommen werden.

Seine Lage ist jeweils vom Redezusammenhang abhängig und wird

durch seine Position im Satzbau bestimmt.

Ein Beispiel: Der Junge hat mir Blumen gebracht.

Erfolgt diese Aussage gleichlaut betont, farblos und monoton wie

eine Computerstimme oder Roboterstimme, so ist der Satz zwar

verständlich, aber nichtssagend, neutral. Werden jedoch verschie-

dene Worte mit dem Unterscheidungston belegt, so ändert sich

dementsprechend auch die Bedeutung dieses Satzes wie folgt:

1. Variante: Das Wort JUNGE wird mit dem Unterscheidungston

belegt. Im Satzbau nimmt das Wort JUNGE die zentrale Stellung

ein: Der JUNGE hat mir Blumen gebracht. Im Sprachbau wird der

Tonfall bis zum Wort JUNGE steigend und dann fallend aufge-

führt. Der Satz wird so verstanden, daß die Blumen von einem

Jungen, und nicht etwa von einem Mädchen gebracht wurden.

Musikalische Umschreibung des Tonfalls:

Der JUN - GE hat mir Blu-men ge-bracht.

2. Variante: Das Wort DER wird mit dem Unterscheidungston be-

legt. Im Satzbau soll jetzt das Wort DER die zentrale Stellung ein-

nehmen. DER Junge hat mir Blumen gebracht. Im Sprachbau wird

der Tonfall ab dem Wort DER fallend aufgeführt. Der Satz wird

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wird nun so verstanden, daß ein bestimmter Junge und kein ande-

rer, die Blumen gebracht hat.

Musikalische Umschreibung des Tonfalls:

DER Jun - ge hat mir Blu- men ge-bracht.

3. Variante: Das Wort MIR wird mit dem Unterscheidungston be-

legt. Im Satzbau nimmt das Wort MIR die zentrale Stellung ein:

Der Junge hat MIR Blumen gebracht.

Im Sprachbau wird der Tonfall bis zum Wort MIR steigend und

dann fallend aufgeführt. Der Satz sagt jetzt aus, daß die Blumen

MIR und nicht dir gebracht wurden.

Musikalische Umschreibung des Tonfalls:

Der Jun - ge hat MIR Blu- men ge-bracht.

4. Variante: Das Wort BLUMEN wird mit dem Unterscheidungs-

ton belegt. Im Satzbau nimmt jetzt das Wort BLUMEN die zentrale

Stellung ein: Der Junge hat mir BLUMEN gebracht. Im Sprachbau

muß entsprechend der Tonfall bis zum Wort BLUMEN steigend

und dann fallend aufgeführt werden. Aus diesem Satz ist nun zu

entnehmen, daß ich BLUMEN und nicht Bücher oder etwas ande-

res bekommen habe.

Musikalische Umschreibung des Tonfalls:

Der Jun - ge hat mir BLU- MEN ge-bracht.

Der Unterscheidungston kann natürlich auch auf mehrere Worte

fallen. Nehmen wir als Beispiel folgende Aussage:

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Die Hast ist eine TYPISCHE ERSCHEINUNG

unserer Zeit. (TYPISCHE ERSCHEINUNG ist

das besondere Merkmal und wird hervorgehoben.)

oder:

DIE HAST ist eine typische Erscheinung unserer

Zeit. (DIE HAST und kein anderes Übel definiert

unsere Zeit.)

oder schließlich:

Die Hast ist eine typische Erscheinung UNSERER ZEIT.

(Und nicht der Gestrigen.)

Im Lateinischen liegt der Wortton auf der betonten Silbe:

Dómine Deus, Agnus Dei, Fílius Pátris.

Der Satzton liegt auf einem ganzen Wort:

...súscipe DEPRECATIÓNEM nostram. (aus dem Glória)

Das mit dem Satzton belegte Wort wird ausgedehnter als die ande-

ren vorgetragen.

Der Unterscheidungston überlagert den Satzton. Ein Beispiel aus

dem Introitus des 15. Sonntags im Jahreskreis:

... et NE DESPÉXERIS deprecatiónem meam.

Die Bedeutung des Wortes deprecatiónem wird hier von dem

Wortkomplex NE DESPÉXERIS überschattet.

Wie bereits erklärt, um die Aussage des heiligen Textes nicht

durch eine gleichlaut betonte und monotone Aufführung des Ge-

sangs zu verdunkeln, werden bestimmte Worte mit dem Unter-

scheidungston belegt.

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Regeln für die Festlegung des Unterscheidungstones

Der Satzton repräsentiert generell den Hauptakzent des oratori-

schen Rhythmus in allen Fällen, in denen der Name Gottes nicht

erwähnt wird. Befindet sich aber der Name Gottes in einem Satz

(auch wenn er dabei nicht die grammatikalische Hauptfunktion

hat und auch wenn er nur als Personalpronomen vorkommt), so

bestimmt er den Hauptakzent des betreffenden Satzes und überla-

gert als Unterscheidungston den Satzton.

Der Name Gottes hat immer Vorrang bei der Betonung. Bis vor

kurzem wurde die Vorrangstellung des Namen Gottes im Text in

allen Übersetzungen durch die Großschreibung der Pronomina

(Deine, Dich usw.) angezeigt: 1)

�So nimm denn, Herr, wir bitten Dich, diese Opfergabe huldvoll an,

die wir, Deine Diener, und Deine ganze Gemeinde Dir darbringen.�

Es war immer der Wunsch der Kirche, daß man dem Namen Got-

tes auch durch äußere Zeichen die Ehre geben muß. Im Missale

Romanum ex Decreto Sacrosancti �cumenici Concilii Vaticani II

instauratum. Auctoritate Pauli PP. VI promulgatum. Ioannis Pauli

PP. II cura recognitum. Editio Typica tertia, Typis Vaticanis, 2002

lesen wir folgendes (Seite 63, Nummer 275):

�Inclinatione significatur reverentia et honor quae personis ipsis

vel eorum signis tribuitur. Duae species inclinationum habentur,

scilicet capitis et corporis:

a) Inclinatio capitis fit cum tres Divinae Personae simul nominan-

tur, et ad nomen Iesu, beatae Mariae Virginis et Sancti in cuius

honorem celebratur Missa.

b) Inclinatio corporis seu inclinatio profunda, fit: ad altare; ad ora-

tiones Munda cor meum et In spíritu humilitátis; in symbolo ad

verba Et incarnátus est; in Canone romano ad verba Súpplices

te rogámus. [...]

1) Das vollständige Römische Meßbuch: lateinisch und deutsch (Schott). (Freiburg: Herder 1954). Seite 474.

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Auf Deutsch:

�Die Verbeugungen bedeuten Ehrfurcht und Ehre, die man Persön-

lichkeiten selbst, oder ihren Bildern zollt. Es gibt zwei Arten von

Verbeugungen, nämlich die Verneigung des Hauptes und die Ver-

beugung des Körpers:

a) Die Verneigung des Hauptes wird geleistet immer dann, wenn

man die drei göttlichen Personen beim Namen nennt, beim

Namen Jesu, der allerseligsten Jungfrau Maria und des Heili-

gen, zu dessen Ehre man die Meßfeier zelebriert.

b) Die Verneigung des Körpers oder tiefe Verbeugung wird geleis-

tet am Altar, beim Gebet Munda cor meum und In spíritu hu-

militátis, im Credo bei den Worten Et incarnátus est, im römi-

schen Kanon bei den Worten Súpplices te rogámus. [...]

Der Priester am Altar muß diese Vorschriften der Kirche einhalten

und sein Haupt bzw. seinen Körper bei den genannten Worten

verneigen. Warum sollte dies sich nicht in Gesang ausdrücken ?

Wenn wir bei den genannten Worten eine spezielle Singweise an-

wenden und getragener, gedehnter bzw. feierlicher singen, so tun

wir dies als ein Zeichen der Ehre und Beachtung. Allein aus die-

sem Grund singen wir den Gregorianischen Choral nach den Vor-

schriften der Editio Vaticana.

Grundsätzlich müssen alle Worte, die einen Bezug zu Gott, zum

Kreuz, zur Mutter Gottes und zu den Namen der Heiligen herstel-

len mit dem Unterscheidungston belegt werden.

Einige Beispiele: SÁNCTA TRÍNITAS (beide Worte werden betont,

da sie in einem untrennbaren Verhältnis stehen); PÁTER MÉUS

(Jesus über Seinen Vater); Vorsicht aber bei PÁTER noster (nur

Pater allein soll betont werden); DÉUS PÁTER OMNÍPOTENS (alle

drei Worte werden gleich hervorgehoben); DÓMINE SÁNCTE

PÁTER; PÁSTOR BÓNUS; SPÍRITUS PARÁCLITUS; SÁNGUIS

CHRÍSTI; dulce LÍGNUM; VÍRGO IMMACULÁTA; REGÍNA COELI

usw.

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Die Vorrangstellung der Worte im Satz muß zudem anhand der

Interpunktionszeichen wie Komma, Semikolon und Doppelpunkt

definiert werden, damit auch im Gesang die wichtigste Eigenschaft

des Lesens, nämlich die richtige Betonung der Wörter, erfolgen

kann.

Hinweise für die Scholaleiter

Generell wird die Schola in zwei Abteilungen geteilt: die Männer-

schola und die Kinderschola (wo es keine Kinder gibt, muß leider

die Männerschola das ganze Pensum bewältigen; gleichfalls wer-

den die Kinder allein singen müssen, wenn es keine Männer gibt).

In der Kinderschola sind auch Mädchen zugelassen, allerdings nur

bis zur Vollendung ihres 12. Lebensjahres, da etwa zu diesem

Zeitpunkt die Mutation der Kinderstimme der Mädchen zur Frau-

enstimme erfolgt, welche für die Aufführung des Gregorianischen

Chorals ungeeignet ist. Die heiligen Gesänge des Graduale wurden

bekanntlich für die Männerstimme komponiert. Natürlich werden

in einem Frauenkloster die Frauen eine Schola bilden. Das muß

aber immer die Ausnahme bleiben.

Der Gregorianische Choral nach der Singmethode der Editio Vati-

cana wird als Vokalmusik bezeichnet: doch weisen seine Struktur,

seine Notation und nicht zuletzt sein Rhythmus andere Grundzüge

auf, als die der gegenwärtigen Vokalmusik. Wie jede Vokalmusik

verbindet er Musik und Sprache: doch in ihrer Bindung an das

Wort bewährt hier die Musik mit Ausnahme der Tonhöhe keine

Eigenständigkeit. Tondauer und Tonstärke tritt sie völlig dem

Wort ab. Motive, Themen und Phrasierung; typische Merkmale

moderner Melodiebildung fallen hier zugunsten einer allein durch

die Neumen frei entfaltete �Tonmalerei� weg. Diese Musik ist eine

spezielle Vokalmusik. Sie wurde auch nicht zum Zweck einer Auf-

führung komponiert. Ihre Aufgabe ist nicht den Menschen als

Konsumgut zu dienen, sondern ihnen die heilige Schrift zu ver-

künden. Ihre feste Bindung an den heiligen Text verleiht ihr die

höchste Auszeichnung, welche die Tonkunst jemals verdient hat:

sie ist sakrale Musik. Wegen ihrer starken Abhängigkeit vom Text

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und ihrer besonderen Struktur kann sie nicht den Regeln und Ge-

pflogenheiten der übrigen Vokalmusik unterworfen werden. Die

Scholaren werden statt Vokalisen Sprechübungen machen müssen.

Stimmbildung ist also nicht mehr angesagt, denn die Liturgie ist

keine musikalische Veranstaltung und die Kirche kein Konzert-

saal. Der Scholasänger muß zwar das Singen lernen, aber zuerst

muß er die Deklamation beherrschen. Sein Singen ist ein deklama-

torisches Singen.

Aufgrund dieser Voraussetzungen mutmaßen wir, daß jedermann

Scholasänger werden kann, sofern er eine gewöhnliche Stimme

hat. Eine gute oder weniger gute Stimme ist dabei unwichtig. Das

Amt des Scholasängers erfordert somit keine besondere musikali-

sche Begabung. Auch der sogenannte �Brummer� kann und soll in

einer Schola mitsingen. Die Kirche stellt hierfür kein Privileg für

musikalisch Begabte auf. Wie jedermann in der Kirche berechtigt

ist zu beten, so soll auch jedermann berechtigt sein zu singen,

denn das Singen in der Kirche wird immer noch als doppeltes Be-

ten bezeichnet. Folgendes Zitat aus der Zeit der Kirchenväter soll

hier als Beleg dieser Aussage dienen: 1)

�Höret ihr, die ihr das Amt habet, Psalmen in der Kirche zu singen. Der

Gesang muß zu Gott nicht mit der Stimme, sondern mit dem Herzen

gerichtet werden. Die Kehle muß sich nicht ausgießen in ein trauriges

Schauspiel, noch der Rachen sich mit einer süßen Salbe schmieren las-

sen, auf daß theatralische Töne und Gesänge in der Kirche gehöret wer-

den, sondern in Furcht, in Fleiß, und in der Wissenschaft der Schriften

muß man sich zeigen. Obschon Einer sey, wie sie selbe zu nennen pfle-

gen, Kakotonos, [schlechter Sänger] ein Nichtkunstverständiger: Er muß

sich aber mit guten Werken bereichern, und alsdenn wird sein Gesang

bey Gott angenehm seyn.�

1) Hl. Hieronymus über das Sendschreiben an die Epheser. Aus: Joseph Binghams, Alterthü-

mer der Kirche, Bd. 5 (Augsburg: Joseph-Wolffische Buchhandlung, 1788), S. 50.

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Auch der große Restaurator des traditionellen Gregorianischen

Chorals, Dom Joseph Pothier OSB (1835-1923), forderte von seinen

Scholaren keine besondere musikalische Begabung: 1)

�Die Perfektion im Ausführen des Gregorianischen Chorals kann nur die

Fertigkeit eines Einzelnen oder einigen Wenigen von uns sein; aber

grundsätzlich verlangt die Aufführung des Gregorianischen Chorals kei-

ne Kunstfertigkeit. Einfach singen, natürlich, das gefällt immer.�

Nur für die Stelle des Scholaleiters ist eine besondere musikalische

Begabung und Ausbildung erforderlich. In Anlehnung an die welt-

liche Vokalpraxis könnte hier der Vergleich zwischen Choristen

und Solisten geltend gemacht werden: Jeder Solist könnte in ei-

nem Chor singen; nicht jeder Chorist dagegen wäre imstande, den

Solopart einer Oper oder ein Konzert zu bewältigen. Darum gibt es

sowohl Choristen als auch Solisten. Auch der Scholaleiter ist ge-

wissermaßen �Solist�, denn ihm obliegt der korrekte Vortrag eines

liturgischen Gesangs während der Proben mit der Schola. Auch

�leitet� er die Schola, das heißt aber nicht, daß er sie �dirigiert�.

Der oratorische Rhythmus des Gregorianischen Chorals, so wie er

uns in der Editio Vaticana begegnet, läßt keine musikwissen-

schaftlich begründete Dirigentenhaltung zu. Darum soll die Schola

nicht während der Liturgie, sondern vorher bei den Proben �gelei-

tet� werden. Und auch dort wird nicht dirigiert, sondern exemplifi-

ziert. Der Scholaleiter solmisiert die betreffende Melodie und singt

sie dann exemplarisch verbunden mit dem zuvor deklamierten

Text vor. Scholaleiter kann also nur derjenige werden, der vorher

eine musikalische Ausbildung absolviert hat.

Bei den Singproben mit der Schola werden die Kinder vorne und

die Männer hinten aufgestellt. Diese Sitz- und Singordnung muß

jederzeit respektiert werden, da auch in der Kirche während der

Liturgie dieselbe Sitzordnung gilt. Nach dem uralten Brauch der

Kirche war der Platz der Kinder immer vorne gewesen. Dort soll

auch der Scholaleiter sitzen oder stehen.

1) Zitiert nach: Pierre Combe OSB, Histoire de la Restauration du Chant Grégorien (Soles-mes: Abbaye Saint-Pierre, 1969), S. 122.

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Wenn der Scholaleiter die Scholaren unterrichtet, so soll er sich

der Schola zuwenden. Wenn er aber vorsingt (exemplifiziert), so

soll er sich umdrehen, um dem künftigen Modus des Singens in der

Kirche gerecht zu werden. Der Scholaleiter soll den Scholaren die-

se Singprozedur erklären und ihnen dies als �Sich-Daran-

Gewöhnen� begründen. Beim Choralamt in der Kirche gleich nach

der Einleitung durch die Orgel setzt der Scholaleiter unmittelbar

an. Die Scholaren werden bald merken, daß es jemanden gibt, der

den Gesang korrekt bzw. vorbildlich aufführt und werden daher

selbst mehr Sicherheit im Singen erlangen. Auch werden sie sich

immer nach ihm richten; wie er singt, wie er die Worte hervorhebt

und vor allem wie er den Gesang anstimmt.

Der Scholaleiter muß viel Einfühlungsvermögen besitzen. Er darf

keinen Scholaren vor den anderen zurechtweisen oder ihn rügen.

Falls er bemerkt, daß einer ständig falsch singt, soll er nur auf die

allgemeine musikalische Regel hinweisen, daß diejenigen, die

�Brummer� sind ein bißchen leiser als die anderen singen sollen

und sich mehr durch hinhören ihr Handikap zu bessern versuchen.

Diese Bemerkung soll er aber nicht im Augenblick des �Falschsin-

gens� machen, denn dadurch würde der �Brummer� bloßgestellt,

sondern bei der nächsten Singprobe der Schola und zwar gleich am

Anfang.

Wer lauter als die anderen singt, soll wiederum nicht gerügt wer-

den. Uns Musiker stört das laut Singen nur, wenn wir vergessen,

daß das Singen in der Kirche ein Gebet und keine Kunstvorfüh-

rung ist. Das Evangelium berichtet oft von den �schreienden� Be-

ter: �... folgten Ihm zwei Blinde, die schrien: �Erbarme Dich unser,

Sohn Davids !�� (Mt 9, 27). Und an anderer Stelle: �Und siehe, ein

Mann aus dem Volke rief laut: �Meister, ich bitte Dich, schau mei-

nen Sohn an, denn er ist mein einziger !�� (Lk 9, 38). Selbst Jesus

hat manchmal laut geredet: �Er aber ergriff ihre Hand und rief:

�Mädchen, steh auf !�� (Lk 8, 54). Natürlich muß der Scholaleiter

die vielen musikalischen Unzulänglichkeiten so weit möglich ver-

bessern versuchen.

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Ein anderes Problem beim Singen - vor allem wenn es um eine

fremde Sprache handelt - ist das Nuscheln der Worte. Der Schola-

leiter soll daher öfters die Scholaren auffordern, die Worte deutlich

und klar auszusprechen. Besonders auf die deutliche Aussprache

der Endungen in �t�, �d� und �r� soll er die Scholaren aufmerksam

machen und dies bereits beim Deklamieren des Textes.

Der Scholaleiter soll sich davor hüten den Scholaren die Dauer der

Neumen mit der Dauer der heute bekannten musikalischen Werte

auch nur vergleichsweise zu erklären. Es gibt keine Entsprechung

zwischen Punctum und eine Viertel- oder Achtelnote. Wie lang ei-

ne Quadratnote ist oder sein soll, hängt ganz und gar von der Be-

schaffenheit und den rhythmischen Stellenwert der ihr zugeteilten

Silbe ab. Was im Schott geschrieben steht (im Anhang �Kyriale für

das Volk�, Seite V), daß alle Noten �gleichviel welche Form� sie

haben dieselbe Dauer in dem Wert einer Achtelnote besitzen, ist

falsch. Namhafte Choralforscher haben bewiesen, daß die Neumen,

sowohl die einfachen als auch die zusammengesetzten nicht gleich-

lang sein können (z.B. Peter Wagner). 1)

Sowohl bei den Proben als auch beim Choralsingen der Schola

während der Liturgie darf keine Orgelbegleitung erfolgen. Eben-

falls ist bei den Singproben kein Klavier oder irgendein anderes

Tasteninstrument zur Begleitung erlaubt. Die Begründung für das

Verbot der Instrumentalbegleitung liegt darin, daß die zwei musi-

kalische Tonquellen, Singstimme (nichttemperiert) und Tastenin-

strument (temperiert) 2) unvereinbar sind.

1) Peter Wagner, �Elemente des gregorianischen Gesangs: zur Einführung in die Vatikani-sche Choralausgabe�. Hrsg. Karl Weinmann, Sammlung: �Kirchenmusik�. (Regensburg: Pustet, 1917), S. 65 (erste Fußnote). 2) Die Temperierung der Tasteninstrumente wurde erstmals 1691 von Andreas Werkmeister (1645-1706) in seiner Schrift: �Musikalische Temperatur oder deutlicher und wahrer mathe-matischer Unterricht, wie man durch die Anweisung des Monochordi ein Clavier, sonderlich die Orgelwerke, Positive, Regale, Spinetten und dergleichen wohltemperiert stimmen kön-ne�, begründet.

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Der dünne Gesang der Schola (zahlenmäßig bedingt) kontrastiert

zu sehr mit der instrumentalen Begleitung. Bei der Begleitung der

großen Masse der Gläubigen ist dieser Kontrast dagegen nicht so

auffallend. Es ist leider ein Faktum, daß die musikalische Ausbil-

dung der Scholaren immer noch mit Hilfe der Tasteninstrumente

(wie Orgel, Harmonium oder Klavier) gemacht wird. Dadurch wird

aber statt der beabsichtigten Ausbildung eher die Verbildung der-

selben erreicht, denn der Gregorianische Choral setzt die natürli-

che Tonordnung voraus, was nichts anderes ist, als die sogenannte

reine Stimmung, wogegen die Tasteninstrumente nur temperierte

Töne erzeugen können. Die menschliche Stimme besitzt von Natur

aus die reine Stimmung. Ihr als �Muster� Tonreihen eines Tasten-

instruments vorzuspielen, hieße ihre natürliche Anlage zu zerstö-

ren. Es gibt in dieser Hinsicht zahlreiche Aussagen, daß der Gre-

gorianische Choral keine instrumentale Begleitung duldet. Ein

Zitat hierfür soll genügen: 1)

�Die modernen Gesangschulen sind für die choralische Ausbildung des

Sängers wenig geeignet. Schon die Übungen der ersten Stufe, die Inter-

vallübungen, stehen in denselben auf modernem Boden. Sie beruhen auf

dem C-Durakkord, der die Grundlage unserer harmonischen, aber nicht

der alten Melodie ist. Dabei wird der Sänger (durch den Gebrauch des

Klaviers oder überhaupt eines Tasteninstrumentes) an die modernen

temperierten Tonverhältnisse gewöhnt, welche zur Harmonie oder doch

zur neueren Musik hinführen, während der Choral die natürliche Ton-

ordnung voraussetzt und auf ihr sein ganz eigenes, individuelles Ton-

und Melodieleben gestaltet.�

Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß die menschliche

Stimme und irgendein Tasteninstrument nicht dieselbe Tonleiter

wiedergeben können. Beim Singen der mittelalterlichen 2) Tonlei-

ter zum Beispiel:

1) Pater Ambrosius Kienle OSB, Choralschule (Freiburg: Herder 1884), S. 2. 2) Aus praktischen Gründen benutzen wir die Tonbezeichnungen Guidos von Arezzo (mit

den späteren Ergänzungen): (ut) do, re, mi, fa, sol, la von ihm hexachordum naturale ge-nannt, dem später der 7. Ton si (si bemolle) hinzugefügt wurde.

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will man dazu ein Tasteninstrument zu Hilfe nehmen und darauf

die (angeblich) gleiche Tonleiter spielen:

dann stimmen eben nur die Anfangstöne �do� und �c� zusammen.

Bereits zwischen �re� und �d� besteht eine Differenz in der

Schwingungsdichte zwischen der Singstimme und dem Tastenin-

strument von 3,9 Cent.1) Dies besagt, daß der Abstand do-re der

Singstimme größer als der Abstand c-d des Tasteninstrumentes

ist. Folgende Aufstellung gibt einen gesamten Überblick der beiden

Tonleitern:

a) temperierte Stimmung (aktuelle Struktur der Tasteninstrumen-

te) Einheitswerte in Cents:

c - d - e - f - g - a - h - c

0 200 400 500 700 900 1100 1200

b) reine Stimmung (mittelalterliche Struktur nach Zarlino) 2) Ein-

heitswerte ebenfalls in Cents:

do - re - mi - fa - sol - la - si - do

0 203,9 386,4 498,2 702,2 884,6 1088,5 1200,3

1) Der englische Physiker John Ellis (1814-1890) hat die Oktave in hundert gleiche Teilchen (Cents) geteilt, um die Berechnung der Intervalle leichter zu machen. 2) Gioseffo Zarlino (1517-1590) hat in seinen Schriften Istitutioni harmoniche und Dimostra-

tioni harmoniche eine nichttemperierte Stimmung dargelegt, in der zu den vom Pythagoras benutzte reinen Quinte (die eigentliche Grundlage der reinen Stimmung) auch eine große

Terz im Verhältnis 5:4 hinzugefügt wird.

do re mi fa sol la si do

c d e f g a h c

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Natürlich kann das durch die gängige Musikpraxis abgestumpfte

Ohr unserer Zeitgenossen diese kleinen Differenzen in der Tonhö-

he kaum wahrnehmen. Die ruhige und andächtige Aufführung des

Gregorianischen Chorals jedoch läßt diese Tondifferenzen zwi-

schen Stimme und Tasteninstrument sehr prägnant in Erschei-

nung treten.

