79
Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren Sturges McCulloch) Herausgegeben und eingeleitet von Arno Bamme und Ernst Kotzmann ISSN 1028-2734

Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

  • Upload
    others

  • View
    1

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren Sturges McCulloch)

Herausgegeben und eingeleitet von

Arno Bamme und Ernst Kotzmann

ISSN 1028-2734

Page 2: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Klagenfurter Beiträge zur Technikdiskussion

Heft 86

Herausgegeben von Arno Bamme, Peter Baumgartner, Wilhelm Berger, Ernst Kotzmann

ISSN 1028-2734

In dieser Schriftenreihe veröffentlicht das IFF, Arbeitsbereich Technik- und Wissen­schaftsforschung, Arbeitsmaterialien, Diskussionsgrundlagen und Dokumentationen, die nicht den Charakter abgeschlossener Forschungsberichte tragen, aber dem jeweils interessierten Fachpublikum zugänglich gemacht werden sollen. Beabsichtigt ist, neuere Forschungsresultate schnell, auch in vorläufiger Form, ohne aufwendige Aufarbeitung in die wissenschaftliche Diskussion einzubringen.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, ist nur mit der Zustimmung des Instituts gestattet.

Page 3: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Inhalt

1. Arno Bamme und Ernst Kotzmann Gotthard Günther im Gespräch. Eine Einleitung 7

2. Helmut Schelsky Zur Ontologie der Mehrwertigkeit 15

3. Gotthard Günther Zahl und Begriff. Unvergeßliche Stunden mit Warren Sturges McCulloch 21

4. Gotthard Günther Information, Kommunikation und mehrwertige Logik 63

Page 4: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Arno Bamme und Ernst Kotzmann

Gotthard Günther im Gespräch Eine Einleitung

Gotthard Günther im Gespräch - das meint dreierlei. Zum einen: daß von, daß über Gotthard

Günther gesprochen wird. Helmut Schelsky, der Soziologe, dem Gotthard Günther lange Zeit

verbunden war, berichtet unter anderem aus der Leipziger Zeit des Technikphilosophen. Und

vor allem weist er daraufhin, daß die formallogischen Arbeiten Gotthard Günthers eingebettet

sind in geschichtsphilosophische Betrachtungen, ein Sachverhalt, der lange Zeit vergessen blieb

und erst durch die Recherchen im Berliner Nachlaß wieder ins Bewußtsein einer interesseirten

Öffentlichkeit rückt.1 Von Interesse ist zweifellos auch der Hinweis Schelskys, daß Gotthard

Günther als Nachfolger auf den Lehrstuhl Bauchs ("der berühmte Bauch mit den drei Bauch­

wehs")2 vorgesehen war. Die Berufung scheiterte schließlich, so berichtet Schelsky, weil

Gotthard Günther sich weigerte, "einen Erlaß zu unterschreiben, daß er dem Führer und Kanzler

des deutschen Reiches gehorsam sein wolle." Hierzu muß man wissen, daß Gotthard Günthers

Frau, Marie Günther-Hendel, Jüdin war und Deutschland bereits 1933 verlassen hatte. Bestätigt

wird von Schelsky auch ein Sachverhalt, der im Berliner Nachlaß recht gut dokumentiert ist: die

Verdienste Gotthard Günthers um die Förderung und Verbreitung anspruchsvoller Science-

'Kurt Klagenfurt: Technologische Zivilisation und transklassische Logik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, Seite 83 ff.; Arno Bamme: Der Berliner Nachlaß Gotthard Günthers. In: Reinhard Strangmeier (Hrg.): Zweites Günther-Symposion zur Transklassischen Logik. Kiel: Christian-Albrechts-Universität 1995, Seite 46 ff.; Derselbe: Geschichtsphilosophie und Philosophiegeschichte bei Gotthard Günther. In: Lars Clausen, Ernst Kotzmann, Reinhard Strangmeier (Hrg.): Transklassische Logik und neue disziplinäre wie interdisziplinäre Ansätze. München und Wien: Profil 1997, Seite 75 ff.; Derselbe: Wider das Ende der Geschichte. Der andere Gotthard Günther. In: Jahrbuch Selbstorganisation (Berlin), Band 6, 1995, Seite 299 ff; Arno Bamme, Wilhelm Berger, Eggert Holling, Ernst Kotzmann: Recherchen. Im Nachlaß Gotthard Günthers. In: Klagenfurter Beiträge zur Technikdiskussion. Heft 78, 1995.

2 Bruno Bauch, am 19.1.1877 in Groß-Nossen (Schlesien) geboren, am 27.2.1942 in Jena gestorben, war ein Schüler Heinrich Rickerts, 1910 Professor in Halle, seit 1911 in Jena. Im Sinne des Neukantianismus behandelte er philosophiegeschichtliche, naturphilosophische, ethische und erkenntnistheoretische Probleme. Später vollzog er eine Hinwendung zum Neuhegelianismus. Mit den drei Bauch-W's spielt Schelsky auf das 1923 in dritter Auflage erschienene, grundlegende Werk "Wahrheit, Wert und Wirklichkeit" an.

Page 5: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Fiction-Literatur im deutschen Sprachraum zu Beginn der fünfziger Jahre, ein Sachverhalt, der

heute unter wissenschaftsdidaktischen Aspekten wieder Interesse beanspruchen kann. Für den

Soziologen Schelsky3 ist natürlich vor allem die Frage von Bedeutung, welche Relevanz die

Günther-Logik für die Sozialwissenschaften hat, für die Vernetzung unterschiedlicher Gegen­

standsbereiche, Perspektiven und Fachdisziplinen, eine Problemsicht, die sich im Titel des

Tagungsbandes des zweiten Günther-Symposions wiederfindet.4

Der Bezug zu Schelsky und McCulloch macht deutlich, daß Günther den Kooperationen am

Biological Computer Laboratory in Urbana (Heinz von Foerster, William Ross Ashby, Humber-

to Maturana, Lars Löfgren) zwar viel, aber nicht alles verdankt Entscheidende Impulse für die

Weiterentwicklung seiner Theorie erhielt er von McCulloch, von Gehlen und von Schelsky, von

letzteren insbesondere hinsichtlich seiner geschichtsphilosophischen Überlegungen, in die seine

Logik-Entwürfe eingebettet sind. Carl Friedrich von Weizsäcker und Helmut Schelsky schließ­

lich waren es, die Gotthard Günther 1958 nach Deutschland zurückholten, an die Universität

Hamburg.

Zum zweiten sind gemeint Gespräche, die Gotthard Günther selbst geführt hat mit anderen,

3 Dem Soziologen Schelsky geht es hierbei um den Beitrag einer formalen Logik zur Abbildung komplexer sozialer (Ich-Du-) Beziehungen, um "Intersubjektivität" etwa im Sinne von Leopold von Wieses "zwischenmenschlichen Beziehungen", seiner "Allgemeinen Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um die Mauer. Ein Trojaner-Problem. Klagenfurter Beiträge zur Technikdiskussion. Heft 40 (1990).

