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Geschlossene Gesellschaft (20/2) Zaun (Bild: CC0, via piqsels.com) Manche Grenzen verlaufen im Kopf, andere sind architektonisch zu fassen: Im 20. Jahrhundert gliedern Zäune den offenen Raum der Metropolen und beschützen die Gärten der Vorstadtsiedlungen. Sie geraten zur Visitenkarte des Dahinterliegenden und zur Projektionsfläche des Ausgesperrten. Einige werden von Architekten aufs Beste mitgestaltet, andere entfalten erst mit den Jahrzehnten ihre eigene Schönheit. Und immer wieder entscheiden sie über die Halbwertzeit einer freien Gesellschaft. Daher widmet sich das mR-Frühjahrsheft „Geschlossene Gesellschaft“ (Redaktion: Peter Liptau/Johannes Medebach) dem Thema „Zäune, Mauern, Lärmschutzwände“ der Moderne.

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Geschlossene Gesellschaft (20/2)

Zaun (Bild: CC0, via piqsels.com)

Manche Grenzen verlaufen im Kopf, andere sind architektonisch zu fassen: Im 20. Jahrhundertgliedern Zäune den offenen Raum der Metropolen und beschützen die Gärten derVorstadtsiedlungen. Sie geraten zur Visitenkarte des Dahinterliegenden und zur Projektionsflächedes Ausgesperrten. Einige werden von Architekten aufs Beste mitgestaltet, andere entfalten erstmit den Jahrzehnten ihre eigene Schönheit. Und immer wieder entscheiden sie über dieHalbwertzeit einer freien Gesellschaft. Daher widmet sich das mR-Frühjahrsheft „GeschlosseneGesellschaft“ (Redaktion: Peter Liptau/Johannes Medebach) dem Thema „Zäune, Mauern,Lärmschutzwände“ der Moderne.

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InhaltLEITARTIKEL: Machen Zäune gute Nachbarn? 1 ......................................................................... FACHBEITRAG: Der PO-2, eine russische Legende 6 .................................................................. FACHBEITRAG: Mythos Mauer 11 ................................................................................................... FACHBEITRAG: Der Jägerzaun 16 ................................................................................................... PORTRÄT: Schallschutz mit Dackel 21 .......................................................................................... INTERVIEW: „Ein pervertierter Ordnungswahn“ 25 ................................................................... FOTOSTRECKE: Zaunzeuge 30 ........................................................................................................

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LEITARTIKEL: Machen Zäune gute Nach-barn?von Till Raether (20/2)

Zäune sind ein Missverständnis. In jede Rich-tung. Zum Beispiel, wenn man denkt: Wirwollen keine. Es fing gleich mit diesemMissverständnis an, als wir vor zwölf Jahren ineine Neubausiedlung zogen. Später zu seinerSiedlung befragt, sagte der Architekt: Es seiihm, wie in Skandinavien oder den Niederlan-den üblich, darum gegangen, die Grenzenzwischen dem Privaten und dem öffentlichenRaum verschwimmen zu lassen. Daher sinddie kleinen Betonterrassen zum Hof hin offen,an ihrem Rand sind Betonbänke, die Nach-barn sitzen also bei einem vielleicht nicht di-rekt im, aber sehr nah am Vorgarten. Dort, wohinter den Gebäuden den einzelnen Wohnun-gen Sondernutzungsflächen zugeordnet sind,gibt es keine Trennung, sie sind eine einzige

durchgehende Grünfläche. Wie schön das imModell aussah, offen und frei, man konntesich gleich Kinder vorstellen, wie sie dort vonHaus zu Haus liefen, gemeinsame Abende aufeiner Fläche.

Aber, wie gesagt: ein Missverständnis. Alle,die Terrassen zum Hof hatten, ließen baldzusätzlich Hecken wachsen oder stellten hoheTopfpflanzen auf, im Bedürfnis, sich abzu-grenzen. Die durchgehende Sondernutzungs-fläche hinter den anderen Wohnungen teiltesich im ersten Frühling nach dem allgemeinenEinzug in abgezäunte Bereiche ab: Es sei, sowaren sich alle einig, doch ruhiger so, undman hockte sich hier doch sowieso schon sodicht auf der Pelle.

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New York, Freiheitsstatue (Bild: PD, via pixabay.com)

„Don’t fence me“Die Idee, keine Zäune zu haben, schien also er-stmal allen gut, aber niemand wollte aufZäune verzichten in dem Moment, als sich dieIdee hätte umsetzen lassen. Dieses Ja-Nein-Vielleicht-Verhältnis scheint fast historisch, et-wa in der führenden Nation der Zaun-Ambi-valenz, den USA. Die nordamerikanische Land-masse ließ sich ab dem frühen 17. Jahrhun-dert womöglich von europäischen Einwander-ern leichter besiedeln beziehungsweise über-rennen, weil es keine Zäune, Mauern undGrenzen gab: Die Territorien der Ureinwohnerwaren fließend, was sie erstens physisch undzweitens juristisch schutzlos machte.

Kaum aber hatte man das Land der ausdrück-

lich unbegrenzten Möglichkeiten denen en-twunden, die eigentlich dort lebten, wandeltesich der Zaun zum US-amerikanischen Alp-traum: „Don’t fence me in“, Zäun’ mich nichtein, heißt das berühmte Cowboy-Gedicht vonRobert Fletcher, in dem der Autor, vor hun-dert Jahren ein Straßenarbeiter in Montana,von einer mystischen Wild-West-Vergangen-heit schwärmte, in der man unbegrenzt unterdem Nachthimmel durch die Prärie reitet:„Ich mag mir keine Hindernisse anschauen,und Zäune kann ich nicht ausstehen.“

Nach Western-Lesart ist eingezäuntes Landdas Gegenteil von Freiheit. Das Land, „wo derWesten beginnt“, soll dem Individuum ge-hören, das es sich erschließt, und nicht den

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Farmern, Grundbesitzern und Firmen, die esfür sich abtrennen (ausgenommen vom die-sem kollektiven Traum des Uneingezäunten:die ursprünglichen Bewohner des Landes, dienun paradoxerweise in abgetrennten Restgebi-eten lebten und leben). Und egal, wie sehrCole Porter etwas später versuchte, aus die-sem Text eine Metapher für einengendesBeziehungsleben zu machen: „Don’t Fence MeIn“ bleibt die Hymne von Menschen, welchedie Abwesenheit von Zäunen feiern, aberdann, wenn sie selber Land haben, einenguten Zaun darum haben möchten.

Einmauern, ausmauernEin anderer US-amerikanischer Dichter hatdieses Missverständnis poetisch beschriebenund analysiert, wurde dabei aber naheliegern-derweise gleich wieder missverstanden. AusRobert Frosts schönem und berühmtenGedicht „Mending Wall“ ist in erster Linie dasSprichwort „Good fences make good neigh-bours“ aber nun auch wirklich jedem vertraut:Gute Zäune sorgen für gute Nachbarn. FrostsGedicht aber handelt genau davon, wie hilflosdiese Spruchweisheit ist, und die Sympathiedes Erzählers gehört einer ganz anderen Ins-tanz. In einer sehr gelungenen deutschen You-tube-Nachdichtung von Christian Ebbertzlautet der erste Vers: „Da ist etwas und magMauern nicht“ – nämlich die Natur, die die imWald verlaufende Begrenzung zwischen zweiBesitzungen korrodiert und verschleißt.