Nach dem ersten gesungenen Amt und jeweils zu Weihnachten,

Ostern und Kirchweihe können Feste mit der Schola organisiert

werden, um den Zusammenhalt und Kollegialität zwischen alt und

jung zu fördern. Mädchen, die ihren 12. Lebensjahr vollendet ha-

ben, werden feierlich verabschiedet. Ebenfalls werden die Männer

ab dem 70. Lebensjahr verabschiedet (im Notfall, das heißt wenn

die Stimme öfters versagt, sogar ab dem 65. Lebensjahr). Jungen,

die in den Stimmbruch kommen (das sind ungefähr 2-3 Monate

während der Pubertät), werden feierlich beurlaubt. Danach kön-

nen sie mit den Männern singen, wobei es wiederum Anlaß zum

Feiern gibt, weil man sie in die Männerschola aufnimmt.

Theorie und Methode des Gregorianischen Chorals

Grundlage aller Theorie der Musik (also auch der des Gregoriani-

schen Chorals) ist die Lehre vom Ton als die elementarste Einheit

aus der die tonale Musik entsteht. In der horizontalen Ebene des

Zeitverlaufs bilden die Töne durch Intervallschritte die Melodie; in

der vertikalen Ebene bilden sie durch den Zusammenklang zweier,

dreier oder mehrerer Töne die Harmonie und die Polyphonie. Be-

kanntlich enthält der Gregorianische Choral nur Melodien. Daher

werden wir diese theoretische Abhandlung allein auf die Tonhö-

henorganisation der Töne (Diastematie) beschränken.

1. Ton und Tonbildung

Die Tonbildung ist ein physikalischer Prozeß. Der Mensch kann

Töne produzieren mit seinem Sing- und Sprechorgan, dem Kehl-

kopf. Die Luft aus der Lunge wird durch die Stimmbänder gepreßt,

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diese schwingen und ihre Schwingungen werden als musikalischer

Ton wahrgenommen. Der Ton ist also Grundvoraussetzung sowohl

für die Musik als auch für die Sprache. Die Umsetzung des Tones

in die zwei verschiedenen Ausdrucksweisen Sprache und Musik,

erfolgt jedoch durch die Anwendung von zwei verschiedenen Vor-

gehensweisen; die Sprache entsteht durch die Artikulation der

Worte und die Vokalmusik durch die Phrasierung der Töne. Im

Gregorianischen Choral, der wie jede Vokalmusik Sprache und

Musik verbindet, werden wir der Artikulation den Vorrang geben,

weil seine Notenschrift mit Ausnahme der Tonhöhe keine Eigen-

ständigkeit besitzt. Tondauer und Tonstärke, wichtige Parameter

für die Melodiebildung im engeren Sinn, fehlen hier gänzlich.

Aus der Akustik (Lehre vom Schall) wissen wir, daß die Schwin-

gungen meßbar sind und zwar in sogenannten �Hertz� (abgekürzt

Hz). Ein Hertz ist demnach die Maßeinheit der Schwingung pro

Sekunde. Der deutsche Physiker Heinrich Rudolf Hertz (1857-

1894) entdeckte die wellenförmige Struktur des Schalls (Schallwel-

len). Nach ihm wurde dann die Maßeinheit einer Schwingung Hz

benannt. Die Tonhöhe nimmt mit der Schwingungszahl zu und die

Tonstärke ist vom Ausschlag des Schwingungsvorgangs (Amplitu-

de) abhängig:

Der produzierte Ton kann laut, halblaut oder leise sein. Ist die

Amplitude maximal, so sprechen oder singen wir laut (forte); ist sie

minimal, so wird das Sprechen oder Singen leise (piano) genannt.

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Dazwischen gibt es die mittlere Sprech- oder Singweise: mezzoforte

(halblaut).

Wir singen gewöhnlich halblaut, so wie wir auch gewöhnlich halb-

laut sprechen. Im Gegensatz zur Sprache aber, die durch Laut-

stärke die Bedeutung eines Wortes im Satz bekräftigt, singen wir

das Wort, das mit dem Unterscheidungston belegt ist nicht lauter,

sondern getragener und deutlicher. Zudem ordnen wir die Wortak-

zente hierarchisch so ein, daß jeder Satz seine Grundbedeutung

beibehält.

2. Notenschrift, Tonnamen, Do- und Fa-Schlüssel

Die Notenschrift des Gregorianischen Chorals heißt Quadratnota-

tion. Sie unterscheidet sich von der modernen musikalischen Nota-

tion durch:

1. die Form der Noten, die auch Neumen genannt werden,

2. die Zahl der Linien im Liniensystem (es gibt nur vier Linien)

und

3. durch ihre Benennung: do, re, mi, fa, sol, la, si statt c, d, e, f, g,

a, h.

Die Tonnamen wurden von Guido von Arezzo (980-1050) erfunden.

Aus einem Hymnus zu Ehren des heiligen Johannes des Täufers

(damals wurde der Heilige als Patron der Kirchensänger geehrt)

hat er die Anfangstöne der Halbverse, welche ganz zufällig mit je-

dem Halbvers eine Tonstufe höher liegen, zu einer Tonskala zu-

sammengesetzt.

Franz Caiter, Graduale für die Sonn- und Feiertage im Jahreskreis.

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t que- ant la- xis re- so- ná- re fibris Mi- ra

gestó- rum fá- mu- li tu- ó- rum, Sol- ve pol- lú-

ti lá- bi- i re- á- tum, Sancte Jo- ánnes.

Die ersten Silben der Halbverse ergaben die Tonsilbennamen, wel-

che seither die Grundlage der Solmisation bilden: UT queant laxis,

REsonáre fibris, MIra gestórum, FAmuli tuórum, SOLve pollúti,

LAbii reátum, Sancte Joánnes.

Die so definierte Tonreihe ut-re-mi-fa-sol-la wurde von ihm Hexa-

chordum naturale genannt. Ut wurde später wegen seines vokali-

schen Ansatzes durch do ersetzt und si als siebter Ton dieser Ton-

reihe (aus den Anfangsbuchstaben von Sancte Joannes) wurde e-

benfalls später hinzugefügt. Die siebte Tonstufe si gilt im Gregori-

anischen Choral als �beweglich� und zwar so, daß sie, je nach Be-

darf, �erniedrigt� werden kann. Die vom si naturale abgeleitete

Tonstufe heißt si bemolle.

Zwei Schlüssel bestimmen die Höhe der Töne im Liniensystem:

Der Do-Schlüssel und der Fa-Schlüssel.

II.

U

Im Gregorianischen Choral findet nur das Erniedrigungszeichen ( ) Verwendung und nur die Tonstufe "si" darf erniedrigt werden. Der Geltungsbereich des Erniedrigungszeichens wurde im Kapitel "Form und Ausführung der Gesangnoten" beschrieben (siehe S.25). Das Auflösungszeichen ( ) bewirkt die Rückkehr zur Stamm- tonstufe "si". In der Solmisation wird die abgeleitete Tonstufe "si" und nicht "si bemolle" gesungen. Allein die gesungene Tonhöhe verrät die geänderte Tonlage des Stammtones "si".

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Do-Schlüssel: Fa-Schlüssel:

do fa

Der Do-Schlüssel steht gewöhnlich auf der vierten Linie und be-

stimmt die schriftliche Höhe des Tones do. Die anderen Töne rich-

ten sich danach und bilden eine Tonreihe, die steigend oder fallend

sein kann. Im folgenden Beispiel ist die Tonreihe fallend:

do si la sol fa mi re do

Der Do-Schlüssel kann wahlweise auf der vierten, der dritten oder

sogar der zweiten Linie stehen; je nachdem, ob die damit aufge-

zeichneten Melodien einen �höheren� oder �tieferen� Verlauf ha-

ben.

do re mi do re mi do re mi fa sol la si Der Fa-Schlüssel steht gewöhnlich auf der dritten Linie und be-

stimmt die schriftliche Höhe des Tones fa:

fa sol la si do si la sol fa mi re do si la

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3. Tonvorrat, Tonsystem, Tonfindungsformeln

Wie bereits erwähnt, wurde der Gregorianische Choral für Män-

nerstimmen komponiert. Die Männerstimme, welche tiefe Töne

produzieren kann, heißt Baß, die welche höhe Töne produziert,

heißt Tenor. Beide Männerstimmen, Baß und Tenor zusammenge-

nommen, verfügen über einen Tonumfang (Ambitus) von 16 Tönen.

Diese werden in graves (tiefe Töne), finales (Schlußtöne), acutae

(hohe Töne) und superacutae (sehr hohe Töne) eingeteilt:

Tiefere Töne als sol von der Gruppe der graves und höhere als la

von der Gruppe der superacutae gibt es im Graduale nicht. Sol gilt

somit als tiefste Stimmgrenze für den Baß und la als höchste

Stimmgrenze für den Tenor. Da normalerweise die ersten drei Tö-

ne aus der Gruppe der graves nur vom Baß und die letzten drei

Töne aus der Gruppe der superacutae nur vom Tenor gesungen

werden können, singen beide Männerstimmen nur etwa die Stre-

cke do-mi zusammen:

do re mi fa sol la si do re mi

graves finales acutae superacutae

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Diese Tonreihe steht nun im Mittelpunkt aller unseren weiteren

theoretischen und praktischen Überlegungen.

Zunächst stellen wir fest, daß sich die Namen der Töne in unserer

Tonreihe in einer höheren oder tieferen Stimmlage wiederholen.

Als Unterscheidungsmerkmal zwischen zwei Tönen, welche den-

selben Namen haben, übernehmen wir daher die Groß- und Klein-

schreibung aus dem Oktavensystem der modernen Theorie der

Musik:

Innerhalb des oben dargelegten Tonsystems kann unsere Tonreihe

also so notiert werden:

C1 D1 E1 F1 G1 A1 H1 C D E F G A H

Kontraoktave große Oktave

c d e f g a h c' d' e' f' g' a' h'

kleine Oktave eingestrichene Oktave

c'' d'' e'' f'' g'' a'' h'' c''' d''' e''' f''' g''' a''' h'''

zweigestrichene Oktave dreigestrichene Oktave

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Hinweis: Man kann anstelle von einem Strich bzw. zwei Strichen bei der Kleinschreibung

auch die Zahlen 1 und 2 zur Unterscheidung der Tonlage benutzen.

Die Benennung der Noten im Gregorianischen Choral nach der

Singmethode der Editio Vaticana erfolgt also in der Klein-

schreibung, welche wir beliebig mit Hilfe des Violin- bzw. des Baß-

Schlüssels darlegen können. Dies entspricht vollkommen der ge-

genwärtigen Vokalpraxis, in der für die Männerstimmen im vier-

stimmigen gemischten Chor die genannten Schlüssel verwendet

werden.

Eine weitere theoretische und praktische Überlegung, welche uns

veranlaßt die Kleinschreibung zu benutzen, ist die festgesetzte

Tonlage des offiziellen Kammertones �a�= 440 Hz. Der offizielle

Kammerton wird nämlich innerhalb der eingestrichenen Oktave

notiert:

In allen unseren Tonfindungsformeln gehen wir von diesem

Stimmton aus. Seine absolute Tonhöhe wird von uns mit Hilfe des

Kammertones festgestellt. Der Kammerton �a� aber (wir werden

ihm von nun an den gregorianischen Namen la geben) wird von der

Männerstimme niemals in seiner tatsächlichen Tonhöhe, sondern

transponiert nach:

do1 re1 mi1 fa1 sol1 la1 si1 do2 re2 mi2

eingestrichene Oktave zweigestrichene Oktave

a'

a

(la)

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das heißt oktaviert gesungen. Trotzdem wird der in dieser Stimm-

lage intonierte Stimmton (einfach als la gesungen) sowohl von den

Frauen, als auch von den Männern als �der� Kammerton schlecht-

hin wiedererkannt.

Der Kammerton wird als Stimmton bezeichnet. Nach seiner ge-

genwärtig festgesetzten Tonhöhe (440 Hz) werden alle Instrumen-

te mit fester, aber auch mit beweglicher Tonhöhe eingestimmt. Die

menschliche Stimme muß sich auch danach richten.

Da unsere Singproben nur mit Hilfe des Kammertons stattfinden,

gehen wir ausschließlich von der Tonlage des la1 aus. Die Tonreihe

wird entsprechend im Rahmen der eingestrichenen Oktave notiert.

Der Do-Schlüssel kann also nur die schriftliche Höhe des Tones

do2 zeigen:

Der Fa-Schlüssel zeigt dann die schriftliche Höhe des Tones fa1 :

fa1 mi1 re1 do1 si la sol In beiden Fällen wird oktaviert, das heißt eine Oktave tiefer ge-

sungen, was im Grunde genommen automatisch geschieht, weil die

Männerstimme von Natur aus eine Oktave tiefer als die Frauen-

stimme intoniert.

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In der Singmethode des Gregorianischen Chorals nach der Editio

Vaticana bewegen wir uns ständig zwischen dem modernen und

dem mittelalterlichen Tonsystem. Die Tonfindungsformeln ermög-

lichen den Wechsel zwischen den beiden Systemen. Sie erfüllen

zugleich mehrere Funktionen. Eine davon ist die Gleichstellung

der Tonhöhe zweier Töne. Folgendes Beispiel (aus dem Graduale

Univérsi vom 1. Adventsonntag) zeigt eine Tonfindungsformel,

welche die Gleichstellung zweier Töne innerhalb einer Oktave be-

wirkt:

Andere Tonfindungsformeln bewirken die Gleichstellung zweier

natürlichen Töne, welche nicht nur in ihrer Tonhöhe, sondern auch

noch in ihrer Benennung verschieden sind. Als Beispiel dient hier

die Tonfindungsformel des Introitus Ad te levávi vom 1. Advent-

sonntag:

Die Anwendung des modernen Do-Schlüssels (er zeigt die schriftli-

che Höhe des Tones do1) sichert die Aufführung des Introitus in

der mittelalterlichen Tonlage.

Es gibt schließlich Tonfindungsformeln, welche die Gleichstellung

zweier Töne bewirken, von denen einer nur im modernen Tonsys-

tem vorkommt. Als Beispiel dient hier die Tonfindungsformel des

Introitus Pópulus Síon vom 2. Adventsonntag:

Franz Caiter, Graduale für die Sonn- und Feiertage im Jahreskreis.

la sol do sol mi do= do

Tonfindungsformel:

= Anfangston.

Ergebnis: Die Töne �do� (eingestri-

chene Oktave) und �do� (kleine

Oktave) wurden in ihrer Tonhöhe

gleichgestellt

la sol do fa= sol

Tonfindungsformel:

= Anfangston.

Anfangston.

Ergebnis: Die Töne �fa� (eingestri-

chene Oktave) und �sol� (kleine Ok-

tave) wurden in ihrer Tonhöhe

gleichgestellt.

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Jede Tonfindungsformel substituiert praktisch die absolute Ton-

höhe eines Tones (vom Kammerton ausgehend festgesetzt) durch

seine relative Tonhöhe, welche im Mittelalter gegolten hat. Zur

Erläuterung dieser Prozedur zeigen wir ein Schema mit den An-

tiphonen: Aspérges me und Vidi aquam. Beide notieren den An-

fangston mit sol1. Beide können aber nicht in dieser Tonlage ge-

sungen werden, weil sie zu hoch ist. Diese Antiphonen wurden also

tiefer intoniert und zwar Aspérges me hat mit dem Ton do1, und

Vidi aquam mit dem Ton fa1 angefangen:

mittelalterliche praktizierte

Notation: Tonlage:

a) Aspérges me si1 si1

(Anfangston sol) la1 la1

sol1 sol1

fa1 fa1

b) Vidi aquam mi1 mi1

(Anfangston sol) re1 re1

do1 do1

Es wurde also im ersten Fall sol gesagt und do gesungen und im

zweiten Fall sol gesagt und fa gesungen.

Somit stellen wir folgendes Prinzip in der Aufführung des Gregori-

anischen Chorals nach der Editio Vaticana fest:

Die relative Tonhöhe eines jeden Tones kann beliebig durch die

absolute Tonhöhe aller anderen Töne ersetzt werden.

Es gilt als sicher, daß in der Aufführungspraxis des Mittelalters so

verfahren wurde, da es damals nachweislich keinen Kammerton

gab. Diesen Grundsatz wollen wir uns zu eigen machen und an-

hand des Stimmtones la1 ebenso verfahren. Für die zwei oben un-

la si si mi= sol

Tonfindungsformel:

= Anfangston des Introitus.

Ergebnis: Die Töne �mi bemolle� (einge-

strichene Oktave) und �sol� (kleine

Oktave) wurden in ihrer Tonhöhe

gleichgestellt.

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tersuchten Beispiele werden daher folgende Tonfindungsformeln

benutzt. Bitte schalten Sie Ihren CD-Player (oder Computer) ein.

Legen Sie bitte die diesem Graduale beigefügte CD ein, klicken Sie

auf �Track01� und verfolgen Sie gleichzeitig unsere weiteren Aus-

führungen.

1. Beispiel Aspérges me (CD-Track01):

Die absolute Tonhöhe des Tones do1 wurde durch die relative Ton-

höhe des Tones sol ersetzt. In der Solmisation wird sol gesagt und

do1 gesungen, denn die tatsächliche Tonlage ändert sich nicht:

2. Beispiel Vidi aquam (CD-Track02):

Die absolute Tonhöhe des Tones fa1 wurde durch die relative Ton-

höhe des Tones sol ersetzt. In der Solmisation wird sol gesagt und

fa1 gesungen, denn die tatsächliche Tonlage ändert sich nicht:

la sol do sol mi do= sol= A - sper - ges me...

Tonfindungsformel: Antiphon:

la sol do fa= sol= Vi - di a - quam...

Tonfindungsformel: Antiphon:

A - sper - ges me...

Vi - di a - quam...

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Von der dritten Funktion der Tonfindungsformeln, der tonalen,

wird noch später zu reden sein.

Schalten Sie bitte Ihren CD-Player (Computer) aus und verfolgen

Sie unsere weiteren Ausführungen. Wir werden Sie zu gegebener

Zeit benachrichtigen, wenn er wieder eingeschaltet werden muß.

4. Intervalle

Der Tonabstand zwischen zwei Tönen heißt Intervall. Ein Intervall

kann größer oder kleiner sein, je nachdem, ob der Abstand zwi-

schen den beiden Tönen, bemessen in Ganztonschritten, größer

oder kleiner ist. In der Tonreihe der sieben natürlichen Töne do-re-

mi-fa-sol-la-si auch Tonstufen genannt, gibt es nur zwei Interval-

le, die als die kleinsten Intervalle gelten. Das sind die Tonabstände

zwischen mi und fa bzw. zwischen si und do. Der Tonabstand be-

trägt hier einen Halbton (Semitonium). Alle anderen Tonabstände

der natürlichen Tonreihe (do-re; re-mi; fa-sol; sol-la und la-si) sind

Ganztonschritte (Tonus). Durch die Erniedrigung des Tones si zu

si bemolle wurde zusätzlich noch ein Semitonium geschaffen (la-si

bemolle). Der Tonabstand si bemolle-do wurde dadurch zum Ganz-

tonschritt (Tonus):

T

do re mi fa sol la si si do T T S T T S S S T Legende: T= Tonus; S = Semitonium. Die Intervalle können steigend oder fallend sein, je nachdem, ob

der erste Ton des Intervalls tiefer oder höher als der zweite liegt.

Somit ergibt sich eine erste wichtige Eigenschaft aller Intervalle:

ihre Richtung. Der Tonabstand si-do (Semitonium) zum Beispiel ist

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steigend, wogegen derselbe Tonabstand do-si fallend ist. Die beiden

Töne des Intervalls können ihrerseits eng benachbart sein, wie der

Fall mi-fa bzw. si-do (Semitonium), oder auch do-re, re-mi usw.

(Tonus) ist. Es kann aber sein, daß sich zwischen ihnen mehrere

andere Tonstufen befinden, wie zum Beispiel beim Intervall do-mi

der Fall ist (dazwischen liegt die Tonstufe re) oder beim Intervall

re-la (dazwischen befinden sich drei Tonstufen mi, fa und sol) usw..

Somit stellen wir für alle Intervalle zwei weitere Merkmale fest:

ihre Größe und ihre Rangordnung. Die Größe zwischen den beiden

Tönen wird in Halbtonschritten/Ganztonschritten, die Rangord-

nung in Tonstufen von einem Ton zum anderen bemessen.

In der natürlichen Tonreihe do-re-mi-fa-sol-la-si gelten die Tonstu-

fen do, re, mi, fa, sol und la als feste (feststehende) Tonstufen; al-

lein die Tonstufe si ist beweglich, das heißt sie wird bei Bedarf er-

niedrigt (si bemolle) oder zurückgestellt (si naturale). Die Tonstu-

fen do, re, mi, fa, sol, la und si heißen deswegen Stammtonstufen.

Die Tonstufe si bemolle ist eine abgeleitete Tonstufe. Sie liegt ei-

nen Halbtonschritt tiefer als ihre Stammtonstufe si.

Alle Intervalle, die zwischen den Stammtonstufen liegen, werden

mit dem Namen diatonisch bezeichnet. Diatonisch ist daher die

Bezeichnung einer melodischen Tonfolge von Ganz- und Halbtö-

nen, wobei die sieben naturlichen Töne (Stammtonstufen) vorwie-

gend gebraucht werden. Allein das Intervall si-si bemolle bzw. si

bemolle-si wird nicht als diatonisch sondern als chromatisch be-

zeichnet. Chromatik heißt nämlich die Veränderung (�Färbung�)

eines Stammtones um einen steigenden oder fallenden Halbton-

schritt durch ein Versetzungszeichen1).

Im Gregorianischen Choral werden folgende Intervalle benutzt:

1) In der modernen Musiktheorie werden alle sieben abgeleiteten Tonstufen beschrieben, die durch Erhöhungszeichen und Erniedrigungszeichen jeweils um einen Halbtonschritt steigend bzw. fallend �versetzt� worden sind.

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(1) Der Einklang (Unisonus) auch Prime genannt.

Der Name Prime kommt aus dem Lateinischen (primus, prima,

primum) und bedeutet �der/die/das Erste� der Intervalle. Es ist an

sich ein Ausnahmefall: die Prime als Intervall ist die Wiederho-

lung derselben Tonstufe (z.B. do-do, fa-fa, la-la, usw.). Obwohl da-

bei keine Größe festzustellen ist, wird die Prime trotzdem als In-

tervall bezeichnet, weil im Gregorianischen Choral (wie überhaupt

in der gesamten Vokalmusik) die lineare Führung der Melodie bei

der Wiederholung einer Tonstufe einen neuen vokalischen Tonan-

satz beansprucht. Die Prime wird als ein besonderes Intervall be-

zeichnet, weil ihre Größe in Halbtonschritten/Ganztonschritten

gleich Null, die Rangordnung aber gleich eins (1) ist. Für die Prime

als Intervall halten wir also ihre Merkmale fest:

a) ihre Richtung ist unbestimmt (weder steigend noch fallend)

b) ihre Größe ist gleich Null (0)

c) ihre Rangordnung ist eine Eins (Einklang/Unisonus), daher

werden sie mit der Zahl 1 bezeichnet:

Bei der Prime erfolgt wie oben beschrieben immer ein neuer voka-

lischer Tonansatz, damit die Entfernung (als lineare Spannbreite)

zwischen den beiden konstitutiven Tönen des Intervalls entstehen

kann. Ausgenommen von dieser Regel sind die Neumen Bistropha,

Tristropha und Pressus, die eine Verlängerung des Tones und

nicht seine Wiederholung bedeuten. Die Ausführung der

Bistropha, Tristropha und des Pressus ist jedoch von der Rangord-

nung der ihnen zugeteilten Silben im Wort bzw. im Satzbau ab-

hängig: Ist die betreffende Silbe betont (Wortton, Unterschei-

dungston), so werden diese Neumen ganz ausgeführt; ist sie unbe-

tont, so werden sie ignoriert (mehr zu diesem Thema später).

do do fa fa la la

1 1 1

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Die Quadratnotation des Gregorianischen Chorals berücksichtigt

bereits in der Schreibweise der Neumen die Differenz zweier No-

ten, welche eine Prime als Intervall definieren und solcher, die nur

eine Verlängerung des betreffenden Tones zur Folge haben könn-

ten. Maßgeblich dabei ist immer der graphische Abstand von einer

Note zur anderen (Zwischenraum). Wo die zwei Noten eine Prime

ausmachen, ist der graphische Abstand zwischen ihnen so groß,

daß dazwischen mindestens noch ein punctum Platz haben könnte.

Die Bistropha, Tristropha und der Pressus dagegen weisen so klei-

ne Zwischenräume auf, daß dazwischen keine Quadratnote mehr

hineinpaßt. Als Beispiel zeigen wir den Anfang des Graduale Dile-

xisti:

(2) Die Sekunde.

Der Name kommt aus dem Lateinischen (secundus, secunda, se-

cundum) und bedeutet �der/die/das Zweite� der Intervalle. Es ist

der Abstand zwischen einem Ton und dem Nächsten, steigend oder

fallend. Umfaßt er einen halben Ton (Semitonium), so ist die Se-

kunde klein; ist der Abstand aber ein Ganzton (Tonus), so ist die

Sekunde groß. Beispiele für kleine und große Sekunden wurden

bereits genannt: mi-fa und si-do sind die kleinen natürlichen Se-

kunden; la-si bemolle ist die kleine �künstlich erzeugte� Sekunde.