Schelsky hatte 1937 gemeinsam mit Gotthard Günther bei Hirzel in Leipzig das Buch "Christliche Metaphysik und das Schicksal des modernen Bewußtseins" publiziert. Helmut Schelsky, geboren am 14.10.1912 in Chemnitz, war Professor für Soziologie, seit 1943 in Straßburg, 1948 in Hamburg, 1960 in Münster, 1970 in Bielefeld. Seine "transzendentale Theorie" der Gesellschaft sucht "Sinn und Grenzen des Sozialen und des soziologischen Denkens" zu bestimmen. Ihr Thema ist die "Freiheit des Menschen von der Gesellschaft". Soziologie sei zugleich "Wirklichkeitskontrolle". 1953 erschien seine Studie "Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart" (fünfte Auflage 1969), 1957 "Die skeptische Generation" (vierte Auflage 1963), 1975 die erweiterte Auflage des Buches über die Priesterherrschaft der Intellektuellen "Die Arbeit tun die anderen", 1981 die "Rückblicke eines »Anti-Soziologen«".

4 Lars Clausen, Ernst Kotzmann, Reinhard Strangmeier (Hrg.): Transklassische Logik und neue disziplinäre wie interdisziplinäre Ansätze. München und Wien: Profil 1997.

8

Page 6: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Gespräche, die dazu beigetragen haben, seinen Entwurf einer transklassischen Logik weiter-

zuentwickeln und zu präzisieren. Neben seiner "Selbstdarstellung im Spiegel Amerikas"5 gehört

die Schilderung der "Unvergeßlichen Stunden mit Warren Sturges McCulloch" zu den wenigen

überlieferten biographischen Notizen Gotthard Günthers. Wir drucken sie in der deutsch­

sprachigen, von Marie Günther-Hendel übersetzten und von Gotthard Günther eigenhändig

korrigierten Fassung ab. Es ist interessant zu sehen, wie eng logische und philosophiegeschicht­

liche Argumentationen im persönlichen Gespräch mit McCulloch6 auf der einen sowie ge-

schichtsphilosophische Betrachtungen, verursacht wohl durch seine nordamerikanischen

Erfahrungen, andererseits bei Gotthard Günther zusammengehen, ein Zusammenhang, der so

recht augenscheinlich erst wird bei Betrachtung seiner bislang vernachlässigten geschichtsphi-

losophischen Schriften im Berliner Nachlaß ("Die Entdeckung Amerikas. Ein geschichtsmeta-

5 Gotthard Günther: Selbstdarstellung im Spiegel Amerikas. In: Ludwig S. Pngratz (Hrg.): Philosophie in Selbstdarstellungen. Band 2. Hamburg: Meiner 1979, Seite 1-76.

6 Der Neurophysiologe Warren Sturgis McCulloch, 1898 geboren, war eine der einflußreichsten Persönlichkeiten auf dem Gebiet der Künstlichen-Intelligenz-Forschung. Er studierte zunächst am Haverford College, ging dann nach Yale, wo er als Hauptfach Philosophie und im Nebenfach Psychologie studierte. Seinen Master of Arts erwarb er in Psychologie an der Universität von Columbia. Anschließend wechselte er zur dortigen Medical School. Sein Praktikum absolvierte er im Bellevue Hospital in New York, wo er auch als Assistenzarzt arbeitete. Danach wandte er sich der Erforschung von Kopfverletzungen und Epilepsie zu. Nach mehreren Jahren am New Yorker Rockland State Hospital ging er nach Yale zurück, um die Funktionen des zentralen Nervensystems zu erforschen. Später wechselte er zur Universität von Illinois, wo er das Labor für Grundlagenforschung in der Abteilung für Psychiatrie leitete. Dort blieb er bis 1952, um anschließend Forschungsaufgaben am Research Laboratory of Electronics am Massachusetts Institute of Technology zu übernehmen. Hier blieb er bis zu seinem Tode im Jahre 1969.

Warren McCulloch, der Neurophysiologe, arbeitete lange Zeit mit Walter Pitts, einem Mathematiker, zusammen an einer mathematischen Beschreibung des Verhaltens. 1943, im selben Jahr, als die Schrift "Behavior, Purpose and Teleology" von Arturo Rosenblueth, Norbert Wiener und Julian Bigelow in "Philosophy of Science" erschien, veröffentlichten Warren McCulloch und Walter Pitts im "Bulletin of Mathematical Biophysics" ihren "Logical Calculus of the Ideas Immanent iri Nervous Activity". Die Erscheinung beider Publikationen im selben Jahr gilt als Geburtsstunde der Kybernetik.

McCulloch gründete mit John von Neumann und Norbert Wiener in den USA die Teleologische Gesellschaft, die sich den Problemen der Kybernetik widmete. Zugleich war er ständiger Gast des Ratio Clubs in England, dem unter anderem Alan Turing, Donald MacKay und William Ross Ashby angehörten und der sich ebenfalls mit Fragen der Kybernetik auseinandersetzte.

Page 7: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

physisches Problem", "Amerikanische Apokalypse. Ideen zu einer Geschichtsmetaphysik der

westlichen Hemisphäre", "Ausblick auf das Weltbild der Zukunft" usw.).

Gemeint ist zum dritten unsere Absicht, Gotthard Günther wieder ins Gespräch zu bringen,

unter anderem durch Übersetzung seiner amerikanischen Schriften ins Deutsche. Mit der

Übertragung von "Information, Communication and Many Valued Logic"7 setzen wir eine

Initiative fort, die wir mit "The Tradition of Logic and the Concept of a Trans-classical

Rationality"8 und "Cognition and Volition"9 vor einiger Zeit begonnen haben. Der Artikel zeigt

auch die Schwierigkeiten auf, mit denen der Leser Güntherscher Texte konfrontiert ist. Daher

soll im folgenden ein kurzer Kommentar zu dem übersetzten Artikel gegeben werden.

Die in dem hier erstmals übersetzten Text von Günther angesprochene und von C. Shannon

entwickelte mathematische Informationstheorie beschäftigt sich in erster Linie mit den statisti­

schen Gesetzmäßigkeiten der Übermittlung und Verarbeitung von Information. Die Frage nach

einer Normierung der Ein- und Ausgabemöglichkeiten und nach einem geeigneten Maß für den

Informationsinhalt war für Shannon zentral. Was ist damit gemeint? Anhand eines einfachen

Beispiels soll diese Problematik erläutert werden.

Angenommen eine Nachricht laute: 001010000. Grundsätzlich ergibt diese Folge aus Nullen

und Einsen keinen Sinn, solange der Empfänger den Code dieser Nachricht nicht kennt. (Auf

das Problem, daß der Empfänger die Symbole überhaupt als Nachricht erkennt, soll hier gar

nicht erst eingegangen werden.) Liest man die Nachricht als eine Zahl dargestellt im binären

Stellenwertsystem, so erhält man im dezimalen Stellenwertsystem 192. Deutet man die Null als

Punkt und die Eins als Strich des Morsealphabets, dann erhält man die Botschaft ......... Die mit

7 Das englische Original ist abgedruckt in Gotthard Günther: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. Zweiter Band. Hamburg: Meiner 1979, Seite 134 ff. Ins Deutsche übersetzt von Ernst Kotzmann.

8 Ebenda, Seite 116 ff. Ins Deutsche übertragen von Arno Bamme (Klagenfurter Beiträge zur Technik-Diskussion, Heft 34, 1990).

9 Ebenda. Seite 203 ff. Ins Deutsche übersetzt von Gerhard Helletsberger (Klagenfurter Beiträge zur Technikdiskussion, Heft 22, 1988).