Vorsichtig versucht der Erzähler seinem Nach-barn, mit dem er die Mauer ausbessert, zu erk-

lären, dass doch hier, wo niemand es sähe undwo nie jemand herkäme, eine Mauer gar nichtso wichtig sei. Der andere aber antwortet ihm:„Gute Zäune, gute Nachbarn.“ Darauf derErzähler: „Brauchen gute Nachbarn Zäune?Gilt doch/Nur wo Kühe sind. Und hier sindkeine./Bevor ich bau die Mauer, will ich wis-sen: Was maur’ ich ein, was maur’ ichaus,/Empfindet einer sie vielleicht alsKränkung? …“ Der Nachbar aber will nichtsdavon wissen: „Er schwört noch auf dasSprichwort seines Vaters/Und freut sich, dasser es so gut behalten,/Und sagt noch einmal:‚Gute Zäune, gute Nachbarn.’“ Schon in die-sem Gedicht von 1914, aus der gleichenEpoche wie „Don’t Fence Me In“, wendetFrost die uns heute noch vertraute Weisheit al-so gegen die, die an ihr festhalten, weil sieeben einfach so vertraut ist: Stolz kann mannur darauf sein, dass man sie behalten hat,aber nicht darauf, was sie bedeutet.

Algadones-Dünen, Grenze (Bild: US Border Pa-trol/PD)

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Mauern tötenVon dieser mauer- und zaunkritischen Hal-tung aber ist nicht viel geblieben, erst rechtnicht, wenn es um die ikonographische Bedeu-tung der Mauer und des Zauns in der kollektiv-en Vorstellung gerade der USA geht. DonaldTrump hat gut hundert Jahre nach FrostsGedicht seine Wahl vor allem mit dem Ver-sprechen gewonnen, eine Mauer zu Mexiko zubauen, die aus dem Land südlich der USAendlich einen aus seiner Sicht besseren Nach-barn machen würde. Seitdem kann man sichvage damit trösten, wie sinnlos und unpraktik-abel diese Mauer vielerorts ist, weil sie en-tweder dem Wind oder dem Wetter nichtstandhält oder leicht zu überwinden ist.

Man kann aber noch viel eher daranverzweifeln, dass etwa gerade erst im März2020 eine junge Frau aus Guatemala beimSturz von dieser Mauer gestorben ist: nichtauf dem furchtbar beschwerlichen und gefähr-lichen Weg aus ihrem Heimatland zu dieserGrenze, nicht jenseits der Grenze in Armutoder in einem Käfig, sondern durch das ansich scheinbar so hohle und lächerliche Sym-bol selbst. Mauern und Zäune töten, das sagtnicht nur der lyrische Instinkt in RobertFrosts Gedicht und die Erfahrung an denGrenzen der reicheren Welt – es ist im ganzKleinen auch der erste Impuls derer, die sichüber ein Architekturmodell beugen und sichfragen, was ihnen hier so besonders gut ge-fällt, und dann merken sie es: Ach, schau mal,diese Offenheit, diese Freiheit, da zäunt sichkeiner ein, da bedroht keiner die Nähe und

die Gemeinsamkeit.

Spatz im Zaun (Bild: PD, via pixabay.com)

Das Gute jenseits des Za-unsWas aber, wenn gerade die Abgrenzung über-haupt erst Gemeinsamkeit ermöglicht? ZumRefrain der Land- oder Vorstadtleben-Verk-lärung gehört das Bild von Nachbarn, die sichhier „am Gartenzaun“ oder „über den Garten-zaun“ unterhalten würden. Dieses Bild ist zueinem Symbol geworden für Hilfsbereitschaft,Austausch und Gemeinschaftlichkeit auf klein-ster Ebene, in unmittelbarer Nähe von Men-schen, die nichts zueinander gebracht hat alsdie Zufälligkeit ortsidentischer Geburt oder be-nachbarter Immobiliennutzung. Das Bild, wiesie miteinander reden und sich unterstützen,ist nicht so richtig denk- und aussprechbarohne den Gartenzaun, der einerseits garan-tiert, dass jede und jeder immer noch seins,ihrs hat, man im winzigen Niemandsland „am“oder „über dem“ Gartenzaun aber eine Nähefinden kann, die ohne den Zaun womöglichverlegen machen würde oder unangenehm,

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weil unstrukturiert wäre.

Das perfekte Bild hierfür hat in den 1990erJahre eine wiederum US-amerikanischeFernsehserie gefunden, „Home Improvements– Hör mal, wer da hämmert“, wo in neun Staf-feln nie das Gesicht des weisen und fre-undlichen Nachbarn Wilson zu sehen war,dem sich die Hauptfigur Tim stets nur am undüber den Gartenzaun anvertrauen konnte,während dieser Gartenzaun das Gesicht Wil-sons größtenteils verdeckte. Ohne den Zaun,verstand man sofort, hätten die beiden einan-der nie so nahe kommen können, obwohl derZaun doch eigentlich dafür gedacht war, sievoneinander fernzuhalten: der Zaun also nichtals Kontaktsperre, sondern vielmehr als para-doxer Kontaktstifter.

Freiheit hinter GabionenSo widersprüchlich und paradox im Übrigen,wie Mauern und Zäune zu Zeiten der Aus-gangssperre, des lockdowns, der sozialen undphysischen Distanziertheit: Wo das alltäglicheLeben von einer Woche auf die nächste plöt-zlich von Begrenzungen bestimmt wird, habennur noch jene ein gewisses Maß an Freiheit,die sich rechtzeitig abgezäunt haben. DieWände der Etagenwohnung um- und versch-ließen eine auf Dauer enge Welt, währendalle, die ihren Jägerzaun, ihre Gabionen oderihre Mäuerchen um Gärten, Terrassen undSondernutzungsflächen gezogen habe, hierwenigstens noch ins Freie treten und für Mo-mente die Illusion genießen können, es gäbekeine Sperren.

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FACHBEITRAG: Der PO-2, eine rus-sische Legendevon Jiří Hönes (20/2)

Von Minsk bis Wladiwostok, von Tallinn bisBaku – wo auch immer man im postsow-jetischen Raum unterwegs ist, begegneteinem früher oder später dieser Betonzaun.Die Fertigelemente mit dem charakteris-tischen Relief aus Trapezen und Dreiecken ge-hören zu einer sowjetischen Stadt wie die

berühmten Chruschtschowkas, die fünfges-chossigen Plattenbauten der Nachkriegszeit.Als markante Mauerelemente umfrieden sie In-dustrieanlagen, Militäreinrichtungen, Parks,Eisenbahntrassen, Baustellen oder schlichtBrachland. Der Ursprung der Massenware mitdem Namen PO-2 liegt in den 1970er Jahren.

Moskau, Industriegebiet Metrogorodok, Betonzaun PO-2 mit Schachbrettmuster (Bild: Jiří Hönes)

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Der Lachmann-ZaunDas Design des PO-2, des sog. Lachmann-Za-uns, stammt von einem gebürtigen Moskauer.Zunächst hatte Boris Lachmann Bauingenieur-wesen studiert, um nach seiner Architek-ten-Ausbildung im Moskauer Konstruktions-büro Mosgorstrojmaterialy zu arbeiten. Diesesstaatliche Atelier für Industriedesign spezial-isierte sich auf Baumaterialien – TechnischeÄsthetik hieß dieses Fachgebiet seinerzeit inder Sowjetunion. Lachmann stieg zum Chefar-chitekten auf und hatte ein Team von zehnLeuten unter sich, darunter Künstler und Ar-chitekten.

Eine der Aufgaben des Teams war Mitte der1970er Jahre das Design von Industriezäunen.Später berichtete Boris Lachmann in einem In-terview mit dem russischen Magazin Esquire:„Die Anforderung war eine ästhetisch an-genehme Gestaltung. Ich habe drei Skizzenangefertigt, die waren alle sehr hübsch. ZumBeispiel gab es einen Zaun, der Mauerwerk im-itierte. Aber aus irgendeinem Grund entschie-den sie sich für die einfachste der Varianten.Vielleicht hat ihnen dieses Spiel von Licht undSchatten gefallen? Vielleicht hat ihnen zuge-sagt, dass das Relief so selbstreinigend ist,dass Staub und Schmutz durch den Regenweggespült werden?“

Mehrere Monate war das Team mit der En-twicklung des Zauns beschäftigt, so Lach-mann. „Wir hatten genug Zeit, niemand hattees eilig.“ Für den Entwurf erhielt der Ar-chitekt auf der Ausstellung der Volk-

swirtschaftlichen Errungenschaften derUdSSR (WDNCh) in Moskau 1974 eineBronzemedaille und 50 Rubel Preisgeld.