Die übrigen Sekunden sind große Sekunden. Für alle Sekunden

halten wir also ihre Merkmale fest:

a) ihre Richtung kann steigend oder fallend sein

b) ihre Größe ist klein (Semitonium) oder groß (Tonus)

c) ihre Rangordnung ist die Zahl 2.

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Wir bezeichnen die Sekunde mit der Zahl zwei (2), weil ihre zwei

konstitutiven Tonstufen eng benachbart sind (von einer Tonstufe

zur anderen gibt es keine Zwischenstufe).

Legende: m = klein (minor); M = groß (major).

Folgende Neumen können im Gregorianischen Choral als Sekun-

den auftreten: Podatus, Clivis, Epiphonus, Cephalicus, Torculus,

Porrectus, Scandicus, Salicus und Pressus. Als Ziernote ist das

Quilisma zu nennen.

(3) Die Terz.

Der Name kommt aus dem Lateinischen (tertius, tertia, tertium)

und bedeutet �der/die/das Dritte� der Intervalle. Die Terz ist die

Verbindung eines Tones mit dem an dritter Stelle Folgenden. Sie

kann eine kleine Terz sein (Semiditonus), wenn der Tonabstand

einen ganzen und einen halben Ton umfaßt. Beispiel: re-fa oder

sol-mi. Wenn der Tonabstand aber aus zwei ganzen Tönen besteht

(Ditonus), dann ist sie eine große Terz. Beispiele: do-mi, fa-la (na-

türlich auch umgekehrt: mi-do, la-fa) usw.

Für alle Terzen halten wir also ihre Merkmale fest:

a) ihre Richtung kann steigend oder fallend sein

b) ihre Größe ist klein (Semiditonus) oder groß (Ditonus)

c) ihre Rangordnung ist die Zahl 3.

Wir bezeichnen die Terz mit der Zahl drei (3), weil zwischen ihren

beiden konstitutiven Tonstufen immer eine Tonstufe liegt.

mi fa si do la si do re re mi sol fa

2m 2m 2m 2M 2M 2M

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Legende: m = klein (minor); M = groß (major).

Folgende Neumen können im Gregorianischen Choral als Terzen

auftreten: Podatus, Clivis, Epiphonus, Cephalicus, Torculus, Por-

rectus, Scandicus, Salicus und Pressus.

(4) Die Quarte.

Der Name kommt aus dem Lateinischen (quartus, quarta, quar-

tum) und bedeutet �der/die/das Vierte� der Intervalle. Die Quarte

ist die Verbindung eines Tones mit dem an vierter Stelle Darauf-

folgenden (Diatéssaron). Ihre Größe umfaßt normalerweise zwei

ganze Töne und einen halben Ton. Wegen ihres stets gleichen Ab-

standes von zweieinhalb Tönen wird sie als �rein� bezeichnet (sie

ist also weder �gro� noch �klein�, sondern immer �rein�).1)

Für alle Quarten halten wir ihre Merkmale fest wie folgt:

a) ihre Richtung kann steigend oder fallend sein

b) ihre Größe soll immer �rein� sein

c) ihre Rangordnung ist die Zahl 4.

Wir bezeichnen die Quarte mit der Zahl vier (4), weil zwischen ih-

ren beiden konstitutiven Tonstufen immer zwei Tonstufen liegen.

Beispiele: do-fa (dazwischen liegen die Tonstufen re und mi) oder

la-mi (dazwischen befinden sich die Tonstufen sol und fa):

1) Diese Bezeichnung hat vor allem einen festen Bezug zur �reinen Intonation�, die jede

menschliche Stimme von Natur aus besitzt. Die Sekunden und die Terzen, wie zu zeigen sein wird, sind manchmal �größer� als die Großen und �kleiner� als die Kleinen.

re fa sol mi do mi fa la

3m 3m 3M 3M

do fa la mi

4 4

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In der natürlichen Tonreihe gibt es eine �übermäßige� Quarte, wel-

che mit dem Namen Tritonus bezeichnet wird. Sie umfaßt drei

ganze Töne und befindet sich zwischen fa und si :

Fa Sol La Si

Tonus Tonus Tonus

Die Versetzung der Tonstufe si um einen Halbtonschritt tiefer (si

bemolle) hat die Quarte fa-si �rein� gemacht:

Fa Sol La Si bemolle

Tonus Tonus Semi-

tonium

Die Erniedrigung der Stammtonstufe si ergab sich theoretisch ge-

sehen auch als Folge der Übertragung des Hexachordum naturale

do-re-mi-fa-sol-la auf die Tonstufe fa:

Ohne die Erniedrigung der Tonstufe si konnte die erforderliche

Zusammensetzung des Hexachordum: Tonus-Tonus-Semitonium-

Tonus-Tonus nicht erreicht werden.

Wir bezeichnen die übermäßige Quarte mit der positiven Zahl vier

plus (4+). Theoretisch gesehen gibt es wegen der Versetzung der

Tonstufe si auch noch die übermäßige Quarte si bemolle-mi:

do re mi fa sol la fa sol la si do re

Hexachordum naturale transponiert nach fa

fa si si mi

4+ 4+

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Die Versetzung der Tonstufe si trägt aber vorwiegend der Melodie-

führung Rechnung und zwar dadurch, daß ausgehend vom Stamm-

ton fa steigend die übermäßige Quarte fa-si (auch diabolus in mu-

sica genannt) vermieden werden konnte.

Folgende Neumen können im Gregorianischen Choral als Quarten

auftreten: Podatus, Porrectus, Cephalicus und Epiphonus.

(5) Die Quinte.

Der Name kommt aus dem Lateinischen (quintus, quinta, quin-

tum) und bedeutet �der/die/das Fünfte� der Intervalle. Die Quinte

ist die Verbindung zwischen einem Ton mit dem an fünfter Stelle

Darauffolgenden (Diapente). Sie wird gleich wie die Quarte als

�rein� bezeichnet, weil ihre Zusammensetzung stets dreieinhalb

Tonschritte umfaßt. Auch sie kann also weder �groß� noch �klein�

sein. Wie bei der Quarte bereits erwähnt, wird die Bezeichnung

�rein� in Verbindung mit der reinen Intonation der menschlichen

Stimme gebracht. Diese wird später beschrieben.

Für alle Quinten halten wir ihre Merkmale fest:

a) ihre Richtung kann steigend oder fallend sein

b) ihre Größe soll immer �rein� sein

c) ihre Rangordnung ist die Zahl 5.

Wir bezeichnen die Quinte mit der Zahl fünf (5), weil bei ihr zwi-

schen den beiden konstitutiven Tonstufen immer drei Tonstufen

liegen. Beispiele: do-sol (dazwischen liegen die Tonstufen re, mi

und fa) oder la-re (dazwischen gibt es die Tonstufen sol, fa und mi):

In der natürlichen Tonreihe gibt es eine �verminderte� Quinte si-fa

(als Umkehrung der Quarte fa-si), die einen halben Tonschritt we-

niger als die anderen �reinen� Quinten hat (Tritonus). Sie wird

auch �falsche� Quinte genannt. Wir bezeichnen die verminderte

do sol la re

5 5

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Quinte mit der negativen Zahl fünf minus (5-). Theoretisch gese-

hen gibt es noch eine verminderte Quinte zwischen der abgeleite-

ten Tonstufe si bemolle und der Tonstufe mi:

Folgende Neumen können im Gregorianischen Choral als Quinten

auftreten: Podatus, Porrectus, Cephalicus und Epiphonus.

Die anderen aus der modernen Musiktheorie bekannten Intervalle

(wie z.B. Sexte, Septime, Oktave usw.) kommen im Gregoriani-

schen Choral nie vor, es sei denn, daß sie als �verdeckte� Intervalle

erscheinen, das heißt als Abstand zwischen den Tönen eines melo-

dischen Abschnitts zum anderen. Beispielshalber werden sie den-

noch in der folgenden Tabelle aufgeführt:

Zahl Name des Inter-

valls

Bezeichnung Rang-

ordnung

Größe des Intervalls

1 Prime reine 1 keine (0 Töne)

2 Sekunde kleine 2m einen Halbton

Sekunde große 2M einen Ganzton

3 Terz kleine 3m 1 ½ Töne

Terz große 3M zwei Ganztöne

4 Quarte reine 4 2 ½ Töne

Quarte übermäßige 4+ 3 Ganztöne (Tritonus)

5 Quinte reine 5 3 ½ Töne

Quinte verminderte 5- 3 Ganztöne (Tritonus)

6 Sexte kleine 6m vier Ganztöne

Sexte große 6M 4 ½ Töne

7 Septime kleine 7m fünf Ganztöne

Septime große 7M 5 ½ Töne

8 Oktave reine 8 sechs Ganztöne

Soweit die theoretische Beschreibung der in der Vokalpraxis meist

benutzten Intervalle. Im Folgenden soll nun ihre praktische An-

wendung beschrieben werden.

si fa mi si

5- 5-

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Vorab aber eine Bemerkung: Alle unsere Solmisationsübungen

sind nur für Scholaleiter gedacht, welche sie auswendig lernen

müssen. Jede Übung muß daher mehrmals hintereinander gesun-

gen werden, damit die Beziehungen zwischen den Tönen geistig

erfaßt und gespeichert werden. Sie vermitteln ein grundfestes

Stimmungssystem mit dessen Hilfe die Solmisation der Gesänge

aus diesem Graduale möglich ist. Aus der fast zweitausendjähri-

gen Geschichte des Gregorianischen Chorals wissen wir, daß die

Unterweisung und Schulung der Scholaren exklusiv mündlich

stattgefunden hat. Die Weitergabe des liturgischen Repertoires an

die jüngere Generation erfolgte mündlich vom Lehrer zum Schüler.

Der Lehrer konnte aber nur das weitergeben, was er seinerseits

auswendig gelernt hatte Diese Tradition wird von uns fortgesetzt

mit dem einzigen Unterschied, daß der Lehrer in unserem Gradua-

le durch die CD (Tonträger) ersetzt wird. Wir hoffen, daß dadurch

diese Singweise für die künftigen Generationen erhalten bleibt und

die Editio Vaticana ihren berechtigten Platz in der Aufführungs-

praxis der liturgischen Musik zurückbekommen wird.

Eine Übung, welche den Namen �Die Intervallen-Reihe des

Stammtones do� trägt, hilft dem Anfänger die Intervalle geistig zu

erfassen und sie musterhaft im Gedächtnis zu behalten. Bitte

schalten Sie Ihren CD-Player (oder Computer) wieder ein (CD-

Track03 und Noten):

Die Intervallen-Reihe des Stammtones do 1 2M 3M 4 5 6M 7M 8

la sol do sol mi do= do

Tonfindungsformel:

= Anfangston der Übung.

Ergebnis: Die Töne �do� (einge-

strichene Oktave) und �do� (klei-

ne Oktave) wurden in ihrer Ton-

höhe gleichgestellt.

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1 2m 3m 4 5 6m 7m 8

Auffallend bei dieser Übung ist, daß alle variablen Intervalle (Se-

kunde, Terz, Sexte und Septime) in der steigenden Variante groß

und in der fallenden Variante klein sind.

Wenn man diese Intervalle auswendig gelernt hat, kann man

leicht jedes Intervall sowohl schriftlich als auch �mündlich� (das

heißt in unserem Fall singend) feststellen bzw. vergleichend wie-

dergeben. Da im Gregorianischen Choral bekanntlich keine Sexten

und keine Septimen zu finden sind, bleiben zum Vergleich nur Se-

kunden und Terzen, die groß oder klein sein können. Die Quinte

und die Quarte braucht man nicht zu vergleichen, da sie von Natur

aus �rein� intoniert werden. Sie werden automatisch einem Grund-

ton zugerechnet und ergänzen sich immer zu einer Oktave. Fol-

gendes Beispiel zeigt die Bildung der Oktave do-do durch Vermitt-

lung der Oberquinte sol bzw. der Unterquinte fa:

Schwieriger wird es erst dann, wenn Quarten und Quinten in loser

Folge aufeinander treffen. Folgende Übung hilft bei der Überwin-

dung dieses Problems. Sie heißt �Verschiedene Quart- und Quint-

verbindungen� und muß ebenfalls auswendig gelernt werden (CD-

Track04 und Noten):

Verschiedene Quart- und Quintverbindungen

do sol sol do do fa fa do

DO

SOL

FA

5

8

4 4

8

5

la sol do fa= fa

Tonfindungsformel:

= Anfangston.

Ergebnis: Die Töne �fa� (eingestrichene

Oktave) und �fa� (kleine Oktave)

wurden in ihrer Tonhöhe gleichgestellt.

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D.C.

Hinweis: D.C. heißt da capo = von Anfang an wiederholen ! Wie bereits erwähnt gibt es im Gregorianischen Choral große und

kleine Terzen. Folgende Übung, welche wiederum auswendig ge-

lernt werden muß (mehrmals hintereinander wiederholen), schafft

im Intonationssystem des Scholaleiters die Voraussetzung für die

korrekte Tonhöhenvorstellung dieser Intervalle. Zugleich werden

darin die Tonhöhenunterschiede zwischen si bemolle und si natu-

rale deutlich. Die Übung heißt: �Verschiedene Terz-Verbindungen�

und wird, wie immer, durch eine Tonfindungsformel eingeleitet

(CD-Track05 und Noten).

Verschiedene Terz-Verbindungen

Das Zeichen am Ende einer No-

tenzeile heißt Custos (lateinisch:

�Wächter�). Es zeigt die Tonhöhe der

ersten Note auf der nächsten Noten-

zeile an.

la sol do sol mi do= re

Tonfindungsformel:

= Anfangston.

Ergebnis: Die Töne �do� (einge-

strichene Oktave) und �re�

(kleine Oktave) wurden in ihrer

Tonhöhe gleichgestellt.

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67

D.C.

In der Aufführungspraxis des Gregorianischen Chorals nach der

Editio Vaticana gilt es als erwiesen, daß der Scholaleiter mehr als

jeder andere Musiker auf seine Tonvorstellungskraft angewiesen

ist. Gibt man einem Orgelspieler eine beliebige Komposition in die

Hand, so setzt er sich an sein Instrument und greift in die Tasten,

indem er jeder Note auf dem Papier eine bestimmte Taste zuord-

net. Die betreffende Partitur wird somit automatisch zum Vorspiel.

Um die exakte Wiedergabe der Tonhöhen braucht der Orgelspieler

sich nicht zu kümmern, denn der Orgelbauer hat sie bereits festge-

setzt. Dies ist aber bei Sängern nicht der Fall. Sie haben zwar alle

Töne in ihrem Gedächtnis, müssen diese aber selbst produzieren

und ihre Tonhöhen in einem Intonationssystem integrieren. Das in

der Vokalpraxis gegenwärtig allgemein benutzte Intonationssys-

tem ist das Dur-Moll-System. Im Rahmen dieses Systems wird die

menschliche Stimme befähigt vorgestellte Intervalle ohne Zuhilfe-

nahme eines Instrumentes exakt treffen zu können. Unsere Scho-

laleiter werden von diesem Intonationssystem Gebrauch machen

müssen, denn die Solmisation der gregorianischen Weisen, die sie

exemplarisch aufführen, in der reinen Intonation erklingen soll.

An dieser Stelle schreiben wir deshalb eine Übung vor, welche das

Dur-System in der reinen Intonation befestigt. Die Übung heißt:

�Die Mediante mi in doppelter Terzlage�. Sie wird, wie gewöhnlich,

durch eine Tonfindungsformel eingeleitet und muß auch auswen-

dig gelernt werden (CD-Track06 und Noten):

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Die Mediante mi in doppelter Terzlage

D.C.

In dieser Übung haben wir den stufenweisen Aufbau der fallenden

Quarte do-sol und der steigenden Quarte sol-do verwirklicht.

Gleich danach wird ebenfalls stufenweise die steigende große Terz

do-mi aufgebaut (do-re-mi). Diese Prozedur sichert die reine Into-

nation der Töne sol-do-mi, welche im zuvor genannten Dur-

System-Do den Hauptakkord ausmachen. Das Beharren der

Stimme auf der fallenden Terz mi-do führt in uns das sichere Ge-

fühl für die tonale Struktur des Dur-Systems ein. Die Wiederho-

lung der kleinen Terz mi-sol befähigt unser Intonationssystem

zwischen der großen und der kleinen Terz zu unterscheiden.

Wir wollen nun anhand von praktischen Beispielen zeigen, wie ein

schriftlich oder mündlich vorgegebenes Intervall untersucht, be-

la si= do=

Tonfindungsformel:

Anfangston der Übung.

Ergebnis: Die Töne �si bemolle� (eingestriche-

ne Oktave) und �do� (eingestrichene Oktave)

wurden in ihrer Tonhöhe gleichgestellt.

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wertet und realisiert (gesungen) werden muß. In der Aufführungs-

praxis nach der Editio Vaticana wird wie folgt vorgegangen:

a) Wenn die Intervalle schriftlich angezeigt werden:

1. Fall: Beide Tonstufen des Intervalls sind vorgegeben. Ein Bei-

spiel: Im Vierliniensystem stehen folgende zwei Noten:

Frage: Was für ein Intervall gibt es zwischen den beiden Quadrat-

noten ?

Vorgehensweise:

1. Überlegung: Ist das Intervall steigend ? Ist es fallend ?

1. Antwort: Das Intervall ist hier steigend.

2. Überlegung: Liegen zwischen den beiden notierten Tönen andere

Tonstufen ? Wenn ja, wieviele Tonstufen ?

2. Antwort: Zwischen den beiden Tönen do1 und sol1 liegen drei

Tonstufen: re1, mi1 und fa1.

3. Überlegung: Welche Rangordnung sieht drei Stammtonstufen

zwischen den beiden konstitutiven Tonstufen eines Intervalls vor ?

3. Antwort: Die Quinte. (Oder nach einer anderen kurzen Methode

schneller auf den Fingern gerechnet: do-re-mi-fa-sol also bei die-

sem Intervall 5 Stammtonstufen insgesamt; fünf auf Lateinisch

heißt Quintus, die Antwort lautet: die Quinte).

4. Überlegung: Ist die festgestellte Quinte do1-sol1 klein, groß, rein

oder falsch ?

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4. Antwort: Die Quinte kann weder klein noch groß sein. Sie kann

nur rein oder vermindert (falsch) sein. Wir untersuchen darum die

Entfernung zwischen do1 und sol1 in Ganztonschritten: do1-re1 ist

Ganztonschritt; re1-mi1 ist Ganztonschritt; mi1-fa1 ist Halbton-

schritt; fa1-sol1 ist Ganztonschritt. Wir haben hier die für die rei-

nen Quinten erforderliche Zusammensetzung von dreieinhalb Ton-

schritten. Die Quinte ist also rein.

Hinweis: Die letzte Überlegung ist im Fall der Quinte überflüssig (sie ist

für alle anderen Intervalle außer der Quinte und Quarte notwendig),

weil aus allen natürlichen Quinten nur eine �falsch� ist und zwar die

Quinte si-fa.

Die vollständige Antwort lautet: Das Intervall zwischen den Ton-

stufen do1 und sol1 ist eine reine Quinte.

Um diese Quinte zu intonieren soll folgende Tonfindungsformel

benutzt werden:

Wir hoffen, daß Sie allein mit Hilfe Ihres Kammertones diese

Quinte richtig intoniert haben. Falls Sie eine Bestätigung wün-

schen, so bieten wir Ihnen unsere Aufzeichnung an (CD-Track07).

2. Fall: Nur eine Tonstufe des Intervalls ist bekannt. Ein Beispiel:

Im Vierliniensystem wird die Tonstufe do1 notiert:

Problemstellung: Wir wollen auf diesen Ton do1 eine steigende

reine Quarte aufbauen.

la sol do sol mi do= do sol

Tonfindungsformel: Das Intervall:

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Vorgehensweise:

Die verlangte Richtung ist steigend, das heißt, wir zählen ab dem

do1 aufwärts vier Tonstufen auf und stoßen auf den Ton fa1 (do-re-

mi-fa). Diesen Ton fa1 schreiben wir in einer gewissen Entfernung

(linear gesehen) vom do1 als Quadratnote im Vierliniensystem auf:

Wir überlegen schließlich, ob diese Quarte do1-fa1 rein oder über-

mäßig ist. Wir untersuchen nun die Entfernung zwischen den bei-

den Tonstufen in Ganztonschritten. Dabei haben wir: do1-re1 ist

Ganztonschritt; re1-mi1 ist Ganztonschritt; mi1-fa1 ist Halbton-

schritt. Die erforderliche Zusammensetzung von zweieinhalb Ton-

schritten ist hier vorhanden. Die Quarte do1-fa1 ist eine reine

Quarte.

Hinweis: Die letzte Überlegung ist im Fall der Quarte überflüssig (sie ist

für alle anderen Intervalle außer der Quarte und Quinte notwendig),

wenn man bedenkt, daß von allen natürlichen Quarten nur eine �über-

mäßig� ist und zwar die Quarte fa-si.

Die vollständige Antwort lautet: Eine steigende reine Quarte auf

dem Ton do1 ist der Ton fa1.

Um diese Quarte zu intonieren soll folgende Tonfindungsformel

benutzt werden:

Wir hoffen nun wieder, daß Sie allein mit Hilfe Ihres Kammerto-

nes diese Quarte richtig intoniert haben. Falls Sie dennoch eine

�Kontrolle� wünschen, so können Sie sich unsere Aufzeichnung

anhören (CD-Track08).

la sol do sol mi do= do fa

Tonfindungsformel: Das Intervall:

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3. Fall: Wir stoßen beim Aufbau eines Intervalls auf die �bewegli-

che� Tonstufe si. Ein Beispiel: Im Vierliniensystem wird die Ton-

stufe do2 notiert:

Problemstellung: Wir wollen auf diesen Ton do2 eine fallende gro-

ße Sekunde aufbauen.

Vorgehensweise:

Die vorgegebene Richtung ist fallend, das heißt, wir zählen ab dem

Ton do2 abwärts eine Tonstufe auf und stoßen auf den Ton si1 (do-

si). Diesen Ton si schreiben wir nun in einer gewissen Entfernung

(linear gesehen) vom do2 als Quadratnote im Vierliniensystem auf.

Wir überlegen schließlich, ob diese Sekunde do2-si1 groß ist. Die

Untersuchung ergibt, daß zwischen den beiden Tönen ein Halbton-

schritt liegt (Semitonium). Um diese Entfernung zu vergrößern

versetzen wir die Tonstufe si um einen fallenden Halbtonschritt

mit Hilfe des Versetzungszeichens und schreiben dann den Ton si

bemolle1 auf:

Die vollständige Antwort lautet also: Eine fallende große Sekunde

auf dem Ton do2 ist der Ton si bemolle1.

Um diese Sekunde zu intonieren soll folgende Tonfindungsformel

benutzt werden:

la sol do= do si

Tonfindungsformel:Das Intervall:

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Intonieren Sie bitte mit Hilfe Ihres Kammertones und der Tonfin-

dungsformel diese fallende große Sekunde. Zur Kontrolle haben

Sie noch die Möglichkeit den �Lehrer� (unsere CD) zu befragen

(CD-Track09).

Es stellt sich nun noch die Frage: Welche Tonfindungsformel soll

benutzt werden, um ein bestimmtes Intervall zu intonieren ?

Um diese Frage richtig zu beantworten, halten wir zunächst fest,

daß die Männerstimme (Baß und Tenor zusammengerechnet) nur

die Töne zwischen SOL (in der großen Oktave) und la1 (eingestri-

chene Oktave) singen kann ( den Umfang der Männerstimme ha-

ben wir bereits kennengelernt). Ein beliebiges Intervall kann also

nur im Rahmen dieses Tonumfangs intoniert werden:

graves

finales

Stimmumfang von Baß und Tenor zusammen.

acutae superacutae

Verlangt man von einem Baß das Intonieren eines Intervalls, so

muß man wissen, daß er nur die Intervalle singen kann, welche

sich zwischen SOL und mi1 befinden. Ebenfalls wird ein Tenor

seinerseits nur die Intervalle zwischen do und la1 singen können.

Diese Überlegung ist jedoch nur für die absolute Intonation gültig.

Denn nur wenn sowohl die schriftliche als auch die tatsächliche

Tonhöhe eines Tones verlangt werden, werden sich beide Männer-

stimmen Baß und Tenor an das gezeigte Schema richten müssen.

Nicht so in der relativen Intonation, welche wir praktizieren. Wir

können daher SOL schreiben und do singen oder la1 schreiben und

do1 singen usw. All das schaffen wir durch die Verwendung von

Tonfindungsformeln. Als Faustregel gilt:

a) für steigende Intervalle aller Art:

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la sol do sol mi do= SOL LA SI do re mi fa sol

Tonfindungsformel:

verschiedene Gleichstellungen:

la si do1 re1 mi1

weitere Gleichstellungen:

Will ein Tenor zum Beispiel die Quarte SOL-do intonieren, so ist

das nur möglich, wenn er die oben gezeigte Tonfindungsformel wie

folgt benutzt:

Intonieren Sie bitte mit Hilfe Ihres Kammertones diese Quarte.

Zur Kontrolle können Sie sich dann unsere Aufzeichnung anhören

(CD-Track10).

Ebenfalls wenn ein Baß die Quarte mi1-la1 intonieren will, so ist

das nur möglich, wenn er die oben gezeigte Tonfindungsformel wie

folgt einsetzt:

Intonieren Sie bitte mit Hilfe Ihres Kammertones diese Quarte.