10

Page 8: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

dem Morsecode Vertrauten werden sie als "ich" entschlüsseln, aber auch "erdse", "ft5" oder

"int5" wären mögliche Übersetzungen.

Im ersten Fall wird die achtstellige Zeichenfolge 001010000 in eine dreistellige Folge 192

umcodiert. Der Informationsgehalt bleibt dabei derselbe. Der Informationsgehalt hängt also

nicht allein von der Länge einer Nachricht ab. Vielmehr hängt er auch von der Zahl der verwen­

deten Symbole ab. Je mehr Zeichen zur Codierung einer Nachricht zur Verfügung stehen, desto

größer wird der Informationsgehalt. (Im binären Zahlensystem verfügt man über zwei, im

dezimalen über zehn Symbole.) Der Informationsgehalt eines einzelnen Zeichens kann mit log2k

bestimmt werden, wobei k die Anzahl der zur Verfügung stehenden Symbole bezeichnet. Der

Informationsgehalt eines Zeichens hängt aber auch noch von der durchschnittlichen Häufigkeit

seines Auftretens ab. In der deutschen Sprache etwa kommt der Buchstabe "e" hundertmal

häufiger als das "q", d.h. aber "q" trägt mehr Information als "e". In geeigneter Weise läßt sich

dann der Informationsgehalt einer Zeichensequenz quantitativ bestimmen. Ferner läßt sich auch

ein statistisches Verhalten der Aufeinanderfolge einzelner Zeichen feststellen, z.B. folgt im

Deutschen mit höchster Wahrscheinlichkeit dem Zeichen "q" der Buchstabe "u", während etwa

die Buchstabenkombination qk -abgesehen von der Verwendung als Abkürzung nie vorkommt.

Ganz anders verhält es sich im zweiten Fall des mehrdeutigen Morsecodes, wo mehrere Inter­

pretationen der Nachricht möglich sind. Hier trifft der Kontext der Kommunikation die Ent­

scheidung, welche Übersetzung die richtige ist. Ging der Nachricht etwa die Frage "Wer hat

mich angerufen voraus?", dann ist die Übersetzung von 001010000 mit "ich" den anderen wohl

vorzuziehen. Auf die Frage "Worin soll ich meine Blumen pflanzen?" scheint die Übersetzung

"erdse" angebracht, indem sich das sinnstörende "s" in "erdse" als Druck- bzw. Übertragungs­

fehler deuten ließe. Auch für die anderen angeführten Interpretationen "ft5" oder "int5" lassen

sich sinnstiftende Kontexte denken.

Diesen semantischen Problemen wird die Shannonsche Theorie nicht gerecht. Sinnfragen

sträuben sich gegen Formalisierungen mittels mathematisch-logischer Kalküle; dies beweisen

auch die Bemühungen in der Artificial Intelligence Forschung, Spracherkennung bzw. -Überset­

zung innerhalb größerer Kontexte mittels Maschinen durchzuführen. Anders als bei der Forma-

11

Page 9: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

lisierung einer Syntax muß hier auch die metasprachliche Ebene, d.h. das Sprechen über die

Sprache mitberücksichtigt werden, womit auch allen semantischen Paradoxa Tür und Tor offen

stehen. Der amerikanische Philosoph J. Searle versucht in seinem bekannten "Chinese Room"-

Beispiel, zu veranschaulichen, daß Semantik nicht formalisierbar ist. Dem gegenüber stehen

aber doch auch einige Erfolge, innerhalb enger Kontexte Sinnhaftigkeit kalkülmäßig zu erfas­

sen. Eines der Beispiele dafür lieferte K. Gödel für eine formale Arithmetik. Einige meta­

sprachliche Begriffe, wie beispielsweise die Eigenschaft eine Zeichenkette, Beweis eines

Theorems oder aus den gegebenen Axiomen ableitbar zu sein, konnten mittels der nach ihm

benannten Methode des Gödelisierens in das formale Kalkül der Arithmetik übertragen und dort

rein syntaktisch manipuliert werden, ohne daß dabei Widersprüche auftraten.

Günther schreibt an anderer Stelle10, daß sich das Phänomen "Information" gegen eine Dualisie-

rung der Welt in Geist und Materie sträubt. Auf der einen Seite ist Information zutiefst abhängig

von der Materialität ihrer Symbole und ihrer Übertragung, auf der anderen Seite erschöpft sie

sich nicht in diesem Aspekt, sondern wird geprägt von der Sinnhaftigkeit sowie der Subjektivi­

tät der Kommunikationspartner. Die Dichotomien zwischen Geist und Materie oder zwischen

Subjekt und Objekt, Nichts und Sein, Negation und Affirmation u.a.m. können unser Denken,

so wie wir es erfahren nicht zur Gänze erfassen. Was sie nicht einfangen, ist die Prozessualität

des uns umgebenden Geschehens. Kommunikation ist aber ein Prozeß, der sowohl aus diesem

Geschehen entspringt als auch dieses Geschehen bestimmt. Diese Vibration des Kommunika­

tionsprozesses zwischen Beweger und Bewegtem kann, so Günther, nicht formal-logisch erfaßt

werden. Soll man also das Projekt einer Formalisierung von Kommunikation aufgeben oder sich

vonvornherein nur auf Teilaspekte beschränken? Günthers Antwort auf diese Frage ist ein klares

"Nein". Die Formalisierung von Kommunikation ist deshalb nicht möglich, weil sie auf der

klassischen Logik fußt. Wie aber stellt sich das Problem einer Formalisierung, wenn die

klassische formale Logik so erweitert wird, daß sie mehr als Dichotomien allein bietet, um

unsere Welt zu ordnen. Günthers Forderung nach einer Erweiterung logischer Kalküle richtet

sich auf eine Erweiterung der Vielfalt der logischen Werte. Zwei Werte, z.B. "wahr" und

"falsch" oder "1" und "0", prägen die klassische Logik und ihre Anwendungen. Jedes logische

10 Gotthard Günther: Das Bewußtsein der Maschinen. Baden Baden: Agis 1963.

12

Page 10: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Kalkül fordert von seinem Benutzer, daß er sich entscheidet, ob die zu manipulierenden Aus­

sagen wahr oder falsch sind. Dies trifft auch für die konventionellen mehrwertigen Logiken wie

z. B. die Fuzzy-Logik, zu, vielleicht erst auf einem höheren Level der Sprache. Auch wenn das

Kalkül mehr als zwei Werte zuläßt, muß sich sein Betreiber irgendwann die Frage stellen, ob

seine Beweise korrekt durchgeführt wurden oder nicht. Auch wenn er in der Metasprache, also

in der Sprache, in der man über das Kalkül spricht, wiederum Fuzzy-Logik anwendet und

beispielsweise behauptet, der Beweis ist nur mit einem Wahrheitsgrad von 0,8 richtig, so ist er

gezwungen die Aussage "Der Beweis ist nur mit einem Wahrheitsgrad von 0,8 richtig."" mit

dem Wert "wahr" zu belegen.

