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GOETHE HANDBUCH Supplemente Band 3 Kunst Herausgegeben von Andreas Beyer und Ernst Osterkamp Verlag J. B. Metzler Stuttgart · Weimar

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GOETHEHANDBUCHSupplementeBand 3

KunstHerausgegeben vonAndreas Beyer und Ernst Osterkamp

Verlag J. B. MetzlerStuttgart · Weimar

Goethe_HB.indb IIIGoethe_HB.indb III 03.02.2011 10:15:33 Uhr03.02.2011 10:15:33 Uhr

Foerster
Textfeld
978-3-476-02163-2 Beyer/Osterkamp, Goethe Handbuch Kunst © 2011 Verlag J.B. Metzler (www.metzlerverlag.de)
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Goethes Beschäftigung mit den bildenden Künsten. Ein werkbiographischer Überblick

Der Begriff der bildenden Künste umfasst für G. die bildlich darstellenden Künste Plastik (mit den verwandten Künsten, z. B. Medaillen- und Gemmen-Kunst) und Malerei (mit den benach-barten graphischen Künsten), in einem weiteren Sinne auch die Architektur als eine räumlich gestaltende Kunst: »Füge man nun noch die bil-denden Künste hinzu, was Architektur, Plastik, Malerei [...] beitrage« (BA 17, S. 138). Das Parti-zip »bildend« besitzt hierbei sowohl eine mime-tische als auch eine kreative Bedeutungskompo-nente: Das Verb »bilden« bezeichnet für G. ei-nerseits die abbildende bzw. nachbildende Wirklichkeitswiedergabe im Sinne der Nachah-mungsästhetik des 18. Jhs. und andererseits die schöpferische Gegenstandsgestaltung und künst-lerischen Gesetzen folgende Formgebung im Sinne der vom Sturm und Drang angebahnten Autonomieästhetik; im Begriff der bildenden Kunst durchdringen sich das nachahmende und das schöpferische Moment untrennbar. Damit grenzt sich G.s Verständnis bildender Kunst – spätestens seit der Straßburger Zeit – ab von dem in den Traditionen des französischen Auf-klärungsklassizismus stehenden Konzept der »Schönen Künste« (etwa bei Johann Georg Sul-zer): »Die Kunst ist lange bildend, eh sie schön ist, und doch so wahre, große Kunst, ja oft wah-rer und größer als die schöne selbst« (BA 19, S. 35). So sehr G. die Bedeutung der bildenden Künste für sein dichterisches Werk hervorgeho-ben hat, so entschieden hat er zugleich zeitlebens darauf beharrt, dass sich bildende Kunst und Poesie in ihren medialen Bedingungen, Gegen-ständen, künstlerischen Gesetzen und Wir-kungsformen grundsätzlich unterscheiden; ana-loge Grenzziehungen hat er gegenüber der Mu-sik vorgenommen.

G.s Beschäftigung mit den bildenden Künsten umfasst zahlreiche Aspekte: die Praxis des Zeichners, eine rege Sammlertätigkeit, das um-

fangreiche kunstschriftstellerische Werk, kunst-pädagogische und kunstpolitische Bemühungen. Im Folgenden wird G.s Auffassung von Malerei, Plastik und Architektur anhand seiner Schriften, Briefe und Gespräche dargestellt. Seine Ausein-andersetzung mit den bildenden Künsten gestal-tete sich in den verschiedenen Lebensabschnit-ten mit unterschiedlicher Intensität; dabei lassen sich vier Hauptphasen unterscheiden, die nur zum Teil mit den üblichen werkchronologischen Einteilungen übereinstimmen.

Jugend, Sturm und Drang, erstes Weimarer Jahrzehnt (1749–1786)

Die Freie Reichsstadt Frankfurt war, begünstigt durch die Nähe der Niederlande und die Han-delsverbindungen mit Italien, ein Zentrum des Kunsthandels. Im Frankfurter Patriziat entstan-den im 18. Jh. zahlreiche bedeutende private Bildersammlungen, in denen, den geschmackli-chen Orientierungen der Zeit entsprechend, die flämisch-niederländische Malerei des 17. Jhs. dominierte. Im Gegensatz dazu hat G.s Vater Johann Caspar Goethe für sein Bilderkabinett, das etwa hundert Gemälde umfasst haben dürfte, Bilder zeitgenössischer Frankfurter Ma-ler gekauft (vor allem von Johann Conrad See-katz, Johann Georg Trautmann, Wilhelm Fried-rich Hirt, Christian Georg Schütz, Justus Jun-cker), die den Realismus der Niederländer auf eine gefällige Rokoko-Ästhetik hin variierten. »Mein Vater hatte«, so heißt es in Dichtung und Wahrheit, »den Grundsatz, den er öfters und so-gar leidenschaftlich aussprach, daß man die le-benden Meister beschäftigen, und weniger auf die abgeschiedenen wenden solle, bei deren Schätzung sehr viel Vorurteil mit unterlaufe« (MA 16, S. 31). G. hat diesen Künstlern, die in seinem Elternhaus ein- und ausgingen, bei der Arbeit zugesehen, als sie für den während der Besetzung Frankfurts durch die Franzosen (1759–1763) im Hause einquartierten Grafen François de Thoranc ihre Bilder malten. Aus dem Rückblick des Alters hat G. in Dichtung und Wahrheit die Frankfurter Künstler in knapp charakterisierenden Miniaturen gewürdigt und

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die Bedeutung des Umgangs mit ihnen für die Ausbildung seines Kunstverständnisses hervor-gehoben: »Da ich alle diese Männer von meiner frühsten Jugend an gekannt, und sie oft in ihren Werkstätten besucht hatte, auch der Graf mich gern um sich leiden mochte; so war ich bei den Aufgaben, Beratschlagungen und Bestellungen, wie auch bei den Ablieferungen gegenwärtig, und nahm mir, zumal wenn Skizzen und Ent-würfe eingereicht wurden, meine Meinung zu eröffnen gar wohl heraus« (ebd., S. 97). Freilich versäumt dort G. auch nicht den Hinweis, dass sein juveniles Frankfurter Kunsturteil sich ganz am Sujet orientierte und die ästhetischen Werk-dimensionen nicht berücksichtigte.

Seit dem neunten Lebensjahr erhielt G. zu-dem Zeichenunterricht, so dass er von frühester Zeit an auch ein praktisches Verständnis für die bildende Kunst besaß. Zur Bibliothek des Vaters gehörte eine nicht sehr umfangreiche graphische Sammlung, die aber kein ausgeprägtes künstle-risches Interesse des Sammlers erkennen ließ und in der Porträtgraphiken dominierten. Das große Anschauungsrepertoire im niederländi-schen Geschmack, das G. die Frankfurter Sammlungen boten, wurde erweitert um die rö-mischen Veduten, die der Vater von seiner Itali-enreise mitgebracht hatte und die in einem Vor-saal des Elternhauses hingen, und vor allem um die Berichte des Vaters von Italien, die, ohne schon den Geschmack des jungen G. prägen zu können, doch sein Interesse für die Kunst Itali-ens bereits in jungen Jahren wachriefen. Von Jugend an gehörte so die bildende Kunst zum selbstverständlichen geistigen Besitz des Dich-ters.

In der Leipziger Studienzeit (1765–1768) lernte G. bei Adam Friedrich Oeser, bei dem er seit dem Winter 1765/66 Zeichenunterricht nahm und mit dessen Familie (vor allem mit Oesers Tochter Friederike) er bald auch freundschaftli-chen Umgang pflegte, die Kunsttheorien des Frühklassizismus kennen, insbesondere die frü-hen Schriften Johann Joachim Winckelmanns, dessen »hohes Kunstleben [...] in Italien« ihm seit dieser Zeit als »mit Andacht« verehrtes Vor-bild vor Augen stand (MA 16, S. 339); von ent-sprechend erschütternder Wirkung auf ihn war die im Juni 1768 eintreffende Nachricht von der

Ermordung Winckelmanns. Unter Oesers Anlei-tung las G. als erste Einführung in die Kunstge-schichte Antoine Joseph Dézallier d’Argenvilles Abregé de la vie des plus fameux peintres (1745) in Johann Jakob Volkmanns deutscher Überset-zung (1767/68), wobei Oeser reiches druckgra-phisches Anschauungsmaterial aus den Leipziger Sammlungen bereitstellte. Die Lektüre von Les-sings Laokoon im Sommer 1766 vermittelte G. wesentliche Einsichten in die ästhetische Bedeu-tung der medialen Differenz zwischen Poesie und bildender Kunst; fortan gehörte die Über-zeugung, dass Literatur und bildende Künste unterschiedlichen Gestaltungsgesetzen folgen, zum Kernbestand seiner kunsttheoretischen Überzeugungen. Durch den Besuch der großen bürgerlichen Kunstsammlungen Leipzigs – her-vorzuheben sind hier die Kollektionen von Gott-fried Winckler und Johann Thomas Richter – erweiterte sich G.s Kunstkenntnis beträchtlich. Sein Verständnis für die künstlerische Praxis und für die graphischen Techniken wuchs nicht allein durch den Oeserschen Zeichenunterricht, sondern auch aufgrund von G.s im Frühjahr 1767 gefasstem Entschluss, bei dem Kupferste-cher Johann Michael Stock die Techniken des Kupferstichs, der Radierung und des Holz-schnitts zu erlernen; bereits im Winter 1767/68 fertigte G. unter Anleitung von Stock eigene Landschaftsradierungen an.

Die Begegnung mit der Gedankenwelt des Frühklassizismus hat an G.s vom Naturalismus der Niederländer geprägter Kunstauffassung freilich vorerst nichts ändern können; der Ver-gleich zwischen Kunstwerk und Naturvorbild bestimmte weiterhin sein Kunsturteil, die Na-turnähe der Darstellung blieb das zentrale Krite-rium der kritischen Wertung: »Was ich nicht als Natur ansehen, an die Stelle der Natur setzen, mit einem bekannten Gegenstand vergleichen konnte, war auf mich nicht wirksam« (MA 16, S. 347). Und so ging er 1768 bei seinem ersten Besuch der Dresdner Gemäldegalerie unbeein-druckt, deren Wert allenfalls »auf Treu und Glauben« akzeptierend (ebd.), an den italieni-schen Meistern vorüber, um sich mit Enthusias-mus in die niederländische Landschaftsmalerei zu versenken. Obgleich Winckelmann Raffaels Sixtinische Madonna in seinen Gedanken über

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die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) als Beispiel edler Einfalt und stiller Größe gerühmt hatte, fand G. sie anlässlich seines Besuchs der Dresd-ner Galerie einer Erwähnung nicht würdig, während ihm beim Besuch der Privatsammlung Christian Ludwig von Hagedorns, des General-direktors der sächsischen Kunstakademien und Verfassers der Betrachtungen über die Mahlerey (1762), der ihm selbst seine Bilder »mit großer Güte« zeigte, eine Landschaft des Niederländers Herman Swanevelt »ganz übermäßig gefiel«, so dass er sie »in jedem einzelnen Teile zu preisen und zu erheben nicht müde ward«, weil sie ihn an die Landschaft seiner Frankfurter Heimat erinnerte (MA 16, S. 348). Vor diesem Hinter-grund überrascht es nicht, dass er damals auch die bedeutende Dresdner Antikensammlung nicht besichtigt hat. Dennoch hat G. im Rück-blick auf sein Leben der Leipziger Zeit eine er-hebliche Funktion in der Entwicklung seiner Kunstauffassung zugesprochen und dabei die für diese Jahre konstitutive Spannung zwischen der zeittypischen Vorliebe für die niederländische Malerei und dem sich anbahnenden Klassizis-mus und damit einer Hinwendung zur italieni-schen Malerei des 16. und 17. Jhs. hervorgeho-ben: »Ob sich nun gleich diese Liebhaber und Sammler, nach ihrer Lage, Sinnesart, Vermögen und Gelegenheit, mehr gegen die niederländi-sche Schule richteten; so ward doch, indem man ein Auge an den unendlichen Verdiensten der nordwestlichen Künstler übte, ein sehnsuchts-voll verehrender Blick nach Südosten immer of-fen gehalten« (ebd., S. 340). So heißt es in Dichtung und Wahrheit, und so gelangte G. im Rückblick auf die Studienzeit in Leipzig zu dem Resümee, er habe dort zwar seine universitären Ausbildungsziele verfehlt, doch habe die Univer-sität ihn »in demjenigen begründen« müssen, »worin ich die größte Zufriedenheit meines Le-bens finden sollte«. Dass er damit seine Beschäf-tigung mit den bildenden Künsten meinte, zeigt die Liste der Lokalitäten, die ihm in seiner Erin-nerung besonders lieb geblieben sind: »Die alte Pleißenburg, die Zimmer der Akademie, vor al-len aber Oesers Wohnung, nicht weniger die Winklersche und Richtersche Sammlungen habe ich noch immer lebhaft gegenwärtig« (ebd.).