Die Kontrolle ist auch hier möglich (CD-Track11).

la sol do sol mi do= SOL do

Tonfindungsformel: 4Ergebnis: Die Töne �do� (eingestri-

chene Oktave) und �SOL� (große

Oktave) wurden in ihrer Tonhöhe

gleichgestellt.

la sol do sol mi do= mi la

Tonfindungsformel: 4Ergebnis: Die Töne �do� (eingestri-

chene Oktave) und �mi� (eingestri-

chene Oktave) wurden in ihrer

Tonhöhe gleichgestellt.

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b) für fallende Intervalle aller Art:

la sol do= la1 sol1 fa1 mi1 re1 do1 si

Tonfindungsformel:

verschiedene Gleichstellungen:

la sol fa mi re do

weitere Gleichstellungen:

Will ein Baß zum Beispiel die Quarte la1-mi1 intonieren ? Mit Hil-

fe der oben gezeigten Tonfindungsformel kann er sie singen:

Hinweis: Die hier notierte Tonlage des Tones do (höher als la1) soll keinen An-

laß zu Irritationen geben. Wie bereits ausführlich erklärt, �oktaviert� die Män-

nerstimme und singt nicht do2, sondern do1.

Intonieren Sie bitte mit Hilfe Ihres Kammertones diese Quarte.

Zur Kontrolle können Sie sich dann unsere Aufzeichnung anhören

(CD-Track12).

Die Tonfindungsformeln ermöglichen die Intonation aller Interval-

le im Rahmen des dargestellten Tonsystems für beide Stimmgat-

tungen, indem sie tiefere Töne mit den höheren (für den Tenor)

und höhere Töne mit den tieferen (für den Baß) gleichstellen. Vor-

ausgesetzt wird immer folgende Prozedur:

Der Scholaleiter stellt zunächst fest, was er für ein Intervall sin-

gen will oder muß. Befindet sich der erste Ton des betreffenden

Intervalls im Bereich des Tonumfangs:

la sol do= la mi

Tonfindungsformel:4

Ergebnis: Die Töne �do� (zweigestri-

chene Oktave) und �la� (eingestri-

chene Oktave) wurden in ihrer

Tonhöhe gleichgestellt.

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und ist das Intervall steigend, so benutzt er eine von den im Bei-

spiel a) gezeigten Tonfindungsformeln.

Befindet sich der erste Ton des Intervalls im Bereich des Tonum-

fangs:

und ist das Intervall fallend, so benutzt er eine von den im Beispiel

b) gezeigten Tonfindungsformeln.

b) Wenn die Intervalle vorgesungen werden:

1. Fall: Jemand singt uns ein Intervall vor und verlangt seine De-

finition. Ein Beispiel: Es wurde das Intervall re1-fa1 intoniert (na-

türlich nicht mit den Tonsilbennamen, sondern mit irgendeinem

Wort bestehend aus zwei Silben, zum Beispiel �Cho-ral�).

Hören Sie sich dieses Intervall an. Der �Lehrer� singt anfangs kei-

ne Tonfindungsformel, sondern direkt das Wort �Choral�, damit

Sie das Intervall qualitativ und quantitativ abschätzen können

(CD-Track13):

Cho - ral Vorgehensweise:

1. Schritt: Wir stellen fest, daß das Intervall steigend ist (die erste

gesungene Silbe war tiefer als die zweite).

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2. Schritt: Wir stellen fest, daß zwischen den beiden gesungenen

Silben ein Tonsprung stattgefunden hat (die zwei Töne sind nicht

eng benachbart, sondern dazwischen befindet sich eine Tonstufe).

Dieses Intervall ist also eine Terz.

3. Schritt: Wir vergleichen mental die gehörte Terz mit der großen

Terz do-mi. Diese große Terz ist in unserem Gedächtnis fest ver-

ankert, weil wir zuvor mit Hilfe der Übung: �Die Intervallen-Reihe

des Stammtones do� alle notwendigen Intervalle bis zur Oktave

hin auswendig gelernt haben. Wir stellen nun fest, daß die gehörte

Terz kleiner ist, als die Terz do-mi aus unserem Gedächtnis. Sie ist

also eine steigende kleine Terz. Hören Sie sich nun unsere Auf-

zeichnung an (CD-Track14): Der �Lehrer� singt vergleichend die

große und die kleine Terz.

Die vollständige Antwort lautet: Das gesungene Intervall war eine

kleine Terz.

Anmerkung: Für steigende Intervalle wird die steigende; für fallende

Intervalle die fallende Übung �Die Intervallen-Reihe des Stammtones do�

zum Vergleich herangezogen. Diese Übung, die wir auswendig gelernt

haben, liefert uns jederzeit Vergleiche für Sekunden, Terzen, Sexten und

Septimen in der steigenden und fallenden Variante.

2. Fall: Jemand verlangt von uns das Singen einer großen Terz.

Vorgehensweise:

Wir intonieren do-mi aus unserem Gedächtnis (entweder mit Ton-

silbennamen oder mit irgendeinem Wort bestehend aus zwei Sil-

ben). Somit ist dieser Fall erledigt. In ähnlicher Weise können alle

anderen Intervalle intoniert werden.

3. Fall: Es wird uns ein Ton vorgesungen; zum Beispiel la (eventu-

ell wurde dieser Ton mit dem Kammerton geblasen oder bei einem

Instrument vorgespielt) und man verlangt von uns die Ergänzung

zu einem Intervall, zum Beispiel zu einer steigenden kleinen Se-

kunde.

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Vorgehensweise:

Wir gehen mental schrittweise zur nächsten Tonstufe si und stel-

len fest, daß die Sekunde la-si eine große Sekunde ist (Ganzton-

schritt). Wir versetzen mental diese Tonstufe si zu si bemolle und

intonieren jetzt la-si (ausgehend von der Tonhöhe des vorgesunge-

nen/vorgespielten Tons) als die verlangte kleine Sekunde (wir sin-

gen jedoch la-si und nicht la-si bemolle). Wir können aber genau-

sogut dieses Intervall mit irgendeinem Wort bestehend aus zwei

Silben intonieren.

Melodieführung im Gregorianischen Choral

Wir haben vorhin gesagt, daß der Gregorianische Choral eine spe-

zielle Vokalmusik ist, welche nicht den Regeln und Gepflogenhei-

ten der übrigen Vokalmusik unterworfen werden kann. Dies hängt

damit zusammen, daß die Struktur seiner Intervalle nicht wie die

der gängigen Vokalmusik aussieht. Seine Intervalle sind durch

Neumen wiedergegeben, eine besondere Art von Tongruppen, die

ihrerseits einer eigenen Ausführung bedürfen. Diese Mehrtonzei-

chen sind nicht mit den modernen Noten vergleichbar. Die Form

und das Aussehen einer Neume definieren keinen musikalischen

Wert, sondern die Art der Melodieführung. Daher weisen die No-

ten der Quadratschrift keine bestimmte Dauer auf. Die Dauer ei-

ner Neume, auch die des einfachen punctum, richtet sich nicht

nach einer Zählzeit und kann nicht in Takten erfaßt werden. Die-

selbe Note oder Tongruppe in einem Gesang, wie punctum, poda-

tus, torculus usw., kann musikalisch länger oder kürzer ausfallen,

je nachdem, ob die ihr zugeteilte Silbe im Wort länger oder kürzer

ausgesprochen werden muß; oder auch, ob das betreffende Wort

mit dem Unterscheidungston belegt wurde. Die Neumen bilden

Intervalle nur in Verbindung mit einem Text, mit dem sie struk-

turmäßig eng verbunden sind und den sie halb musikalisch und

halb deklamatorisch gestalten.

Die Neumen haben eine sehr lange Entwicklung durchgemacht.

Ihr Name wurde vom griechischen Wort Neuma (Zeichen) oder

besser Pneuma (Geist) abgeleitet. Anfangs waren sie Punkte, Stri-

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che, Bogen und Häckchen, welche ohne Notenlinien über den zu

singenden Text geschrieben wurden. Folgendes Beispiel, entnom-

men einem Graduale englischer Herkunft, das sich in der Königli-

chen Bibliothek in Stockholm befindet (Fragment A. 128/4, Seite

XI.), zeigt die Communio Vox in Rama am Fest der unschuldigen

Kinder:

Diese Zeichen gaben keine Hinweise über die Tonhöhe oder die

Tondauer der Töne an. Nur die Melodiebewegung wurde damit

suggeriert (Steigen oder Fallen der Melodie) bzw. die Zugehörig-

keit einer Tongruppe zu einer Textsilbe. Das Zeichen über der Sil-

be ra aus dem Wort Rama beispielsweise ist ein Podatus. Dasselbe

Zeichen steht über der Silbe di aus dem Wort audita. Mit welchen

Tönen diese Intervalle zu singen sind, ist aus dieser Neu-

menschrift leider nicht abzulesen.

Die Einführung des Liniensystems durch Guido von Arezzo hat

Form und Ausführung der Neumen radikal geändert. Sie wurden

in Quadratschrift umgewandelt. Die Tonhöhe wurde durch die

Stellung der Note im Liniensystem genau definiert. Tondauer und

Tonstärke jedoch blieben weiterhin dem Text vorbehalten. Form

und Zusammensetzung der Tongruppe schreiben jedoch wie einst

die Melodiebewegung vor. Der Podatus kann wie immer nur stei-

gende und die Clivis nur fallende Intervalle bedeuten. Die oben

gezeigte Communio wurde in der Editio Vaticana wie folgt notiert:

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In diesem Beispiel erscheint der erste Podatus als die Sekunde

do2-re2 und der zweite Podatus als eine höhere Sekunde: re2-mi2.

Es gibt drei Arten von Neumen: einfache Neumen, zusammenge-

setzte Neumen und Verzierungsneumen. Ihre genaue Beschrei-

bung wurde im Kapitel �Form und Ausführung der Gesangnoten�

(Siehe Seite 19) dargelegt.

Wir haben bisher für das Lernen und Singen der Intervalle aus-

schließlich das Punctum benutzt. Punctum und Virga sind einfa-

che Neumen, weil sie aus einer einzigen Note bestehen. Das Punc-

tum bezeichnet eine Note, die meist unbetont ist, aber auch betont

werden kann. Die Virga dagegen bezeichnet nur betonte Noten.

Die frühere Überzeugung, daß das Punctum eine tiefe und die Vir-

ga eine hohe Note bedeutet, kann heute nicht mehr aufrechterhal-

ten werden. Allerdings müssen wir unsere Auffassung zum Teil

revidieren, wenn wir die Schreibweise des Podatus und der Clivis

betrachten. Der Podatus als Intervall wird nämlich aus einem

Punctum und einer Virga zusammengesetzt:

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Da Podatus immer ein steigendes Intervall bezeichnet, beweist

nicht gerade seine Form und Zusammensetzung, daß Punctum die

tiefe und Virga die hohe Note bedeuten ?

Aus der Form und Zusammensetzung der Clivis wird ebenfalls

derselbe Schluß gezogen:

Wie immer die Neumen aussehen: sie zeigen Verbindungen von

Tönen, welche die musikalische und deklamatorische Gestaltung

des Textes zum Ziel haben.

Ausschlaggebend für die Aufführungspraxis des Gregorianischen

Chorals nach der Editio Vaticana ist die perfekte Verbindung zwi-

schen Text und Melodie. Wort und Ton im Gregorianischen Choral

stehen zueinander in einem sehr engen Abhängigkeitsverhältnis

und zwar so, daß der Text immer Vorrang vor der Melodie hat.

Dieses Postulat ist aus dem Kapitel �Form und Ausführung der

Gesangnoten� zu entnehmen, wo es heißt (siehe Seite 25):

�Es möge darum vor allem dafür Sorge getragen werden, daß man die

Worte, die man singt, auch wirklich vollkommen verstehe (Benedikt

XIV.), denn der Gesang soll nicht den Sinn der Worte ausleeren, sondern

ihn bereichern. (Hl. Bernhard, Brief 312.) Bei allen Lesungs-, Psalm- und

Gesangtexten soll Betonung und Zusammenhang der Worte soviel wie

möglich beachtet werden, denn davon hängt das Verständnis zum großen

Teil ab (Instituta Patrum).�

Alle diese Anweisungen hat Peter Wagner in einem Satz zusam-

mengefaßt:

�Man gebe jeder Silbe die ihr zukommende Zeit und verbinde die Worte

so, wie sie logisch zueinandergehören.� 1)

1) Peter Wagner, �Elemente des Gregorianischen Gesangs: zur Einführung in die Vatikani-sche Choralausgabe.� Hrsg. Karl Weinmann. Sammlung: �Kirchenmusik�. (Regensburg: Pustet, 1917), Seite 59.

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Um dieses Desiderat der Kirche erfüllen zu können, müssen wir

daher unsere ganze Aufmerksamkeit auf die Worte und die Inter-

punktionszeichen des Textes richten. Singen wir zum Beispiel: si-

cut érat in princípio, so müssen wir streng darauf achten, daß wir

nicht:

sicu - téra - tin - princípio

in unserem Gesang sagen, wie oft noch zu hören ist.

Der Scholaleiter soll die Scholaren besonders auf die Auslautver-

härtung der Endungen in �t�, �d� und �r� aufmerksam machen und

soll selbst diese in seiner exemplarischen Deklamation berücksich-

tigen.

Im Vordergrund unserer Bemühungen soll die Artikulation der

Worte und die Struktur des Satzbaus nach Komma, Semikolon,

Kolon und Punkt, und dann erst die Phrasierung der Töne stehen.

Unser Singen könnte daher �Deklamatorisches Singen� genannt

werden, da wir den heiligen Text als eine �Verkündigung� verste-

hen und dementsprechend auch behandeln möchten.

Die Vorschriften der Editio Vaticana dienen uns als Grundlage für

unsere Singmethode, welche wir in vier Schritten wie folgt definie-

ren:

1. Wir erschließen zuerst den Text nach seinem Sinn- und Affektgehalt.

2. Wir deklamieren den Text (Verwirklichung des Oratorischen Rhyth-

mus).1)

3. Wir solmisieren die Melodie (wir singen sie mit Tonsilbennamen) und

phrasieren sie dabei derart, daß sie sich dem deklamierten Text völlig

anpaßt.2)

4. Wir verbinden die so geübte Melodie mit dem Text.

1) Der Begriff �Oratorischer Rhythmus� wurde zum ersten Mal von A. Gontier, in seiner

Méthode raisonnée de plain-chant im Jahre 1859 eingeführt. Stichwort �Gregorianik� MGG

(Kassel: Bärenreiter, 1989), S. 792. 2) Da die Solmisation einer besonderen Qualifikation und Schulung bedarf, wird sie allein den Scholaleitern vorbehalten.

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Unter dem Begriff �deklamieren� verstehen wir wie im Duden be-

schrieben: �einen Text ausdrucksvoll vortragen bzw. deutlich und

laut reden.� Unter Anleitung des Scholaleiters soll zunächst der

Text nach seinem Sinn- und Affektgehalt untersucht werden. Die

Grundbedeutung eines Textes, sein geistiger Gehalt steckt in den

hervorzuhebenden Worte oder Satzteilen. Diese werden durch

Großschreibung kenntlich gemacht. In der Reihenfolge der Wort-

akzente, die an sich gleichwertig sind, soll der Scholaleiter nach

den Regeln der Deklamation bereits bei der ersten Lesung ordnend

eingreifen, um den Oratorischen Rhythmus exemplarisch zu ver-

wirklichen.

In der musikalischen Gestaltung der Neumen richtet sich der

Scholaleiter ebenfalls nach dem vorhandenen Text. Das soll er be-

reits in der Solmisation der Melodie verwirklichen, das heißt, daß

er die Intervalle so zu singen hat, wie sie dem Text am besten pas-

sen.

Wie das zu handhaben ist, zeigen wir anhand der 5. Variante der

Doxologie Glória Patri:

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Für die Deklamation wird der Scholaleiter die durch Großschrei-

bung kenntlich gemachten Worte mit dem Unterscheidungston

belegen:

Glória PATRI, et FÍLIO, et SPIRÍTUI SANCTO.

Sicut erat in PRINCÍPIO, et NUNC, et SEMPER,

et in SAÉCULA SAECULÓRUM. ÁMEN.

Unter seiner Anleitung werden die Scholaren ihre Gradualbücher

in die Hand nehmen und in der gregorianischen Partitur die mit

dem Unterscheidungston belegten Worte mit einem Textmarker

markieren.

Es folgt nun die Textanalyse (die Untersuchung des Sinn- und Af-

fektgehalts):

Dieser Text ist die Lobpreisung der Heiligsten Dreifaltigkeit; eine

Schlußformel, die im Gregorianischen Choral oft vorkommt (zum

Beispiel in allen Introitus-Gesängen). Es ist zudem die zentrale

Glaubensaussage der Christen: Gott ist dreifaltig Einer.

Im Sprachbau wird der Tonfall bis zu dem mit dem Unterschei-

dungston belegten Wort steigend und dann fallend aufgeführt.

Vorhin haben wir bereits anhand eines Satzes gesehen (siehe Seite

31 f.), wie die Handhabung des Unterscheidungstones aussieht.

Eine gute Deklamation des Textes beim Singen verlangt außerdem

die Berücksichtigung aller Kommas, die im Text vorkommen. Dies

geschieht durch entsprechende kurze Unterbrechungen (Pausen)

auch dann, wenn dies im Notenbild nicht durch den Viertel-, den

Halben- oder den Ganzenstrich gekennzeichnet worden ist. In un-

serer gregorianischen Partitur sehen wir, daß im Notenbild die

erste Pause erst nach dem Wort Fílio erscheint. Das Graduale der

Editio Vaticana schreibt hier: �...einen ganz kurzen Atemzug� vor

(siehe �divisio minima� im Bild Seite 24). Fast allgemein hat sich

trotzdem eine Singweise verbreitet, in der alle Kommas einfach

ignoriert werden und wodurch dieser heilige Text regelrecht zu

einer Karikatur wird:

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GlóriaPatrietFíliooo etSpirítuiiiSanctooo.....

In der Singweise recto tono wird der heilige Text mit einer großen

Geschwindigkeit heruntergeleiert.

Anmerkung: Dazu hat auch die Singweise der deutschen Psalmodie beigetragen,

die in realen Notenwerten eine für den Text nicht vertretbaren Gangart vor-

schreibt: �Eerbaarm diich meinerGottund seei miir gnäädiig// nachdeinerGüte

tiilgee meeinee Schuuld.� Siehe dazu: �Gotteslob�, Katholisches Gebet- und Ge-

sangbuch (Freiburg: Herder 1975), Seite 902.

Die irrige Auffassung, wonach jede Note im Gregorianischen Cho-

ral den Wert einer Achtelnote ausmacht, hat unserer Meinung

nach dem Gregorianischen Choral viel geschadet. Noch 1920 wur-

de unsere Doxologie wie folgt notiert und leider auch so gesungen

(Beispiel entnommen aus: �Katholisches Chorgesangbuch zum Ge-

brauch der Kirchenchöre bei dem öffentlichen Gottesdienste im

Bistum Rottenburg�, (Rottenburg am Neckar: Wilhelm Bader,

1920), Seite 152.):

Nehmen Sie bitte einen Textmarker zur Hand und markieren Sie

in der gregorianischen Partitur die Worte, welche in unserem Text

durch Großschreibung kenntlich gemacht wurden. Diese sind Trä-

ger des oratorischen Rhythmus, den wir bereits in der Deklamati-

on des Textes verwirklichen (CD-Track15):

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Glória PATRI, et FÍLIO, et SPIRÍTUI SANCTO.

Sicut erat in PRINCÍPIO, et NUNC, et SEMPER,

et in SAÉCULA SAECULÓRUM. ÁMEN.

Diese Lesart übertragen wir auf die Solmisation, wodurch den

Scholaren bereits in der Vermittlung der Melodie durch die Inter-

valle die korrekte Singweise beigebracht wird. Zu diesem Zweck

führen wir die verschiedenen Tonsilbennamen unterschiedlich aus:

Die Tonsilbennamen, deren unterlegte Silben unbetont sind, wer-

den kurz, die anderen, deren unterlegte Silben betont sind, länger

und die schließlich, welche sich in einem mit dem Unterschei-

dungston belegten Wort befinden, am längsten aus. Am Beispiel

des Tonsilbennamens la werden in etwa laa die längeren und laaa

die am längsten gesungenen Töne ausgeführt. Die Verdoppelung

bzw. Verdreifachung des Selbstlautes a in unserer Transkription

soll nicht zu der irrigen Annahme führen, daß nunmehr auch eine

Verdoppelung bzw. Verdreifachung der Dauer der Töne stattge-

funden hat. Die tatsächliche Dauer wird vielmehr mit kurz, lang

und länger ausgedrückt, wobei freilich die Zumutbarkeitsgrenze

der Betonung, sowohl bei den kurzen, als auch bei den am längsten

ausgeführten Tönen nicht überschritten werden darf. Nach dieser

kurzen Einführung folgt nun die Ausführung unseres Beispiels

(CD-Track16 und Noten):

fa la do dooo doo hier Pause: do dooo doo doo hier Pause: kurz kurz kurz länger lang (Komma) kurz länger lang lang (Zeichen) Gló- ri- a Pa- tri, et Fí- li- o,

la sol do sol mi do= fa

Tonfindungsformel:

= Anfangston der Doxologie.

Ergebnis: Die Töne �do� (ein-

gestrichene Oktave) und �fa�

(kleine Oktave) wurden in

ihrer Tonhöhe gleichgestellt.

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do doo dooo doo ree reee doo hier Pause: kurz lang länger lang lang länger lang (Zeichen) et Spi- rí- tu- i San- cto. *

la do do do do doo dooo doo doo hier Pause: kurz kurz kurz kurz kurz lang länger lang lang (Zeichen) Sic- ut // e- rat // in prin- cí- pi- o,

Hinweis: Bitte nicht �sicu tera tin principio� aussprechen !

do dooo hier Pause: re reee doo hier Pause: kurz länger (Komma) kurz länger lang (Zeichen)

et nunc, et sem- per,

la do dooo doo doo doo doo reee sii dooo laa kurz kurz länger lang lang lang lang länger lang länger lang

et in sáe- cu- la sae- cu- ló- rum. // A- men.

Hinweis: Bitte nicht �saeculóru mamen� aussprechen !

Durch diese exemplarische Aufführung haben wir Ihnen gezeigt,

daß die Quadratnote eine musikalisch längere oder kürzere Dauer

bedeuten kann, je nachdem, ob die ihr zugeteilte Silbe im Wort

länger oder kürzer ausgesprochen werden muß; und zudem auch

noch, ob das betreffende Wort mit dem Unterscheidungston belegt

wurde.

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Ein zweites Beispiel gibt uns die Gelegenheit in diese Prozedur

auch Mehrtonzeichen einzubeziehen. Das Beispiel ist die Commu-

nio Dóminus dábit, vom ersten Adventsonntag:

Zuerst analysieren wir den Text:

DÓMINUS dabit BENIGNITÁTEM:

et terra nostra dabit FRUCTUM suum.

Die deutsche Übersetzung lautet:

Der Herr wird Seinen Segen spenden,

und unser Erdreich wird seine Frucht geben.

Die beiden Gegensätze Gott und Erdreich bzw. Schöpfer und Ge-

schöpf verbindet hier das Wort dabit (wird geben). Es erscheint

zweimal und zeigt an, was man sich gegenseitig geben wird: Segen

und Frucht. Das Eine bedingt das Andere.

Den mittelalterlichen Komponisten dieser Melodie hat das Wort

dabit so fasziniert, daß er es durch bestimmte Neumen �malerisch�

ausgestaltet hat. Zuerst verwendet er für die betonte Silbe da eine

Bistropha. Die Bistropha ist ihrer Definition nach, Zitat: �... eine

Tonverzierung, die mit einem gedehnten Ton in Form eines Tremo-

lo (Zittern) oder mit einer Stimmbewegung von einem Ganz- oder

Halbton ausgeführt wurde.� 1)

Die Bistropha ist also kein Intervall, sondern ein gedehnter Ton.

Erst die Verbindung zwischen Bistropha und Salicus (die Ton-

gruppe über der Silbe bit ist ein Salicus) beansprucht einen neuen

Ansatz der Stimme. Zwischen den beiden Silben des Wortes da-bit

entsteht als Intervall eine Prime: fa-fa. Nun ist dieses Intervall,

wie wir bereits gelernt haben, ein besonderes Intervall. Im Salicus

kommt schließlich die große Sekunde fa-sol als Intervall vor. Somit

wurde sehr prägnant ausgedrückt, was Gott geben wird: Sein Se-

gen, ist eine große und besondere Gabe.

Bei der Ausgestaltung des zweiten Wortes dabit verwendet der

Komponist für die betonte Silbe da gleich drei verschiedene Neu-

1) Pater Ambrosius Kienle OSB, Choralschule, (Freiburg im Breisgau: Herder�sche Verlags-handlung, 1884), Seite 139.

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men. Die erste Neume, eine Virga, ist eine spezielle Neume. Es

folgen ein Torculus und ein Climacus. Die Steigerung der Zahl der

zusammengesetzten Noten (drei, dann vier) bedeutet, daß die

Frucht der Erde längere Zeit benötigt, um zu reifen. Die drei Neu-

men werden schließlich durch eine große Terz verbunden. Diese

Terz ist zuerst fallend la-fa, dann steigend fa-la (es gelten für un-

sere Analyse jeweils die ersten Noten der betreffenden Tongrup-

pen). Das wiederum erscheint als eine �Tonmalerei�: Der Segen

Gottes wird vom Himmel hinabsteigen (fallende Terz) und die

Frucht der Erde wird danach (steigende Terz) in den Himmel auf-

fahren (Christus).