Günther erweitert die zweiwertige klassische Logik eine Verknüpfung dreier zweiwertiger

Logiksysteme mit den Weren 1 «2, 2«3 und 1 «3 und gibt gewisse zweistellige Operationen in

dieser dreiwertiegen Logik an. Er zeigt ferner, daß diese Operationen bezüglich der drei Einzel­

systeme gewisse Eigenschaften besitzen, auf Grund derer er eine Einteilung der 19683 zweistel­

ligen Operationen vornimmt. Damit kann sicher einem etwaigen Einwand, daß mehrwertige

Logiken auf Grund der rapid steigenden Anzahlen der vorkommenden Operationen eine

kalkühnäßigs Operieren mit ihnen völlig aussichtslos wäre, entgegnet werden. Die Aufgabe der

Mathematik ist es gerade, durch geschickte Strukturierung Probleme in den Griff zu bekommen,

deren Lösung auf den ersten Blick nur durch einen gewaltigen Rechnenaufwand erzielt werden

kann. Eine treffende Anektode dazu: Der Klassenlehrer des 8-jährigen Carl Friederich Gauß

stellte der Schulklasse, wohl um einige Minuten der Entspannung genießen zu können, die

Aufgabe, die Zahlen von 1 bis 100 zu addieren. Wie überrascht war dieser Lehrer, als der junge

Gauß bereits nach einigen Minuten zu dem richtigen Resultat kam, indem auf eine überaus

gefinkelte Weise diese hundert Zahlen addierte Der Umgang mit großen Zahlen hat noch keinen

Wissenschaftler geschreckt, sondern war stets eine Herausforderung. Günthers Klassifikations­

schema mag die Zahl 19683 gar nicht mehr so schrecklich groß scheinen lassen.

11 Das ist eine Aussage in der Metametasprache, also jener Sprache, in der man über die Metasprache spricht.

13

Page 11: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Aber was hat diese Vereinfachung mit dem ursprünglichem Thema der Formalisierung, der

kalkülmäßigen Operationalisierung von Kommunikationsprozessen zu tun? Günther bleibt die

Antwort schuldig! Der kleine Gauß strukturierte die Zahlen zwischen 1 und 100 so in Zahlen­

paare, daß er jeweils 1 und 100, 2 und 99, 3 und 98 usw. bis 50 und 51 zusammenfaßte. Die

Summe dieser 50 Paare ist stets 101, ergo ist die Gesamtsumme 5050. Damit ist die Aufgabe

gelöst. Wo aber liegt die Beantwortung Günthers anfangs gestellter Frage? Was bringt es zu

wissen, daß die Anzahl der Operationen mit symmetrischer Bewertung, wobei Rejektionswerte

auftreten, im System 1~2 genau 108 beträgt? Wie wirkt sich das in der Beschreibung eines

Beobachters aus, der einen Kommunikationsprozeß betrachtet? Läßt sich damit eine mit

Shannons vergleichbare Theorie aufstellen.? Wie gesagt, die Antwort bleibt uns Günther

schuldig.

An dieser Stelle ist Dank zu sagen der Berliner Staatsbibliothek für die großzügig gewährte

Unterstützung und die Einsichtsnahme in den Berliner Nachlaßteil Gotthard Günthers, ins­

besondere Herrn Prof. Dr. Brandis und Herrn Dr. Busch.

Dank zu sagen ist ebenfalls dem Felix-Meiner-Verlag in Hamburg für die Genehmigung der

Übersetzung der englischsprachigen Texte ins Deutsche und, weit darüberhinaus, für die in

entgegenkommender Weise gewährte Unterstützung durch Herrn Manfred Meiner.

14

Page 12: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Helmut Schelsky

Zur Ontologie der MehrwertigkeitI2

Erlauben Sie mir bitte, zu Beginn dieser Arbeitstagung Gotthard Günther mit einigen Worten zu

begrüßen. Und das aus verschiedenen Gründen. Der geringste Grund ist sicher der, daß ich

schon ein Bedürfnis habe, klarzumachen, weshalb wir auf Du und Du miteinander sind, und daß

dieses Kolloquium hier in Rheda nun trotzdem kein privates Bekanntengespräch ist. Aber das

viel wichtigere und der eigentliche Grund dafür ist, daß Du, Gotthard, im nächsten Monat 70

Jahre alt wirst. Und obwohl das bei Wissenschaftlern und Denkern nach meiner Überzeugung

höchstens Trauer-, statt Glückstage sind, geben sie doch Anlaß, vielleicht einmal die summa zu

ziehen. Und da wir, wenigstens die meisten von uns, kaum Gelegenheit haben, zu diesem Tage

bei Dir in Hamburg zu sein und ihn auszugestalten, möchte ich sozusagen ein Summarium

Deines Lebens und Wirkens kurz geben - improvisiert, wie ich erinnere. Ich glaube, wir sind

jetzt 36 Jahre bekannt, das heißt, den größten Teil Deines Lebens kenne ich einigermaßen aus

persönlichem Kontakt. Ich will übergehen, das könntest Du privat erzählen, was bis zu unserem

ersten Treffen in Leipzig passiert ist. Ich glaube, daß Gotthard Günther einen der phantastisch­

sten Lebensläufe bis dahin durchgemacht hat, der erzählt eher romanhaften Charakter hätte, als

daß man ihn einfach glaubte. Immerhin darf ich soviel sagen, daß Du niemals den normalen

Weg gegangen bist. Soviel ich weiß, hast Du kein normales Abitur an einem deutschen Gymna­

sium gemacht, sondern bist nach vielen Umwegen über Rechtsanwaltskanzleien und ähnlichem

zum Begabtenabitur gekommen. Und über ein Jurastudium und über Sinologie dann zur

Philosophie und zu den Naturwissenschaften. Sinologie ist schon ein inhaltliches Stichwort.

Und ich erinnere mich, daß bei mir zu Hause noch drei Aufsätze von Dir über den Buddhismus

liegen, und wenn ich je etwas verstanden habe vom Buddhismus als einer Theorie der Subjekti­

vität, dann stammt das von Dir und dem von Dir vermittelten Rosenberg; aber wahrscheinlich

ist das alles heute überholt und falsch. Sodann hast Du in Berlin Dein Philosophiestudium

abgeschlossen mit einer Arbeit über eine neue Theorie des Denkens in Hegels Logik. Das ist

12 Einfuhrungsworte zum Kolloquium "Die Ontologie der Mehrwertigkeit, Natürliche Zahlen in einem transklassischen System" mit Professor Dr. Gotthard Günther, 28729. Mai 1970.

15

Page 13: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

eins der wenigen Bücher, die von Dir überhaupt vorhanden und erreichbar sind. Diese Arbeit ist

damals wohl bei Spranger offiziell gemacht worden. Also ich würde sagen, von Spranger

spreche ich Dich frei. Das ist nicht die Verbindung. Vielmehr gab es jemanden, der damals

gerade junger Ordinarius in Leipzig geworden war; er traf mich und sagte: das ist der richtige

Mann, das ist eine ganz wichtige Sache, und den Mann müssen wir uns holen. So kamst Du als

Assistent nach Leipzig. Und so lernten wir dich kennen. Das Hauptthema unserer damaligen

Jahre war zweier-, wenn nicht gar dreierlei. Da war erst einmal Hegel, Hegel in vielen Varian­

ten. Insbesondere von seiner Logik her war die Verbindung zu den modernen Naturwissen­

schaften gegeben. Ich möchte erinnern an unsere Arbeitsgruppe, die seltsamerweise nicht in

Leipzig, sondern immer in Jena zusammenkam, wobei verschiedene Mathematiker wie Weiz­

säcker und Pasqual Jordan - der damals noch auf der Höhe seiner geistigen Leistung war - sich

trafen. Das war die Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft. Es gab damals ein Buch,

welches aus einer Gruppe, die um Heisenberg Philosophie trieb, kam und welches eine große

Rolle in unserer Diskussion spielte. Und das dritte war immer eine Geschichtsphilosophie. Ich

glaube, man sollte nicht verdrängen, daß das immer ein wichtiger Trend Deines Denkens

gewesen ist, in verschiedenen Formen: als Übernahme der Mythologeme, dann als moderne

Theorien, aber auch der echten Geschichtsphilosophie. Ich weiß nicht, ob es von Deiner Ge­

schichtsphilosophie in Amerika überhaupt noch ein Exemplar gibt, oder ob es verschollen ist.