Dass der Klassizismus Oesers mit seiner Leit-maxime, »das Ideal der Schönheit sey Einfalt und Stille« (G. an Philipp Erasmus Reich, 20.2.1770), von prägender Bedeutung für G.s Wahrnehmung war, erwies sich bereits im Ok-tober 1769 bei seinem ersten Besuch des Mann-heimer Antikensaals. In dem »Wald von Statuen« (MA 16, S. 535), den G. hingerissen durchwan-derte, zog besonders die Laokoon-Gruppe (Abb. 1) seine Aufmerksamkeit auf sich und regte ihn zu einer Neudeutung der dargestellten Situation an; sie bildet den Ursprung des 1797 entstande-nen und 1798 im ersten Stück der Propyläen veröffentlichten Aufsatzes Über Laokoon – ein bemerkenswertes Beispiel für die Kontinuität in G.s Wahrnehmung und Deutung bildender Kunst über alle Umbrüche in den geschmackli-chen Orientierungen hinweg. G. selbst hat zu Ende des elften Buchs von Dichtung und Wahr-heit die kontinuierliche Entwicklung seines Ver-ständnisses bildender Kunst hervorgehoben, als er seinen zweiten Besuch des Mannheimer An-tikensaals anlässlich der Rückreise von Straß-burg im August 1771 schilderte und dabei »die stille Fruchtbarkeit solcher Eindrücke« betonte, die ihm, wenngleich auf einem »großen Um-weg« (ebd., S. 537) – gemeint ist die Italienreise –,die allmähliche Annäherung an das ästhetische Ideal der Klassik ermöglichten. Ein weiterer dieser schon früh aufs klassische Ideal hinüber-weisenden Eindrücke waren die nach Raffaels Kartons gewirkten Gobelins mit Szenen der Apostelgeschichte, die G. 1770 aus Anlass der Durchreise Marie Antoinettes in Straßburg sah: Hier habe er zwar »das Rechte und Vollkom-mene [...] in Masse« kennengelernt, es aber trotz wiederholter Betrachtung noch nicht be-greifen können (ebd., S. 393). Auch dies rief schon in Straßburg bei ihm den Wunsch nach einer Italienreise hervor.

Doch führte die in der Straßburger Studienzeit unter dem Einfluss Johann Georg Hamanns und Johann Gottfried Herders vollzogene Hinwen-dung zur Genieästhetik auch in G.s Verhältnis zur bildenden Kunst zu tiefgreifenden kunsttheo-retischen und geschmacklichen Neuorientie-rungen: Die Fundierung der Kunst im Prinzip des Schöpferischen erzwang die Verwerfung der Nachahmungstheorien des Vernunftzeital-

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ters und damit zugleich die Ablehnung des zeit-genössischen Klassizismus; die Betonung der Originalität, des Charakteristischen und der »individuellen Keimkraft« des Künstlers (BA 19, S. 72) musste analog zur Begeisterung für Shake-speare eine Hochschätzung nationaler Traditio-nen auch in der bildenden Kunst begünstigen. In G.s Aufsatz Von Deutscher Baukunst (1771/72) fand diese veränderte Kunstauffassung ihre pro-grammatische Formulierung. Der Text ist ein Hymnus auf Erwin von Steinbach, den Baumei-ster des Straßburger Münsters, in dessen »gott-gleichem Genius« (ebd., S. 36) sich, über die Jahrhunderte hinweg, das Genie des den Bau bewundernden Betrachter-Ichs zu spiegeln suchte. Der Künstler, so lehrte ihn die Fassade des Münsters (Abb. 2), schafft nicht nach ab-strakten Prinzipien und imitiert nicht willkürli-

che ästhetische Konventionen, sondern bringt mit elementarer kreativer Kraft wie die Natur »e i n lebendiges Ganze« hervor, in dem »wie in Werken der ewigen Natur […] alles Gestalt und alles zweckend zum Ganzen« ist (ebd., S. 34 f.). Die »deutsche Baukunst« wird in G.s Aufsatz polemisch aufgeboten gegen den Klassizismus der französischen Architektur und einen modi-schen Stil à la Grecque, wobei insbesondere der 1768 in deutscher Übersetzung erschienene Essai sur l’architecture von Marc-Antoine Laugier scharf attackiert wird. Gegen die Rokoko-Ästhe-tik in der Malerei zitiert G. die Gestaltenwelt des »männlichen Albrecht Dürer« (ebd., S. 37).

Die auf das Schöpferische und Charakteristi-sche in der Kunst ausgerichtete Geniekonzeption verband sich mit einem antitheoretischen Affekt, der die Abwehr aller regulierenden und normie-renden Elemente in den bildenden Künsten zum Ziel hatte. Zumal G.s Auseinandersetzung mit Johann Georg Sulzers Allgemeiner Theorie der

Abb. 1: Laokoon-Gruppe, Fassung mit dem ausgestreckten Arm vor der Restaurierung von 1957. Rom, Vatikanische Museen, ca. 50 v. Chr.

Abb. 2: François Jacques Oberthür: Das Straß-burger Münster

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schönen Künste (1771), von der er sagte, ein »schädlicheres Nichts« (BA 19, S. 23) sei nicht erfunden worden, steht im Zeichen der Polemik gegen die generalisierenden Abstraktionen der Kunsttheorie. Hierin aber tritt, über die genera-tionsspezifische Ablehnung der normativen Schönheitslehren der Aufklärung hinaus, ein Grundzug von G.s lebenslanger Beschäftigung mit den bildenden Künsten hervor – der unbe-dingte Primat der Anschauung: »Wer von den Künsten nicht sinnliche Erfahrung hat, der lasse sie lieber« (ebd., S. 22 f.). Und zugleich ermög-lichte ihm die Zurückweisung dogmatischer Fi-xierungen eine grundsätzliche Offenheit allen kunstgeschichtlichen Erscheinungen gegenüber, die Kunst der »Wilden« eingeschlossen: »Und laßt diese Bildnerei aus den willkürlichsten For-men bestehn, sie wird ohne Gestaltverhältnis zusammenstimmen, denn e i n e Empfindung schuf sie zum charakteristischen Ganzen. Diese charakteristische Kunst ist nun die einzige wahre« (ebd., S. 36). In den gleichen Jahren, in denen er für die Gotik schwärmte, ließ er sich deshalb im Mannheimer Antikensaal von einem korinthischen Kapitell des Pantheon beeindru-cken, und die Bewunderung für den Realismus der niederländischen Malerei hinderte ihn nicht daran, die Renaissancekunst Raffaels als Aus-druck gleicher schöpferischer Ursprünglichkeit zu verehren. So stellte er in dem Aufsatz Nach Falconet und über Falconet (1775) auf program-matische Weise »Rembrandt, Raffael, Rubens« (ebd., S. 68) als gleichrangige Künstler nebenei-nander. Ebenso symptomatisch ist, dass die be-deutendste der Kupferstich-Rezensionen, die G. 1772 auf Anregung von Johann Heinrich Merck für die Frankfurter Gelehrten Anzeigen schrieb, nicht einem Werk der deutschen oder nieder-ländischen Malerei galt, sondern Kupferstichen nach Gemälden des von ihm in späteren Jahren als größter Meister der idealen Landschaftsma-lerei des Südens verehrten Claude Lorrain. Un-abhängig von Bildthemen oder stilistischen Er-wägungen galt G.s Bewunderung also zunächst und vor allem der individuellen Schöpferkraft des Künstlers, der wie die Natur ein inneren Gesetzen gehorchendes organisches Ganzes hervorbringt. G.s spätere Absage an seinen ju-gendlichen Enthusiasmus für die Gotik droht

gelegentlich den Blick dafür zu verstellen, dass sein Verständnis bildender Kunst in der klassi-schen Zeit auf vielfache Weise eine Fortführung und Systematisierung dieser in Straßburg ent-standenen organischen Kunstauffassung dar-stellt; seine lebenslange Verehrung für Raffael und Lorrain verweist auf die hohe Kontinuität auch in der Entwicklung seiner kunsttheoreti-schen Leitmaximen.

Zwar war für G. ein Werk der bildenden Kunst – die Fassade des Straßburger Münsters – zu dem Medium geworden, anhand dessen er seine Sturm-und-Drang-Ästhetik entwickeln konnte, doch nahmen im Übrigen die bildenden Künste vor der Italienreise in G.s geistiger Welt über die eigenen zeichnerischen Versuche hi-naus keinen bevorzugten Raum ein. Als letzte Schrift zur bildenden Kunst in der voritalieni-schen Zeit entstand die Dritte Wallfahrt nach Erwins Grabe im Juli 1775: eine sakralisierende Überhöhung des Münster-Erlebnisses mit ge-betsartiger Anrufung des Künstlers als eines alter deus. Die Briefe und Tagebücher des ersten Weimarer Jahrzehnts verzeichnen nur selten eine Beschäftigung mit Architektur, Malerei und Plastik; den schmalen Raum, den die politische Tätigkeit ließ, füllten vor allem die eigene dich-terische Produktion und naturwissenschaftliche Studien. Der wichtigste Berater G.s in Fragen der bildenden Kunst in dieser Zeit war Merck, der, seit ihn Herzog Carl August im September 1777 persönlich kennengelernt hatte, auch als Kunstagent für den Weimarer Hof tätig war (GRAVE, S. 58–94). An Merck, den ausgewiese-nen Graphikkenner, wandte sich G., auch im Auftrag des Herzogs, 1780 mit der Bitte um Rat-schläge zum Aufbau einer Graphiksammlung: »Sei doch so gut und schreib mir, wie man es am gescheutsten macht, eine Kupferstichsamm-lung zu rangiren« (an Merck, 11.10.1780). So ist G. spätestens ab 1780 als Sammler von Graphi-ken greifbar, wobei sich schon früh ein ausge-prägtes Interesse an niederländischen Land-schaftsdarstellungen, zum Beispiel von Waterloo und Everdingen, aber auch an Dürer und Rem-brandt nachweisen lässt.

Eingehend beschäftigte G. sich in dieser Zeit mit altdeutscher Graphik, insbesondere mit Dü-rer, dessen »mit Gold und Silber nicht zu bezah-

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lende Arbeit« er zunehmend verehrte (an Johann Caspar Lavater, 6.3.1780). In der intensiven Aus-einandersetzung mit Lavaters Dürer-Sammlung, die sich 1780 bei G. in Weimar befand, verlagerte sich sein Interesse zunehmend vom Gegen-ständlichen der Darstellung hin zu ästhetischen Formprinzipien und graphischen Darstellungs-techniken. Ein wichtiges Zeugnis für diesen Prozess, in dem G. sein zuvor rein gegenstands-orientiertes Kunstinteresse durch eine formbe-zogene Kunstwahrnehmung zu ersetzen lernte, bildet ein Brief an Merck, in dem er ihm seine Absicht mitteilte, eine (freilich nie in Angriff genommene) Abhandlung über Dürer zu schrei-ben: »Vor Düreren selbst und vor der Sammlung, die der Herzog besitzt, krieg ich alle Tage mehr Respekt. So bald ich einmal einigen Raum finde, will ich über die merkwürdigsten Blätter meine Gedanken aufsetzen, nicht sowohl über Erfin-dung und Composition, als über die Aussprache und die ganz goldene Ausführung« (an Merck, 7.4.1780) – ein Zeugnis freilich auch für die Un-schärfe der kunsttheoretischen Terminologie bei G. in den voritalienischen Jahren. Auch zeitge-nössische Künstler fanden seine Aufmerksam-keit: so Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, als dessen Förderer G. schon 1782 auftrat, und vor allem Johann Heinrich Füssli, dessen heroische Bildkonzeptionen aus dem Geiste des Sturm und Drang ihn zeitweise ganz in den Bann schlugen.

Doch schon bald zeichnete sich auch auf dem Felde der bildenden Kunst ein Bruch mit dem Subjektivismus und der gestalterischen Willkür der ehemaligen Weggefährten ab: »Wenn Ra-phael und Albrecht Dürer auf dem höchsten Gipfel stehen, was soll ein echter Schüler mehr fliehen als Willkürlichkeit?« So fragte G. 1781 Maler Müller in einer scharfen Kritik von dessen »nur noch gestammelten« Bildern und riet ihm, »eine Zeit lang sich ganz an Raphaeln, die Anti-ken und die Natur« zu wenden (an Friedrich Müller, 21.6.1781). In Urteilen wie diesen deutet sich eine Abwendung vom Konzept der charak-teristischen Kunst und die tastende Annäherung an eine Idealitätskonzeption an, wie sie in der Kunst der Antike und der italienischen Renais-sance verbürgt erschien: eine geschmackliche Neuorientierung, die sich in Übereinstimmung

mit der klassizistischen Prägung des Geschmacks der europäischen Höfe vollzog, der auch am Weimarer Hof nicht an Geltung eingebüßt hatte. Tatsächlich dominieren in den Briefen und Ta-gebüchern der letzten voritalienischen Jahre an den seltenen Stellen, die von bildender Kunst handeln, bereits Künstler der Renaissance, ins-besondere Raffael, und G. schmückte seine Wohnung mit dem Zyklus der von Nicolas Dorig ny geschaffenen kolorierten Reproduktio-nen von Raffaels Farnesinafresken. Auch mit der antikisierenden Formensprache des großen Re-naissance-Baumeisters Andrea Palladio hat sich G. schon vor der Italienreise auseinandergesetzt. Wiederholt las er in diesen Jahren zudem in den kunsttheoretischen Schriften des Malers und Winckelmann-Freundes Anton Raphael Mengs, dem Raffael, Correggio und Tizian als die größ-ten Meister der neueren Malerei galten. Mit alldem trat die klassizistische Kunstauffassung, die ihm Oeser schon fünfzehn Jahre zuvor nahe-gebracht hatte, erneut in das Zentrum von G.s kunsttheoretischen Interessen.

Italien und die Wirkungen der Italienreise (1786–1797)

Die erste Italienreise markiert in G.s Auseinan-dersetzung mit den bildenden Künsten einen Einschnitt von grundlegender Bedeutung. Erst die Anschauung der Originalwerke aus Antike und Renaissance vermittelte G. die Notwendig-keit einer systematischen Beschäftigung mit Ar-chitektur, Plastik und Malerei; erst hier bildete er kunsttheoretische Leitvorstellungen aus, an denen er bis an sein Lebensende festgehalten hat, und erst in Italien erkannte er auch die Ge-schichtlichkeit aller Kunst.

Tatsächlich lässt sich die Italienische Reise, in der G. Jahrzehnte später die italienischen Erfah-rungen in antiromantischer Perspektive syste-matisierte, als eine Bildungsgeschichte des Au-ges lesen, deren Ergebnis die aus der Anschau-ung gewonnene Kenntnis und ein theoretisches Verständnis der Kunst war: »Mein Auge bildet sich gut aus, mit der Zeit könnte ich Kenner werden« (MA 15, S. 449). Zwar stand die Male-

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rei im Zentrum seines Kunststudiums, doch er-warb G. in Italien eine profunde Kennerschaft auch in Architektur und Plastik. Zum größten Architekturerlebnis G.s in Italien wurde die Be-gegnung mit den Bauten Palladios in Vicenza und Venedig. Sie war vorbereitet dadurch, dass G. schon in Wörlitz, Berlin und Kassel Baukunst im palladianischen Stil kennengelernt hatte. Das Studium von Palladios Basilica, des Teatro Olim-pico und der Villa Rotonda (Abb. 3) in Vicenza, an denen er »die schöne Harmonie ihrer Di-mensionen« (ebd., S. 59) bewunderte, und der venezianischen Kirchen S. Giorgio Maggiore und Il Redentore, die ihn die Problematik einer Übertragung antiker Tempelfassaden auf den Bautypus der christlichen Basilika erörtern lie-ßen, bildete für G. den Anreiz zu einer systema-tischen Beschäftigung mit den Gesetzen der Baukunst. Zwar überwand G. seinen angesichts

des Straßburger Münsters ausgesprochenen Vorbehalt gegen eine Verbindung von Mauer und Säule auch bei Palladio nicht grundsätzlich, doch ließ er sich nun von der Rhetorik der anti-kisierenden Bauformen des Baumeisters gefan-gen nehmen: »Es ist wirklich etwas Göttliches in seinen Anlagen, völlig wie die Force des großen Dichters der aus Wahrheit und Lüge ein drittes bildet, dessen erborgtes Dasein uns bezaubert« (ebd., S. 60).

Palladios Baukunst im Geist der römischen Antike regte ihn nicht allein zum Studium von Technik und Formensprache der Architektur – zum Beispiel der Säulenordnungen – an, son-dern verwies ihn zugleich auf die Baukunst der Antike selbst; so schloss sich dem Studium von Palladios Vier Büchern zur Architektur schon wenige Tage später die Lektüre von Vitruvs Zehn Büchern über Baukunst an. Palladio blieb, trotz

Abb. 3: Vicenza, Villa Almerico Capra »La Rotonda« (1566–70 erbaut von Andrea Palladio für Paolo Almerico; nach 1580 vollendet von Vincenzo Scamozzi)

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10 Goethes Beschäftigung mit den bildenden Künsten. Ein werkbiographischer Überblick

mancher Einwände im Einzelnen, auch in späte-ren Jahren für G. ein unerreichtes Muster der Baukunst. Als G. von 1795 bis 1797 gemeinsam mit Johann Heinrich Meyer ein großes Italien-werk plante, beschäftigte er sich erneut intensiv mit Palladios Bauten: »Je mehr man den P a l -l a d i o studirt, je unbegreiflicher wird einem das Genie, die Meisterschaft, der Reichthum, die Versatilität und Grazie dieses Mannes« (an Meyer, 30.12.1795). Das bedeutendste Zeugnis für G.s lebenslange Palladio-Verehrung aber ist die erst bei der Textredaktion der Italienischen Reise entstandene große Würdigung der Villa Rotonda; mit ihr bot G. 1816 eines der schönsten Beispiele antikisierender Baukunst gegen das im Zeichen der Romantik neu erwachte Interesse an der Gotik auf.

Das überwältigende Palladio-Erlebnis und die Beschäftigung mit der antiken Baukunst als dem unerreichten Vorbild auch der neueren Archi-tektur haben allerdings in Italien eine Auseinan-dersetzung G.s mit den großen Bauwerken der römischen Renaissance verhindert – sieht man von der Peterskirche ab, an der ihn aber allein deren alle natürlichen Größenverhältnisse außer Kraft setzende äußere Monumentalität beein-druckte, während er an dem Pantheon, dem am besten erhaltenen antiken Bauwerk Roms, »die äußere wie die innere [...] Großheit« (MA 15, S. 157), also die mit den Proportionen des Men-schen in Übereinstimmung stehende umfas-sende Harmonie des Baukörpers bewunderte. Das an Palladios elegant antikisierenden Baufor-men ausgebildete Ideal des Gefälligen und Har-monischen in der Baukunst hat G. aber auch den Zugang zu den originalen griechischen Bau-werken Süditaliens erschwert: den Tempeln Paes tums und Siziliens. Beklommen stand er in Paestum zwischen den »stumpfen, kegelförmi-gen, enggedrängten Säulenmassen« der dori-schen Tempel und fand sich »in einer völlig fremden Welt«, die ihm »furchtbar« erschien (ebd., S. 272–275). Ähnlich erging es ihm bei dem dorischen Tempel von Segesta und den monumentalen Architekturen Agrigents, insbe-sondere bei den Trümmern des Tempels des Olympischen Zeus, dessen gewaltige Ausmaße seinen an Palladio geschulten Sinn für architek-tonische Proportionen fundamental verstörten.

Im Angesicht der gebauten Zeugnisse eines als utopische Vergangenheit verehrten Griechen-tums wurde dem Klassizisten G. die unüber-brückbare Distanz der Moderne zur Antike be-wusst; eine Erfahrung, die er noch 1829 in die Formulierung brachte, dass er die griechische Architektur »zuletzt immer wie eine fremde er-habene Feenwelt zu betrachten hatte« (an Chris-toph Ludwig Friedrich Schultz, 10.1.1829).

Die Beschäftigung mit Architektur trat insge-samt während G.s Rom-Aufenthalt stark zurück; auch hat ihn sein an Palladio geschulter Blick an der Gotik Venedigs, an den barocken Bauwerken Roms und an den bedeutenden Zeugnissen mit-telalterlicher Baukunst in Sizilien vorbeiblicken lassen. In zwei Aufsätzen über Baukunst (1788 und 1795) hat G. nach seiner Rückkehr die visu-ellen Eindrücke zu systematisieren und »eine Norm für unsere Urteile über Baukunst zu fin-den« versucht (BA 19, S. 107). Der frühere dieser Aufsätze zieht einerseits die Konsequenzen aus G.s Erschrecken vor der »majestätischen« Form der »altdorischen Tempel« und bringt die Nei-gung der Menschen zu »gefälligern und reizen-dern« Gebäuden zur Geltung (ebd., S. 74), an-dererseits eröffnet er am Beispiel des Mailänder Doms die Polemik gegen die gotische Baukunst und ihre Neigung zur »multiplizierten Kleinheit« (ebd., S. 75). Diese Polemik hat G. zwei Jahr-zehnte später im Text der Italienischen Reise wieder aufgenommen. Der Aufsatz von 1795 legt die Maßstäbe der Architekturkritik fest. Sie hat drei Bedingungen der Baukunst zu berücksichti-gen: das Material, den Zweck und die »Natur des Sinns, für welchen das Ganze harmonisch sein soll«. Dieser Sinn ist nicht primär der visu-elle, sondern der »Sinn der mechanischen Be-wegung des menschlichen Körpers« in dem umbauten Raum (ebd., S. 108); in ihm gründet die Lehre von den Proportionen.

G. hat seine Kenntnisse der Baukunst durch die Lektüre zahlreicher Architekturtraktate und Reiseberichte, insbesondere im Zusammenhang mit der Vorbereitung seiner 1795–1797 gemein-sam mit Meyer geplanten großen kulturgeogra-phischen Italienkunde, kontinuierlich auszuwei-ten gesucht. In seiner Tätigkeit als Berater bei bedeutenden Bauvorhaben in Weimar (Römi-sches Haus, Schlossbau, Wiederaufbau des Hof-

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theaters) sowie beim Umbau seines Wohnhauses konnte G. sein Architekturverständnis auch praktisch umsetzen.

Nicht anders als im Falle der Baukunst bedeu-tete die Italienreise auch für G.s Verständnis der Skulptur einen tiefen Einschnitt. Erst in Italien gewann er unter der tiefgreifenden Wirkung antiker Marmorskulptur ein Bewusstsein für die ästhetische Differenz zwischen Original und Gipsreproduktion: »Der Marmor ist ein seltsa-mes Material, deswegen ist Apoll von Belvedere im Urbilde so grenzenlos erfreulich, denn der höchste Hauch des lebendigen, jünglingsfreien, ewig jungen Wesens verschwindet gleich im besten Gips-Abguß« (MA 15, S. 178). So gab er sich der lebendigen Anschauung der antiken Skulpturen hin, wobei die Auswahl der Statuen, die ihn besonders nachhaltig beeindruckten, durchaus dem klassizistischen Zeitgeschmack verhaftet blieb: die Belvedere-Skulpturen, Mi-nerva Giustiniani, Juno Ludovisi, Herkules Far-nese, Medusa Rondanini. Von Anfang an hat sich G. darum bemüht, das uferlose Anschauungs-material in Rom mit Hilfe des historisch-ästheti-schen Ordnungsentwurfs zu bewältigen, den ihm Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums (1764) bereitstellte; er las Winckel-manns Werk in der italienischen Übersetzung Carlo Feas (1783) gleich nach seiner Ankunft in Rom und legte dessen stilgeschichtliches Kate-goriensystem – den »dauerhaften Winckelman-nischen Faden, der uns durch die verschiedenen Kunstepochen durchleitet« (ebd., S. 358) – auch eigenen Werkdeutungen zugrunde. Insgesamt führte G.s Beschäftigung mit antiker Skulptur ihn in Rom jedoch weniger zur Kunstgeschichte als zum »Studio der Menschengestalt, welche das non plus ultra alles menschlichen Wissens und Tuns ist« (ebd., S. 566). Gerade weil für ihn der Mensch der vornehmste Gegenstand der bildenden Künste war, hat G. das Studium der Anatomie als Schlüssel zum Verständnis der Skulptur bewertet.

Bemerkenswert ist, dass G. zwar auf der Not-wendigkeit einer Anschauung der Originale in-sistierte, während seines gesamten ersten Itali-enaufenthaltes jedoch – und später in Weimar ohnehin! – sich in seiner Wohnung mit Gipsab-güssen umgeben und auch in der Abgusssamm-

lung der Französischen Akademie Studien be-trieben hat. Hierin bezeugt sich eine für den Klassizismus typische Hochschätzung der künst-lerischen Erfindung und des ideellen Gehalts der Kunst, die sich auch in zwei der Plastik be-nachbarten bevorzugten Sammel- und Studien-gebieten G.s in Italien dokumentiert: den anti-ken Münzen und Gemmen.

Stärker noch als Architektur und Skulptur hat die Malerei G. in Italien beschäftigt; hier fiel der Kontrast zwischen den fast ausschließlich auf Reproduktionsgraphik beruhenden Vorkennt-nissen und der lebendigen Anschauung des Kunstschönen am intensivsten aus. Das Spek-trum an Werken der Malerei, mit denen G. sich in Italien auseinandergesetzt hat, erstreckt sich von der Florentiner Frührenaissance (Masaccio) bis zu den Gemälden der Zeitgenossen Tisch-bein, Jakob Philipp Hackert und Angelika Kauff-mann; im Zentrum standen die großen Meister der Renaissance (Raffael, Michelangelo, Leo-nardo und Tizian), aber auch der Bologneser Barockklassizismus der Carracci, der Manieris-mus Tintorettos, die großen Meister der italieni-schen Barockmalerei (Guercino, Domenichino, Guido Reni) und der römischen Ideallandschaft (Claude Lorrain, Nicolas Poussin) zogen G.s Bewunderung auf sich.

Der Text der Italienischen Reise führt eindring-lich vor Augen, wie sich G. mit der kontinuierli-chen Erweiterung seiner Kunstkenntnisse und der Intensivierung der Anschauung allmählich auch ein theoretisches Verständnis der Malerei erschloss. Musste er sich noch zu Beginn seiner Reise gestehen, wie wenig er von Kunst und Handwerk des Malers verstehe, so gewann er bereits unter dem Eindruck des Lichts und der Farben Venedigs ein Bewusstsein für die Abhän-gigkeit der Kunst von Kultur und Landschaft und damit für die Ursachen der Entstehung lo-kaler Malerschulen. Den Blick für die spezifi-schen Gesetze der Malerei versuchte er sich zu-nächst über die dargestellten Gegenstände zu erschließen. Dabei kritisierte er immer wieder die Wahl religiöser Bildthemen, zumal die Mar-tyriumsdarstellungen, weil sie die dargestellten Figuren zu Passivität verurteilen und das eigent-lich wirkende Prinzip außerhalb der Immanenz des Bildraums in der Transzendenz ansiedeln;

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12 Goethes Beschäftigung mit den bildenden Künsten. Ein werkbiographischer Überblick

damit verliert nicht nur die Darstellung selbst für G. an Interesse, sondern sie verstößt vor al-lem gegen eine Leitmaxime seiner Kunstbe-trachtung, die noch sein negatives Urteil über die Malerei der Romantik bestimmt hat: Ein Kunstwerk muss aus sich selbst heraus verständ-lich sein.

Der Reflexion der Bildthemen schloss sich das Studium der Formprinzipien der Malerei an. Schon vor Raffaels Heiliger Cäcilie (Abb. 4) in Bologna, dem ersten Originalgemälde Raffa-els, das er betrachtet hat, wurde ihm bewusst, dass die Vollkommenheit eines Kunstwerks nicht auf dem Bildgegenstand – »fünf Heilige neben einander, die uns alle nichts angehen« (MA 15, S. 118) – beruht, sondern auf der Ein-haltung von Form- und Gestaltungsprinzipien. Deshalb nannte er Raffael wie Palladio »groß«,

denn es »war an ihnen nicht ein Haarbreit w i l l k ü r l i c h e s ; nur daß sie die Grenzen und Gesetze ihrer Kunst im Höchsten Grade kann-ten« (MA 3.1, S. 136 f.). Die Suche nach den Gesetzen der Kunst hat ihn, bei aller Ausweitung seiner kunstgeschichtlichen Studien, in Italien immer wieder zu Raffael – den Stanzen und Loggien im Vatikan, den Fresken der Villa Far-nesina, den Teppichen im Vatikan und der Transfiguration (Abb. 5), der er im Zweiten Rö-mischen Aufenthalt eine seiner eindringlichsten Bildbeschreibungen widmet – zurückgeführt, auch wenn ihn zeitweise die gewaltigen Bild-konzeptionen von Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle so sehr in den Bann schlu-gen, dass er den Blick für Raffael zu verlieren drohte. Aber schon die Bemerkung, dass der Anblick von Michelangelos »Meisterstück« ihn so sehr eingenommen habe, »daß mir nicht ein-mal die Natur auf ihn schmeckt« (MA 15, S. 172), lässt erahnen, weshalb G. nicht in ihm, sondern

Abb. 4: Raffael: Die Heilige Cäcilie mit Heiligen. Öl auf Holz, um 1515

Abb. 5: Raffael: Die Verklärung Christi. Öl auf Holz, 1518–1520

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13Italien und die Wirkungen der Italienreise (1786–1797)

in Raffael die Instanz höchster künstlerischer Vollkommenheit verehrte. Denn zum kunsttheo-retischen Ertrag der Italienreise gehörte die Einsicht, dass der Künstler nicht die Natur sub-jektiv überbieten solle, sondern dass er schaffe wie die Natur, nach den gleichen objektiven Gesetzen und Prinzipien wie sie: »Diese hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Na-turwerke von Menschen nach wahren und na-türlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen, da ist die Notwendigkeit, da ist Gott« (ebd., S. 478). So schaffe der Künstler nach Regeln, »die ihm die Natur selbst vorschrieb«, eine »zweite Natur, aber eine gefühlte, eine gedachte, eine mensch-lich vollendete«, wie G. 1798 in einer Anmer-kung zu Denis Diderots Versuch über die Malerei schrieb (BA 21, S. 740). In diesem Sinne kann der die Italienische Reise leitmotivisch durchzie-hende Streit, ob Michelangelo oder Raffael der größere Künstler sei, am Ende mit dem Urteil entschieden werden, Raffael habe, »wie die Na-tur, jederzeit Recht« (MA 15, S. 541).

Die Erfahrung höchster künstlerischer Ideali-tät hat G. in Italien zugleich auch zur Erkenntnis der Geschichtlichkeit aller Kunst gelangen las-sen; so zeichnet sich seine Kunstbetrachtung – wie diejenige seines Vorbilds Winckelmann – durch ein Ineinander von Normativität und His-torizität aus. Schon bei der Betrachtung antiker Skulptur ließ er sich, Winckelmann folgend, von der Einsicht leiten, dass auf dem Felde der Kunst »kein Urteil möglich ist als wenn man es histo-risch entwickeln kann« (ebd., S. 200). So hat auch die Erfahrung von künstlerischer Vollkom-menheit in der Moderne ihn nach deren ge-schichtlichen Entstehungsbedingungen fragen lassen. Das Werk Raffaels war für ihn erklärbar nur als das Ergebnis einer langen Kunstentwick-lung, als oberster Stein einer von seinen Vorläu-fern gebildeten großen »Pyramide« (ebd., S. 118): ein Bild, das für die zunehmend norma-tive Durchdringung von G.s kunstgeschichtlicher Betrachtungsweise charakteristisch ist. Tatsäch-lich hat denn auch sein anhaltendes Nachdenken über das Wechselverhältnis von Natur und Kunst die genuin kunstgeschichtliche Betrachtungs-weise bei G. in Italien spürbar in den Hinter-grund treten lassen.

Dass G. in Italien in konzentriertem Studium seine kunsthistorischen Kenntnisse umfassend zu erweitern und seine kunsttheoretischen Ein-sichten zu vertiefen, vor allem aber ein kenner-schaftliches Verständnis für die künstlerische Praxis selbst zu gewinnen vermochte, bildete nicht zuletzt ein Ergebnis seines Zusammenle-bens und Austauschs mit Künstlern in Rom und Neapel, wie es in dieser Offenheit in den höfisch regulierten Verhältnissen Weimars nicht möglich gewesen wäre. Zu nennen ist hier zunächst Tischbein, um dessen Förderung sich G. bereits in den Jahren vor der Italienreise bemüht hatte. G. zog in das von Tischbein und anderen Künst-lern bewohnte Haus am Corso und schloss mit dem Maler, der ihn mit der Stadt, den Kunst-schätzen und Künstlern Roms vertraut machte, eine enge Freundschaft. 1787 entstand Tisch-beins berühmtes Gemälde Goethe in der Cam-pag na. Die Freundschaft zerbrach aber schon im Sommer 1787 aus nicht restlos geklärten Grün-den; da Tischbein sich in Neapel um die Stelle des Akademiedirektors bemühte, konnte er je-denfalls G. nicht auf dessen Sizilienreise beglei-ten. Danach hat sich G. distanziert über Tisch-bein und dessen Werk geäußert. Erst zu Beginn der 1820er Jahre kamen G. und Tischbein wie-der in Kontakt, als dieser dem Dichter einen Klebeband mit Skizzen und Aquarellen sandte, um ihm einen Eindruck von seinem Oldenbur-ger Idyllen-Zyklus zu vermitteln. Auf Anregung des Malers schrieb G. Verse zu den übersandten Vorlagen, die er 1827 unter dem Titel Wilhelm Tischbeins Idyllen zusammenfasste. Die ur-sprünglich Tischbein zugedachte Aufgabe, G. auf dessen Sizilienreise als Zeichner zu beglei-ten, übernahm auf dessen Vorschlag Christoph Heinrich Kniep als »sehr treuer Landschaftsma-ler [...], der das Gefühl der freien und reichen Umgebung seinen Blättern mitteilt« (ebd., S. 251). G.s Aufzeichnungen von der Sizilien-reise loben nicht ohne Ironie die Akribie der Kniepschen Landschaftsaufnahmen. Einige der von Kniep auf G.s Auftrag bildmäßig ausge-führten sizilianischen Landschaftszeichnungen schmücken noch heute G.s Wohnhaus. Tisch-bein vermittelte G. außerdem am 28.2.1787 in Neapel die Bekanntschaft Jakob Philipp Ha-ckerts, des bedeutendsten und international er-

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