Nehmen Sie bitte einen Textmarker zur Hand und markieren Sie

in der gregorianischen Partitur die Worte, welche in unserem Text

durch Großschreibung kenntlich gemacht wurden. Diese sind Trä-

ger des oratorischen Rhythmus, den wir bereits in der Deklamati-

on des Textes verwirklichen, wie folgt (CD-Track17):

DÓMINUS dabit BENIGNITÁTEM:

et terra nostra dabit FRUCTUM suum.

Jetzt solmisieren wir diese Melodie, indem wir die Intervalle so

gestalten, daß sie sich dem deklamierten Text am besten anpassen

(CD-Track18):

la sol do fa= fa

Tonfindungsformel:

= Anfangston.

Ergebnis: Die Töne �fa� (einge-

strichene Oktave) und �fa� (kleine

Oktave) wurden in ihrer Tonhöhe

gleichgestellt.

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Nach diesem �Muster� wird jede Melodie aus dem Graduale den

Scholaren erklärt, solmisiert und exemplifiziert. Die Scholaren er-

schließen den Text und deklamieren ihn dann unter Anleitung des

Scholaleiters. Der Scholaleiter bläst den Kammerton, singt laut die

Tonfindungsformel, solmisiert und phrasiert die Melodie stückwei-

se nach den vorhandenen Interpunktionszeichen des Textes. Da-

nach verbindet er exemplarisch Melodie und Text und fordert die

Scholaren auf, diese mit ihm zu singen. Sobald das Stück zu Ende

ist, soll er die Scholaren auffordern auch das Ganze allein zu sin-

gen. Schaffen es die Scholaren ohne Fehler (und ohne seine Hilfe

außer der Tonfindungsformel) das Stück aufzuführen, so ist die

Singprobe erfolgreich und wird beendet.

Um es kurz zusammenzufassen: Bei jeder Singprobe soll der Scho-

laleiter folgende Schritte durchführen:

1. Untersuchung des Textes nach seinem Sinn- und Affektgehalt.

2. Deklamation.

3. Kammerton und Tonfindungsformel.

4. Solmisation.

5. Exemplarische Aufführung durch Verbindung von Text und Me-

lodie.

Für eine detailliertere Analyse des Abhängigkeitsverhältnisses

zwischen Melodie und Text wollen wir im folgenden drei Beispiele

präsentieren, in denen dieselbe Melodie verschiedene Texte hat.

Diese Prozedur des Komponierens, Centonisation genannt, wurde

im Gregorianischen Choral oft verwendet.

1. Beispiel: Eine Antiphon zum Magnificat aus dem Antiphonale

Romanum:

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2. Beispiel: Dieselbe Melodie zu einem anderen Text aus dem An-

tiphonale:

3. Beispiel: Dieselbe Melodie nochmals zu einem anderen Text aus

dem Antiphonale:

Die Analyse wird jetzt nicht wie gewöhnlich mit dem Text, sondern

mit der Melodie anfangen müssen. Diese Melodie setzt sich aus

vier Motiven oder Phrasen zusammen (CD-Track19):

Ergebnis: Die Töne �sol� (eingestrichene

Oktave) und �re� (eingestrichene Oktave)

wurden in ihrer Tonhöhe gleichgestellt. la sol= re=

Tonfindungsformel:

Anfangston.

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92

1 2

3 4

Jeder sechsgliedrigen Tonfolge soll im Normalfall ein Text von

sechs Silbenlängen entsprechen. Bereits im 1. Beispiel gibt es aber

eine Abweichung von dieser a priori gestellten Regel (CD-Track20):

Sicherlich ist es Ihnen aufgefallen, daß die pausa minima zwischen

Dóminus und praeparávit von uns nicht berücksichtigt wurde. Der

Grund: Der Text weist hier keine Interpunktionszeichen wie

Komma, Kolon oder Semikolon auf. Daß hier dieses rein musikali-

sche Gliederungszeichen steht, beweist die Tatsache, daß diese Me-

lodie nicht zu diesem Text, sondern zu einem anderen komponiert

wurde, der an dieser Stelle irgendein Interpunktionszeichen hatte.

In diesem Zusammenhang weisen wir ausdrücklich darauf hin,

daß viele Melodien des Gregorianischen Chorals zu verschiedenen

Texten übernommen wurden, ohne daß man sich um eine vollstän-

dige Anpassung dieser Melodien an die neuen Texte gekümmert

hatte. Dies war damals der Fall, weil man früher nicht die Melo-

die, sondern den Text sang. Jeder Scholasänger wußte, daß der

Ergebnis: Die Töne �sol� (eingestrichene

Oktave) und �re� (eingestrichene Oktave)

wurden in ihrer Tonhöhe gleichgestellt. la sol= re=

Tonfindungsformel:

Anfangston.

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93

Satz �quam tibi Dóminus praeparávit in aetérnum� ununterbro-

chen gesungen werden muß.

Merken Sie sich auch noch die Ausdehnung des letzten Motives

dieser Melodie, das zu den acht Silben des Textes angepaßt werden

mußte.

prae-pa- rá- vit in ae- tér- num.

Zudem konnte auch die gedachte, regelmäßig fallende Akzentfolge

(wie in einem Versmaß), nicht bis zum letzten Wort eingehalten

werden, weil der Text als Prosa und nicht als Vers aufzufassen ist:

Veni SPONSA CHRISTI,

áccipe CORONAM,

quam tibi DOMINUS PRAEPARAVIT in AETERNUM.

Es ist nun sehr leicht festzustellen, daß die Akzente nicht in einem

regelmäßigen Abstand von zwei zu zwei Silben fallen und der gan-

ze Text nicht in vier, sondern nur in drei Teile zerlegt werden

kann.

Auch das 2. Beispiel weist Abweichungen von dem sechsgliedrigen

Schema auf (CD-Track21):

la sol= re=

Tonfindungsformel:

Anfangston.

Ergebnis: Die Töne �sol� (eingestrichene

Oktave) und �re� (eingestrichene Oktave)

wurden in ihrer Tonhöhe gleichgestellt.

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Entsprechend der Struktur dieses Textes wurde die ursprüngliche

Melodie geändert:

Vidi supra montem AGNUM STANTEM,

de sub CUJUS PEDE FONS VIVUS EMANAT.

Die in diesem Text vorhandenen Interpunktionszeichen verlangen

die Gruppierung der Motive in nur zwei Teilen. Daher mußten die

zwei musikalischen Gliederungszeichen (divisio minima) zwischen

montem und Agnum, sowie zwischen pede und fons wegfallen. Wir

stellen wieder fest, daß diese Melodie nicht zu diesem Text kompo-

niert wurde.

Hierzu noch eine kurze Bemerkung: Weil der Text für das zweite

Motiv dieser Melodie nur vier statt sechs Silben hat (Ag-num stan-

tem) sind folglich zwei zusammengesetzte Neumen entstanden: ein

Cephalicus re-si und eine Clivis do-si beim Wort Agnum.

In unserem letzten untersuchten Beispiel finden wir wiederum

Abweichungen von der a priori gedachten Regel (CD-Track22):

Sie haben gewiß bemerkt, daß die in diesem Text vorhandenen In-

terpunktionszeichen eine dreigliedrige Einteilung erzwungen ha-

ben:

la sol= re=

Tonfindungsformel:

Anfangston.

Ergebnis: Die Töne �sol� (eingestrichene

Oktave) und �re� (eingestrichene Oktave)

wurden in ihrer Tonhöhe gleichgestellt.

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Ecce SACERDOS MAGNUS,

qui in diebus suis PLACUIT DEO,

et INVENTUS EST JUSTUS.

Die dreiteilige Struktur des Textes hat zur Folge, daß die pausa

minor zwischen den Worten suis und placuit wegfallen muß. Wir

sind nun der Meinung, daß auch diese Melodie nicht zu diesem

Text komponiert wurde.

Es ist erstaunlich wie flexibel die Noten und Notengruppen einer

vorgegebenen Melodie reagieren müssen, um dem Text in adequa-

ter Weise zu entsprechen. Die Sänger fanden immer die beste Lö-

sung für den Fall, daß Musik und Text nicht optimal aufeinander

abgestimmt waren, indem sie zwischen den notierten Tonstufen

Übergangsnoten hinzufügten. So auch in unserem Beispiel. Da die

Zahl der Silben von sechs auf sieben erhöht wurde, mußten die An-

fangsnoten der ersten zwei Motive verdoppelt werden. Außerdem

wurde für die richtige Betonung des Wortes Deo gesorgt, denn aus

dem vorhandenen Punctum ist eine Bistropha entstanden.

Bisher haben wir gesehen, wie sich der Text und die Melodie ge-

genseitig beeinflussen. Der Text gibt der Melodie seine rhythmi-

sche Struktur und die Melodie gibt dem Text ihre musikalische

Form. Im Rahmen dieses Austauschs wird die Grenze zwischen

Sprache und Musik immer fließender. Einfache Noten werden zu

Notengruppen, dort, wo die Silben eine unbegrenzte Länge verlan-

gen, und Notengruppen werden ihrerseits verkürzt, wenn die Sil-

ben eine bestimmte Länge nicht überschreiten können oder dürfen.

In seiner theoretischen Abhandlung über den Gregorianischen

Choral schreibt Dom Joseph Pothier: 1)

�So hat der höhere Ton in dicentes am Schluß der Präfation eige-

nen melodischen Wert und darf nicht als Übergangsnote betrach-

1) Dom Joseph Pothier OSB Der Gregorianische Choral: seine ursprüngliche Gestalt und

geschichtliche Überlieferung. Deutsche Übersetzung von Pater Ambrosius Kienle OSB

(Tournay: Desclée, 1881), S. 120.

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tet werden, da sie trotz ihrer Kürze eine gewisse Selbständigkeit

hat. Wollten die Alten dennoch an solchen Stellen eine liquescie-

rende (fließende) Note, so fügten sie dieselbe in folgender Weise

hinzu:

Indess schrieb man diese Note gewöhnlich nicht, weil sie mit der

guten Aussprache von selbst kommt.�

In der Aufführungspraxis des Gregorianischen Chorals galt immer

der Grundsatz, daß der Vortrag des Textes um so festlicher sei, je

mehr Noten auf einer Silbe gesungen werden. Die langen Melis-

men des Graduale und des Allelúia belegen diese These.

Eigene Intervalle im Gregorianischen Choral

Die Kirche hat ihr musikalisches Tonsystem von den Griechen ü-

bernommen. Die Tonordnung der Griechen gründete auf der Quar-

te als fallendes Intervall. Dieses Intervall nannten sie Tetrachord

(Vierling). In ihrem Tonsystem, systema teleion genannt (auf

Deutsch: vollständiges System), verbanden sie zwei strukturmäßig

gleiche Vierlinge zu einer Tonreihe wie folgt:

dorischdorisch

phrygisch

phrygisch

lydischlydisch

Legende:

= Semitonium.

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Im dorischen System befindet sich das Semitonium am Ende eines

jeden Tetrachords; im phrygischen System in der Mitte und im ly-

dischen System am Anfang. Diesem Umstand zufolge bestimmte

die tetrachordische Zusammensetzung einer Melodie ihren charak-

teristischen musikalischen Ausdruck. Diese Tonreihen waren nach

einzelnen griechischen Volksstämmen benannt und einer seeli-

schen Grundhaltung zugeordnet. Die dorische Singweise zum Bei-

spiel war benannt nach dem Stamm der Dorier aus dem Norden

Griechenlands. Ihre Lieder galten als tugend- und heldenhaft. Da-

gegen galten die Lieder der Phrygier als leichtsinnig bzw. leiden-

schaftlich. Die Lieder des Volksstammes aus der Provinz Lydien

schließlich wurden als klagend bzw. wehmütig empfunden.

Nach der Ethoslehre der alten Griechen geht von der Musik eine

bestimmte sittliche Wirkung aus. Diese Meinung wurde unter an-

deren von den großen Philosophen Aristoteles und Platon vertre-

ten. Die Interaktion zwischen Musik, Philosophie und Moral bzw.

Ethik war bis ins Mittelalter hinein ein viel diskutiertes Thema;

unsere Abhandlung beschäftigt sich aber nicht mit diesen Fragen.

Was die Tonordnung der Griechen anbetrifft: Die drei oben darge-

stellten Tonreihen galten als Haupttonleitern. Sie konnten durch

Hinzufügung von zusätzlichen Tetrachorden erweitert werden.

Wurde die Erweiterung nach oben durchgeführt, so bekam die

Tonreihe zusätzlich die Benennung Hyper (Höhe); wurde dagegen

die Erweiterung nach unten vorgenommen, so bekam die Tonreihe

die zusätzliche Bezeichnung Hypo (Tiefe). So ist zum Beispiel das

Hyperdorische System (si1-la1-sol1-fa1-mi1-re1-do1-si) entstanden,

das auch Mixolydisch genannt wurde:

Dorisch

mi-fa-sol-la-si-do1-re1-mi1-fa1-sol1-la1-si1

Hyperdorisch (Mixolydisch)

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Hinweis: Bitte die Noten nicht steigend (nach unserer Art), sondern fallend le-

sen, also �rückwärts�: mi1-re1-do1-si-la-sol-fa-mi (Dorisch)

si1-la1-sol1-fa1-mi1-re1-do1-si (Mixolydisch).

Die Musiktheoretiker des Mittelalters haben das Tonsystem der

Griechen übernommen, die Tetrachorde jedoch steigend aufge-

stellt:

Somit wurden die Bezeichnungen dorisch und phrygisch umge-

kehrt benutzt. Das heißt, daß die dorische Tonreihe nicht mit dem

Ton mi, sondern mit re beginnt. Ebenfalls wurde der Anfang der

phrygischen Tonreihe statt auf den Ton re auf den Ton mi festge-

legt. Die lydische Tonreihe, abgesehen von der Umstellung auf eine

andere Tonstufe als do, fängt zudem mit einem ungewöhnlichen

Vierling an; mit dem diabolus in musica. Dennoch wurden diese

Bezeichnungen und dazu noch die Musikanschauung der Griechen

bis zu Beethoven und sogar noch bis in unsere Zeit hinein hartnä-

ckig vertreten. Wer die Musik als eine ethische Macht betrachtet,

pocht immer noch auf die Weisheit der Griechen.

Im Gregorianischen Choral kommen vier Intervalle vor, welche die

griechische Bezeichnung beibehalten haben: die dorische Sexte, die

phrygische Sekunde, die lydische Quarte und die mixolydische

Septime.

dorisch

dorisch

phrygisch

phrygisch

lydisch ?

Legende:

= Semitonium.

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dorisch dorisch

dorische Sexte

6M

phrygisch phrygisch

phrygische Sekunde

2m

lydisch ?

lydische Quarte

4+

? dorisch

mixolydische Septime

7m

In der theoretischen Darlegung des dorischen Tonsystems werden

zwei identisch gebaute Vierlinge benutzt (mit dem Semitonium in

der Mitte). Ebenfalls im phrygischen Tonsystem befinden sich zwei

identisch gebaute Vierlinge (mit dem Semitonium unten). Im lydi-

schen und mixolydischen Tonsystem aber gibt es keine einheitliche

Zusammensetzung. Ihr einzig vergleichbares konstitutives Ele-

ment ist der mit einem Fragezeichen bezeichnete Vierling, der sein

Semitonium oben hat. Aus diesem Vierling hat sich später unser

DUR-SYSTEM entwickelt; der aber nicht auf der Tonstufe fa und

ebenfalls nicht auf der Tonstufe sol (beide waren in der Praxis fest

mit dem lydischen bzw. mixolydischen Tonsystem verbunden),

sondern auf der Tonstufe do gebaut wurde.

do re mi fa sol la si do

Dur-VierlingDur-Vierling

Legende:

= Semitonium.

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100

Dieses Tonsystem besteht nun aus zwei identisch gebauten Vier-

lingen (mit dem Semitonium oben). In umgekehrten Reihenfolge

(fallende Tonreihe) wurde es von den Griechen als das lydische

Tonsystem benutzt. In der Praxis des Gregorianischen Chorals

fand es aber keine Verwendung.

Die dem Gregorianischen Choral vier charakteristischen Intervalle

bilden sich jeweils auf der ersten Tonstufe der betreffenden Ton-

reihe. Es versteht sich von selbst, daß es im diatonischen System

nur eine dorische Sexte, eine phrygische Sekunde, eine lydische

Quarte und eine mixolydische Septime gibt.

do re mi fa sol la si do re mi

graves

2 m

4 +

7 m

fa

6 M

finales acutae superacutae

Wir haben vorhin gesagt, daß die oben dargelegte Tonreihe den

Tonumfang der beiden Männerstimmen Baß und Tenor zusam-

mengenommen bildete. Dementsprechend konnten die Männer die

betreffenden Intervalle nur im Rahmen dieses Tonumfangs ge-

meinsam singen. Die ersten drei eigene Intervalle, die auf die

Stammtöne re, mi und fa gebaut wurden, konnten von den beiden

Männerstimmen leicht intoniert werden. Nicht so jedoch die mixo-

lydische Septime, welche aus dieser Tonreihe um einen Ton hin-

ausragt und sich bis zum Stammton fa im Bereich der superacutae

ausstreckt, der nur vom Tenor allein intoniert werden konnte.

Sollte der Baß eine mixolydische Septime intonieren, so war das in

der vorgegebenen Tonhöhe praktisch unmöglich. Nun half man

sich dabei dadurch, daß die gewünschte Septime zwar ihren �or-

dentlichen� Namen sol-fa behielt, die tatsächliche Tonhöhe jedoch

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nicht auf sol, sondern auf den noch mit keinem eigenen Intervall

belegten Stammton do verlegt wurde. Wie im Mittelalter üblich,

hat man dabei sol-fa gesagt und do-si bemolle gesungen.

do re mi fa sol la si do re mi

graves

7 m

finales acutae superacutae

Im Rahmen des vorgestellten Tonumfangs konnte nun auch die

mixolydische Septime leicht intoniert werden. Daß dadurch das

ganze Intonationssystem um eine fallende Quinte versetzt wurde,

wurde damals gar nicht zur Kenntnis genommen.

Da der Stammton do gelegentlich die Funktion des Stammtones sol

übernahm, wurde er nach und nach zu den wichtigsten Tönen im

Gregorianischen Choral gerechnet.

Genauso wie der Stammton fa, der die Erniedrigung der bewegli-

chen Tonstufe si verlangte (diabolus in musica), verlangte nun

auch der Stammton do diese Erniedrigung, und machte damit aus

einem im Gregorianischen Choral damals noch unbekannten Ton-

system (das gegenwärtige Dur-System-do) ein mixolydisches Ton-

system.

1 2 3 4 5 6 7 8

Wir weisen aber ausdrücklich nochmals darauf hin, daß dabei

nicht do-re-mi-fa-sol-la-si-do, sondern sol-la-si-do-re-mi-fa-sol ge-

sagt wurde, da der mittelalterliche Sänger das mixolydische Ton-

system nur auf dem Ton sol wahrnehmen konnte. Allein in diesem

Tonsystem befinden sich nämlich die zwei ihm geläufigen kleinen

Sekunden mi-fa und si-do.

Ihre Stellung im Tonsystem zwischen den Tonstufen 3-4 und 6-7

bewirkte die als normal angesehene Zusammensetzung der zwei

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konstitutiven Vierlinge des mixolydischen Tonsystems: den unte-

ren mit dem Semitonium oben und den oberen mit dem Semitoni-

um in der Mitte.

Diese Tonreihe wurde aber, wie soeben erklärt, um eine Quinte

tiefer intoniert und zwar auf den Stammton do. Aus diesem Grund

wurde nun auch die abgeleitete Tonstufe si bemolle zum diatoni-

schen System gerechnet.

SOL LA SI do re mi fa sol la si(b) si do1 re1 mi1 fa1 sol1 la1

graves finales acutae superacutae

Interessant ist es, in diesem Zusammenhang noch darauf hinzu-

weisen, daß die abgeleitete Tonstufe si bemolle nur im Bereich der

acutae erscheint. Sie ist nämlich aus der mittelaterlichen Singpra-

xis hervorgegangen. Im Bereich der graves konnte sie nicht ent-

stehen, weil in dieser Tonhöhe allein der Baß singen konnte. Ihre

Verankerung im Bereich der acutae sicherte die Funktionsfähig-

keit des mixolydischen Tonsystems unabhängig von seiner tatsäch-

lichen Tonhöhe.

Auf diesen Erkenntnissen basierend, können wir heute alle uns

bekannten Dur-Tonarten in lydische und mixolydische verwan-

deln. Erhöhen wir die vierte Tonstufe einer modernen Dur-Tonart,

so erhalten wir daraus eine mittelalterliche lydische Tonreihe; er-

niedrigen wir die siebte Tonstufe einer modernen Dur-Tonart, so

erhalten wir daraus eine mixolydische Tonreihe.

Wie das praktisch zu handhaben ist, zeigen wir anhand ausge-

wählter Fälle.

Problemstellung: Wir wollen aus der Dur-Tonart-fa eine lydische

Tonreihe machen.

Vorgehensweise:

1. Schritt: Wir nehmen das Dur-Modell-do zum Muster:

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2. Schritt: Wir schreiben nun die Dur-Tonart-fa indem wir darauf

achten, daß das Semitonium zwischen den Tonstufen 3-4 und 7-8

erscheint.

Die Struktur der Dur-Tonart-fa (Ganzton-Ganzton-Halbton-Ganz-

ton-Ganzton-Ganzton-Halbton) wurde nach dem Dur-Modell-Do

mit Hilfe der abgeleiteten Tonstufe si bemolle auf der Tonstufe fa

gebaut.

Wir erhöhen nun ihre vierte Tonstufe wie folgt:

Die Struktur der Dur-Tonart-fa wurde zerstört. Das als konstitutiv

geltende Semitonium zwischen der 3. und der 4. Tonstufe wurde

durch die Erhöhung der Tonstufe si bemolle zu si naturale nach

oben versetzt und befindet sich nun zwischen der 4. und 5. Tonstu-

fe (si-do). Wir haben eine im Mittelalter benutzte Tonreihe erhal-

ten: die lydische Tonreihe. Ihre Struktur (Ganzton-Ganzton-

Ganzton-Halbton-Ganzton-Ganzton-Halbton) ist allein dem Grego-

rianischen Choral eigen.

Da diese Tonreihe den normalen Tonumfang der Männerstimme

um einen Ton überschreitet (fa aus dem Bereich der superacutae),

müssen wir für die Intonation die bequemere Tonlage auf dem Ton

do auswählen.

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104

la sol do sol mi do= fa 1 2 3 4 5 6 7 8

Tonfindungsformel:

lydische Tonreihe

Wir hoffen, daß Sie mit Hilfe Ihres Kammertones diese Tonreihe

korrekt intoniert haben. Falls Sie eine Bestätigung wünschen, so

bieten wir Ihnen hierfür unsere Aufzeichnung an (CD-Track23).

Problemstellung: Wir wollen aus der Dur-Tonart-fa eine mixolydi-

sche Tonreihe machen.

Vorgehensweise:

Wir schreiben die Dur-Tonart fa (siehe die vollständige Prozedur

oben):

Wir erniedrigen nun ihre siebte Tonstufe (mixolydische Septime)

wie folgt:

Die Struktur der Dur-Tonart-fa wurde zerstört. Das als konstitutiv

geltende Semitonium zwischen der 7. und der 8. Tonstufe wurde

durch die Erniedrigung der Tonstufe mi zu mi bemolle nach unten

versetzt und befindet sich nun zwischen der 6. und 7. Tonstufe (re-

mi bemolle). Wir haben eine im Mittelalter benutzte Tonreihe er-

halten: die mixolydische Tonreihe auf der Tonstufe fa. Ihre Struk-

tur (Ganzton-Ganzton-Halbton-Ganzton-Ganzton-Halbton-Ganz-

ton) ist allein dem Gregorianischen Choral eigen.

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105

Da diese Tonreihe den normalen Tonumfang der Männerstimme

um einen Ton überschreitet (fa aus dem Bereich der superacutae),

müssen wir für die Intonation die bequemere Tonlage auf dem Ton

do auswählen.

la sol do sol mi do= fa 1 2 3 4 5 6 7 8

Tonfindungsformel:

mixolydische Tonreihe

Wir hoffen, daß Sie mit Hilfe Ihres Kammertones auch diese Ton-

reihe korrekt intoniert haben. Falls Sie eine Bestätigung wün-

schen, so bieten wir Ihnen hierfür unsere Aufzeichnung an (CD-

Track24).

Analog zu dieser Prozedur können wir alle uns bekannten Moll-

Tonarten in dorischen und phrygischen verwandeln: erhöhen wir

die sechste Tonstufe einer Moll-Tonart, so erhalten wir daraus eine

mittelalterliche dorische Tonreihe; erniedrigen wir die zweite Ton-

stufe einer modernen Moll-Tonart, so erhalten wir daraus eine

phrygische Tonreihe.

Wie das zu handhaben ist, zeigen wir ebenfalls anhand ausgewähl-

ter Fälle.

Problemstellung: Wir wollen aus der Moll-Tonart-re eine dorische

Tonreihe machen.

Vorgehensweise:

1. Schritt: Wir nehmen das Moll-System-do zum Muster:

Hinweis: Die Umstellung des Moll-Systems vom Moll-Modell-la auf die

Tonstufe do wird wegen der einfacheren Handhabung der Töne in der

Intonation vorgenommen: Es wird dieselbe Tonreihe mit ihren Tonsil-

bennamen do, re, mi, fa, sol, la, si gesungen und zugleich je nach System

(Dur oder Moll) werden dabei die zwei Tongeschlechter verwirklicht:

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DUR-SYSTEM-DO: MOLL-SYSTEM-DO:

Das MOLL-SYSTEM-DO dient uns also zum Muster: 1 2 3 4 5 6 7 8

2. Schritt: Wir schreiben nun die Moll-Tonart-re indem wir darauf

achten, daß das Semitonium zwischen den Tonstufen 2-3 und 5-

6 erscheint.