Auf eine Sache möchte ich noch kurz zu sprechen kommen. Ich habe damals das Grundthema

dessen, was wir heute hier zur Diskussion stellen, nämlich die logische Problematik, unter

einem ganz anderen Begriff kennengelernt. Und wir werden in der Diskussion merken, daß die

Thematik einer transklassischen Logik, um es einmal ganz neutral zu sagen, verschiedene

Bezeichnungen bei Gotthard Günther hat. Damals hieß es neontische Logik, ein Begriff, den ich

auch behalten habe: nämlich nicht auf das Sein, sondern auch auf Sinnbezüge ausdehnbare

Logik. Ein Freund von Dir, Paul Hoffmann, hat mit seiner kleinen Schrift über den Satz des

ausgeschlossenen Dritten damals großen Einfluß auf die Diskussion ausgeübt. Und er hat auch

ein dickes Buch über Sinn geschrieben, das ich sehr überheblicherweise als junger Student

rezensiert habe, worüber er nicht sehr glücklich war. So war es damals.

Es dauerte allerdings alles nicht sehr lange. Die Situation war die, ich will es offen erzählen, daß

16

Page 14: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Herr Günther als Nachfolger von Bauch nach Jena kommen sollte. Der berühmte Bauch mit den

drei Bauchwehs. "Wahrheit, Wert und Wirklichkeit" ist sein großes entscheidendes Buch

gewesen, und unter den liederlichen Philosophen hieß es: die drei Bauchwehs. Er war emeritiert,

und es sollte ein Idealist auf den Lehrstuhl berufen werden. Die Verhandlungen waren bereits

völlig abgeschlossen - ich war selber mit eingeschaltet - , aber scheiterten dann schließlich doch

noch an der Obstinatheit von Gotthard Günther, insofern er sich weigerte, die nach unserer

Überzeugung bloß formale Pflicht zu erfüllen, einen Erlaß zu unterschreiben, daß er dem Führer

und Kanzler des deutschen Reiches gehorsam sein wolle. Nun, darüber brauchen wir nicht

weiter zu sprechen. Jedenfalls hat Gotthard Günther damals Deutschland verlassen, ohne jeden

Zwang; im Gegenteil: sehr bedauert von vielen, die mit ihm gearbeitet haben.

Deine Stationen draußen, V..., wo Deine Frau lehrte, dann Stellenbosch in Südafrika, dann

Amerika, davon müßtest Du erzählen, ich kenne das nicht sehr genau. Es war nicht sehr einfach

in Amerika. Du galtest sehr bald in den verschiedenen Colleges als "non cooperative personali­

ty", was Du natürlich im normalen kollegialen Sinn auch immer gewesen bist. Denn ich darf nur

subjektiv sagen, ich kenne sicher niemanden, auf den man sich menschlich so unbedingt

verlassen kann, wie auf Dich. Aber leicht gemacht hast Du es natürlich keinem von uns. Diese

Situation schlägt sich dann in solchen Formeln des Sozialzwanges oder solchen Situationen des

Sozialzwanges, wie es in der Formel von der "non cooperative personality" zum Ausdruck

kommt, nieder. Wenn ich jetzt betrachte, was Du in Amerika eigentlich dazugewonnen hast, an

Thematik mehr als am Kern der Sache, die Dich interessiert, dann ist das dreierlei gewesen: Das

erste ist die Aufnahme eines für ernsthafte Philosophen natürlich nicht seriösen Arbeits- und

Interessensgebiets: nämlich die Science Fiction. Daß Deine entscheidenden logischen Abhand­

lungen im Science Fiction-Magazin erschienen sind - ich habe sie alle - , wird ein Kuriosum

sein und hat zu ihrer Verbreitung nicht beigetragen, obwohl diese Aufsätze wahrscheinlich die

verständlichsten und interessantesten sind, weil sie auf ein Publikum von Naturwissenschaftlern

hin geschrieben sind, die keine europäische Philosophietradition kannten. Daß Du außerdem

dann nach 1945 die ersten deutschen Science-Fiction-Bücher, und zwar die klassischen Autoren,

herausgebeben hast, mit sehr schönen Einleitungen, die mindestens so spaßig sind wie die

Science Fiction selber, das ist zu früh gewesen. In vielen Sachen und vielen Angelegenheiten

Deines Lebens bist Du immer zu früh gekommen. Damals hat der Stahlberg-Verlag mit seinen

17

Page 15: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

4 Bänden Science Fiction kein Geschäft gemacht und hat sie eingehen lassen. Das war buch­

stäblich 10 bis 15 Jahre zu früh. Heute wären sie wahrscheinlich ein Bestseller.

Das zweite war - ich glaube, das ist die Wendung gewesen - , die Voraussage der Antimaterie.

Du bist immer ein spekulativer Denker gewesen; wir haben uns gestern schon darüber unterhal­

ten, daß das Wort "Spekulation" bei Dir und unter uns keine negative Bezeichnung ist. Die

Vorhersage der Antimaterie ist vielleicht das, was Dir die größte Aufmerksamkeit verschafft hat

in den USA; später wurde sie dann wirklich entdeckt, d.h. sie wurde zwingend aus bestimmten

naturwissenschaftlichen Gründen erwiesen. Dich führte das zu einer Beschäftigung, mit der Du

dann die letzten 10 Jahre verbracht hast, zu der Beschäftigung mit der Kybernetik in einem

Institut für biologische Kybernetik - und das in einer Fakultät für Electrical Engineering, in

einer rein technischen Fakultät. Ich habe hier ein Zitat aus der heute zur Diskussion stehenden

Abhandlung über "Die gebrochene Rationalität", und ich möchte es doch einmal vorlesen, weil

mir hieran klar geworden ist, wie dieselbe Thematik andere Namen gewinnt und doch dasselbe

bleibt für mein Verständnis. Seite 8/9 dieser Abhandlung: "Damit aber wird das dritte und letzte

Grundgesetz in unserem Bewußtsein, also der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, zerstört.

Derselbe besagt nämlich, daß es zwischen uns als erlebendem Ich und der erlebten Wirklichkeit

der objektiven Welt kein Drittes gibt. Das denkende Subjekt ist mit sich identisch und das

gedachte Sein ist ebenfalls mit sich identisch. Infolgedessen gehört jedes Realitätsdatum -

wobei unter Realität "Alles" verstanden wird, Gedanken sowohl wie Dinge - entweder dem

Innenraum der erlebenden Subjektivität oder dem Außenraum der physisch-materiellen Objekti­

vität an. Eine dritte Möglichkeit ist schlechterdings nicht erlebbar.