Reliefplatte im Stahlbe-tonrahmenVon allen Entwürfen, die Lachmann und seinTeam damals erstellt haben, realisierte mannur den Zaun. Konzipiert wurde der PO-2 alsmassiver Stahlbetonzaun zum Schutz strate-gischer Objekte wie Militäranlagen oder Indus-triebetriebe. Die Herstellung erfolgte inWerken, die eigentlich für Betonelemente imWohnungsbau ausgelegt waren. Ein PO-2-S-tahlbetonrahmen umgibt eine mit Drahtge-flecht verstärkte Betonplatte. Darauf ist dascharakteristische Reliefmuster zu sehen, dasein lebendiges Spiel aus Licht und Schattenerzeugt. Dieser Effekt kommt besonders gutzur Geltung, wenn die Elemente zu langen Rei-hen verbunden werden.

Ein Zaun-Element ist 250 Zentimeter breit,(mit den Füßen, die in massiven Beton-Hal-terungen verankert werden) rund 3 Meterhoch und 15 Zentimeter dick. Durch diesemassive Bauweise taugt der PO-2 zur Barriereebenso wie zum Schallschutz. In den 1980erJahren verbreiteten sich die Fertigelemen-t-Zäune sprunghaft. Bis heute prägen sieinsbesondere Industriegebiete und Vorstädte,doch auch auf Baustellen sind sie häufiganzutreffen. Ihr Schöpfer hat diesenSiegeszug nicht mehr vor Ort miterlebt. Erwanderte 1981 in die USA aus. Dort suchte er,

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wie er rückblickend berichtete, persönlicheFreiheit – er wollte ein amerikanischer Ar-chitekt werden.

Emigration in die USAZunächst arbeitete Lachmann beim Architek-ten Richard Milton Bellamy in New York,bevor er 1990 sein eigenes Büro eröffnete. Erplante Shoppingmalls, öffentliche Projekteund Schulen, eine Bibliothek und ein Gemein-dezentrum sowie Privathäuser. Gewiss sei derZaun, wertete Lachmann später, nicht dasGrößte, was er je erschaffen habe. Von dessenOmnipräsenz zeigte er sich überrascht: „Ichsehe immer noch, wenn ich sowjetische Filmeoder einfach nur Aufnahmen aus Russland an-schaue, überall meine Zäune, sogar in kleinenStädten“, berichtete er dem Magazin Esquire.Dies berühre ihn jedoch kaum, er sei schonganz amerikanisch. Und wenn er kurz nostal-gisch werde, dann esse er halt schwarzenKaviar.

Im postsozialistischen Russland hielt sich dieBegeisterung für Lachmanns Erbe zunächst inGrenzen. Die Moskauer Stadtverwaltung er-ließ im April 1997 eine Verordnung, nach derBaustellen im Zentralen Verwaltungsbezirknur noch durch Metallzäune gesichert werdendürfen. Die massiven Lachmann-Zäune wur-den offenbar als zu abweisend empfunden.Doch auch in Russland hat sich die Einstel-lung gegenüber dem Erbe der Nachkriegsmod-erne gewandelt. Dazu mag beigetragenhaben, dass gerade in Moskau die Spuren der

Sowjetära in einem rasanten Tempo versch-winden.

Einige Initiativen setzen sich bereits für denErhalt von Bauten der zweiten Phase der Sow-jetmoderne ein. Inzwischen zeugen zahlreicheAusstellungen und Publikationen von einem re-gen Interesse sowohl bei Wissenschaftlern alsauch bei einer breiteren Öffentlichkeit. Diejunge Generation, die nach dem Zusammen-bruch der Sowjetunion aufgewachsen ist, dieden Sozialismus nur aus Erzählungen der El-tern und Großeltern kennt, entwickelt einreges Interesse an den Relikten dieserEpoche.

Der Betonzaun in der Pop-kulturDa erstaunt es nicht, dass der allgegenwärtigeBetonzaun in den Mittelpunkt der Popkulturrückt. Mehr als Leinwand denn als Exponat di-ente der PO-2 beim Projekt „Permer LangeGeschichten“. In der Industriestadt am äußer-sten Rand Europas wurden erstmals 2011viele Meter Lachmann-Zäune für Künstlerfreigegeben. Sie erzählen darauf Bilder-Geschichten, die sich beim Entlanggehen er-schließen. Bis heute findet dieses Event jedesJahr statt.

Eine Installation aus Lachmann-Zäunenbildete 2018 die Hauptattraktion des Festivals„Archstojanije“ im Kunstpark Nikola-Leniwezin der Region Kaluga, etwa 200 Kilometersüdlich von Moskau. Der Architekt und Kün-

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stler Alexander Sawwitsch Brodski präsen-tierte hier seine „Villa PO-2“: ein zweigeschos-siges Haus aus PO-2-Elementen. Das Werkverbinde Sowjetnostalgie mit der klassizis-tischen Ästhetik des Palladianismus, urteiltedamals das „Strelka Mag“. Sogar derdeutsche Sportbekleidungshersteller Pumabrachte mit der russischen Marke Outlaw ei-nen Sneaker auf den Markt, dessen Sohleseitlich den PO-2 zitiert.

Russland zäunt sich einAllerdings hat der PO-2 seit der PerestrojkaGesellschaft bekommen. In der Sowjetunionhatte noch der Staat das alleinige Recht,Zäune zu errichten. Doch mit der Einführungdes Privateigentums wuchs auch das Bedürf-nis, dieses zu umfrieden. „Heimische Zäune.Wie Russland sich selbst abriegelte“, titelte2017 ein Artikel der Tageszeitung Kommer-sant. In den vergangenen 25 Jahren sind dem-nach in Russland 2,5 Millionen KilometerZäune errichtet worden. Seit etwa 2005 seienes im privaten Bereich besonders die gün-stigeren Wellblech-Zäune, die dem BetonzaunKonkurrenz machten.

Doch auch im öffentlichen Raum greift die Za-unmanie weiter um sich. Hier ist ebenfalls Me-tall das Material der Stunde. Wer sich ein Bilddavon machen will, schaut sich am besteneine der Stationen von Moskaus neuer S-Bahn„MCD“ an. Bahnsteige und Zugänge sind vonmeterhohen Zäunen umgeben, deren Loch-bleche nur einen schemenhaften Blick nach

draußen zulassen. Mit den Zugangssperren anden Eingängen entsteht eine geradezu gefäng-nishafte Atmosphäre. „Wir haben einen Staat,der sich einzäunt. Das ist die neue politischeSituation seit 2014. Die militaristische und iso-lationistische Atmosphäre wird so auf bizarreWeise in die Köpfe der Bürger projiziert“, erk-lärte Sergej Medwedjew, Politikwissen-schaftler und Historiker an der Higher Schoolof Economics in Moskau, gegenüber der Zei-tung Kommersant.

Durch die KontrolleDiese Zaun-Atmosphäre lässt sich besondersintensiv am Moskauer Fernsehturm Ostankinoerleben. Zwar gewährt der Metallzaun hiernoch einen Blick auf das Gelände, dochspricht der darauf angebrachte Stacheldrahteine deutliche Sprache. Zunächst muss manKontrollen passieren, die penibler sind als anjedem Flughafen. Dann geht es auf einemumzäunten Weg durch eben jenes Gelände,das man soeben am äußeren Zaun halb umrun-det hat. Erst jetzt kann man die nächste Kon-trolle durchlaufen.

Ganz in der Nähe sind originale Lachman-n-Zäune zu bewundern: auf der Rückseite desBotanischen Gartens, wo dieser an die Trassedes Moskauer S-Bahn-Rings stößt. Am nord-westlichen Eingang des benachbarten WD-NCh-Geländes, wo Boris Lachmann einst seineAuszeichnung erhielt, sind neben originalenPO-2 auch Betonzäune mit einem abweichen-den Muster zu sehen: der etwas niedrigerePO-16.

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Die Legende lebtDoch auch der klassischen PO-2 wird heutenoch angeboten. Auf der Website des Her-stellers Komplex-S können Selbstabholer einZaun-Element für rund 7.000 Rubel (etwa 87Euro) erwerben. „Massiver Beton ist in derTat sowohl physisch als auch psychisch einernstes Hindernis“, heißt es dort in der Pro-duktbeschreibung. Durch zusätzlich ange-brachten Stacheldraht werde der Zaun zu

unüberwindlich für Mensch und Tier undschütze zudem vor neugierigen Blicken. DerPO-2, eine lebende Legende.

QuellenBogatko, Julija, Geschichte des Betonzaunsmit Rauten, Esquire, 20 März 2013 (russisch).

Ruwinskij, Wladimir, Heimische Zäune. WieRussland sich selbst abriegelte. Kommerssant,20. Mai 2017 (russisch).

Moskau, am WDNCh: links der Betonzaun PO-16, rechts der PO-2 (Bild: Jiří Hönes)

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FACHBEITRAG: Mythos Mauervon Johannes Medebach (20/2)

Es gibt Tage, an die sich alle erinnern. MitSicherheit gehört der 9. November 1989 dazu.Gegen 18 Uhr verkündet Günter Schabowskiin einer legendären Pressekonferenz dieMöglichkeit der DDR-Bürger zur „ständigenAusreise“. Menschen aus Ost-Berlin stürmenzu den Grenzübergängen der geteilten Stadtund pochen auf ihr neugewonnenes Recht.Und eine halbe Stunde vor Mitternacht ist es

endlich soweit: An der Bornholmer Straße öff-nen sich nach 28 Jahren die Tore. DerTodesstreifen hatte seinen Schrecken ver-loren. Heute sind die Bilder jener Tage zumMythos geworden – so wie die Mauer selbst.Heute existieren in Berlin einige letzte Frag-mente, an denen die ehemalige Grenze erfahr-bar wird. So etwa am FriedrichshainerSpreeufer, an der East Side Gallery.

Berlin, Blick auf die Mauer nahe dem Potsdamer Platz (Foto: Nancy Wong, Bild: Edmunddantes,CC BY SA 3.0, 1986)

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Real existierende Ar-chitekturNeben ihrer symbolischen Bedeutung als De-markationslinie war die Mauer eben auch einBauwerk. Je nach Betrachtung: eine Barriere,um den „real existierenden“ Sozialismus zuschützen, oder ein tödliches Werkzeug, umMenschen ihrer persönlichen Bewegungsfrei-heit zu berauben. Eine Architektur der Ab-schreckung, von der trotzdem eine ungeheureFaszination und Inspiration ausging. Wie vieleSchulklassen reisten bis 1989 nach Berlin, umsich dem schaurig schönen „Mauergucken“hinzugeben …

Rem Kohlhaas schrieb 1972 seine Abschlussth-esis „The Berlin wall as architecture“. Damalswagte er ein theoretisches Experiment: West-berlin als Hort der Freiheit durch Selbstein-friedung. Dass Künstler aus aller Welt diewestliche Seite als größte Leinwand der Weltverstanden, verwundert nicht. Eine solch ambi-valente Struktur zieht mit ihrem Spannungs-feld viele Menschen an.

SpurensucheDoch was passierte nach dem November ’89mit diesem Bollwerk? Mit dem 155 Kilometerlangen Mauerstreifen aus ca. 45.000 Segmen-ten, mit den 302 Beobachtungstürmen und 20Bunkern? Entgegen der kollektiven Erin-nerung verschwand die gesamte Baumassenicht über Nacht. Kurz vor der Jahreswendebeschloss die Regierung Modrow, die Berliner

Mauer zu entsorgen. Diese Zeit barg zwar ei-nen unbändigen Freiheitsdrang und einengroßen Möglichkeitsraum, aber eben aucheine gewisse Ratlosigkeit. Entsprechendwurde das Verschwinden der Mauer durcheinige Turbulenzen und unerwartete Wendun-gen begleitet.

Direkt nach der Öffnung hörte man in den inn-erstädtischen Bereichen vermehrt ein eifrigesKlopfen. Die sog. Mauerspechte machten sichan die Arbeit. Fleißige Bürger, mit Hammerbewaffnet, rückten dem „antifaschistischenSchutzwall“ zu Leibe. Schlag um Schlagwurde der Betonwall ausgedünnt – und somanches Souvenir für zu Hause gesichert. Esist selbstverständlich, dass ein Gros derMauer so nicht entsorgt werden konnte.

Kontrollierter RückbauSieben Monate nach dem geschichtsträchti-gen 9. November, am 13. Juni 1990, begannan der Bernauer Straße der kontrollierte Rück-bau der Grenzanlagen. Dieser Ort war nichtzufällig gewählt: Die Fluchten durch die im Os-ten stehenden Häuser, zu Beginn selbst Teilder Grenzanlagen, gingen um die Welt. An die-sem Abschnitt starben aber auch die meistenMenschen bei vergeblichen Fluchtversuchen.Heute befindet sich hier die Zentrale Gedenk-stätte Berliner Mauer.

Die Ost-Berliner Baukombinate wurdenverpflichtet, die Anlagen zu entsorgen. Ver-ständlicherweise war die Bereitschaft riesen-groß. So mancher Mitarbeiter nahm sich

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selbst einige der drei Meter hohen und tonnen-schweren Betonfertigelemente mit. Nicht im-mer stieß diese Art von „Gartenzaun“ auf Ge-genliebe. Die blutige Geschichte haftetescheinbar am Stahlbeton.

Totaler AusverkaufDie DDR-Regierung gehörte zu den Ersten,die das große Geschäft mit der Geschichte wit-terten. Schon im Januar 1990 demontiertenEinheiten der Nationalen Volksarmee (NVA)50 künstlerisch anspruchsvoll gestaltete Seg-mente aus dem Grenzgebiet zum damals krea-tivsten aller Westberliner Bezirke: Kreuzberg.Die Außenhandelsgesellschaft Limex machteaus dem Verkauf ein lukratives Geschäft. Er-ste Lieferungen gingen vor allem in die USA,wo die Berlin Wall Commemorative Group dieVermarktung übernahm. In der Folge gründetLimex mehrere Gesellschaften zur Verwer-tung der Mauer-Segmente. Im Verlauf desJahres wurde ein Millionenerlös eingefahren –in Monte Carlo versteigerte man im Juni 1990beispielsweise 80 Segmente.

Beliebt waren farbig gestaltete Mauerstückevon Künstlern wie Thierry Noir oder Keith Har-ing. Auf der Strecke blieben dabei die Kün-stler selbst, die sich die Beteiligung am Erlöserst einklagen mussten. Bis heute ist nichtganz zu klären, ob alle Gelder dort angelangtsind, wo sie hingehörten. Die Limex hatte zahl-reiche Tochterfirmen und private Koopera-tionspartner. Es ist anzunehmen, dass einnicht unbeträchtlicher Teil der Einnahmen in

privaten Taschen landete. Als im Sommer1990 nun auch die NVA das große Geschäftwitterte, verschwanden weitere Fragmente un-ter der Hand. Nun wurde alles zu Geld ge-macht, was mit der Grenze verbunden war:Zäune, Schilder und Ausrüstungen. Einige alteGrenzeruniformen schafften es sogar auf denPariser Laufsteg: Der amtierende DDR-Verteidigungsminister Rainer Eppelmann botsie Karl Lagerfeld für seine Kollektion an.

Mentale MauerAm 3. Oktober 1990 hörte die DDR auf zu ex-istieren. Ganz abgeräumt war die Mauer zudiesem Zeitpunkt aber immer noch nicht. Absofort wachte die Bundeswehr über die ver-bliebenen Reste. Dieser schmeckte dasGeschäft mit dem Todesstreifen nicht sorecht. Als im Bonner Verteidigungsministeri-um jedoch die Zahlen des bisherigen Erlösesbekannt wurden, staunte man auch dort nichtschlecht. Ab Dezember 1990 wurden die bun-ten Mauerteile fröhlich weiterverkauft. DieBundeswehr nahm so noch einmal rund 6 Mil-lionen D-Mark ein.

Unterdessen ging der planmäßige Abbruchweiter. Die meisten Segmente wiesen keinenhöheren Kunst- oder Verkaufswert auf und lan-deten geshreddert im Straßenbau. GegenEnde des Jahres 1990 war die Mauer aus demBerliner Stadtbild verschwunden. Der großeHype um die Relikte der einstigen Grenzeebbte ab – so wie sich im wiedervereinigtenDeutschland langsam ein ernüchterter Blickeinstellte. Die Mauer in den Köpfen sollte sich

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als deutlich widerstandsfähiger erweisen. Inden 1990er Jahren näherten sich Ost undWest nur langsam und unter starken Vorbehal-ten an. So wollte man sich im Osten aller Erin-nerungen an die alte Zeit entledigen.

Rettet die MauerDas schnelle Verschwinden und derAusverkauf der ehemaligen Grenze ist sicher-lich dem turbulenten Tempo dieser Zeit zuschulden. Es gibt allerdings auch Kritiker dies-er überhasteten Entsorgung. JohannesCramer, emeritierter Professor für Bau- undStadtbaugeschichte an der TU Berlin,beschäftigte sich in den 2000er Jahren mit derDokumentation der Überreste. Durch dasAuswischen des Grenzstreifens sei, soCramer, „seine Feindseligkeit nicht mehr er-lebbar“. An Orten wie der East Side Gallerysind heute nur noch Fragmente zu sehen. Manverwechselt die Betonwand mit der Grenze.Dabei bestand dieses perfide System ausvielen Schichten, die eine Flucht nahezu un-möglich machten.

Laut Cramer sind vor allem die leichteren,scheinbar unspektakulären Elemente derGrenze – wie etwa Drahtzäune oder die Licht-trassen – komplett verschwunden. Die Unter-suchungen ergaben auch, dass der kompletteStreifen in acht Abschnitten errichtet wurde.Keineswegs lag 1989 ein durchgängig homo-genes Bauwerk vor. In den Außenbezirken bes-tand die „Mauer“ lediglich aus Zäunen. In derVeröffentlichung „Die Baugeschichte der Ber-

liner Mauer“ sind die Ergebnisse dieser umfan-greichen Forschung und Bestandsaufnahmegebündelt.

Auf eine weitere Gefahr wies Cramer bereitsdamals hin: Investoren könnten das ehemaligeGrenzgebiet unter Beschlag nehmen und sodie letzten historisch wertvollen Spurenlöschen. Beim Bau der Mercedes-Benz-Arenawurde schon früh ein Teil dieses deutsch-deutschen Erbes geopfert. Die East SideGallery wurde bei der Erweiterung des Medi-a-Spree-Projektes gestutzt. Jüngst wurdebekannt, dass der letzte Wachturm des TypsBT 6 an der Erna-Berger-Straße einemNeubau weichen soll – trotz Denkmalschutz.

Umkehrung der SymbolikTrotz- oder gerade wegen ihrer schrecklichenVergangenheit ist die Mauer heute längst zurIkone des Freiheitswillens geworden. Das vomKurator Rainer Janicki initiierte Projekt „the-wall-net.org“ verortet die Spuren der BerlinerMauer auf der ganzen Welt: unter den Palmendes County Museum in Los Angeles oder seit1990 am nordöstlichsten Rand Europas inFinnland oder vor der Deutschen Schule inMoskau …

Mancherorts gelten die Segmente als Trophäedes gewonnenen Kalten Krieges. andernortswird vor allem die Umkehrung der Symbolikbetont. Die Entwicklung geht von einem tren-nenden hin zu einem verbindenden Moment.Besucher haben auf „the-wall-net.org“ dieMöglichkeit, ihre Eindrücke von den Gedenk-

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stätten mitzuteilen. Auf diese Weise kann dasExtrakt einer weltweit verknüpften Erin-nerungskultur sichtbar gemacht werden. Janic-ki macht zudem online einzelne Aspekte imhistorischen Kontext zugänglich.

Exportschlager der DDRMan könnte zynisch sagen: Die Mauer war derletzte Exportschlager der DDR. Jenseits allerVermarktung und Touristenbespaßung mussdaran erinnert werden, welches Unrecht und

Leid dieser Ort hervorgebracht hat. Derspätere Umgang mit dem Objekt Mauer stehtfür die Widersprüchlichkeit und Vielfalt derhistorischen Ereignisse. Heute würde eine ab-solute Deutung dem System nicht mehrgerecht, das vorher in strikt in Gut und Bösetrennte. Und falls man jetzt selbst Interessean einem Stück Berliner Mauer haben sollte:Einige der damaligen Limex-Lizenznehmersollen noch das ein oder andere Stück horten.Ab und an sind sie auf Ebay erhältlich, zumLiebhaberpreis, versteht sich!

Berlin: der deutsche Botschafter Volker Pellet besichtigt mit dem dominikanischen AußenministerMiguel Vargas Mauer-Reste (Bild: © Deutsche Botschaft, via the-wall-net.org)

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FACHBEITRAG: Der Jägerzaunvon Peter Liptau (20/2)

Er ist der VW Golf (besser: der VW Jetta inGoldmetallic) unter den Zäunen: der Jägerza-un. Dabei hat die fast transparente Holzkon-struktion wenig Abwehrhaftes, sie wirkt eherwie ein Rahmen. Heute bietet der Klassiker

weder Schutz vor wilden Tieren noch vor men-schlichen Eindringlingen. Trotzdem hat sichdieses „deutscheste aller Zaunwerke“ (IreneLohaus) spätestens seit der Mitte des 20.Jahrhunderts einen festen Platz im kollektivenGedächtnis gesichert.

Jägerzaun (Bild: Cora Schönemann, 2020)

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Bäuerlicher Pragmatis-musDie Geschichte des Jägerzauns beginnt in ein-er Zeit, in der sich Adelige in den Wäldernherrschaftliche Bauten errichten ließen, umdem feudalen Hobby der Jagd nachzugehen.Natürlich legten die Herren viel Wert auf einegroße Wildpopulation, um zuverlässig etwasvor die Flinte zu bekommen. Doch Hirsch undReh zog es bei der Nahrungssuche immerwieder zu den Feldern, Gärten und Höfen derDorfbewohner.

Die Lösung für dieses Dilemma: Das Volkdurfte Holz in den fürstlichen Wäldern schla-gen, um sich Zäune zu bauen. An diesemPunkt entwickelte sich aus einem vormoder-nen „form follows function“-Gedanken herausder Scheren- oder Kreuzzaun, der später un-ter dem Namen „Jägerzaun“ Karriere machensollte. Die Holzkonstruktion besteht auskreuzförmig angebrachten Latten, ur-sprünglich meist gespaltenen Ästen, die imSystem der sog. „Nürnberger Schere“ zusam-mengenagelt werden – eine Funktionsweise,die (nebenbei bemerkt) bereits aus dem altenChina überliefert ist. Verglichen mit der heuti-gen Bauweise fiel der historische Jägerzaunwohl etwas höher aus, um dem Wildbret sich-er den Zugang zum Salat verwehren zu kön-nen.

Eine simple KonstruktionDer Jägerzaun ist einfach zusammenzuzim-mern, falt- und transportierbar. Inverbesserten Varianten überdauerte das Nut-zobjekt Jahrzehnte und Jahrhunderte, bis esdurch den praktischeren, rollbaren Maschen-drahtzaun abgelöst wurde. Dessen Herstel-lung wurde ab Mitte des 19. Jahrhunderts in-dustriell möglich. Bei der Tagung „ZwischenJägerzaun und Größenwahn – Freiraumgestal-tung in Deutschland 1933-1945“ arbeitete dieLandschaftsarchitektin Irene Lohaus 2012 her-aus: Das Modell kommt in den 1930er Jahrenhäufig zum Einsatz, aber nicht unbedingt vor-rangig. Göring etwa wählte für seinen Land-sitz Carinhall keine „Nürnberger Schere“(wenn auch vom Namen her eigentlich für ihnprädestiniert), sondern einen schnöden Quer-lattenzaun.

Nach Lohaus entwickelte sich der Jägerzaun--Typus – genannt Scheren-, Diagonal-,Hanichel- Spriegel- oder gekreuzter Waldlat-tenzaun – im Mittelalter. Seinen heute charak-teristischen Namen erhielt er, so Lohaus, je-doch erst in den 1960er Jahren. Die Bauweisefindet sich bereits ab 1870 in Publikationen.Im Englischen läuft der deutsche Jägerzaununter der Bezeichnung „rustic fence“.

Eine GegenreaktionMöglicherweise als Gegenreaktion auf diekitschigen schmiede- oder gusseisernenZäune des Historismus erlebt der Jägerzaun

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im frühen 20. Jahrhundert eine Renaissance.Die Gartenstadtbewegung wendet sich wiederländlichen Gestaltungsmotiven zu. Mit ihrkommt der Jägerzaun in urbane Gefilde, sozum Beispiel in die Gartenstadt Berlin-Falken-berg des Architekten Bruno Taut. Nur wenigspäter werden im Dritten Reich Betonmauernoder gar glatte Mauern indiskutabel. Selbst„die übliche Verwendung von Betonpfosten istunerfreulich“, so ein damaliger Gestaltungsrat-geber.

Auch im Heimatschutzstil – einem zuvor schonvorhandenen, aber zu NS-Zeiten eng ge-fassten und politisch aufgeblähten Begriff –hat der Jägerzaun einen festen Platz: „Jegrößer der Größenwahn, desto pragmatischerdie Mittel im Siedlungsbau“, so Lohaus. InKleinsiedlungen wie München-Ramersdorfoder Düsseldorf-„Rotes-Haus“ zieht sich derZaunklassiker entlang der Grundstücks-grenzen. Nicht zu vergessen der vertikale Lat-tenzaun, der zeitgleich Einzug in die Gärtenhält. Bis heute findet man in solchen Siedlun-gen auf der Schau- oder Straßenseite häufigeinen Holzzaun. Entlang der Grundstücks-grenzen wurde hingegen oft nur der schnödeDrahtzaun aufgestellt.

ZurückhaltungErnst Neufert benennt schon 1936 in seinerErstausgabe der „Bauentwurfslehre“ denJägerzaun als mögliches Gestaltungsmerkmal.Hier wird die Bezeichnung „Rundstengelzaun“gewählt, was erneut die ursprünglichrustikale (ungeschliffene) Gestaltung der Lat-ten belegt. In verschiedenen Publikationen jen-er Jahre wird klar definiert, wie die Holzkon-struktion aufzustellen sei: Hinter dem Zaun lie-gen die Pfosten, die ihn an Höhe nichtübertrumpfen sollen. Ziel ist ein „vornehmesund zurückhaltendes Bild entlang der Straße“.Diese einheitliche Linie könne höchstensdurch gemauerte Pfosten für Einfahrten undGrundstückszugänge unterbrochen werden.

Noch 1950 werden die Zaun-Beispiele im Neuf-fert-Ratgeber unverändert abgedruckt. Invielen Nachkriegssiedlungen kommen hinge-gen vermehrt Stahl- und Drahtzäune zum Ein-satz. Beliebt ist hier beispielsweise – zwischenBetonpfosten, auf Betonsockelmäuerchen –ein Rundrohrrahmen mit einem gewelltenEisendrahtgeflecht. Oder eben gestaltete Ele-mente mit Fischen oder Blümchen aus Stahl.

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Jägerzaun (Bild: Jürgen Schölch, 2020)

Symbol der Spießigkeit1960 eröffnet mit dem „BAUHAUS“ in Mann-heim der erste deutsche Baumarkt. Für denJägerzaun herrschten damals ähnlich gute Be-dingungen wie noch im Mittelalter: Kostengün-stig, transportabel, variabel passte erzunächst ins Nachkriegsvehikel und dannzwischen jede Fertiggarage und jedes Ein-gangstörchen. Eine neue Ära des Jägerzaunesbeginnt, der vermutlich erst zu diesem Zeit-punkt auch so genannt wird. Woher dieseBezeichnung stammt, lässt sich nicht mehrrekonstruieren.

Heute hat der Jägerzaun seine eigentliche

Schutzfunktion größtenteils eingebüßt. Auf-grund seiner Funktionslosigkeit ist er evolu-tionär geschrumpft. Wo es keinen Nutzgartenmehr zu verteidigen gibt, scheint der Zaun zusagen: Weg da, das hier ist alles meins! Eineleicht sonderbare Abwehrhaltung ist in einemGartenratgeber der späten 1960er Jahre zuerkennen: Gegen darübersteigende Kinderwird empfohlen, auf der Zaunrückseite – ent-lang der Spitzen – einen Stacheldraht aufzu-nageln.

Im „Jodlerstil“Die Massenverwendung hat den Jägerzaun in

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absurde Formen gepresst: Zwischen ge-mauerten Pfosten wird das ursprünglich trans-portable Schutzgerät ad absurdum geführt.Gleiches widerfährt übrigens dem Maschen-drahtzaun. Der Dokumentarfilmer Dieter Wie-land spricht in seinem Bericht „Bauen und Be-wahren“ 1984 vom „Jodlerstil“: Unsere Sied-lungen bilden demnach ein Gewirr ausEinzelinteressen. Hier ist der Zaun sowohl Sta-tussymbol als auch Abbild des individuellenGeschmacks. Er trägt das ersehnte Jägerzim-mer im Gelsenkirchener Barock-Stil oder denröhrenden Hirsch nach außen. Es sind sogarneue Entwicklungsformen des Klassikers ents-tanden: als nicht mehr faltbare Plastikversio-nen, als Rankhilfe und Rosenbogen, als Umfas-sung im Geranienkasten oder Lückenbüßerzwischen Gabionenwänden.

Auch in den Galerien und Museen hat derJägerzaun Einzug gehalten. So zeigt der Kün-stler HAWOLI auf einer Wiese eine Jägerza-un-Spirale – sie wächst, schraubt sich aus demBoden oder in ihn hinein. Der Zaun bleibt Sch-

wellensituation. Die Künstlerin Heike Sauer,deren Ausstellung im Frühjahr 2020 imStadthaus Ulm zu sehen war, sammelt gernKitschiges aus dem Alltagsleben und kom-biniert es neu. Mit einem schmiedeeisernenKerzenleuchter und einem Warnschild, dasdeutscher kaum sein kann, behauptet derJägerzaun hier seine Zugehörigkeit zumSpießertum.

Anti-Bambi-BollwerkIrgendwie war der Jägerzaun immer schon da,irgendwie noch nie ernst gemeint oder ernstgenommen. Mal Anti-Bambi-Bollwerk, dannNazi, auf einmal stilsicherer Klassiker desSpießbürgertums und später aus Kunststoff.Aber seit mindestens hundert Jahren ist erkontinuierlich erhältlich. Auch als Modell-bau-Utensil gibt es ihn seit Jahrzehnten fürdie hauseigene Tischeisenbahn zu kaufen. Da-her zum Schluss eine Empfehlung: VersuchenSie es im Kleinen, kaufen Sie sich die Minia-turversion und ein Usambaraveilchen!Vielleicht hält er, gemäß seiner historischenBestimmung, die Läuse fern.

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PORTRÄT: Schallschutz mit Dackelvon Karin Berkemann (20/2)

Wir müssen geschützt werden – vor Viren undGeräuschen. Bei „Lärm“ (oder politisch korrek-ter „Schall“) handelt es sich keineswegs umein Exklusivproblem der Nachkriegsmoderne.Auch Pferdefuhrwerke und Dampflokomotivenwaren laut, sogar lauter als viele Fortbewe-gungsmittel heute. Aber sie waren weniger

und wir hatten weder Zeit noch Wahl, unsgroß darüber aufzuregen. Doch spätestensseit den 1960er Jahren rücken uns die Dingeda draußen gefühlt immer dichter auf diePelle. Dagegen bauen wir Schutzwälle, die wirmal ironisch, mal liebevoll mit viel Grün dahin-ter und niedlichen Tieren davor ablichten.

Goldbach, Einhausung der B 3 (Bild: Maulaff, CC BY SA 3.0, 2006)

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Die letzten BrutalistenEine Lärmschutzwand will nicht mehr sein, alssie ist: ein notwendiges Übel. In Zeiten farb-dekorierter Wärmedämmfassaden hat derumgebungsignorante Brutalismus hier seineletzte Zuflucht gefunden. Egal wie hässlichman die Betoneinhausung einer Autobahn find-en mag, Krach ist hässlicher. Beim Durch-fahren des schallschluckenden Tunnels ist eseh dunkel. Und die anschließenden Lärm-schutzwände stehen im Niemandslandzwischen Verkehrsweg und Gebüsch. Kaumeiner schaut wirklich hin. Architektur istdamit endlich frei von der Last, für etwas(ein)stehen zu müssen. Kein Schauwert, keinZeichenwert, sondern pure Funktion. MehrModerne geht nicht.

Erst im zweiten Schritt lebt sich dasDekobedürfnis auch an Schallschutzwändenaus. Harmlos sind noch Wilder Wein undkränkelnder Efeu, die nicht nur für Schallmin-derung sorgen. Sie täuschen zugleich einengrünen Schutzwall vor: Eigentlich fahren wirdurch einen Wald. Und was wir nicht sehen,kann uns nicht stören. Auch modischesColour-Blocking in landschaftsimitierenden

Grüntönen versendet sich im Vorbeifahrenrasch. Schwierig wird es bei figurativen Ver-suchen, die an gutmeinende Fingermalereienauf Kindergartenzäunen erinnern. Wo schondie 1980er Jahre den Beton grünwegstreichen wollten, wird jetzt dieSchutzwand mit Bienchen und Blümcheneingeschönt.

Einmal quer durchIn der Schallschutzwand lebt vergleichsweiseunbeschadet das Lieblingsfeindbild der Denk-malschutzbewegung der 1970er und 1980erJahre weiter: das schonungslose Durchschnei-den von Landschaften. Hier werden Autobah-nen und Bundesstraßen unübersehbar in diedritte Dimension verlängert. Immer wiederrennt der schweifende Blick gegen Wände.Was die Ohren schützen soll, beschneidet dasAuge. Selbst das beim Straßenbau aufge-häufte Erdreich stört das Bild. Ein begrünterWall braucht viel Platz bei wenig Wirkung.Was am Ende fehlt ist – ob Auto oder Bahn –der freie Blick. Das gilt dies- und jenseits derMauer, da helfen auch Glaseinsätze wenig.Zwischen zwei Wänden bewegt man sich fort,erst im weiten Raum wird die Fahrt zur Reise.

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Tankstelle in Aspik: das Freiburger Turmcafé mit Biergarten hinter ein Lärmschutzwand (Bild: Ha-gen Stier)

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Gelegentlich werden Häuserzeilen bereitsvorab als Schallschutz geplant. Das funk-tioniert, doch nur selten für die Bewohnereben jener Gebäude. Lärm kann an der Quelleselbst reduziert werden: leisere Motoren undBremsen, reibungsarmer Straßenbelag,sorgfältige Schienenpflege, weniger geräusch-intensive Stopps im Stadtverkehr. Selbst Haus-fassaden können als Schallreflektoren einge-setzt werden. Zuletzt bleibt das TrostpflasterLärmschutzwand. Wo wir als Bewohner schonnicht gegen die Übermacht von Mobilität-szwang und Schwerlastverkehr ankomme(und den Kampf nie wirklich aufgenommenhabe), da möchten wir zumindest eine kleinebauliche Wiedergutmachung sehen. Dass wiruns damit selbst ins Ghetto verbannen, ist dieKehrseite der Medaille.

Vorbeifahr-Kunst

Natürlich, es gibt sie, die kunsthandwerklichgestaltete Betonoberfläche, die ornamental ge-musterte Holzwand, das spät-postmoderneAussichtstürmchen zwischen Metallpaneelen.Doch sie bleiben die Ausnahme. Zur Regelwerden traurige Eigenheimanhäufungen hin-ter Erdwällen. Von der Ausbreitung der Gabio-nen schweigen wir der Höflichkeit halber. AmEnde helfen sie dabei, die verborgene Schön-heit der nachkriegsmodernen Lärmdämmungzu sehen. All die liebevoll hilflosen Versucheder 1980er Jahre, irgendwie irgendeine gestal-terische Geste auszuführen. All die Betonform-steine und Metallprofile der 1990er Jahre, diedem Wort Monotonie eine neue Dimension ver-leihen. Vielleicht liegt hier der eigentlicheWert dieser verkannten grauen Architektur.Genießen wir einfach die Gestaltungsfreiheitund Gleichförmigkeit unverzweckter Fläche.Das beruhigt, zumindest die Augen.

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INTERVIEW: „Ein pervertierter Ord-nungswahn“Ulf Soltau im Gespräch über Schottergärten (20/2)

„Wir hätten gern das Aschgrau!“ Loriot illustri-erte den bundesdeutschen Seelenzustand inseinem Film „Ödipussi“ 1988 noch anhand derFarbwahl fürs Sofa. Heute scheint das Grau inGrau in den Vorgärten angekommen zu sein.Die Rede ist von Schottergärten. Vielerortswirkt es, als wäre ein Gabionen-Laster havari-ert. Zurück bleibt eine vermeintlich

pflegeleichte, aber letztlich tote Steinwüste.Der Jägerzaun, der einst die liebevollgepflegten Stauden der Häuslebauer vor Ein-dringlingen schützte, hat ausgedient. Um die-sem Wandel etwas entgegenzusetzen, grün-dete der Berliner Biologe Ulf Soltau die Face-book-Seite „Die Gärten des Grauens“: einePlattform für humorvoll kommentierte Extrem-beispiele jener Schottergartenkunst.

„Gärten des Grauens“ 20.1774: Orientalisches Flair genießt man in der „Festung Europa“bevorzugt ohne Menschen aus entsprechenden Regionen

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moderneREGIONAL: Auf allen Kanälen er-reichen „Die Gärten des Grauens“ mittler-weile mehrere hunderttausend Follower.Warum haben Sie die Seite 2017 ins Lebengerufen?

Ulf Soltau: Da ich selbst einen Kleingartenhabe, bin ich in den sozialen Medien diversenGartengruppen beigetreten. Dort postete mandamals immer noch viele Bilder von Schot-tergärten. Diese wurden überschwänglich ge-liked und goutiert, wie schick und ordentlichsie doch seien. Ich fand sie ganz abscheulichund habe dann gerne ironisch kommentiert.So wurde ich aus den Gruppen herausgewor-fen und gründete meine eigene Seite. Obwohlich das Satirische nie gelernt habe, liegt esmir. Für mich macht es vor allem die Kombina-tion von Wort und Bild!

mR: Die „Gärten des Grauens“ sind also aus„Antikräften“ entstanden. Welche Wirkungkonnten Sie erzielen?

US: Der größte Coup war die Idee des „TerrorGardening Awards“: ein Schmähpreis fürOrte, aus denen besonders viele Bilder kom-men. Das führte zu politischen Diskussionenin den entsprechenden Gemeinden. ImLuftkurort Xanten beispielsweise wollte mandas nicht auf sich sitzen lassen. Sehr schnellwurde die Bauordnung geändert. Schot-tergärten sind nun explizit verboten. Das zogeinen ganzen Rattenschwanz von Gemeindennach sich. In solchen Diskussionen taucht im-mer der Begriff „Gärten des Grauens“ auf.

Das hat einen großen Sinneswandel herbeige-führt.

Ich habe mich nie als Politiker oder Machergesehen. Aber mit einer satirischen Herange-hensweise erreiche ich auch unglaublich viel.Im Unterschied zum Dokumentarfilmer DieterWieland, der in den 1980ern schon dieheimische Gartenkultur stark in die Kritikgenommen hat. Seine Reihe „Grün kaputt:Landschaft und Gärten der Deutschen“ isthoch eloquent, wirkt aber immer ein bisschenmoralinsauer. Dadurch ist er leider nicht wirk-lich durchgedrungen. Die Gärten sind heutenoch viel schlimmer als damals.

mR: Welche ökologischen Folgen haben dieversteinerten Gärten?

US: Die Auswirkungen beschränken sich nichtnur auf die Biodiversität – die Insektenpopula-tionen und alles was an der Nahrungskettehängt. Ein weiterer Punkt ist das in Mitleiden-schaft gezogene urbane Kleinklima. SolcheFlächen heizen sich im Sommer auf. Nachtsfindet keine Abkühlung mehr statt. Bei derVegetation erleben wir das exakte Gegenteil:Pflanzen transpirieren, was zu einer Hitzeregu-lation führt. In Wäldern ist es im Hochsommerbis zu zehn Grad kühler als in der Umgebung.Dieser positive Effekt, den wir angesichts desKlimawandels dringend brauchen, wird durchdiese Gärten eliminiert. Kritisch ist ebenso dieEntsorgung. Der Schotter wird – samt Un-krautvlies und Erdreich – teuer abgetragen.

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Als sog. Baumischabfall kann er nur noch de-poniert werden.

mR: Wie pflegeleicht ist ein Schottergartenwirklich?

US: Durch das Kunststoffvlies, das unter dieSteinmassen kommt, hat man erstmal zweiJahre Ruhe. Allerdings legt sich im Laufe derZeit verrottendes Herbstlaub darüber, dannkommt Flugsaat. Spätestens dann hat manwieder mit Unkraut zu kämpfen. Wer gehtdann in den Schotterhaufen und pult alles mitder Hand heraus? Stattdessen greift man zurGiftspritze. Glyphosat ist zwar verboten – aberwo kein Kläger, da kein Richter.

mR: Seit wann gibt es den Schottergarten?

US: Meine Eltern hatten eine Drogerie. Nachdem Zweiten Weltkrieg fanden Reinigungsmit-tel und Pestizide großen Absatz. Alle wolltenden Dreck der Vergangenheit loswerden – daswar ein riesengroßes Geschäft. Ich vermute,dass diese Mentalität Eingang in dieGartengestaltung gefunden hat. Die Leutewollten saubere Gärten: Es wurde geharkt,gezupft und gespritzt. Wildwuchs war nichtmehr zugelassen. Der Schottergarten ist dieSteigerung eines pervertieren Ord-nungswahns, der unsere Wohnzimmer niehätte verlassen dürfen.

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„Gärten des Grauens“ 20.1732: Während sich unsere Ahnen aus der Jungsteinzeit mit imposantenSteinbauten wie den nordeuropäischen Hünengräbern, den Steinreihen von Carnac oder Stone-henge als MEGALITHKULTUR in die Kulturhistorie der Menschheit einschrieben, so wird unsereheutige Ära wohl nur einen dünnen Schotterhorizont in den archäologischen Bodenprofilen derZukunft hinterlassen und als sog. MIKROLITHKULTUR Zeugnis der letzten und kürzesten allererdgeschichtlichen Epochen ablegen – dem Ende des Anthropozäns

mR: Die meisten Bilder kommen aus der Vors-tadt oder aus dem ländlichen Raum – worankönnte das liegen?

US: Ich weiß es nicht, was psychologisch dazuführt. Hier in Berlin, generell größerenStädten, zeigt sich eher ein gegenläufigerTrend: Urban oder Guerilla Gardening. DerOrdnungsdrang war, glaube ich, auf dem Landschon immer deutlicher ausgeprägt. Ich bin z.B. Hamburger. Wer den Kiez kennt, der weiß:Schmuddel und Bürgertum existieren nebenei-nander, das gehört zusammen. Auf dem Land,da möchte man es einfach ordentlich haben.Dahinter steht sicher eine konservative Grund-haltung.

mR: Aus welchen Regionen kommen beson-ders viele Einsendungen für „Die Gärten desGrauens“?

US: Ehrlich gesagt, erreichen mich wenigeBilder aus Ostdeutschland. Ich würde sagen:80 Prozent kommen aus dem Westen. Diemeisten Bilder erhalte ich interessanterweiseaus dem Saarland und vor allem aus Nor-drhein-Westfalen. Letzteres kann daran lie-gen, dass es dort extrem viele Schottergärtengibt. Oder die Menschen haben in Nor-drhein-Westfalen mehr Naturverständnis undes fällt ihnen eher auf. Eine verlässliche Statis-tik kann man so aber nicht machen.

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mR: Ist der Schottergarten eher ein deutschesPhänomen?

US: Ich denke schon. Solche Gärten kenntman natürlich schon länger im mediterranenRaum oder in trockenen Gebieten. Dort habensie aber nie diese Virulenz an den Tag gelegtwie in Deutschland, wo inzwischen 15 Prozentaller Vorgärten geschottert sind. Die Schotter-anbieter haben eine Umsatzsteigerung von 20Prozent jährlich. Der Schotter selbst wirdgrößtenteils in Deutschland gewonnen, alsNebenprodukt des Bergbaus. Früher war dasMüll, der teuer deponiert wurde. Dann kamman – vermutlich zusammen mit den Baumärk-ten – auf die Idee, den Abfall als mediterranenGarten zu verkaufen.

mR: Welche Zukunft hat der Schottergarten?

US: Ich würde mir wünschen, dass sichGartenbauer und Unternehmen Alternativenüberlegen. Existierende Schottergärten lassensich auch renaturieren, indem das Un-krautvlies entfernt wird. Dann könnten die

Flächen ökologisch sogar sinnvoll werden.Wenn man die Ansiedelung von Pflanzenzuließe, die sich von sich aus an diese Umge-bung natürlicherweise angepasst haben. ImBerliner Gleisdreieckspark gibt es sog. Ökos-chotterflächen. Diese unwegsamen Areale be-treten weder Mensch noch Tier. Dort entwick-elt sich, selbst in einem besuchsintensivenPark, eine unglaubliche Artenvielfalt. Doch esmangelt leider an guten Vorbildern für dieNachnutzung. Vielleicht wäre das ja einZukunftsprojekt für mich: positive Beispielesichtbar machen.

Das Gespräch führte Johannes Medebach.

Ulf Soltau arbeitete als studierter Biologe u. a.im Podocarpus-Nationalpark in Ecuador. Mitseiner Facebook-Seite „Gärten des Grauens“prangert er die Verödung der deutschenVorgärten an. Die besten Beiträge hat er ineinem gleichnamigen Buch im Eichborn-Ver-lag versammelt.

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FOTOSTRECKE: Zaunzeugemit Aufnahmen von Walter Schütz (20/2)

Im besten Fall blühen die Blumen nicht hinter,sondern in den Gartenzäunen: Der studierteArchitekt Walter Schütz (*1957) hat sich mitder Kamera die schönsten Vorstadt-Einfriedun-gen vorgenommen. Im Instagram-Quadratefor-mat konzentriert er dabei standardisierte Ele-mente ebenso wie fantasievolle Eigenschöpfun-

gen auf ihre ornamentalen Werte. Vomaufwändigen Segelschiff bis zur abstraktenKreation tragen die Vorgartenzäune denGeschmack ihrer Bewohner nach außen – inZeiten der Gabionen und Baumarkt-Son-derangebote eine (fast) aussterbende Kunstder Moderne.

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Alle Bilder: Copyright: Walter Schütz/zaunzeuge.de