1 2 3 4 5 6 7 8

Die Struktur der Moll-Tonart-re (Ganzton-Halbton-Ganzton-Ganz-

ton-Halbton-Ganzton-Ganzton) wurde nach dem Moll-System-do

mit Hilfe der abgeleiteten Tonstufe si bemolle auf der Tonstufe re

gebaut.

Wir erhöhen nun ihre sechste Tonstufe wie folgt:

1 2 3 4 5 6 7 8

Die Struktur der Moll-Tonart-re wurde zerstört. Das als konstitu-

tiv geltende Semitonium zwischen der 5. und der 6. Tonstufe wur-

de durch die Erhöhung der Tonstufe si bemolle zu si naturale nach

oben versetzt und befindet sich nun zwischen der 6. und 7. Tonstu-

fe (si-do). Wir haben eine im Mittelalter benutzte Tonreihe erhal-

ten: die dorische Tonreihe. Ihre Struktur (Ganzton-Halbton-

Ganzton-Ganzton-Ganzton-Halbton-Ganzton) ist allein dem Gre-

gorianischen Choral eigen.

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Diese Tonreihe überschreitet nicht den normalen Tonumfang der

Männerstimme. Dennoch werden wir für die Intonation die Ton-

findungsformel einsetzen, die wir gewöhnlich für alle Moll-

Tonarten benutzen.

Hinweis: Die Eigenschaften einer Tonfindungsformel wurden bereits

beschrieben. Darunter wurde auch die tonale Eigenschaft erwähnt. Die

hier benutzte Tonfindungsformel eignet sich diese für Moll-Tonarten und

für alle aus ihnen hervorgegangenen Tonreihen notwendige tonale Ei-

genschaft herbeizuführen.

la sol do sol mi do= re

Tonfindungsformel:dorische Tonreihe

Wir hoffen, daß Sie mit Hilfe Ihres Kammertones auch diese Ton-

reihe korrekt intoniert haben. Zur Kontrolle bieten wir Ihnen un-

sere Aufzeichnung an (CD-Track25).

Problemstellung: Wir wollen aus der Moll-Tonart-re eine phrygi-

sche Tonreihe machen.

Vorgehensweise:

Wir schreiben die Moll-Tonart-re (siehe die vollständige Prozedur

oben):

1 2 3 4 5 6 7 8

Die Struktur der Moll-Tonart-re (Ganzton-Halbton-Ganzton-Ganz-

ton-Halbton-Ganzton-Ganzton) wurde nach dem als Muster die-

nende Moll-System-do mit Hilfe der abgeleiteten Tonstufe si be-

molle auf der Tonstufe re gebaut. Das Semitonium erscheint zwi-

schen den Tonstufen 2-3 und 5-6, wie es sich im Moll-Tonart-do

befindet.

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108

Wir erniedrigen jetzt ihre zweite Tonstufe:

1 2 3 4 5 6 7 8

Die Struktur der Moll-Tonart-re wurde zerstört. Das als konstitu-

tiv geltende Semitonium zwischen der 2. und der 3. Tonstufe wur-

de durch die Erniedrigung der Tonstufe mi zu mi bemolle nach un-

ten versetzt und befindet sich nun zwischen der 1. und 2. Tonstufe

(re-mi bemolle). Wir haben eine im Mittelalter benutzte Tonreihe

erhalten: die phrygische Tonreihe auf der Tonstufe re. Ihre Struk-

tur (Halbton-Ganzton-Ganzton-Ganzton-Halbton-Ganzton-Ganz-

ton) ist allein dem Gregorianischen Choral eigen.

Auch diese Tonreihe überschreitet nicht den normalen Tonumfang

der Männerstimme. Dennoch werden wir für die Intonation unsere

Tonfindungsformel einsetzen, die wir gewöhnlich für alle Moll-

Tonarten benutzen.

la sol do sol mi do= re

Tonfindungsformel:phrygische Tonreihe

TonreiheTonreihe

Wir hoffen, daß Sie mit Hilfe Ihres Kammertones auch diese Ton-

reihe korrekt intoniert haben. Zur Kontrolle bieten wir Ihnen un-

sere Aufzeichnung an (CD-Track26).

Zusammenfassung

Die dorische Sexte und die phrygische Sekunde können nur im

Rahmen der Moll-Tonarten; die lydische Quarte und die mixolydi-

sche Septime nur im Rahmen der Dur-Tonarten verwendet wer-

den. Die Prozedur sieht vor, daß das betreffende Intervall aus-

schließlich auf den ersten Ton der Tonreihe gebaut wird. Als Er-

gebnis erhalten wir auf jede beliebige Tonstufe der im Rahmen des

Gregorianischen Chorals benutzten Tonskala die vier im Mittelal-

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109

ter praktizierten Tonsysteme: DORISCH, PHRYGISCH, LYDISCH

und MIXOLYDISCH.

Das Quintenprinzip

Wie bereits erwähnt, verwendet der Gregorianische Choral eine

streng diatonische Tonreihe der sieben natürlichen Töne, denen

ein um einen Halbtonschritt erniedrigter Ton si hinzugefügt wur-

de. Wie ist diese Tonreihe entstanden ? Und: Wie kann man theo-

retisch ihre Struktur erklären ?

Abgesehen von dem Vorgehen Guido von Arezzos, der seine sechs-

gliedrige Tonreihe ut-re-mi-fa-sol-la anhand der Anfangssilben des

Hymnus Ut queant laxis aufstellte, soll die Entstehung der natür-

lichen Tonreihe in einem anderen Zusammenhang erklärt werden.

In der musikalischen Praxis hat sich nämlich herausgestellt, daß

jeder Ton gleichzeitig als Grundton und als Oberton, das heißt als

Teilton eines anderen Tones angesehen werden kann. Jeder Ton

der natürlichen Tonreihe do-re-mi-fa-sol-la-si kann somit zum

Grundton werden und seine Oberquinte ist dabei gleichzeitig mit

ihm zu hören: do zum Beispiel als Grundton �erzeugt� seine Ober-

quinte, den Ton sol. Auf gleicher Weise �erzeugt� dann der Ton sol,

wenn er als Grundton genommen wird seine Oberquinte re und

nach dieser Prozedur entstehen der Reihe nach alle sieben natürli-

chen Töne. Nehmen wir als Beispiel den Grundton do:

1 2

2. Oktave

4

Terz

5

2. Quinte

6

Septime

7 8 9 10 11 12 13 14 15 16....

GRUNDTON

OktaveQuinte

3

Die Zahlen bezeichnen die Rangordnung der zum Grundton do ge-

hörenden Obertöne. Offensichtlich ist diese Tonreihe unendlich

und außer der Oberquinte erscheinen hier alle anderen Intervalle.

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Die Zahl eins definiert die Prime als Intervall (der Grundton

selbst); die Zahl zwei seine Oktave (Zahlenverhältnis 2:1=2). Die

anderen Intervalle werden entsprechend ihrer Stellung in dieser

Reihenfolge definiert. Die obere Zahl dividiert durch die untere ist

somit der mathematische Ausdruck des zwischen den beiden Ober-

tönen definierten Intervalls. Die Quinte zum Beispiel wird durch

das Zahlenverhältnis 3:2 und die Quarte durch 4:3 definiert. Es

folgen die große Terz (5:4) und die kleine Terz (6:5). Die zwei gro-

ßen Sekunden (ab der Zahl 8) do-re und re-mi sind in ihrem ma-

thematischen Ausdruck (und ebenso auch in der Intonation) un-

gleich groß: do-re wird durch das Zahlenverhältnis 9:8 und re-mi

durch das Zahlenverhältnis 10:9 repräsentiert. Wir singen also im

Gegensatz zur instrumentalen Musik, welche in ihrer Struktur nur

gleichmäßige Tonfolgen kennt (Ganzton-Ganzton-Halbton-

Ganzton-Ganzton-Ganzton-Halbton), eine stets ungleichmäßige

Tonfolge von Ganztonschritten (großer Ganzton-kleiner Ganzton-

Halbton-großer Ganzton-kleiner Ganzton-großer Ganzton-Halb-

ton), wie in der folgenden Aufstellung:

Es wird später zu zeigen sein, daß diese Eigenschaft der reinen

Intonation die Einzigartigkeit des Gregorianischen Chorals aus-

macht. Denn in der Singpraxis nach der Editio Vaticana intonieren

wir nicht nur die großen Sekunden, sondern auch die kleinen Ter-

zen in zwei verschiedenen Größen (wie wir bereits gelernt haben,

besteht die kleine Terz aus einem Ganzton und einem Halbton und

der Ganzton kann eben entweder groß oder klein sein).

Es gilt also als erwiesen, daß jeder einzelne Ton gleichzeitig als

�Produkt� und als �Produzent� von Tönen angesehen werden kann

und daß im Augenblick des Singens alle von uns �produzierten�

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Töne ihrerseits eigene Teiltöne �produzieren�. Die ganze Musik

steckt gewissermaßen in dem einen Ton, den wir singen oder spie-

len. In der Reihe der Teiltöne eines Grundtones erscheinen zuerst

die reinen Intervalle: die Prime, die Oktave, die Quinte und die

Quarte. Diese und auch die anderen Intervalle, ob große oder klei-

ne, sind komplementäre Intervalle, weil sie sich in dem einen

Grundton bzw. in seiner Oktave befinden. Wir haben vorhin ge-

zeigt (Seite 65), daß die Quinte und die Quarte �von Natur aus�

rein intoniert werden, weil sie sich immer zu einer Oktave ergän-

zen. Als Beispiel haben wir dort die Bildung der Oktave do-do

durch Vermittlung der Oberquinte sol bzw. der Unterquinte fa ge-

zeigt:

Die Oktave do-do entsteht also durch Addition einer Quinte und

einer Quarte. Beide Intervalle können steigend oder fallend sein:

do sol do do fa do

5 4 4 5

do sol do do fa do

4 5 5 4

Die Tonhöhe der beiden Töne mit dem Namen do im Oktavensys-

tem (zu dem Oktavensystem siehe Seite 49) kann beliebig als

Grundlage dieses Verfahrens gewählt werden. Ob do-do1 bzw. do1-

do wie oben beschrieben, oder do1-do2 usw. die Oktave des Tones

do sol sol do do fa fa do

DO

SOL

FA

5

8

4 4

8

5

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112

do entsteht immer durch Addition zwischen seiner Quinte und sei-

ner Quarte. Im ersten Fall haben wir die Quinte sol-do (fallend)

und die Quarte sol-do (steigend), welche die Oktave do-do bilden

und im zweiten Fall haben wir die Quarte fa-do (fallend) und die

Quinte fa-do (steigend), die sich zur Oktave do-do ergänzen. Wir

halten also fest, daß das Intervall sol-do und das Intervall fa-do

immer rein bleibt, je nachdem, ob seine Richtung steigend oder

fallend ist. Diese Feststellung ist für die Konstruktion und sichere

Intonation von Intervallen von großer Bedeutung. Sie werden au-

tomatisch rein gesungen, weil sie immer Teiltöne eines Grundto-

nes sind. Auch die anderen Intervalle sind komplementär und bil-

den ihrerseits die Oktave des Grundtones do und zwar die große

Terz do-mi, welche durch die kleine Sexte mi-do und die große Se-

kunde do-re, welche durch die kleine Septime re-do zur Oktave do-

do ergänzt werden kann. Für ihre Konstruktion bzw. Intonation

sind wir aber gezwungen, Vergleiche mit entsprechenden Mustern

zu ziehen (siehe Seite 77).

do mi do do re do

3M 6m 2M 7m

Ähnlich die Konstruktion der Oktave durch Addition von kleinen

Terzen und großen Sexten bzw. kleinen Sekunden und großen Sep-

timen.

re fa re re si re

3m 6M 3m 6M

do si do do re do

2m 7M 2m 7M

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113

Die Größe eines zweiten komplementären Intervalls wird durch die

Größe des zur Bildung der Oktave vorgesehenen ersten Intervalls

bestimmt. Ist das betreffende Intervall rein, so muß das komple-

mentäre auch rein sein; ist das betreffende klein oder groß, so muß

das komplementäre seinerseits groß oder klein sein. In unserem

obigen Beispiel wird die kleine Sekunde do-si (ein Halbtonschritt)

durch die große Septime si-do (fünfeinhalb Tonschritte) und die

kleine Sekunde do-re bemolle ebenfalls ein Halbtonschritt durch

die große Septime re bemolle-do zur Oktave ergänzt.

Einer Besonderheit bei der Bildung der Oktave durch Addition von

komplementären Intervallen begegnen wir in der Oktave si-si.

Hier haben wir ausnahmsweise si-fa, die �falsche Quinte� (drei

Ganztonschritte), und fa-si (Tritonus), ebenfalls drei Ganzton-

schritte im Rahmen der Oktave si-si:

si fa si si fa si

5- 4+ 4+ 5-

Der Ton si als Grundton genommen, produziert nämlich keine rei-

ne Quinte mit dem Namen fa, wie zu erwarten wäre, sondern eine

den früheren Theoretikern unbekannte Oberquinte (in der moder-

nen Musiktheorie der Ton �fis�). Die �falsche Quinte� si-fa enthält

nämlich nicht die für die Bildung der reinen Quinte erforderliche

Zahl von dreieinhalb Ganztonschritten, sondern nur drei Ganzton-

schritte (Tritonus).

si do re mi fa

SEMITONIUM TONUS TONUS SEMITONIUM

Daraus wurde der Schluß gezogen, daß der natürliche Ton fa nicht

die Oberquinte des Tones si sein kann, sondern eines damals noch

nicht bekannten, um einen Halbtonschritt tiefer liegenden Tones

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114

si. Dieser Ton wurde si bemolle genannt und als Merkmal seiner

�Versetzung� bzw. seiner tieferen Tonlage wurde neben der Note si

das B-Zeichen gesetzt.

si do re mi fa

TONUS TONUS TONUS SEMITONIUM

Die abgeleitete Tonstufe si bemolle (als Grundton genommen) �er-

zeugt� tatsächlich den natürlichen Ton fa (dritter Teilton):

1 2 3

2. Oktave

4

Terz

5

2. Quinte

6

Septime

7

3. Oktave

8 9 10 11 12 13 14 15 16...

GRUNDTON

OktaveQuinte

Das Verfahren nach dem Quintenprinzip kann beliebig mit jedem

Ton als Grundton fortgesetzt werden. Dadurch erhalten wir stän-

dig neue Töne als Oberquinten. Das Quintenprinzip läßt also alle

Töne in einer sogenannten Quintenspirale entstehen:

FA# SI

MI LA RE SOL Si (bemolle) FA DO

Die Quintenspirale (oder auch Quintenkette) knüpft ab dem Ton SI

steigend an die erhöhten und ab dem Ton FA fallend an die ernied-

rigten Töne in der gezeigten Reihenfolge an:

FA - DO - SOL - RE - LA - MI - SI (weiter steigend durch #)

FA# - DO# - SOL# - RE# - LA# - MI# - SI#

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115

SI - MI - LA - RE - SOL - DO - FA (weiter fallend durch B-Zeichen)

Somit können wir das gesamte Tonmaterial der Musik wie folgt

darstellen:

fa do sol re la mi si fa do sol re la mi si fa do sol re la mi si

Erniedrigte Töne Natürliche Töne Erhöhte Töne

Oder in einer kompletten Quintenspirale eingeschlossen:

Die Lesart nach rechts entspricht der steigenden Quinten (fa, sol,

la, si, do) und die Lesart nach links der fallenden Quarten (fa, mi,

re, do) in der Quintenkette. Bitte prägen Sie sich diese natürliche

Tonordnung in Ihrem Gedächtnis gut ein.

FA DO SOL RE LA MI SI

SI MI LA RE SOL DO FA

Hinweis: In der modernen Theorie der Musik wird die erhöhte Quinten-

kette ab dem Ton si# mit den doppelerhöhten Tönen (Doppelkreuz) und

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die erniedrigte Quintenkette ab dem Ton fa bemolle mit den doppeler-

niedrigten Tönen (Doppel-Be) fortgesetzt.

Als Vorzeichen der modernen Tonarten in Dur und Moll begegnet

uns die Quintenkette in der gezeigten Reihenfolge am Anfang ei-

nes jeden Liniensystems:

Anmerkung: SI-MI-LA-RE-SOL-DO-FA ist eigentlich die Quintenkette FA-

DO-SOL-RE-LA-MI-SI rückwärts gelesen.

Liest man das Intervall fa-do zum Beispiel (oder auch fa#-do#)

steigend, so ist das eine reine Quinte; liest man es aber fallend (fa,

mi, re, do), so ist es eine reine Quarte (die beiden Intervalle sind ja

komplementär). Die Quintenkette FA-DO-SOL-RE-LA-MI-SI kann

also rückwärts gelesen werden: SI-MI-LA-RE-SOL-DO-FA. Durch

Umkehrung wird die Quintenkette zur Quartenkette.

Hauptgrundsatz des Quintenprinzips:

Die Quinte, die Quarte, die Terz und die Sekunde werden zur

Drehachse der Oktave, wenn man ihnen jeweils das passende In-

tervall zur Ergänzung der Oktave zufügt. Die Zusammensetzung

der komplementären Intervalle erfolgt nach den Regeln:

rein mit rein

klein mit groß oder groß mit klein

übermäßig mit vermindert oder vermindert mit übermäßig

Am Beispiel der Oktave fa1-fa2 wollen wir die Addition von kom-

plementären Intervallen erläutern:

1. Variante: Reine Quinte und reine Quarte. Zur Drehachse wird

der Ton do2 :

5 4

FA-DO-SOL-RE-LA-MI-SI SI-MI-LA-RE-SOL-DO-FA

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117

Die Oktave dreht sich um den Ton do2, wobei die Quinte zur Quar-

te und die Quarte zur Quinte wird:

4 5

Hinweis: Ähnlich kann man zur Drehachse den Ton si bemolle1 nehmen,

wobei zuerst die reine Quarte und dann die reine Quinte gebaut wird

und umgekehrt.

fa si fa fa si fa

4 5 5 4

2. Variante: Kleine Terz und große Sexte. Zur Drehachse wird der

Ton la bemolle1:

Die Oktave dreht sich um den Ton la bemolle1, wobei die kleine

Terz zur großen Sexte und die große Sexte zur kleinen Terz wird:

6M 3m

Hinweis: Ähnlich können kleine Sekunden (fa1-sol bemolle1) oder kleine

Sexten (fa1-re bemolle2); große Sekunden (fa1-sol1) oder große Septimen

(fa1-mi2) zum Ausgangspunkt dieses Verfahrens genommen werden.

3m 6M

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Zur Drehachse werden entsprechend die Töne sol bemolle1, re bemolle2,

sol1 und mi2 bestimmt.

3. Variante: Übermäßige Quarte und verminderte Quinte. Zur

Drehachse wird der Ton si1:

4+ 5-

Die Oktave dreht sich um den Ton si1, wobei die übermäßige

Quarte zur verminderten Quinte und die verminderte Quinte zur

übermäßigen Quarte wird:

5- 4+

Das Quintenprinzip hat den Horizont der Musik weit über den Be-

reich der natürlichen Töne geöffnet und das Tonmaterial durch

erhöhte und erniedrigte Töne erweitert. In der Quadratnotation

des Gregorianischen Chorals kommen aber alle �versetzten� Töne

mit Ausnahme des si bemolle nicht vor. Daher werden wir ihre

theoretische und praktische Bedeutung nur insofern beschreiben,

als es für die Handhabung unserer Singmethode nötig ist.

Zunächst stellen wir fest, daß die Tonstufe si bemolle ( und eben-

falls auch alle anderen �versetzten� Tonstufen) kein natürlicher 1)

Ton ist, sodaß die Grundordnung der natürlichen Töne nach dem

Oberquint-Prinzip mit dem Ton fa beginnt und wie folgt aussieht:

FA DO SOL RE LA MI SI

1) Die Bezeichnung �natürlich� ist hier so zu verstehen, daß der Ton nicht versetzt worden

ist. Diese Redeweise aus dem Mittelalter wurde in der Musiktheorie unverändert übernom-men, obwohl auch die versetzten Töne ganz �natürlich� erzeugt werden.

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119

Die Stammtonstufe do spielt wegen ihrer bevorzugten Stellung in

der natürlichen Quintenreihe sowohl im mittelalterlichen als auch

im modernen Intonationssystem eine führende Rolle. Ihre Unter-

quinte ist die erste natürliche Quinte; oder besser gesagt, der erste

natürlich �erzeugte� Quintton ist ihre Unterquinte.

Wenn man die natürliche Quintenreihe FA-DO-SOL-RE-LA-MI-SI

so schreibt, daß sich die Oberquinte des zweiten, vierten und

sechsten Tones von den anderen hervorhebt, ergibt sich eine Ton-

folge auf zwei Ebenen: die obere DO-RE-MI und die untere FA-

SOL-LA-SI. Verbindet man die erste mit der zweiten, so ergibt sich

gerade die von Guido von Arezzo �erfundene� Tonordnung: do-re-

mi-fa-sol-la-(si). DO RE MI

FA SOL LA SI

Das Intervall DO-MI (große Terz) auf der 1. Ebene ist die Grund-

lage unseres modernen Intonationssystems. Sie setzt sich aus dem

großen Tonschritt DO-RE und dem kleinen Tonschritt RE-MI zu-

sammen.

Es zeigt sich also, daß die diatonische Tonleiter kein Zufallspro-

dukt ist (siehe Guido von Arezzo mit seinem Hymnus Ut queant

laxis), sondern sich ihre Begründung in folgenden, aus der reinen

Intonation ergebenden, zusammengesetzten Intervalle ergibt:

1. ein großer Ganzton und ein kleiner Ganzton bilden zusammen

immer eine große Terz.

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120

2. eine große Terz und eine kleine Terz bilden zusammen immer

eine reine Quinte.

3. eine reine Quinte und eine reine Quarte bilden zusammen im-

mer eine Oktave.

Natürlich ist dann die Oktave, die nach dieser Prozedur entsteht,

auch rein (im Gegensatz zur �temperierten� Oktave der Tastenin-

strumente).

Erklärungsansatz zu 1.: Wir analysieren die Terz do-mi welche die

Grundlage unseres Dur-Systems-do ist. Sie setzt sich wie bereits

erklärt, aus einem großen und einem kleinen Ganzton zusammen:

do re mi

2M

9/8

2M10/9

Hinweis: Die Zahlen sind aus dem zuvor gezeigten Beispiel mit den O-

bertönen des Grundtones DO (siehe Seite 109) zu entnehmen. Dort er-

scheinen diese zwei Sekunden als Obertöne des Grundtones DO und

zwar ab der Ordnungszahl 8. Der große Ganzton do-re wird durch den

mathematischen Teilwert 9:8 und der kleine Ganzton re-mi durch 10:9

repräsentiert.

Beide werden in der modernen Musiktheorie irrtümlich große Se-

kunden genannt (2M), obwohl die erste Sekunde offensichtlich grö-

ßer als die zweite ist.

Anmerkung: Dieser Irrtum bezieht sich allein auf die Bezeichnung der

Intervalle in der Vokalmusik. Denn die in der Instrumentalmusik be-

nutzten Intervalle c-d und d-e sind temperiert und daher tatsächlich

gleich groß. Da wir die Benennung der Intervalle aus der modernen The-

orie der Musik übernommen haben, werden wir gegebenenfalls auch die

entsprechenden Korrekturen anzeigen müssen.

Franz Caiter, Graduale für die Sonn- und Feiertage im Jahreskreis.

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121

Erklärungsansatz zu 2.: Wir analysieren (repräsentativ für alle

Quinten) die Quinten fa-do und do-sol aus der Quintenkette. Sie

setzen sich aus einer großen und einer kleinen Terz zusammen:

Die reine Quinte fa-do setzt sich aus fa-la einer großen Terz (ma-

thematischer Ausdruck 5:4) und la-do einer kleinen Terz (mathe-

matischer Ausdruck 6:5) zusammen. Dieselbe Struktur weist die

Quinte do-sol auf.

Hinweis: Die Zahlen sind aus dem zuvor gezeigten Beispiel mit den O-

bertönen des Grundtones DO (siehe Seite 109) zu entnehmen. Dort er-

scheinen ab der Ordnungszahl 4 zuerst die große Terz do-mi (mathema-

tischer Ausdruck 5:4) und dann die kleine Terz mi-sol (mathematischer

Ausdruck 6:5). Diese zwei Terzen stehen dort repräsentativ für alle gro-

ßen und kleinen Terzen im Rahmen unseres Intonationssystems. Gleich

in der Zusammensetzung der zweiten Quinte der Quintenkette (DO-

SOL) erscheinen diese als Norm angesehenen Terzen do-mi und mi-sol.

Alle folgenden Quinten weisen dieselbe Zusammensetzung auf. Sie

sind jeweils die Summe einer großen und einer kleinen Terz. Ihr

mathematischer Ausdruck (3:2) ist das Verhältnis des dritten O-

bertones eines jeden Grundtones zu seinem zweiten Oberton, der

die Oktave des betreffenden Grundtones ist (und somit denselben

Namen hat). Die Bildung der großen Terz auf dem Grundton einer

jeden Quinte verlangt außerdem, daß der betreffende Ton gegebe-

nenfalls erhöht wird: fa#, do#, sol# usw. Die Erhöhung wird dann

erforderlich, wenn wir zwischen den beiden (natürlichen) Tönen an

Stelle von einem Ganzton einen Halbton haben. Darum erscheinen

auch die erhöhten Töne in derselben Zusammensetzung einer

Quintenkette, wie oben beschrieben.

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122

Für die Zusammensetzung der großen Terz haben wir bereits ge-

sehen, daß es eines großen und eines kleinen Ganztons bedarf (sie-

he Seite 120).

Für die Zusammensetzung der kleinen Terz analysieren wir die

kleine Terz mi-sol, welche das Intervall zwischen dem 5. und 6.

Teilton des Grundtones DO (mathematischer Ausdruck 6:5) aus-

macht.

mi fa sol

2m16/15

2M

9/8

Sie setzt sich aus einem Halbton (mathematischer Ausdruck 16:15)

und einem großen Ganzton (mathematischer Ausdruck 9:8) zu-

sammen.

Hinweis: Die Zahlen sind aus dem zuvor gezeigten Beispiel mit den O-

bertönen des Grundtones DO (siehe Seite 109) zu entnehmen. Dort ha-

ben wir die kleine Sekunde si-do ab der Ordnungszahl 15, welche reprä-

sentativ für alle diatonischen Halbtöne unseres Intonationssystems

steht. Der große Ganzton (9:8) ist uns bereits bekannt.

Erklärungsansatz zu 3.: Die Zusammensetzung der reinen Quinte

haben wir bereits dargestellt. Es bleibt uns nur noch die Analyse

der Zusammensetzung einer Quarte vorzunehmen. Als Beispiel

nehmen wir die Quarte do-fa. Sie setzt sich aus einem kleinen

Ganzton und einer kleinen Terz zusammen:

10/92M

9/82M

3m

16/152m

Hier werden Sie nun bestimmt einwenden, daß wir die Zahlen des

ersten und zweiten Intervalls umgetauscht haben. Denn die zwei

Intervalle do-re und re-mi wurden zuvor so vorgestellt, als sei do-re

der �große� und re-mi der �kleine� Ganzton. In der Tat: Dort haben

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123

wir die zwei ungleich großen Ganztöne so notiert, weil die vorge-

stellte Tonreihe die ganze Oktave do-do umfaßt. Hier aber endet

unsere Tonreihe beim Ton fa. Wir haben Ihnen zuvor erklärt, daß

die Zusammensetzung einer Oktave von der gewählten Drehachse

bestimmt wird. Wir haben uns in diesem Fall für den Ton fa als

Drehachse der Oktave do-do entschieden und somit in Kauf ge-

nommen, daß der Ton fa die Oberquinte des Tones si bemolle ist.

Dementsprechend müssen wir der Zusammensetzung der Teiltöne

des Tones si bemolle Folge leisten. Auf Seite 114 haben wir das

Schema der Teiltöne für den Grundton si bemolle erklärt. Dort

kann man sehen, daß das von uns hier mit dem mathematischen

Ausdruck 10:9 notierte Intervall do-re richtig ist. Denn das Inter-

vall do-re erscheint dort zwischen der Ordnungszahl 9 und der

Ordnungszahl 10. Der Ton si bemolle hat also die Änderung der

Größe des Intervalls do-re verursacht.

Mit anderen Worten: Wer eine Tonreihe zu singen beginnt, muß

doch im voraus wissen wieviele Töne und in welcher Richtung er

singen will. Wie man im Leben jede Aktion auf ein Ziel hin richtet,

so muß man auch beim Singen wissen, wo die Melodie hinführt.

Wollen wir eine gewisse Tonreihe singen, so müssen wir zuerst ih-

ren Anfang und ihr Ende bestimmen. Die Zusammensetzung der

betreffenden Tonreihe wird somit automatisch in Oberquinten und

Unterquinten zerlegt, ehe wir einen einzigen Ton davon gesungen

haben. Diese Prozedur findet unbewußt und unabhängig von unse-

rem Willen in unserem inneren Intonationssystem statt, wobei die

Größe der notwendigen Tonschritte von dem gesetzten Anfang und

dem gewollten Ende der Tonreihe abhängig wird. Wurde der Ton

DO zum Anfang und der Ton DO zum Ende bestimmt, so wird die

Tonreihe aus der folgenden Quintenkette gewonnen:1)

FA DO SOL RE LA MI SI

Die notwendigen Tonschritte der Tonreihe erfolgen dann automa-

tisch und unbewußt nach dem Schema:

1) Wir erzielen dasselbe Ergebnis, wenn wir DO zum Anfang und SOL zum Ende der Ton-reihe bestimmen, weil SOL die Oberquinte des Tones DO ist.

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124

DO RE MI

FA SOL LA SI

Wurde dagegen der Ton DO zum Anfang und der Ton FA zum En-

de bestimmt, so wird die Tonreihe aus einer anderen Quintenkette

gewonnen:

SI bemolle FA DO SOL RE LA MI

Der Ton si naturale verschwindet aus der vorhandenen Quinten-

kette (er kann mit dem Ton FA keine reine Quinte bilden) 1) und

an seiner Stelle kommt der Ton si bemolle in die Quintenkette hin-

ein, mit dem der Ton FA eine Unterquinte bilden kann. Dies hat

zur Folge, daß sich die notwendigen Tonschritte der Tonreihe so-

fort nach einem anderen Schema zusammensetzen:

FA SOL LA

SI bemolle DO RE MI

Die Hauptrollen wurden umgetauscht: War im ersten Fall die Terz

do-mi bestimmend, so steht im zweiten Fall die Terz fa-la im Vor-

dergrund. Der Ton DO tritt in den Hintergrund sobald sein Leitton

(die Tonstufe si naturale) aus der Quintenkette verschwindet. Der

Ton SI bemolle tritt nun auf an seiner Stelle und bekommt den

Ton LA zum Leitton. Somit hat er den Vorrang bei der Bestim-

mung der Zusammensetzung der Töne in der Quintenkette.

1) Die �falsche� Quinte bzw. übermäßige Quarte wird gegenwärtig erfolgreich als Warnsignal

im Straßenverkehr (Martinshorn) eingesetzt (Polizei, Krankenwagen und Feuerwehr), eben

wegen ihrer Eigenschaft den Fußgängern und Verkehrsteilnehmern Schrecken einzujagen. Kein Mensch, der dieses Warnsignal hört, kann in seinem �inneren� Intonationssystem eine

�logische Verbindung� zwischen den beiden gehörten Tonstufen si und fa finden und wird plötzlich ängstlich und zurückhaltend bzw. bringt sich in Sicherheit.

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Wir halten also fest: Wird ein Intervall oder eine Tonreihe von uns

als Quinte oder als Quarte gedacht oder intoniert und wird die be-

treffende Tonreihe nicht bis zur Oktave fortgesetzt, so wird der

betreffende Quint- oder Quartton zur Drehachse der Oktave. Die

komplementären Intervalle tauschen dementsprechend ihre Zu-

sammensetzung um: Der große Ganzton wird zum kleinen Ganzton

und umgekehrt.

Musterbeispiel: FA - DO - SOL (do-do ist die Oktave; fa und sol

potentielle Drehachsen)

1. Fall: Die Tonreihe führt bis zum sol hin und endet dort oder sie

beginnt mit sol und endet mit do.

Die Entscheidung für sol als Drehachse der Oktave do-do hat zur

Folge, daß der Ton sol und seine weiteren Oberquinten bei der Zu-

sammensetzung von komplementären Intervallen mitwirken.

Die Tonreihe nimmt dann folgende Gestalt an:

9/82M

10/92M

3m

16/152m 2M

9/8

3m

Ergebnis: Der Anfang wirkt expansiv (do-re ist der große und re-mi

der kleine Ganzton), weil die Quinte sol alle weiteren Oberquinten

potenziell in sich vereinigt. Die kleine Terz re-fa ist aber kleiner

als die kleine Terz mi-sol, weil nach dem großen Aufschwung des

ersten Intervalls eine Zusammenziehung der weiteren Intervalle

folgt. Diese Begebenheit hat in unserem Alltagsleben ihre Begrün-

dung: Wer einen Berg besteigen will und gleich in der ersten Stun-

de mit großen Schritten zu gehen beginnt, wird bald ermüden und

als Folge wird er immer kleinere Schritte machen müssen. Wer

dagegen klein anfängt, wird ohne Mühe zum Ziel kommen.

2. Fall: Die Tonreihe führt bis zum fa hin und endet dort, oder sie

beginnt mit fa und endet mit do.

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Die Entscheidung für fa als Drehachse der Oktave do-do hat zur

Folge, daß der Ton fa und seine weiteren Unterquinten bei der Zu-

sammensetzung von komplementären Intervallen mitwirken.

Die große Terz, die sich aus dem großen und dem kleinen Ganzton

zusammensetzt, bleibt aber davon unbeinträchtigt. Denn im End-

effekt ist die Entfernung do-mi immer (10:9)+(9:8). Ob wir 10:9 zu-

erst und 9:8 danach haben, oder umgekehrt, wir haben als Ergeb-

nis immer dieselbe Summe. Unterschiedlich ist dabei jedoch die

tatsächliche Tonhöhe des Tones re und zwar einmal näher zu do

und einmal näher zu mi. Die Differenz zwischen dem großen und

dem kleinen Ganzton definiert diese Tonschwankung. Sie heißt in

der Fachsprache das syntonische Komma und wurde mathema-

tisch berechnet zu (80/81 bzw.23,46 Cent).1)

9/8 10/9

do re mi

do re mi

10/9 9/8

Fast alle Menschen sind von Natur aus mit einem sehr feinen Ge-

spür für Intervalle ausgestattet. Diese natürliche Anlage ermög-

licht ihnen sowohl gehörte als auch selbst produzierte Töne phy-

sisch und psychisch miteinander und untereinander zu verglei-

chen. Unbewußt �rechnen� sie dabei die gehörten oder produzier-

ten Intervalle nach den hier dargelegten Grundsätzen, indem sie

große und kleine Ganztöne zu großen Terzen; große und kleine

Terzen dann zu reinen Quinten addieren. Umgekehrt teilen sie

1) Wie (fast) alle Autoren von Singschulen warnen auch wir vor einer allzu großen Mathema-

tisierung der Musik. Hans Joachim Moser schreibt dazu in seiner Allgemeinen Musiklehre (1955, Seite 39) folgendes: �Die Zahlenverhältnisse und ihre Auswirkung in der Oberton-reihe sind zwar eine höchst wichtige Begleiterscheinung und Bestätigung unseres Tonvorrats

und unserer Stimmungen, aber sie sind nicht deren primäre Ursache und können nicht als

eigentliche Daseinserklärung unseres Tonsystems angesehen werden.�

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notfalls die reinen Quinten in große und kleine Terzen und diese

weiter in große und kleine Ganztöne. Als Ergebnis erhalten sie

immer wieder dieselbe natürliche Tonreihe do-re-mi-fa-sol-la-si,

wobei diese Stammtonstufen unbeirrt ihren angestammten, festen

Platz einnehmen.

Wir halten diese Problematik in der Ausbildung unserer künftigen

Scholaleiter für sehr wichtig. Wir wollen sie gründlich darauf vor-

bereiten, weil sie mit großem Widerstand seitens mancher Orga-

nisten zu rechnen haben, wenn es darum geht, den Gregoriani-

schen Choral nicht mit Orgelbegleitung vorführen zu wollen. Die

hier dargelegten Grundsätze der reinen Intonation in der Vokal-

musik wurden und werden ständig mißachtet. Die Schola kann

nicht instrumental (temperiert) singen und so erklärt sich die Un-

lust vieler Männer in einer Schola mitzumachen, in der Singübun-

gen und Aufführung des Gregorianischen Chorals mit Hilfe von

Tasteninstrumenten praktiziert wird. Unbewußt spüren sie, daß

diese Art von Singen nicht mit ihrer natürlichen Anlage im Zu-

sammenklang steht. Peter Hölzl, Verfasser einer praktischen Sing-

schule mit dem Titel: �Ein Weg zum Singen nach Noten� (Mün-

chen, 1987, Seite 30) sagt diesbezüglich: �...daß niemand tempe-

rierte Intervalle singen, ja die irrationalen Schwingungsverhält-

nisse nicht einmal hören kann.�

In unserem inneren Intonationssystem existieren immer Töne mit

den Namen do, re, mi, fa, sol, la, si, welche in einer Quintenkette

eingeschlossen sind. Ihre Tonhöhe kann nach Verlangen wahrge-

nommen werden, so als ob wir sie tatsächlich in Gedanken hören

würden. Dafür muß aber die Quintenkette in einer Tonreihe ver-

wandelt werden, derer Zusammensetzung und Tonlage von ihrem

Anfang und Ende abhängig wird. Im Normalfall ist DO immer der

Anfang der natürlichen Tonreihe. Als Ende kann sowohl DO (Ok-

tave), als auch SOL (Quinte) auftreten. Dann spaltet sich die in

uns befindliche natürliche Quintenkette:

FA DO SOL RE LA MI SI

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in den zwei tonschrittmäßig gebildeten Gruppen:

DO RE MI

FA SOL LA SI

In der ersten Gruppe befinden sich dann automatisch die zwei un-

terschiedlichen Ganztöne:

9/8 10/9

Sie werden nun in unserem inneren Intonationssystem als Erstes

wahrgenommen.

In der zweiten Gruppe befinden sich (ebenfalls automatisch und

unterschiedlich) die anderen Ganztöne:

9/8 10/9 9/8

Die zwei Gruppen setzen sich nun zusammen, wobei die Verbin-

dungen bei den Tönen mi-fa und si-do liegen (beide sind Halbton-

schritte). Aus diesem Grund bekommen die Töne MI und SI die

sogenannte Leitton-Funktion.

So entsteht das DUR-SYSTEM-DO auf der Tonstufe do, das wir

alle als Grundlage unseres Intonationssystems besitzen. Mit Hilfe

der Übung �Die Mediante mi in doppelter Terzlage� (siehe Seite

68) können wir es in unserem inneren Intonationssystem jederzeit

verwirklichen.

Die Strecke do1-mi2 ist somit zur Grundlage des gesamten Reper-

toires des Gregorianischen Chorals geworden.

do re mi fa sol la si do

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do re mi fa sol la si do re mi

graves finales acutae superacutae

Im Mittelalter wurde sie in der Singpraxis wie folgt benutzt:

ut re mi fa sol la

Hexachordum naturale

ut re mi fa sol la

Hexachordum molle

ut re mi fa sol la

Hexachordum durum

Daraus ist zu entnehmen, daß die Tonstufen fa und sol bereits im

Mittelalter als Drehachsen der Oktave do fungierten. Sie konnten

somit zum Anfang der Tonreihe ut, re, mi, fa, sol, la werden.

Die Tonreihe do-re-mi-fa-sol-la (eigentlich der Hymnus Ut queant

laxis) konnte dadurch um eine Quarte oder um eine Quinte höher

intoniert werden. Das Semitonium la-si bemolle wurde nunmehr

mi-fa gesungen. Ebenfalls statt si-do wurde mi-fa gesagt, denn die

Melodie bleibt im Grunde genommen dieselbe. Durch die Umbe-

nennung aller Semitonia in �mi-fa� wurde der Streit um die Exis-

tenz der abgeleiteten Tonstufe si bemolle vermieden. Sie galt näm-

lich noch nicht als gleichberechtigte Tonstufe der natürlichen Ton-

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reihe.1) Da auch die übrigen Tonstufen noch keine feste Tonhöhen

bedeuteten (wir unterscheiden zwischen festen Tonstufen und fes-

ten Tonhöhen) 2) , war die Intonation des Hexachordum auf allen

Stufen möglich, welche die Tonfolge:

TONUS-TONUS-SEMITONIUM-TONUS-TONUS

garantierten. Diese waren aber in allen Oktaven nur drei: do, fa

und sol.

In der Aufstellung der ganzen Tonskala für die Buchstabennotati-

on im Anschluß an Guido von Arezzos Solmisationsmethode steht

die Tonreihe ut-re-mi-fa-sol-la auf allen Tonstufen, welche den Tö-

nen do, fa und sol entsprechen, wie folgt (1= graves; 2= finales; 3=

acutae; 4= superacutae):

aa ---------------------------------------------------------- la

g ---------------------------------------------------------- sol

4 f ---------------------------------------------------------- fa

e ----------------------------------------------- la ---------mi

d ------------------------------ la -----------sol --------re

c ------------------------------- sol -----------fa --------ut (Hexachordum natu-

3 h/b fa -----------mi rale secundum)

a la -------------mi -----------re

G sol ------------re ------------ut (Hexachordum durum secundum)

F fa -------------ut (Hexachordum molle primum)

2 E----la---------mi

D----sol--------re

C----fa---------ut (Hexachordum naturale primum)

B----mi

1 A----re

---ut (Hexachordum durum primum)

1) Die abgeleitete Tonstufe �si bemolle� war Guido von Arezzo bekannt. In seinem Microlo-

gus schreibt er (Hauptstück VIII): �Das runde b, welches weniger regelmäßig ist, da es das

Zugefügte oder Weiche genannt wird, steht in Beziehung zu F, und wurde aus dem Grunde eingeführt, weil es zu F, das zur Quart einen Triton entfernt ist, keine Übereinstimmung

gäbe.� 2) Feste Tonstufen sind: do, re, mi, fa, sol und la; feste Tonhöhen sind: do1(264 Hz), re1(297 Hz) usw.

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Gemäß ihrer Lage in diesem Tonsystem wurden die Tonbuchsta-

ben (sie sollten nunmehr feste Tonhöhen bedeuten) mit den ihnen

entsprechenden Tonsilben definiert. So wurde der Ton C faut ge-

nannt (fa-ut) und bezeichnete den Anfang des Hexachordum natu-

rale primum. Die Bezeichnung faut wurde aber auch für den Ton F

benutzt. Dieser bezeichnete aber den Anfang des Hexachordum

molle primum. Die obige Aufstellung ist also der Beweis dafür, daß

die Tonsilbennamen noch keine feststehende Tonhöhen bedeute-

ten. Vielmehr definierten sie den Ton ut (do) in seiner Beziehung

zu den umliegenden Ganz- und Halbtonschritten der gängigen Di-

atonik, welche sich nach dem Quintenprinzip gebildet hatte.

Mit anderen Worten: Die Tonreihe do-re-mi-fa-sol-la-si konnte nur

darum höher oder tiefer intoniert werden, weil der Hymnus Ut

queant laxis, auf den sie sich bezog ebenfalls höher oder tiefer in-

toniert wurde. Die Gesänge des Gregorianischen Chorals insge-

samt waren nicht an feste Tonhöhen gebunden. Ob do1, fa1 oder

sol1, es war den Sängern egal, mit welchem Ton sie den Gesang Ut

queant laxis anstimmten. Sie wußten nur, daß sie die Möglichkeit

hatten, tiefer oder höher zu intonieren.

Aus der Aufführungspraxis des Gregorianischen Chorals wissen

wir, daß einige Gesänge dreimal intoniert wurden, und zwar das

zweite und das dritte Mal immer höher. So die Akklamationen

Lumen Christi und Allelúia zu Ostern oder die Antiphon Ecce

lignum Crucis am Karfreitag. Dieselbe Melodie wurde zweimal

wiederholt, jeweils um einen Ganztonschritt höher. Sie gewann

dadurch mehr Glanz und konnte den Text besser darstellen. Die

Sänger haben intuitiv gespürt, daß je höher ein Gesang aufgeführt

wird, umso mehr rückt die Aussagekraft seines Textes in den Vor-

dergrund. Wenn die Melodie beispielsweise um einen Ganzton hö-

her wiederholt wird, so werden zwei Quinten weggelassen und

zwei steigende Quinten hinzugenommen. Folgende Melodie (das

Allelúia zu Ostern) wird bei der Wiederholung jeweils um einen

Ganztonschritt höher intoniert:

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Anhand des Hymnus Ut queant laxis und der Antiphon Ecce

lignum Crucis wollen wir nun die Grundsätze der reinen Intonati-

on nach dem Quintenprinzip erläutern.

Wir beginnen mit der Antiphon Ut queant laxis. Wie wir Ihnen

bereits gesagt haben, wurde diese Melodie im Mittelalter sehr oft

gesungen, weil damals der heilige Johannes der Täufer als Patron

der Scholasänger geehrt wurde.

t que- ant la- xis re- so- ná- re fibris Mi- ra

gestó- rum fá- mu- li tu- ó- rum, Sol- ve pol- lú-

ti lá- bi- i re- á- tum, Sancte Jo- ánnes.

Für die Textanalyse markieren wir zuerst in der gregorianischen

Partitur die Worte, welche Träger des oratorischen Rhythmus

sind. Nehmen Sie bitte einen Textmarker zur Hand und markieren

II.

U

Al- le - lú- ia, al - le - lú - ia, al - le - lú - ia.

Al- le- lú-ia, al - le- lú - ia, al - le - lú - ia. Al-le- lú-ia, al - le- lú - ia, al - le - lú - ia.

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Sie die in unserem Text in Großschreibung wiedergegebenen Wor-

te:

Ut queant LAXIS resonáre FIBRIS MIRA GESTÓRUM FÁMULI TU-

ÓRUM, solve POLLÚTI LÁBII reátum, SANCTE JOÁNNES.

Auf Deutsch:

Daß der Diener Schar es vermöge zu preisen reinen Klangs dein Tun, das

so reich an Wundern, löse du die Schuld der befleckten Lippen, Heiliger

Johannes !

Nach dem 3. Schritt unserer Singmethode soll nun eine Tonfin-

dungsformel folgen, welche die korrekte Intonation gewährleistet.

Vorweg müssen wir Ihnen jedoch mitteilen, daß damals keine Ton-

findungsformeln benutzt wurden. Auch wurde für die Intonation

nachweislich kein Musikinstrument benutzt. Dennoch wurde die-

ser Hymnus von allen Männern (Bässe und Tenöre wie heute) kor-

rekt intoniert. Wie war das möglich ?

Nun, wir wissen, daß damals vor dem Singen gebetet wurde und

daß die Gebete (Orationen genannt) feierlich vorgetragen wurden.

Die Orationen wurden auf demselben Ton gesungen. Als Beispiel

wie eine Oration gesungen werden muß, gibt uns das Graduale der

Editio Vaticana folgendes Gebet an:

O- ré-mus. De-us, qui ho- di-érnam di- em, Aposto- ló-rum tu- ó-

rum Petri et Pau-li martý- ri- o consecrásti: da Ecclé- si- ae

tu- ae e- ó- rum in ómni-bus sequi praecéptum, per quos re- li- gi-

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ó- nis sumpsit ex-ór- di- um. Per Dómi-num nostrum Je-sum Chri-

stum Fí- li- um tu- um: qui te-cum vi- vit et regnat in u-ni- tá- te

Spí-ri-tus Sancti De-us, per ómni-a saécula saecu-ló-rum. Amen.

Die Notierung des Orationstones auf do2 in der Originalpartitur

soll nicht zu Irritationen führen. Es wurde damals bestimmt nicht

auf den Ton do2, sondern auf den Ton sol1 gesungen. Der Ton do2

konnte unmöglich als Rezitationston fungieren, da er dafür zu

hoch gelegen wäre. Für die Notation wurde aber der Ton do2 ge-

wählt, weil sonst das Metrum und die Flexa der Oration,1) welche

um einen Halbtonschritt unter dem Orationston liegen, nicht auf

den Ton sol1 hätten notiert werden können, da der Halbtonschritt

unter sol1 damals ein unbekannter Ton war (in der heutigen mu-

sikalischen Praxis der Ton �fis�).

Pe-tri et Pau-li mar-ty - ri - o con-se-crá-sti

sol sol sol sol sol sol sol sol sol ? mi sol sol

1) Das Wort Metrum bezeichnet die Mittelkadenz des Orationstones und Flexa bedeutet �Beugung�, das heißt, daß vom Rezitationston ausgehend einen Halbtonschritt fallend ge-sungen werden muß.

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Mit dem Ton do2 als Orationston konnte das Metrum korrekt no-

tiert werden:

Pe-tri et Pau-li mar-ty - ri - o con-se-crá-sti

do do do do do do do do do si la do do

Die im Mittelalter um eine Quarte höher notierte Melodie hat zu-

dem niemanden gestört, da man sich um die genaue Tonhöhe nicht

kümmerte (der Kammerton war unbekannt).

Es wurde also do2 notiert und sol1 gesungen. Zu dieser Schlußfol-

gerung kommen wir, weil die Männerstimmen heute (wie damals

auch) nur die Strecke do1-mi2 gemeinsam singen konnten und die

Mitte dieser Strecke ungefähr beim Ton sol1 liegt. Ein weiterer

Grund für die Fixierung des Orationstones auf den Ton sol1 wäre

seine bevorzugte Stellung als Drehachse der Oktave do-do, wie wir

bereits gesehen haben. Es gilt als sicher, daß das Quintenprinzip

damals diese Fixierung herbeigeführt hat.

Am Ende aller vorgeschriebenen Gebete (Orationen) folgte nun,

wie selbstverständlich, die Intonation von Ut queant laxis. Für die

Sonn- und Feiertage benutzte man den sogenannten Tonus solem-

nis, indem der Hymnus auf denselben Ton sol1 intoniert wurde.

Dies hat zur Folge gehabt, daß die Melodie in die höchste Stimm-

lage versetzt wurde (bis zum Ton mi2).

Für die übrigen Wochentagen benutzte man den Tonus ferialis

(einfache Singweise), indem man den Hymnus um eine Quinte tie-

fer intonierte.

sol A-men. Ut que-ant la - xis

Vorbeter:

Orationston.

Alle: Vorsänger

:

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Die Intonation des Hymnus im Tonus ferialis hätte man damals

auch um einen Ganztonschritt unter sol1 vornehmen und mit dem

Ton fa1 anfangen können. Die Tonfolge fa-sol-la-si bemolle wurde

jedoch nicht akzeptiert. Sie wurde mit der Begründung abgelehnt,

daß es zwischen fa und si �keine Übereinstimmung gäbe� (siehe

Guido von Arezzo oben in der Fußnote Seite 130). Darum schreibt

Guido von Arezzo in seinem Micrologus (Hauptstück VIII): �Willst

du aber das b molle durchaus nicht zulassen, so gestalte die Neu-

men, in denen es vorkommt, so um, daß du statt F G a und b er-

hältst G a h c.�

fa sol la si sol la si do

F G a b G a h c

ut re mi fa ut re mi fa

Nach der damaligen Solmisationslehre war den Sängern eben

gleichgültig, ob man die Tonfolge F G a b oder G a h c singt; sie

hieß unverändert ut, re, mi, fa. Beide Vierlinge weisen dieselbe

Struktur auf: Sie sind DUR-Vierlinge.

Da die Tonfolge ut, re, mi, fa, sol, la im Tonus ferialis öfters gesun-

gen wurde (im Kirchenjahr gibt es mehr einfache Feste als Hoch-

feste), hat sich schließlich in der Singpraxis die Tonreihe des He-

xachordum naturale primum durchgesetzt. Ut queant laxis wurde

also angefangen mit dem Ton do1 gesungen. Angefangen mit die-

sem Ton wollen wir auch beginnen.

An dieser Stelle angelangt, können Sie sich unsere Aufzeichnung

anhören (CD-Track27):

sol A-men. Ut que-ant la - xis

Vorbeter:

Orationston.

Alle: Vorsänger

:

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(Die Partitur ist auf Seite 132 abgedruckt).

Die von uns untersuchten Intervalle do-re und re-mi tauschen nur

einmal ihre Größe um und zwar am Ende des Hymnus bei den

Worten Sancte Joannes. Dort haben wir die direkte Verbindung

sol-do (als sol-fa-mi-re-do) und somit eine fallende Quinte.

Dort befindet sich also der große Ganztonschritt do-re. Ansonsten

erscheint er immer als Teil der Quarte do-fa und ist somit ein klei-

ner Ganztonschritt. Wie Sie selbst leicht feststellen konnten, ist

diese Differenz im Verlauf des Singens für uns unmerklich. Nicht

so wäre es jedoch im Fall der Begleitung mit der Orgel. Da hätten

wir gleich am Anfang das Intervall c-d und d-e gleich neun Mal in

derselben Größe (temperiert) zu hören bekommen (CD-Track28).

(Die Tonfindungsformel siehe oben).

do re fa reee miii reee re re do re miii miii

1 2 3 4 5 6

mii faa sool mii ree mii doo ree

7 8 9

Neun Mal hätten die Stimmen mit dem Instrument eine Kollision

der Töne in Kauf nehmen müssen, denn do-re ist vokal kleiner und

re-mi vokal größer als die gleich temperierten Intervalle des In-

strumentes. Die Folge einer solchen Aufführung können Sie sich

selbst ausmalen.

la sol do sol mi do= do=

Tonfindungsformel:

Anfangston.

Ergebnis: Die Töne �do� (einge-

strichene Oktave) und �do�

(kleine Oktave) wurden in ihrer

Tonhöhe gleichgestellt.

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Unser zweites Beispiel ist die Antiphon Ecce lignum Crucis. Sie

wird am Karfreitag während der Enthüllung des Kreuzes gesun-

gen.

Nehmen Sie bitte einen Textmarker zur Hand und markieren Sie

die in Großschreibung wiedergegebenen Worte.

Ecce LIGNUM CRUCIS,

in quo SALUS MUNDI PEPÉNDIT. VENÍTE ADORÉMUS.

Auf Deutsch: Seht das Holz des Kreuzes, an welchem das Heil der Welt

gehangen hat. Kommt, lasset uns anbeten.

Die Art und Weise der Aufführung dieser Antiphon wird in der E-

ditio Vaticana des Graduale Romanum wie folgt beschrieben (wir

übersetzen aus dem Lateinischen):

�Bei der Enthüllung des Kreuzes beginnt der

Priester allein die Antiphon Ecce lignum Crucis,

dann fährt er mit den Ministri fort bis zum Ve-

níte. Während die Schola das Veníte adorémus

singt, knien alle außer dem Priester nieder.

Dann beginnt der Priester zum zweiten Mal in

höherem Ton Ecce lignum Crucis. Die anderen

vollenden den Gesang. Zum dritten Mal stimmt

der Priester in noch höherem Ton Ecce lignum

Crucis an, während die anderen in gleicher Wei-

se wie beim ersten Mal den Gesang vollenden.�

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Die Anweisung: �zum zweiten Mal in höherem Ton� bzw. �in noch

höherem Ton� sagt nichts über die Größe der dazu vorgesehenen

Intervalle aus. Es ist aber anzunehmen, daß nach dem Ton fa1

beim ersten Mal ein Ganztonschritt höher intoniert werden soll,

das heißt angefangen mit dem Ton sol1. Ebenfalls nach dem sol1

soll zum dritten Mal mit dem Ton la1 angefangen werden. Zu die-

ser Schlußfolgerung kommen wir, weil in der Originalpartitur sich

die abgeleitete Tonstufe si bemolle befindet. Zudem steigt die Me-

lodie bis zum do1 hinab und kehrt dann zurück zum fa1. Das be-

deutet, daß die Drehachse der Oktave do1-do2 beim Ton fa1 liegt.

Somit setzen wir in der Quintenkette anstelle des Tones si natura-

le den Ton si bemolle ein.

SI bemolle FA DO SOL RE LA MI

Die Quintenkette spaltet sich in den zwei Gruppen:

FA SOL LA

SI bemolle DO RE MI

Die erste Gruppe schreibt die für die dreimalige Intonation vorge-

sehene Tonfolge vor: fa1, sol1, la1. Die Clivis sol-fa am Ende des

Veníte adorémus gibt dem Priester die genaue Tonhöhe des Tones

sol1, die für die nächste Intonation der Antiphon notwendig ist.

Wir singen ebenfalls direkt im Anschluß an das Veníte adorémus

ohne Tonfindungsformel die Antiphon zum zweiten und zum drit-

ten Mal nach derselben Prozedur (CD-Track29). (Die Partitur befindet sich auf Seite 138).

In der melodischen Analyse dieser Antiphon unterscheiden wir

zwischen dem Part des Priesters und dem Part der Schola. Der

Priester enthüllt teilweise das Kreuz und zeigt es den Gläubigen.

Sein Gesang geht ruhig auf und ab, so als ob er das Kreuz und was

la si si mi= fa

Tonfindungsformel:

= Anfangston der Antiphon.

Ergebnis: Die Töne �mi bemolle� (ein-

gestrichene Oktave) und �fa� (kleine

Oktave) wurden in ihrer Tonhöhe

gleichgestellt.

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damit geschah beschreiben möchte. Die Töne, die er singt, kommen

aus der Quintenkette:

SI bemolle FA DO SOL RE LA MI

Die sich in seinem Gesang ständig in den zwei Gruppen spaltet:

FA SOL LA

SI bemolle DO RE MI

Mit der Aufforderung Veníte adorémus erhöht die Schola die be-

wegliche Tonstufe si zu si naturale und springt somit eine Quinte

höher in die Quintenkette:

FA DO SOL RE LA MI SI

Sie singt zeitweise in den zwei tonschrittmäßig gebildeten Grup-

pen:

DO RE MI

FA SOL LA SI

Das Auftreten der übermäßigen Quarte fa-si (im Wort Veníte) ver-

setzt den Gläubigen einen �Schock�. Sie müssen niederknien und

es anbeten.

Der Quintensprung der Schola ermöglicht dem Priester seinerseits

den Quintensprung bei der zweiten Intonation zu bewältigen. Erst

nach dem zweiten Ecce des Priesters, der ihm aufgrund seiner Zu-

sammensetzung als Intervall (Prime) einen sicheren Halt bietet,

kehrt der Gesang zurück zur ersten Quintenkette (die jetzt aber

um einen Ganzton höher versetzt worden ist):

SI bemolle FA DO SOL RE LA MI

Diese spaltet sich wieder in den zwei uns bekannten Gruppen. So

wiederholt sich dann die ganze Prozedur, die wir oben beschrieben

haben.

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Kirchentonarten

Wir haben vorhin erklärt, daß die Musiktheoretiker des Mittelal-

ters das musikalische Tonsystem der alten Griechen übernommen

haben, die konstitutiven Vierlinge der Tonreihen jedoch steigend

aufstellten.

Da die Bezeichnungen dorisch und phrygisch vertauscht wurden,

hat die Kirche die vier steigende Tonreihen nicht mehr mit den

griechischen Namen, sondern einfach nach ihrer Ordnungszahl

benannt: protus, deuterus, tritus, und tetrardus. Die Gruppe der

finales, die vier Tonstufen re, mi, fa, sol, bilden seither die Grund-

lage der acht Kirchentonarten (oder einfach �Kirchentöne�). Ihre

Struktur ist paarweise geordnet und zwar: der 1., 3., 5. und 7. Kir-

chenton werden authéntisch (authenticus = ursprünglich); der 2.,

4., 6. und 8. Kirchenton plagál (plagius = abgeleitet) genannt. Die

vier authentischen und die vier plagalen Kirchentonarten enden

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mit einem von den vier genannten finales (Schlußtöne) re, mi, fa,

sol. 1. Kirchenton: protus authenticus

re

2. Kirchenton: protus plagius

3. Kirchenton: deuterus authenticus

mi

4. Kirchenton: deuterus plagius

5. Kirchenton: tritus authenticus

fa

6. Kirchenton: tritus plagius

7. Kirchenton: tetrardus authenticus

sol

8. Kirchenton: tetrardus plagius

Außer dem Schlußton hat jede Kirchentonart noch einen wichtigen

Ton: den Rezitationston (lateinisch: repercussa). Der Kirchenton,

in dem eine gregorianische Melodie geschrieben wurde, ist im Gra-

duale und Antiphonale der Editio Vaticana gleich am Anfang des

betreffenden Gesangs durch eine römische Zahl angegeben.

Zur Feststellung des Kirchentones, in dem eine Melodie geschrie-

ben wurde (falls jemandem die Angabe durch die römische Zahl am

Anfang des Gesangs unbekannt ist), gilt folgende Regel:

Die letzte Note im Gesang ist immer der Schlußton (finalis). Ist diese

Note ein re, so ist es dann der 1. oder der 2. Kirchenton. Ist diese Note

ein mi, so ist es dann der 3. oder der 4. Kirchenton. Ist diese Note ein fa,

so ist es dann der 5. oder der 6. Kirchenton. Ist diese Note ein sol, so ist

es dann der 7. oder der 8. Kirchenton. Aus dem Mittelalter stammt der

Satz: cujus toni videtur in finalis (welchem Kirchenton der Gesang ge-

hört, sieht man am Schluß).

Zur Unterscheidung zwischen den 1. und 2., den 3. und 4., den 5.

und 6. und den 7. und 8. Kirchenton, muß man dann zusätzlich

den ganzen Melodieverlauf des Gesangs untersuchen. Dabei gilt:

a) War der Schlußton ein re und die Melodie sinkt nicht tiefer als do (ein

Ganzton unter dem Schlußton), so ist es der 1. Kirchenton.

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b) War der Schlußton ein re und die Melodie sinkt bis zum la (eine reine

Quarte unter dem Schlußton re), so ist es dann der 2. Kirchenton.

c) War der Schlußton ein mi und die Melodie sinkt nicht tiefer als re (ein

Ganzton unter dem Schlußton), so ist es der 3. Kirchenton.

d) War der Schlußton ein mi und die Melodie sinkt bis zum si (eine reine

Quarte unter dem Schlußton mi), so ist es dann der 4. Kirchenton.

e) War der Schlußton ein fa und die Melodie sinkt nicht darunter, so ist

es dann der 5. Kirchenton.

f) War der Schlußton ein fa und die Melodie sinkt bis zum do (eine reine

Quarte unter dem Schlußton fa), so ist es dann der 6. Kirchenton.

g) War der Schlußton ein sol und die Melodie sinkt nicht tiefer als fa (ein

Ganzton unter dem Schlußton sol), so ist es dann der 7. Kirchenton.

h) War der Schlußton ein sol und die Melodie sinkt bis zum re (eine reine

Quarte unter dem Schlußton sol), so ist es dann der 8. Kirchenton.

Wegen der mittelalterlichen Singpraxis sind wir gezwungen die

authentischen Kirchentöne zeitweilig mit ihren griechischen Na-

men zu benutzen, wennschon ihre Struktur nicht identisch mit der

Struktur der griechischen Tetrachorde ist. Wir tun das vor allem,

um die dem Gregorianischen Choral eigene Intervalle mit ihren

griechischen Namen darzustellen. Wir übernehmen daher diese

Bezeichnungen wie folgt:

Die dorische Tonreihe entspricht dem ersten Kirchenton,

die phrygische Tonreihe entspricht dem dritten Kirchenton,

die lydische Tonreihe entspricht dem fünften Kirchenton und

die mixolydische Tonreihe entspricht dem siebten Kirchenton.

Somit stellen wir fest, daß im Rahmen des ersten Kirchentones die

dorische Sexte im Rahmen des dritten Kirchentones die phrygische

Sekunde im Rahmen des fünften Kirchentones die lydische Quarte

und im Rahmen des siebten Kirchentones die mixolydische Septi-

me verwirklicht werden müssen. Das heißt, daß wir die DUR- bzw.

MOLL-Struktur der von uns aufgebaute Tonreihe do1-do2 durch

Erhöhung oder Erniedrigung bestimmter Töne zerstören müssen,

um daraus die im Mittelalter benutzten Tonreihen zu erhalten.

Was die Verwirklichung der plagalen Kirchentöne anbetrifft, näm-

lich des 2., 4., 6. und 8. Kirchentones: Wir müssen ihren jeweiligen

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Schlußton zur Drehachse der Oktave ihres Umfangs werden las-

sen, weil sie wegen ihrer �zickzackförmigen� Struktur nicht mit

den üblichen Tonreihen zu vergleichen sind. In ihnen bleibt also

der Schlußton in der Mitte und die Melodie steigt eine Quinte dar-

über und sinkt eine Quarte darunter. Es ist dann der typische Fall

einer Drehachse im Rahmen der Oktave.

Nach dieser kurzen Einleitung wollen wir nun die acht Kirchentö-

ne der Reihe nach intonieren.

1. Kirchenton (Schlußton re, Rezitationston la)

Er wird im Rahmen der Oktave re-re1 gebaut. Die Moll-Tonart-re

wird als Baumaterial benutzt (siehe die ganze Prozedur auf Seite

106). Durch die Erhöhung der sechsten Tonstufe der Moll-Tonart-

re erhalten wir die dorische Tonreihe. Gegenwärtig heißt sie: Der

1. Kirchenton (CD-Track30 und Noten).

1 2 3 4 5 6 7 8 8 7 6 5 4 3 2 1

Die von uns erhaltene Tonreihe bildet zwar das theoretische Ge-

rüst des 1. Kirchentones, dieser kann damit jedoch nicht identifi-

ziert werden. Vielmehr besteht der 1. Kirchenton aus bestimmten

Melodiefloskeln. Hören Sie einige davon (CD-Track31).

la sol do sol mi do= re

Tonfindungsformel:

= Anfangston.

Ergebnis: Die Töne �do� (ein-

gestrichene Oktave) und �re�

(kleine Oktave) wurden in

ihrer Tonhöhe gleichgestellt.

Ergebnis: Die Töne �fa� (eingestriche-

ne Oktave) und �fa� (kleine Oktave)

wurden in ihrer Tonhöhe gleichge-

stellt.

la sol do fa= fa

Tonfindungsformel

:

= Anfangston.

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2. Kirchenton (Schlußton re, Rezitationston fa)

Er wird im Rahmen der Oktave La-la gebaut. Als Baumaterial

dient uns ebenfalls die Moll-Tonart-re. Aber der Schlußton re spielt

hier zusätzlich die Rolle der Drehachse für die Oktave La-la. Somit

bekommt der 2. Kirchenton seine �zickzackförmige� Struktur. (CD-

Track32 und Noten).

1(8) 7 6 5 1 2 3 4 5

Der 2. Kirchenton kann mit diesem theoretischen Konstrukt jedoch

nicht gleichgestellt werden. Er besteht ebenfalls aus typischen

Melodiefloskeln. Hören Sie einige davon (CD-Track33).

(Die Tonfindungsformel wie oben: fa=re).

3. Kirchenton (Schlußton mi, Rezitationston do)

Er wird im Rahmen der Oktave mi-mi1 gebaut. Die Moll-Tonart-mi

wird als Baumaterial benutzt. Durch die Erniedrigung der zweiten

la sol do fa= re

Tonfindungsformel:

= Anfangston.

Ergebnis: Die Töne �fa� (eingestrichene

Oktave) und �re� (kleine Oktave)

wurden in ihrer Tonhöhe gleichgestellt.

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Tonstufe zerstören wir dann die Moll-Struktur und erhalten eine

im Mittelalter benutzte Tonreihe: die phrygische Tonreihe. Zusätz-

lich trägt sie den Namen �3. Kirchenton�. (CD-Track34 und Noten).

1 2 3 4 5 6 7 8 8 7 6 5 4 3 2 1

Diese Tonreihe hat wiederum nur einen theoretischen Wert. Der 3.

Kirchenton weist auch bestimmte Melodiefloskeln auf. Hören Sie

einige davon (CD-Track 35).

4. Kirchenton (Schlußton mi, Rezitationston la)

Er wird im Rahmen der Oktave Si-si gebaut. Als Baumaterial

dient uns ebenfalls die Moll-Tonart-mi. Die Melodien des 4. Kir-

chentones können bis zur Tonstufe si (eine Quarte unter dem

la sol do sol mi do= mi

Tonfindungsformel:

= Anfangston.

Ergebnis: Die Töne �do� (einge-

strichene Oktave) und �mi�

(kleine Oktave) wurden in ihrer

Tonhöhe gleichgestellt.

la sol do sol mi do= mi

Tonfindungsformel:

= Anfangston.

Ergebnis: Die Töne �do� (einge-

strichene Oktave) und �mi� (klei-

ne Oktave) wurden in ihrer Ton-

höhe gleichgestellt.

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Schlußton mi) hinabsteigen. Darum weist der 4. Kirchenton eine

�zickzackförmige� Struktur auf, denn der Schlußton mi wird in der

Mitte der Oktave Si-si als Drehachse tätig (CD-Track36 und No-

ten).

1(8) 7 6 5 1 2 3 4 5 6

Der 4. Kirchenton kann mit diesem theoretischen Konstrukt nicht

identisch sein. Vielmehr besteht er aus typischen Melodiefloskeln.

Hören Sie einige davon (CD-Track37).

Die gleichzeitige Verwendung von si naturale und si bemolle im 4.

Kirchenton bestätigt die These, wonach der Gregorianische Choral

von Haus aus nicht auf ein theoretisches System gerichtet war,

sondern sich die Theorie nachträglich bemüht hat aus der Sing-

praxis ein für ihn passendes Tonsystem aufzubauen.

5. Kirchenton (Schlußton fa, Rezitationston do)

Er wird im Rahmen der Oktave fa-fa1 gebaut. Die Dur-Tonart-fa

wird als Baumaterial benutzt (siehe die ganze Prozedur auf Seite

Ergebnis: Die Töne �fa� (eingestrichene

Oktave) und �mi� (kleine Oktave) wurden

in ihrer Tonhöhe gleichgestellt.

la sol do fa= mi=

Tonfindungsformel:

Anfangston.

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102 ff.). Durch die Erhöhung der vierten Tonstufe zerstören wir die

Dur-Struktur und erhalten eine im Mittelalter benutzte Tonreihe:

die lydische Tonreihe. Sie wird gegenwärtig �der 5. Kirchenton�

genannt (CD-Track38 und Noten).

1 2 3 4 5 6 7 8 8 7 6 5 4 3 2 1

Die erhaltene Tonreihe ist nur das theoretische Gerüst des 5. Kir-

chentones; eine Gleichstellung mit ihm ist nicht möglich. Auch der

5. Kirchenton besteht aus bestimmten Melodiefloskeln. Hören Sie

einige davon (CD-Track39):

6. Kirchenton (Schlußton fa, Rezitationston la)

Er wird im Rahmen der Oktave do-do1 gebaut. Als Baumaterial

dient ebenfalls die Dur-Tonart-fa. Der Schlußton fa jedoch spielt

hier zusätzlich die Rolle der Drehachse für die Oktave do-do1. Da-

durch bekommt der 6. Kirchenton seine �zickzackförmige� Struk-

tur (CD-Track40 und Noten).

Die Töne �do� (eingestrichene

Oktave) und �fa� (kleine Oktave)

wurden in ihrer Tonhöhe

gleichgestellt.

la sol do sol mi do= fa=

Tonfindungsformel:

Anfangston.

la sol= do

Tonfindungsformel:

= Anfangston.

Ergebnis: Die Töne �sol� (eingestrichene

Oktave) und �do� (eingestrichene Oktave)

wurden in ihrer Tonhöhe gleichgestellt.

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1(8) 7 6 5 1 2 3 4 5

Die �zickzackförmige� Struktur des 6. Kirchentones ist nur theore-

tisch begründet. In der Praxis zeichnet sich der 6. Kirchenton

durch bestimmte Melodiefloskeln aus. Hören Sie einige davon (CD-

Track41):

7. Kirchenton (Schlußton sol, Rezitationston re)

Er wird im Rahmen der Oktave sol-sol1 gebaut. Die Dur-Tonart-sol

wird als Baumaterial verwendet. Durch die Erniedrigung der 7.

Tonstufe zerstören wir die Dur-Struktur und erhalten die im Mit-

telalter benutzte mixolydische Tonreihe. Gegenwärtig wird sie �der

7. Kirchenton� genannt (CD-Track42 und Noten).

la sol do fa= fa

Tonfindungsformel:

= Anfangston.

Ergebnis: Die Töne �fa� (eingestri-

chene Oktave) und �fa� (kleine Okta-

ve wurden in ihrer Tonhöhe gleich-

gestellt.

la sol do sol mi do= sol

Tonfindungsformel:

= Anfangston.

Ergebnis: Die Töne �do� (eingestri-

chene Oktave) und �sol� (kleine

Oktave) wurden in ihrer Tonhöhe

gleichgestellt.

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1 2 3 4 5 6 7 8 8 7 6 5 4 3 2 1

Die erhaltene Tonreihe ist nur das theoretische Gerüst des 7. Kir-

chentones; eine Gleichstellung mit ihm ist nicht möglich. Auch der

7. Kirchenton zeichnet sich durch bestimmte Melodiefloskeln aus.

Hören Sie einige davon (CD-Track43).

8. Kirchenton (Schlußton sol, Rezitationston do)

Er wird im Rahmen der Oktave re-re1 gebaut. Als Baumaterial

wird ebenfalls die Dur-Tonart-sol verwendet. Der Schlußton sol

spielt zusätzlich die Rolle der Drehachse für die Oktave re-re1.

Dadurch bekommt der 8. Kirchenton seine �zickzackförmige�

Struktur (CD-Track44 und Noten).

1(8) 7 6 5 1 2 3 4 5

la sol do fa= sol

Tonfindungsformel:

= Anfangston.

Ergebnis: Die Töne �fa� (eingestrichene

Oktave) und �sol� (kleine Oktave) wurden

in ihrer Tonhöhe gleichgestellt.

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Der 8. Kirchenton kann mit diesem theoretischen Konstrukt nicht

gleichgestellt werden. Auch er besteht aus typischen Melodieflos-

keln. Hören Sie einige davon (CD-Track45).

Wir beenden die theoretische Abhandlung über die acht Kirchen-

töne mit der Bemerkung, daß dies alles nur schulmäßige Geltung

hat. Denn die Melodien des Gregorianischen Chorals lassen sich

nicht ganz in ein theoretisches Schema zwingen. Der innere Auf-

bau eines gregorianischen Gesangs läuft weit über den theoreti-

schen Inhalt seiner Notengebilde hinaus und ruft allein durch die

Wechselwirkung zwischen Text und Melodie die entsprechende

Seelenstimmung hervor.

Geschichtlich gesehen sind die acht Kirchentöne kein �Produkt�

der Westkirche. Die Oktavgattungen des liturgischen Tonsystems

stammen nämlich aus Syrien, wo Reste der alten griechischen

Tonartenlehre im sogenannten Oktoechos (auf Deutsch: System

der 8 Tonarten) Eingang fand. Der Oktoechos hat sich in der

lateinischen Kirche anders entwickelt, als bei den Byzantinern. Er

hat die zwei Tonstufen mi und si mit einer Funktion ausgestattet,

mit der Leitton-Funktion. Somit wurde der Weg für die

Entwicklung des modernen Tonartensystems freigemacht.

Zum Schluß noch eine Bemerkung:

In den vier authentischen Kirchentönen 1., 3., 5. und 7. Kirchenton

ist der Melodieverlauf vorwiegend über dem Schlußton.

In den vier plagalen Kirchentönen 2., 4., 6. und 8. Kirchenton kann

die Melodie auch unter dem Schlußton verlaufen.