Es ist leicht einzusehen, daß die Konzeption der Anti-Materie und einer sich aus ihr aufbauen­

den Gegen-Realität dieses letzte grundlegende Erlebnisschema des menschlichen Bewußtseins

völlig vernichtet. Denn das Gegen-Universum ist weder ein abstraktes Datum unseres seelischen

Innenraums, denn die Anti-Protonen und Positronen sind ja »wirklich«, noch ist es für uns ein

reeller Außenraum, in dem wir uns physisch bewegen können. Denn wenn unser Universum

»da« ist, dann existiert das andere nicht. Und umgekehrt. Das Gegen-Universum ist jenes Dritte,

dessen Realität ausgeschlossen ist. Zu der exklusiven klassischen Aufeinanderbezogenheit von

erlebendem Ich und als wirklich erlebter Welt tritt jetzt das »absolute Andere«, ein Sein, das für

18

Page 16: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

sich selbst, aber nicht für uns Dasein hat."

Ich glaube, das ist die Thematik, um die es im wesentlichen hier gegangen ist. Hier heißt das

Dritte: Antimaterie. Das verstehe ich nicht. Wie denn überhaupt, wenn man nicht dauernd

dranbleibt, natürlich das Verständnis der Schritte ausbleibt. Für mich ist das Dritte Deine These

immer gewesen, daß diese Subjektivität nicht, wie es der ganze Idealismus interpretiert hat,

Subjektivität ist und das Du nur ein anderes Ich. Und da liegt nun auch die Frage, die wir in die

Sozialwissenschaften Übergewanderten an eine Logik stellen: Was kann Deine Theorie der

Logik zum Beispiel zur Intersubjektivität beitragen, wenn Ich und Du Beziehungen, ja soziale

Beziehungen sind, und die beiden Ich nicht einfach als Ich interpretiert werden können. Ich

wollte diesen Problemanriß nur dazwischenschalten, um gleich hier deutlich zu machen - es

wird in der Diskussion vielfach aufkommen - , daß ein gleiches Problem unter ganz verschiede­

nen Gegenstandsbezügen auftaucht; wir werden das alle bemerkt haben, soweit wir Günther

gelesen haben - und eine Epoche seines Denkens hat jeder von Ihnen mitgedacht, miterlebt,

denn sonst wären Sie wahrscheinlich nicht hier. Es wird eine der Aufgaben dieses Kolloquiums

sein, diese verschiedenen, sehr verschiedenen Gegenstandsgebiete, Fachdisziplinen hier zu einer

Diskussion zusammenzubringen. Ich glaube, daß darin ein zentrales Problem Deines Denkens

liegt.

Damit will ich abschließend Deinen Lebenslauf abrunden. Du hast Dich immer sehr gewehrt,

nach dem Kriege wieder nach Deutschland zu kommen unter dem Aspekt, Du seiest ein Emi­

grant. Du bist freiwillig gegangen und wolltest nur um Deiner wissenschaftlichen Anerkennung

willen berufen werden. Das ist eine der vielen soziologischen Verkennungen der deutschen

Wirklichkeit, die Dir gelungen sind: es waren nämlich gar keine da, die damals diese Urteile

über Dich abgeben konnten und so war dieser Weg illusionär. Immerhin waren dann 1958 von

Weizsäcker und ich in Hamburg, und wir haben Dich wenigstens als Emeritus für Hamburg

gewinnen können, was dann den Kontakt mit der deutschen Universität wenigstens in dieser

Form wiedergebracht hat.

Schon zwischendurch habe ich mich einmal darauf bezogen, inwieweit die Werke von Gotthard

Günther eigentlich zugänglich sind. Ich würde sagen: Erstens ist ein Großteil verstreut; ich habe

19

Page 17: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

mir die Stapel an Sonderdrucken einmal angesehen. Zweitens ist sicher auch ein Teil ver­

schollen; ich habe Manuskripte von Dir - die ich auch nicht herausgebe - , die sicher nur einzig

mehr da sind; andere sind ganz weg.

An Büchern ist es außer der schon erwähnten neuen Theorie in Hegels Logik - in dem ominö­

sen Jahre 1933 erschienen - die Fortführung des 1. Bandes "Idee und Grundriß einer nicht­

aristotelischen Logik". Der 2. Band wird nach Deinem Eingeständnis nie geschrieben werden,

weil er dann die ganze Technik einer neuen Logik bringen müßte. Bekannt ist Ihnen wahr­

scheinlich "Das Bewußtsein der Maschinen" - ich würde sagen: ein Buch, auf der Grenze

zwischen Deinen logischen, metaphysischen und Science Fiction-Interessen geschrieben und

auch dementsprechend unterschiedlich aufgenommen.

Ich möchte mich zum Schluß ganz einfach bei Dir bedanken. Ich habe in meinem Leben von

sehr wenigen - von zwei oder drei Menschen - die entscheidenden Impulse für meine geistige

Existenz erhalten. Dazu gehörst Du. Da ist ein "Danke schön" nicht zu viel.

Daß die Ansprüche an Dich, die die verschiedenen Wissenschaften stellen und die ich auch

stelle, nicht unmittelbar von Dir befriedigt werden können, das habe ich nach den langen Jahren

eingesehen. Wenn ich mir in meinem Leben noch etwas vornehme, dann ist es an irgendeiner

Stelle der Versuch, in die sozialwissenschaftliche Theorie bloß ein Bruchstück dessen, was ich

bei Dir verstanden habe - Verbindung von Ich- und Du-Subjektivität - , zu übersetzen in eine

Art von Du-Theorie des sozialen Handelns. Aber ob ich diesen Festschrift-Beitrag selbst noch

leiste, weiß ich nicht.

Schönen Dank, Gotthard!

20

Page 18: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Gotthard Günther

Zahl und Begriff Unvergeßliche Stunden mit Warren Sturges McCulloch1

Es ist nicht leicht für den Autor, diese Erinnerungen aufzuschreiben. Er möchte eine Seite von

Warren Sturges McCulloch zeigen, die weitgehend unbekannt ist und auch in den Veröffentli­

chungen dieses großen Mannes und erstklassigen Wissenschaftlers kaum sichtbar wird -

nämlich den bedeutenden und tiefen Philosophen. Es war ihm überaus bewußt, daß die Kyber­

netik als neuartige, selbständige Wissenschaft eine neue philosophische Grundlegung brauchte,

um sie von den konventionellen Disziplinen abzugrenzen. Diese Überzeugung führte zu der

Bekanntschaft mit dem Autor und zu einer Freundschaft, die fast zehn Jahre bis zum Tode

McCullochs dauerte. Die Schwierigkeit besteht darin, daß beide fast identische Ansichten über

die Beziehungen von Kybernetik und Philosophie hatten und es darum fast unmöglich ist, seine

eigenen Ideen von denen McCullochs sauber zu trennen. Er ist sich nur sicher, daß alle Gedan­

ken, die er bis zur Publikation von "Cybernetic Ontology and Transjunctional Operations"

formuliert hat, seine eigenen sind. [1] Obwohl McCulloch in diesem 1962 erschienenen Essay

schon zitiert wird, geschah das nur in der Absicht, Überlegungen, mit denen sich der Autor

bereits seit einiger Zeit getragen hatte, auf die Autorität McCullochs zu stützen.

Zur Begegnung des Autors mit McCulloch kam es durch Dr. John Ford (damals an der George

Washington University), der McCulloch 1959 einen deutsch geschriebenen, 1958 in der

"Zeitschrift für philosophische Forschung" erschienenen, Aufsatz des Autors über "Die Aristo­

telische Logik des Seins und die nicht-Aristotelische Logik der Reflexion" gegeben hatte. [2] Er

ist Dr. Ford noch immer außerordentlich dankbar für diese Verbindung, die seine ganze Auf­

fassung von Philosophie ändern sollte. Es dauerte geraume Zeit, bis der Autor verstand, was

McCulloch an diesem Aufsatz berührt hatte. Es war weniger seine potentielle Verwendbarkeit

in der Kybernetik als vielmehr die verborgene Beziehung zwischen Zahl und logischem Kon­

text, die er enthüllte. Als der Autor den Aufsatz schrieb, glaubte er, daß eine nicht-Aristotelische

Logik nichts als ein Stellenwertsystem von unzähligen Aristotelischen (zweiwertigen) Sub-

1 Übersetzt von Marie Günther-Hendel.

21

Page 19: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Systemen sein würde. Was ihn damals interessierte, war ganz begrifflich, und er dachte noch

nicht im Traum daran, daß ein verborgenes arithmetisches Element in tiefere Schichten kyberne­

tischer Grundlagen führen könnte. Darin sah McCulloch viel weiter als er.

Ihre intellektuelle Zusammenarbeit begann ernsthaft eines Abends - der Autor hatte auf seiner

jährlichen Winterreise nach New Hampshire bei McCulloch hereingeschaut - , als McCulloch

das Gespräch auf die Pythagoräer lenkte und auf ihre Lehre, daß Zahlen den innersten Kern der

Wirklichkeit beschreiben. Als der Autor um eine nähere Erklärung bat, erfuhr er damals nur,

daß es gerade seine Sache wäre, mehr darüber herauszufinden. Es war das erste Mal, daß er sich

der seltsamen Zurückhaltung gegenübersah, die McCulloch in bezug auf ontologische, genauer

"metaphysische" Fragen bewahrte. Das führte ihn dazu, McCullochs Begabung und Intention

auf diesem Gebiet weit zu unterschätzen. Daß McCulloch sich niemals herbeiließ, auf Kon­

gressen Vorträge zu kritisieren, die offenbar von falschen metaphysischen Voraussetzungen

ausgingen, bestärkte ihn noch in diesem Fehlurteil. Zunächst nahm er an, daß McCulloch die

Mängel nicht bemerkte, später aber mußte er sehen, daß er sich geirrt hatte. Dennoch muß er

feststellen, daß McCulloch während der gesamten Dauer der Bekanntschaft und - wie der Autor

hofft - Freundschaft niemals aufgab, Kritik an dem Kurs, den die Kybernetik in Beziehung zur

Philosophie hielt, zurückzuhalten. Erst nach McCullochs Tod erfuhr er, daß sein Mentor in

Fragen der Kybernetik, mit dem Mangel an ontologischer Grundlegung, der die kybernetischen

Theorien charakterisierte - und noch immer charakterisiert - ebenso unzufrieden war, wie er

selbst. Aber bald sah er ein, wie sehr McCuolloch seine eigenen Bemühungen in einem neu­

artigen metaphysischen Rahmen sah. Die Klärung kam eines Abends, als McCulloch begann,

über Martin Heidegger zu sprechen, und ein sehr abgenutztes, zerlesenes Exemplar von "Sein

und Zeit" herbeiholte.

Das Buch hatte ursprünglich seinem Freund und Mitarbeiter Eilhard von Domarus gehört, wie

er erklärte; und er seinerseits habe es gründlich studiert, wolle es aber nun dem Autor zur

Lektüre überlassen, denn der hatte gestanden, daß er sich nicht viel aus Heideggers Philosophie

mache. Der Dank für das überraschende Geschenk muß ziemlich zögernd geklungen haben,

denn McCulloch wurde sehr beredt und bestand darauf, daß Heideggers "Nichts" genau der

ontologische Ort für das zentrale Problem der Kybernetik sei: nämlich die Abbildung prozessua-

22

Page 20: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

len Lebens auf an sich lebloser Materie. Sein ist beides: Subjekt und Objekt; aber die westliche

Philosophie ist seit der Zeit der Griechen in "Seinsvergessenheit" verfallen. Für McCulloch

bedeutete das, daß sie sich nicht auf das Problem der Kybernetik einstellte. Die klassische

Philosophie hält irrtümlich die von Selbst-Referenz freie Objektwelt für das "Sein". - Dieser

Kommentar zu Heidegger zeigte dem Autor, wie sehr er McCuollochs philosophische Begabung

unterschätzt hatte. Seine genaue Kenntnis von "Sein und Zeit" und besonders seine Diskussion

des "Nichts" gaben den metaphysischen Überlegungen des Autors eine neue Richtung, ließen

ihn die Wurzeln der Kybernetik in den letzten und primordialen Tiefen des Universums suchen.

Der geistige Berührungspunkt zwischen McCulloch und dem Autor war ihrer beider Interesse

an der transzendentalen Bedeutung der Logik - mit anderen Worten die Frage, wieviel und

welche Kenntnis über die uns umgebende Welt die Logik enthält. So war es nur natürlich, daß

der Autor von seinem Partner wissen wollte, was er unter dem Terminus "metaphysisch"

verstand. Zunächst wurde er auf das "Mysterium Iniquitatis ..." [3] verwiesen und die Ansich­

ten, die physikalisches Denken über Angelegenheiten vorschreiben, die geistig genannt wurden

("they prescribe ways of thinking physically about affairs called mental"). [4] Begreiflicher­

weise ließ diese Antwort den Philosophen unbefriedigt, und sie erklärte gewiß nicht McCul­

lochs eigene - ziemlich ambivalente - Schätzung von Heidegger. Dies gab er zu und begann

dann Gedanken zu entwickeln, die weit über die metaphysischen Andeutungen in Aufsätzen wie

"Mysterium Iniquitatis ...", "Through the Den of the Metaphysician" [5], "What is a Number..."

[6] und anderen hinausgehen. Er machte seinen Hörer darauf aufmerksam, daß jede Logik und

jeder Kalkül, den Menschen je erfinden können, nichts als eine mehr oder weniger gelungene

Formalisierung ontologischer Begriffe ist. Das war natürlich nicht neu, und man kann es leicht

als immer gegenwärtige Implikation aus seinen Schriften herauslesen. Aber es zeigt, daß er viel

tiefer durch die 'Grotten des Metaphysikers' gewandert war, als er in seinen Schriften deutlich

machen wollte. Hier möchte der Autor den Leser an das Zitat von James Clerk Maxwell

erinnern, das in "Through the Den of the Metaphysician" vorkommt. Es handelt von der

Beziehung zwischen Gedanken und molekularen Bewegungen im Gehirn: "... does not the way

to it lie through the very den of the metaphysician, strewn with the bones of former explorers

and abhorred by every man of science?" Dazu McCulloch: "Let us peacefully answer the first

half of this question 'Yes', the second half'No', and then proceed serenely." [7]

23

Page 21: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Zweifellos hat er sich vor der Höhle des Metaphysikers niemals gefürchtet, aber alle seine

Schriften zeigen eine ausgesprochene Abneigung, die Eigenschaften der Transzendenz bis ins

einzelne zu analysieren. Aber diese Zurückhaltung verschwand fast vollständig, wenn McCul­

loch in Gegenwart eines Menschen über den fraglichen Gegenstand spekulierte, der, wie der

Autor, im Bereich des Transzendentalen mehr zuhause war als auf den empirischen Wegen der

Kybernetik.

Von Heideggers Nichts wandte sich das Gespräch dann Kant und Hegel zu. Zu seiner Überra­

schung entdeckte der Autor, daß McCulloch deutlich sah, daß Kants Philosophie eine Epoche

philosophischen Denkens beschließt und daß Hegel eine neue eröffnet. Er selbst hatte diese

Entwicklung im Sinne der Unterscheidung von Kultur- und Geisteswissenschaft und mit

Hinblick auf die pseudo-systematische Entwicklung der letzteren in der seit 1900 bestehenden

Hegel-Renaissance interpretiert: Von der Hegel-Renaissance und ihren intellektuellen Begleit­

erscheinungen wußte McCulloch kaum. Selbst wenn er damit vertraut gewesen wäre: die

metaphysische Kluft zwischen Materie und Geist oder Subjekt und Objekt, die die Geisteswis­

senschaft betonte, konnte von keinem Kybernetiker und am wenigsten von McCulloch akzep­

tiert werden. Folgerichtig erklärte er den Unterschied zwischen Kant und Hegel durch die

verschiedene Auslegung von Dialektik, die sich in der Kritik der reinen Vernunft und in Hegels

Logik findet. Kant behandelt die Dialektik im Sinne der Platonischen Tradition, und in der

Kritik der reinen Vernunft fuhrt sie zum transzendentalen Schein als unvermeidlichem Element

des Irrtums, der alle metaphysischen Behauptungen durchdringt. So ist Kants Einschätzung der

Dialektik im Grunde negativ, und je weniger wir von diesem giftigen Trank zu uns nehmen,

desto besser geht es uns. Dagegen ist für Hegel - so McCulloch - die dialektische Struktur ein

legitimes Element sowohl des Denkens als der objektiven Existenz, wobei sie zugleich das

Bindeglied zwischen beiden liefert. Darauf bezieht sich Seymour Papert, wenn er in seiner

Einführung zu "Embodiments of Mind" berichtet, daß es für McCulloch feststand: "... that to

understand such complex things as numbers we must know how to embody them in nets of

simple neurons. But he would add that we cannot pretend to understand these nets of simple

neurons until we know - which we do not except for an existence proof - how they embody

such complex things as numbers. We must, so to speak, maintain a dialectical balance between

evading the problem of knowledge by declaring that it is 'nothing but' an affair of simple

24

Page 22: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

neurons, without postulating 'anything but' neurons in the brain. The point is, if I understand

him well, that the 'someting but' we need is not of the brain but of our minds: namely, a

mathematical theory of complex relations powerful enough to bridge the gap between the level

of neurons and the level of knowledge in a far more detailed way than can any we now possess."

[8]

Nachdem der Autor diese Einführung gelesen hatte, frag er McCulloch, ob er wirklich vorhabe,

die Dialektik nur auf eine lose und logisch nicht zwingende Weise einzuführen oder ob er sich

darüber klar wäre, daß Hegel den Terminus als linguistische Decke für einen verborgenen

Machanismus gebrauche, den das Weltall als Ganzes verwendet, den wir aber noch nicht

auflösen könnten. McCulloch schwieg eine Weile, und dann bat er den Autor, die Frage neu zu

formulieren, was der letztere tat, indem er sich erkundigte, ob er glaube, daß "Dialektik" nur

eine Besonderheit oder Schwäche des menschlichen Geistes sei oder eine wesentliche Eigen­

schaft der Wirklichkeit bedeute. McCulloch antwortete, daß der Begriff eine objektive Eigen­

schaft des Universiums bedeuten müsse und fügte hinzu: Das ist es, glaube ich, was Kant von

Hegel trennt. - Der Autor und McCulloch waren sich einig, daß das "sozusagen" in dem eben

gegebenen Zitat aus Paperts "Introduction" kein korrekter Ausdruck ist, denn es deutet nur auf

eine vage Analogie. Der Ausdruck lasse nicht klar werden, daß in dem Begriff "dialektisch" ein

ganz präzises systematisches Grundlagenproblem der Theorie der Mathematik vorliegt. -

Irgendwie kam das Gespräch auf eine Arbeit von Barkley Rosser, die im "American Journal of

Physics" erschienen war, und von ihr auf die Frage, ob eine dialektische Analyse der natürlichen

Zahlen dazu helfen könnte, die Kluft zu schließen, die die heutige mathematische Theorie

zwischen dem Niveau der Neuronen und dem Niveau der Erkenntnis darbietet. [9] Alles blieb

noch sehr vage, und es bedurfte fast einer nachtlangen Diskussion, um das Problemgebiet etwas

zu klären. McCullochs Vertrautheit mit dem Unterschied der Auffassung der Zahl bei Plato von

der des Aristoteles und daß er wußte, wieviel näher Piatos Ideen denen der Pythagoräer waren

als die des Aristoteles, erwies sich als sehr hilfreich. Und dann überraschte er den Autor, indem

er sagte, was Hegel unter Zahl verstehe, sei ein nicht sehr erfolgreicher Versuch, den all­

gemeinen Begriff des Zahlseins (Numeralität) wieder aufzubauen, der durch den Antagonismus

der Platonischen und der Aristotelischen Philosophie auseinander gebrochen war. Schließlich

25

Page 23: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

fügte er hinzu, daß es Hegel nicht gelungen sei, eine neue Theorie der mathematischen Grundla­

gen zu entwickeln, weil er die Zahl mehr im Sinn des Aristoteles als im Platonischen betrachtet

habe. Das schien dem Autor eine erstaunliche und fragwürdige Folgerung. Er glaubte, er wisse

mehr über Hegel, und konnte McCullochs Theorie nicht annehmen. Da die ganze Geschichte

der Mathematik von den Griechen bis in die Gegenwart ihre Erfolge der instinktiven Hinnahme

des Aristotelischen Zahlenverständnisses verdankte, mußte sich McCulloch irren. Der Autor

verließ Shady Hill Square etwas unbefriedigt und ging skilaufen.

Sechs Wochen später war er zurück - sehr zerknirscht und kleinlaut. Er war kein Mathematiker,

bloß ein Logiker, und noch dazu in der Atmosphäre der Geisteswissenschaften aufgewachsen.

Aber in der Zwischenzeit war ihm aufgegangen, daß McCulloch ein viel besserer Philosoph war

als er, wenn es sich um das Problem der transzendentalen Beziehung zwischen der Mathematik

und dem Universum handelte. Unter Voraussetzung der Hegel-Interpretation McCullochs

wandte sich das Gespräch erneut dem Aufsatz Barkley Rossers zu. Dessen Versuch erschien

jetzt im höchsten Grade interessant. