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Beate Zimmermann, geboren 1949, praktische Arztin, niedergelassen in eigener Praxis, Mit¬ begründerin und Mitarbeiterin des Genarchivs/ Impatientia e.V. in Essen. Publikation von Bro¬ schüren im Rahmen des Archivs. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit und ihres Suchens liegt auf der kriti¬ schen Reflexion der Wahrheitsbehauptung der modernen Medizin und ihrer Statistik. Veröffent¬ lichung von Beiträgen in: »Lebensrecht und Men¬ schenwürde. Behinderung, eugenische Indikation und Gentechnologie« (hg. von Georg Herrmann und Klaus von Lüpke, 1991), »Die kontrollierte Fruchtbarkeit. Neue Beiträge gegen die Repro¬ duktionsmedizin« (hg. von Eva Fleischer und Ute Winkler, 1993), »Ya bastal Der Aufstand der Zapatistas« (Hg. Topitas, 1994), »LebensBilder LebensLügen — Leben und Sterben im Zeitalter der Biomedizin« (Hg. Frauen gegen Bevölke¬ rungspolitik, 1996). Beate Zimmermann Genetische Wahrsagerei als Böser Blick In den Jahren 1998 und 1999 haben vier deutsche Museen und ein Museum in der Schweiz Ausstellungen unter dem gemeinsamen Titel »Gen-Welten« veranstaltet. Vier Jahre dau¬ erte die Vorbereitung auf die Gen-Technik-Shows mit sozialkritischer Begleitung. Die Ausstellungsmacher waren sich sicher, daß die Entwick¬ lungen auf dem Gebiet der Genetik und Gentechnik an Bedeutung ge¬ winnen würden. Sie wollten, so heißt es im Vorwort zu dem Begleitband, mit den Ausstellungen »das Handwerkszeug für eine weitergehende Auseinandersetzung mit dem Thema bereitstellen. Eine Bewertung des Dargestellten steht nicht im Vordergrund. Die Besucherinnen und Besu¬ cher sollen in die Lage versetzt werden, sich ihr eigenes Urteil zu bil¬ den«.1 Drei dieser Ausstellungen habe ich mir angesehen, in Dresden, Bonn und Mannheim. Sie waren sehr verschieden, und doch haben sie alle eine These mit dem Anspruch auf Wahrheit vermittelt: Gene sind die Grundlagen alles Lebendigen. Gene sind auf den Chromosomen in dem Zellkern jeder Zelle eines jeden Lebewesens lokalisiert. Gene dirigieren Leben. Noch ist es nicht gelungen, die Ordnung der chemischen Bausteine genau zu entziffern, noch ist es nicht gelungen, jedem Eiweiß, jeder Eigenschaft, jeder Krankheit einen Ort auf dem Chromosom zuzuwei¬ sen. Noch sind Irrtümer möglich, noch besteht die Gefahr, daß voreilig Schlüsse gezogen werden. Aber im Prinzip funktioniert so das Leben, und eigentlich ist alles molekularbiologisch zu analysieren, zu verstehen und zu handhaben. Wir als Besucherinnen und Besucher sind aufgerufen, uns an der Nut¬ zungsdebatte zu beteiligen. 1 Gen-Welten. Herausgeben Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland. Katalogkoordination: Petra Kruse. Kleve 1998, 7. 113

Genetische Wahrsagerei als Böser Blickimpatientia-genarchiv.de/.../2017/10/Beate-Zimmermann-Wahrsagerei.pdf · Eigenschaft, jeder Krankheit einen Ort auf dem Chromosom zuzuwei¬

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Beate Zimmermann, geboren 1949, praktischeArztin, niedergelassen in eigener Praxis, Mit¬

begründerin und Mitarbeiterin des Genarchivs/

Impatientia e.V. in Essen. Publikation von Bro¬

schüren im Rahmen des Archivs. Der Schwerpunktihrer Arbeit und ihres Suchens liegt auf der kriti¬

schen Reflexion der Wahrheitsbehauptung der

modernen Medizin und ihrer Statistik. Veröffent¬lichung von Beiträgen in: »Lebensrecht und Men¬

schenwürde. Behinderung, eugenische Indikation

und Gentechnologie« (hg. von Georg Herrmannund Klaus von Lüpke, 1991), »Die kontrollierteFruchtbarkeit. Neue Beiträge gegen die Repro¬

duktionsmedizin« (hg. von Eva Fleischer und Ute

Winkler, 1993), »Ya bastal Der Aufstand derZapatistas« (Hg. Topitas, 1994), »LebensBilderLebensLügen — Leben und Sterben im Zeitalter

der Biomedizin« (Hg. Frauen gegen Bevölke¬

rungspolitik, 1996).

Beate Zimmermann

Genetische Wahrsagerei als Böser Blick

In den Jahren 1998 und 1999 habenvier deutsche Museen und ein Museum in der Schweiz Ausstellungenunter dem gemeinsamen Titel »Gen-Welten« veranstaltet. Vier Jahre dau¬erte die Vorbereitung auf die Gen-Technik-Shows mit sozialkritischer

Begleitung. Die Ausstellungsmacher waren sich sicher, daß die Entwick¬lungen auf dem Gebiet der Genetik und Gentechnik an Bedeutung ge¬winnen würden. Sie wollten, so heißt es im Vorwort zu dem Begleitband,

mit den Ausstellungen »das Handwerkszeug für eine weitergehendeAuseinandersetzung mit dem Thema bereitstellen. Eine Bewertung desDargestellten steht nicht im Vordergrund. Die Besucherinnen und Besu¬

cher sollen in die Lage versetzt werden, sich ihr eigenes Urteil zu bil¬den«.1

Drei dieser Ausstellungen habe ich mir angesehen, in Dresden, Bonnund Mannheim. Sie waren sehr verschieden, und doch haben sie alle eine

These mit dem Anspruch auf Wahrheit vermittelt: Gene sind die Grundlagenalles Lebendigen. Gene sind auf den Chromosomen in dem Zellkern jeder Zelle eines jedenLebewesens lokalisiert. Gene dirigieren Leben.

Noch ist es nicht gelungen, die Ordnung der chemischen Bausteine

genau zu entziffern, noch ist es nicht gelungen, jedem Eiweiß, jederEigenschaft, jeder Krankheit einen Ort auf dem Chromosom zuzuwei¬sen. Noch sind Irrtümer möglich, noch besteht die Gefahr, daß voreiligSchlüsse gezogen werden. Aber im Prinzip funktioniert so das Leben,

und eigentlich ist alles molekularbiologisch zu analysieren, zu verstehenund zu handhaben.

Wir als Besucherinnen und Besucher sind aufgerufen, uns an der Nut¬zungsdebatte zu beteiligen.

1 Gen-Welten. Herausgeben Kunst- und Ausstellungshalle der BundesrepublikDeutschland. Katalogkoordination: Petra Kruse. Kleve 1998, 7.

113

Jede Ausstellung wurde von Diskussionsveranstaltungen begleitet. ImGegensatz zur Botschaft der Ausstellungen diskutierten hier Natur- undGesellschaftswissenschaftlerinnen ihre grundsätzlichen Zweifel an derGentechnologie. Die Forschung am menschlichen Genom hatte mehrFragen aufgeworfen als Antworten gegeben. Eine Autorin des Ausstel¬

lungskatalogs und Referentin in Dresden, Evelyn Fox Keller, promoviertePhysikerin und Professorin für Geschichte und Philosophie der Wissen¬schaften, arbeitet, so der Katalog, an der »Schnittstelle von Physik undBiologie«. In ihrem Artikel »Das Gen und das Humangenomprojekt[HGP] - zehn Jahre danach« schreibt sie-.

»Eine der größten Überraschungen ist eine signifikante Kluft zwi¬schen der genomischen Struktur und ihrer Funktion [...]. In Zusam¬menhang damit zeigten neuere Forschungsergebnisse eine unvorher¬

sehbare Komplexität der Regeln, nach denen identische Genome odergenetische Abschnitte so reorganisiert werden können, daß völligunterschiedliche Phänotypen daraus entstehen. Die Komplexität die¬

ser Regeln übersteigt die Kodierungskapazität der DNA [...].Die vielleicht größte Ironie liegt im Verlauf der Erfolge des HGPdarin, daß neueste Sequenzierungsdaten zumindest indirekt dazu ge¬

führt haben, die grundsätzliche Vorstellung über die Natur der Genezu zerstören. [...]

Was ist ein Gen? Diese Frage ließ sich selbst zu Beginn des HGP nurschwer beantworten. In diesem Zusammenhang stellte Richard Burianbereits vor 10 Jahren fest: >Zwar steht faktisch fest, wie die Struktur

der DNA aussieht, jedoch liegt zur Fragestellung, was genau ein Genist, kein einziger Anhaltspunkt vor.< In der Zwischenzeit sind dieProbleme, ein Gen zu definieren, nur noch größer geworden.«2

Man könne, meint Evelyn Fox Keller, nicht mehr behaupten, ein Gen seiein klar definierter Ort auf der DNA. Völlig unklar sei, ob sich das Genüberhaupt im Kern befinde, wann und wo aus einer bestimmten DNA-Folge ein Gen entstehe und in Folge davon ein bestimmtes Protein.

2 Keller, Evelyn Fox: Das Gen und das Humangenomprojekt - zehn Jahredanach. In; ebd., 77-81, hier 77.

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»Tatsächlich besteht vielleicht überhaupt keine Möglichkeit mehr,das funktionelle Gen zu fixieren: Seine Existenz ist oft sowohl ephe¬

mer als auch zufallsbedingt, und sie hängt meist entschieden vonden funktionellen dynamischen Prozessen des gesamten Organismus

ab.«3

Das HGP hat offensichtlich die Information demontiert, die sich seitJahren in jedem Schulbuch und vielen Köpfen breit gemacht hat und die,einfach dargestellt, wie folgt lautet: In jeder Zelle unseres Körpers befin¬det sich die gesamte ererbte Information, die uns zu dem macht, was wirsind - mit unserem Erscheinungsbild, unseren Eigenschaften und eben

auch unserer Krankheitsdisposition. Einmal geboren, kann der Familieund damit der ererbten Krankheitsveranlagung nicht entwischt werden.Daß eine Krankheitsanlage zur Krankheit führt, ist gewiß, die Frage istnur, ob unser Leben uns Zeit genug läßt zu erkranken. Evelyn Fox Keller

argumentiert entgegengesetzt:

»Der klassische Genbegriff, dem man die wesentlichen Eigenschaften

des Lebens (insbesondere Vererbung und Entwicklung) zusprach, istmöglicherweise nicht länger haltbar. Doch an seine Stelle tritt ein

weitaus interessanterer Aspekt. Gene werden als dynamische undkomplexe Wesenheiten aufgefaßt. [...] Es drängt sich leicht der Ge¬

danke auf, daß die These, wonach »Organismen ihre Gene kontrol¬lieren«, vielleicht eher der Wahrheit entspricht als die Behauptung>Gene kontrollieren Organismen« [...].«4

Mit dieser neuen Sichtweise könnten sich Medizin und Forschung doch

erleichtert wieder den »Organismen«, das heißt dem Menschen undseinem konkreten Leben, zuwenden. Aber selbst Evelyn Fox Keller

möchte den Genbegriff nicht verlassen.

»Trotz aller Bedenken über den übertriebenen Stellenwert, den Gene

heutzutage auf kulturellem Niveau sowohl in der Öffentlichkeit wieauch in der Wissenschaft einnehmen, bin ich nicht bereit, auf den

3Ebd., 79.4Ebd., 80.

115

Begriff zu verzichten - zumindest nicht ohne ein besseres Verständnis

darüber erlangt zu haben, wie dieser Begriff in der Vergangenheitfunktionierte und wie er heute funktioniert.«

Auf der einen Seite stehen also Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft¬

ler der Biologie, Physik, Chemie, Genetik, Geschichte, die zumindestZweifel anmelden an den Schlußfolgerungen, die aus der bisherigenForschung gezogen wurden, die hinweisen auf Erkenntnisse und Zusam¬

menhänge, die das simple Verursachungsschema der Genetik als unhalt¬barkritisieren. Auf der anderen Seite stehen Ausstellungen, Ausstellungs¬

macher, Ausstellungsauftraggeber, die bunt und beleuchtet, sprechendund begehbar die genetische Grundlage alles Lebens öffentlich machen.In den Ausstellungen wird das bezweifelte Ursachenschema eingängig

dargestellt. Die Grundlagen der Genetik ais Ursache für Erbkrankheitenwerden erklärt und lediglich in ihren sozialen menschlichen Konsequen¬zen kritisch beleuchtet. Die Frauen sollen nicht die Last der kranken

Kinder tragen, die Ärzte sollen mögliche Patienten nicht unter Drucksetzen. Die Gesellschaft soll über den Umgang mit der Genetik disku¬tieren dürfen — und deshalb sollen die Ausstellungen informieren und den

Bürger in die Lage versetzen, eben dies zu tun.Das Auseinanderklaffen von scheinbarer Sicherheit des Wissens in

den Multimediashows und den Zweifeln der Wissenschaftler selbst istschwer zu verstehen. Mir kommt der Verdacht, daß die Medizin, die

heute in Kliniken und Praxen gemacht und vertreten wird, nicht etwa nurnicht weiß oder noch nicht weiß, sondern daß sie wohlwissend massen¬

haft Chromosomen sammelt, Sequenzen auszählt, Gene festschreibt,

Menschen lebenslang beobachtet, da dies die einzige Form ist, die Be¬hauptung der verursachenden Vererbung zu beweisen. Eine Widerlegungwird es nicht geben, da jede nicht erwartete Lebenswende eine neuegenetische Variante kreieren wird.

Es scheint den Medizinern wohler bei dem Gedanken, sich DNA-

Analysen anzuschauen, als sich mit kranken Menschen zu beschäftigen- hochdotierter und anerkannter ist es allemal. Zudem hat die gene¬

tisch suchende Medizin den Vorteil, eigentlich immer fündig zu wer¬

den und damit erfolgreich zu sein, was bei der Therapie von kranken

116

Menschen weitaus schwieriger ist. Die bislang geübte Kritik - auch vonSeiten der Wissenschaft - wird nur zur Ausdehnung genetischer For¬

schung, zur Einbeziehung weiterer Faktoren des menschlichen Lebens

führen.Ich will die Ausweglosigkeit in diesem Denken an einem relativ jun¬

gen »Genfund«, dem Brustkrebsgen, nachzeichnen. Die Auf-Findungund Er-Findung dieses »Genabschnitts« in Frauen macht aus gesunden

Frauen »Brustkrebsanlageträgerinnen«, sie macht sie damit immer zuNocZj-Nicfct-Erkrankten. Die Prognose, die ihnen präsentiert wird, ist ab¬hängig von der Zahl der untersuchten und schon erkrankten Frauen. Wie

sollen Frauen dieser so ererbten Zukunft entkommen können?

Der Brustkrebs und sein Gen

1994 wurde ein Abschnitt auf dem Chromosom 17 oder vielmehr ein zueiner Mutation erklärter Abschnitt auf dem Chromosom 17 zum Brust-

krebsgen BRCAl gemacht.5Es gibt Familien, in denen haben Mutter, Tochter, Tante, Nichte,

Großmutter, Enkelin - zwei, drei, vier und mehr Frauen Brustkrebs. Wasliegt der genetisch denkenden Medizin näher, als einen Erbgang zu ver¬muten und in den Genen zu suchen. Also wurden in den Chromosomender Blutzellen die DNA der betroffenen Frauen auf Ähnlichkeiten unter¬einander und Abweichungen vom »Normalen« untersucht. Diese soge¬nannten Hochrisikofamilien bildeten sozusagen das materielle Substratder BRCAl-Definition. Als zweite Risiko-Gruppe wurden Frauen ge¬

sucht, in deren Familien Brust- mit Ovarialkrebs vergesellschaftet vor¬

kommt, und als dritte Risikogruppe wurden Frauen zusammengefaßt, diein jungen Jahren an Brustkrebs erkrankt waren. Die große Zahl der Brust¬krebserkrankten sind zum Zeitpunkt der Diagnose älter als 50 Jahre. Die

5 Ich weiß, daß inzwischen auch von einem zweiten Genort auf dem Chromo¬som 13, dem BRCA2, die Rede ist. Es geht mir aber um das grundsätzlicheHerstellen dieser Erkenntnisse, so daß eine exemplarische Betrachtung aus¬reicht.

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Frauen dieser so definierten Risikogruppen erkranken, so die Ausgangs¬these, nicht an Brustkrebs als üblichem Risiko, sondern tragen eine Be¬

schleunigung, eine »Erkrankungswahrscheinlichkeit«, in sich, die nurererbt sein kann.

Vergleichende Zählung

Durch sogenannte Kopplungsanalysen der Chromosomen wird stati¬stisch die Wahrscheinlichkeit erfaßt, mit der sich veränderte DNA-Ab¬schnitte vererben. Daß ein Abschnitt als verändert gelten darf, wird

durch Vergleich mit dem vermutet Normalen und der Konzentration imzuvor definierten Pathologischen hergestellt. Die Feststellung einer Ver¬änderung setzt weiter voraus, daß die Abfolge der DNA im Chromosomfür lebenslang unveränderlich gehalten werden muß.

Manche der beschriebenen Veränderungen sind in ihrer Wirkungbislang völlig unklar. Manche werden als gutartige Polymorphismen be¬schrieben. Manche Autoren nennen bis zu einhundert, andere bis zuzweihundert Veränderungen. Das Ende ist wahrscheinlich noch nicht

erreicht. Die Veränderungen sind häufig allein auf eine Familie be¬

schränkt, manche kommen nur in bestimmten Gruppen vor, andere nurin Europa, wieder andere sind in Skandinavien kaum zu finden. Also auch

hier noch ein enormer Forschungsbedarf, der klären soll, welche derVeränderungen - sprich Mutationen - wo in der Welt welche Art vonBrustkrebs bzw. überhaupt keinen hervorruft. Eine Mutation gibt sich vonalleine nicht zu erkennen, sondern kommt durch massenhaftes Verglei¬

chen zustande. Eine Mutation kann auch nicht experimentell bestätigtwerden. Eine Mutation braucht reales Leben und Erkranken, um sich alszumindest eine Möglichkeit zu behaupten. Das erfordert eine Unzahl

von Frauen, die sich nicht nur einer Genanalyse unterziehen, sondernbereit sind, ein Leben lang unter einem medizinischen Protokoll zu le¬

ben, um die zuvor ausgesprochene statistische Prophezeiung zu erlebenoder Lügen zu strafen. Was dann aber immer noch im Verborgenenbleiben wird, ist die Antwort auf die Frage, ob dieser Genabschnitt denn

überhaupt ursächlich an der Erkrankung beteiligt sein kann oder, wie sovieles, nur Ausdruck von Lebendigem ist. Die Korrektur zuvor definierter

118

Krankheitsgene durch das Leben selbst hat in der kurzen Forschungs¬

geschichte wahrscheinlich schon mehrfach stattgefunden.In einem Leitartikel im »New England Journal of Medicine« vom

2. Mai 1996 beschrieben Ruth Hubbard und R. C. Lewontin von der

Havard Universität in Cambridge die »Fallen der genetischen Tests«:»[...] Menschen mit derselben DNA-Sequenz können eine Menge unter¬schiedlichster klinischer Symptome haben - oder auch überhaupt kei¬

ne.«6 Als Beispiel nennen sie eine Erkrankung, deren genetischer Fehlerauf dem 3. Chromosom liegen soll und deren Träger durch Degenerationder Netzhaut erblinden. In einer Familie wurden zwei Schwestern mit ge¬

nau derselben DNA-Veränderung diagnostiziert. Eine Schwester ist wieerwartet blind, die andere ist LKW-Fahrerin und fährt auch des nachts.

Schwindelnde Zahlen

Nachdem im ersten Schritt die statistische Häufung zur wissenschaft¬lichen Tatsache geworden ist und der Chromosomenabschnitt als Brust¬

krebsgen seinen Namen erhalten hat, wird im zweiten Schritt die stati¬

stische Häufung eben dieses Genabschnitts zur lebenslangen pro¬gnostischen Bedrohung für Frauen, die Brustkrebs in ihren Familien

kennen.

Je nachdem, welche Risikogruppen verrechnet werden, erscheint eineandere statistische Krankheitswahrscheinlichkeit für die durchaus gesun¬de Restbevölkerung. Ich zitiere die Zahlenspielereien aus dem im »Deut¬schen Ärzteblatt« vom 13. März 1998 erschienenen Artikel »Genetik des

erblichen Mammakarzinoms«:

»Die beiden Tumorsuppressorgene BRCAl und BRCA2 sind ur¬sächlich an der Entstehung des familiär gehäuft auftretenden Mam-

6 Hubbard, Ruth,. Lewontin, R. C: Pitfalls of Genetic Testing. In: The NewEngland Journal of Medicine, Vol. 334, No. 18, May 2, 1996, 1192f., hier1192: »[...] people with the same DNA pattern can have a ränge of clinicalmanifestations, or none at all.«

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makarzinoms beteiligt. Mutationen im BRCAl Gen werden in etwa80 Prozent aller Familien mit Mamma- und Ovarialkarzinom gefun¬

den. Ferner müssen noch andere bislang unbekannte Gene an derEntstehung von Mammakarzinomen beteiligt sein«.

In gleichen Artikel findet sich die Überschrift: »Mutationen im BRCAl -Gen sind in etwa 80 Prozent krankheitsverursachend«.7 Aus dem pro¬zentualen Auffinden von zu Tumorgenen definierten Chromosomen¬

abschnitten wird flugs die prozentuale Erkrankungsrate aller Frauen inzuvor definierten Risikofamilien.

Ein Leitartikel in »The New England Journal of Medicine« vom15. Mai 1997 beschreibt unter dem Titel »BRCA Gene - Wetten, Wahr¬sagen und Medizinische Versorgung« die Problematik der unterschied¬

lichen Gruppen, aus denen mathematische Schlüsse gezogen werden.8Die erste Rechnung kennen wir schon. Große sogenannte Hochrisiko¬familien, also Familten, in denen seit Generationen häufig Brustkrebs

vorkommt, werden auf BRCA 1 untersucht, mit dem Ergebnis, daß Frauenaus dieser Familie ein 85%iges Lebensrisiko haben, an Brustkrebs zu

erkranken. Dann wird die Ausgangsgruppe erweitert. Frauen sowohl ausdiesen »Hochrisikofamilien« als auch Frauen, die sehr früh an Krebs

erkrankt sind, werden gemeinsam untersucht. Plötzlich findet man

nur noch in 7% der Fälle eine BRCAl Mutation, und dementsprechendgeringer wird das Lebensrisiko, an Brustkrebs zu erkranken, einge¬schätzt.9

Die genforschende Medizin läßt sich von diesen verwirrenden Er¬gebnissen nicht entmutigen und sucht weiter. Die Brustkrebsgenthese

7Holinski-Feder, Elke,- Brandau, Oliver,- Nestle-Kromling, Carolin,- Derakh-shandeh-Peykar, Popak; Murken, Jan,- Untch, Michael,- Meindl, Alfons: Ge¬netik des erblichen Mammakarzinoms. Grundlagen-Forschung-Diagnostik.In: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998, A-600 undA-603.

8Healy, Bernadine: BRCA Genes - Bookmaking, Fortunetelling, and MedicalCare. In: The New England Journal of Medicine. Vol. 336, No 20 May 151997, 1448 f.

9Vgl. ebd.

120

wird nicht verlassen, sondern auf unendlich viele Möglichkeiten - auf

BRCAX - ausgedehnt. Der auf dem Markt befindliche Brustkrebsgentestwird nicht beliebig, aber immerhin in den sogenannten Hochrisikofami¬

lien empfohlen, da sich nur so weitere genetische Thesen aufstellen

lassen.

Die allgemein geführte Klage bezieht sich auf die nicht vorhandenenTherapiemöglichkeiten und auf die überhaupt nicht entwickelten Bera¬

tungsmöglichkeiten. Ein völlig neuer Berufszweig scheint sich aufzutun,bestehend aus Beraterinnen, die mit genetischen Prophezeiungen umge¬hen und Frauen überzeugen können, positiv zu denken, auch wenn ihnendie Medizin ein irgendwie geartetes Lebensbrustkrebsrisiko bescheinigt

hat.

Auch in Deutschland ist Testen unter bestimmten Bedingungen er¬wünscht. Es geht nicht um die Diagnostik und Therapie erkrankter Frau¬en, es geht um Zahlenerweiterung zum Zwecke der Erkenntniserweite¬

rung genetischer Varianten. Die Gruppe der dem Test zuzuführendenFrauen ist weltweit identisch. Sie stammen aus Familien, in denen es

geben sollte:

»• zwei an einem Mamma- oder Ovarialkarzinom erkrankte Frauen,

davon eine unter 50 Jahren oder•eine an einem Mamma-Ca Erkrankte unter 30 Jahren oder

•eine an bilateralem [an beiden Brüsten, B. Z.] Mamma-Ca erkrankteFrau unter 40 Jahren oder

•eine Erkrankte mit Mamma- und Ovarial-Ca oder•einen an einem Mamma-Ca erkrankten Mann.«50

Auch in Deutschland gibt es keine professionellen Brustkrebsrisikobera¬

terinnen. Auch hier gibt es große Angst vor der Unberrschbarkeit derInformationsfolgen. Deshalb wurde ein Protokoll für testsuchende Frau¬

en aufgestellt. Frauen, die einen Test machen sollen oder wollen, dürfenfolgende Merkmale nicht aufweisen:

10 Kreutz, Ingrid: Brustkrebs-Gentest nur für psychisch stabile Frauen empfoh¬len. In: Ärzte-Zeitung 65, 6. April 1999, 15.

121

»• unklare oder neurotisch überlagerte Motivation,

•inadäquate Erwartung und Vorstellung hinsichtlich der Genanalyse,•hohe psychische Belastung,•behandlungspflichtige psychische Erkrankung sowie•ungünstige Bewältigungsstrategien in der bisherigen Biographie.«11

Noch einmal zurück zu dem Ausgangspunkt medizinischer Sorgen:Frauen erkranken an Brustkrebs.Frauen erkranken, zumindest statistisch, zunehmend mehr an Brust¬

krebs.Statistisch wird Brustkrebs häufiger diagnostiziert.Brustkrebs als Krankheit soll erforscht werden.Brustkrebs wird auf der Ebene der Gene vermutet und muß verortet

werden.

Die in den letzten Jahren hergestellten Genorte und Genmarker ha¬ben die Brustkrebsrate nicht verändert.

Aber sie haben das Leben der Frauen mit dem vermeintlichen Brust¬

krebsgen verändert.Es gibt nun Frauen, die mit einer prognostischen Behauptung leben.

Sie sind nicht krank, es wurde mitnichten eine Krankheit diagnostiziert,

ihr Körper wurde nicht untersucht. Aus der DNA ihrer Zellen wurde eine

prozentuale Wahrscheinlichkeit einer statistischen Häufung mit vermu¬teter Funktion aufgestellt. Daraus wurde eine prozentuale Erkrankungs-

wahrscheiniichkeit berechnet, die immer höher wird, je älter Frau gesundihr Leben verbringt. Was soll Frau daraus schließen?

Sie soll in stetiger Sorge um die prozentual gegenüber ihrer Nachbarinerhöhte Erkrankungswahrscheinlichkeit alle Angebote wahrnehmen, diedrohende Erkrankung frühzeitig zu entdecken, da mit der frühzeitigenDiagnostik die Therapie erfolgversprechender sein soll. Sie soll also ihrLeben lang in einem medizinischen Protokoll eingebunden sein, ihr Le¬

ben lang wiederholte Diagnostik über sich ergehen lassen (Mammogra¬phien, Tastuntersuchungen, Ultraschalluntersuchungen), um dem siche¬

11 Ebd.

122

ren Erkrankungszeitpunkt rechtzeitig zu begegnen. Medizinische Geräteund Gynäkologen scheint es in ausreichender Menge zu geben. Wasbislang fehlt, sind die ausgebildeten Psychologen, die mit diesem Phä¬nomen der vorauseilenden diagnostischen Unterwerfung und ihrenseelischen Konsequenzen umgehen können.

Wie aber mit einer Krankheit umgehen, die nicht real ist, sondern alssichere Möglichkeit für die Zukunft prognostiziert wird? Es geht beidieser »Behandlung« nicht um Lindern, um Heilen. Der Gang zum Arztwird nicht bestimmt von konkreten Beschwerden, sondern von der

Angst, daß die programmierte Lebenszeit den Tumor in Gang setzt undnur schnelles Handeln lebensverlängernd erscheint.

Nachdem wir in unserer Kultur den Bösen Blick nicht mehr kennen

und seine Wirkung keine Macht mehr hat, übernimmt die genetischeWeissagung seine Funktion. Weder wird die Krebserkrankungshäufig¬

keit verändert, noch wird der Krebs besser therapierbar - wer sich ver¬ändern soll, sind die möglichen, die bedrohten Trägerinnen des Brust¬krebs-Gens.

Mir schwebt eine ganz andere Art von Konsequenz von eine Medizin,die versucht, die bisher bekannten Ursachen der Krebsentstehung zu

vermeiden, die all das sieht, untersucht, einklagt, was als krebsauslösendeFaktoren bekannt ist, als da mit Sicherheit wären: radioaktive Strahlen,krebsauslösende Chemikalien, krebsauslösende Medikamente, konta¬

minierte Lebensmittel, uranbeladene Bomben usw. usf.Ich kann mir eine Forschung vorstellen, die andere Fragen an die

Krebserkrankung stellt, die einen Zusammenhang sieht zwischen der

Zeit, in der wir leben, der Lebensgeschichte der erkrankten Menschen,der Erkrankungsform von Menschen, die heute nicht mehr an behandel¬baren Infekten sterben. Die mehr als tausend Artikel, die seit der

»Entdeckung« des Gens geschrieben worden sind, die Untersuchungen,die seither durchgeführt worden sind, haben sich immer nur mit dermolekularen Ebene von Menschen befaßt, nicht mit den realen Men¬

schen, nicht mit ihren Lebensbedingungen, nicht mit Faktoren, die ver¬änderbar, vermeidbar wären. Die Existenz von Unabänderlichem in un¬

seren Körpern und in unseren Leben wird von der Medizin nicht gesehenund nicht respektiert.

123

Die Bombe und ihr Krebs

Ich will zuletzt von einem Buch erzählen, »Refuge«, geschrieben vonTerry Tempest Williams12 -ein Buch über die Vögel des großen Salt Lakeund den Brustkrebs der Mutter der Autorin. Terry Tempest Williams

kommt aus Utah, aus dem Gebiet um den Salt-Lake.

»Ich gehöre zu einem Clan der einbrüstigen Frauen. Meine Mutter,meine Großmütter und sechs Tanten hatten allesamt eine Brustentfer¬

nung. Sieben sind tot. Die beiden, die überlebt haben, kommen gera¬de aus einer Chemotherapie oder einer Bestrahlungsserie.«13

Eine »Hochrisikofamilie« der genetischen Medizin. Terry Tempest Wil¬liams kommt aus einer Mormonenfamilie, die seit 1847 in Utah lebt. Biszum Jahre 1960 gab es nur einen Fall von Brustkrebs in der Familie. Siekennt alle bislang veröffentlichten Risikofaktoren für Brustkrebs — zu

fettes Essen, Kinderlosigkeit oder späte Schwangerschaften. Nichts da¬von trifft zu. Die Mormonenfrauen bekommen ihre Kinder früh, essen

Selbstangebautes, trinken keinen Kaffee, keinen Alkohol - sie leben

gesund. Was bleibt anderes als die Gene?Nach dem Tod der Mutter spricht Terry mit ihrem Vater über einen

Traum, den sie seit Jahren immer und immer wieder hat: ein helles Lichtam Himmel, ein Blitzen im Süden, das die Landschaft erhellt.

» >Du hast es gesehen« sagte er.>Was habe ich gesehen?<>Die Bombe, die Wolke. Wir sind von Riverside, Californien, nachHause gefahren. Du hast auf Dianas Schoß gesessen. Sie war schwan¬

ger. Ich erinnere mich genau an den Tag. Es war der 7. September1957. Wir kamen gerade aus dem Gottesdienst. Wir fuhren nach

Norden, nach Las Vegas. Es war eine Stunde vor Sonnenaufgang, als

12Williams, Terry Tempest: Refuge. An Unnatural History of Family and Place.New York 1992.

13Ebd., 281: »I belong to a Clan of One-Breasted Women. My mother, mygrandmothers, and six aunts have all had mastectomies. Seven are dead. Thetwo who survive havejustcompletedrounds of chemotherapy andradiation.«

1 24

die Explosion stattfand. Wir hörten sie nicht nur, wir fühlten sie. Ich

dachte, der Öltanker vor uns ist in die Luft geflogen. Wir fuhren rechtsran und plötzlich, über der Wüste, sahen wir sie ganz deutlich, diese

Wolke mit dem goldenen Stamm, den Pilz. Der Himmel schien zuvibrieren in einer unheimlichen rosa Glut. Innerhalb von Minutenregnete es Asche aufs Auto.<Ich starrte meinen Vater an.

>Ich dachte, Du wüßtest das<, sagte er, >es war völlig üblich in denfünfziger Jahren. <

In diesem Moment begriff ich, in welcher Täuschung ich immer gelebthatte. Kinder aus dem amerikanische Südwesten tranken kontaminier¬te Milch von kontaminierten Kühen, ja selbstvon den kontaminierten

Brüsten ihrer Mütter, meiner Mutter - Jahre später, die Mitglieder desClans der einbrüstigen Frauen.«14

Uber das Risiko, in Utah zu leben, hatte nie jemand gesprochen. DieAtomwaffentests fanden zwischen dem 27. Januar 1951 und dem 11. Juli1962 in der Wüste Nevada statt. Der amerikanische Staat hatte erklärt,

alle Sicherheitsvorkehrungen seien getroffen worden, niemand käme zuSchaden. Die Wolke sollte zudem über ein im Grunde genommen unbe-

14 Ebd., 283: »>You did see it,< he said.>Saw what?<>The bomb. The cloud. We were driving home from Riverside, California.You were sittingon Dianes lap. She was pregnant. In fact, I remember the day,September 7, 1957. We had just gotten out of the Service. We were drivingnorth, past Las Vegas, ft was an hour or so before dawn, when this explosionwent off. We not only heard it, but feit it. I thought the oil tanker in front ofus had blown up. We pulled over and suddenly, rising from the desert floor,we saw it, clearly, this golden-stemmed cloud, the mushroom. The sky seemedto vibrate with an eerie pink glow. Within a few minutes, a light ash was rainingon the car.<

I stared at my father.>1 thought you know that,< he said. »Itwas a common occurence in the fifties.<It was at this moment that I realized the deceit! had been living under. Child-ren growing up in the American Southwest, drinking contaminated milk fromcontaminated cows, even from the contaminated breasts of their mothers, mymother - members, years later, of the Clan of One-Breasted Women.«

125

wohntes Gebiet ziehen. Die im Grunde genommen nicht vorhandenen

Schafe starben, die nicht vorhandenen Menschen erkrankten an Krebs.Erst Ende der 80er Jahre entschied der Oberste Gerichtshof, daß die dortüberlebenden Menschen kein Recht hätten, eine Entschädigung für dieToten der Familie vom amerikanischen Staat einzuklagen.

Terry Tempest Williams muß sich dennoch auch heute noch abmü¬

hen, die Schuldigen zu benennen, denn, so schreibt sie, die Frauen der

Mormonen haben gelernt zu gehorchen, haben früh gelernt, keinenWind zu machen, hinzunehmen, was ihnen geschieht und sich nicht um

äußere Angelegenheiten zu kümmern.Viele heute an Brustkrebs erkrankte Frauen sind keine Mormonen und

schauen dennoch gehorsam auf das, was Autoritäten, die Mediziner, die

Genetiker, über sie und für sie sagen. Angefangen bei den Zweifeln amgenetischen Modell des Lebens bis zu den statistischen Rechenspielenund dem Verschweigen längst bekannter Risiken hätten wir so viel zusagen, zu fragen und zu suchen. Doch statt dessen ist der Brustkrebsgen¬test auf dem Markt. Die Bedingungen werden in Protokollen festgelegt,Wissenschaftler machen Karriere.

Die Firma Myriad Genetics, die den Brustkrebsgentest patentiert hat,hat ihren Sitz in Salt Lake City, Utah.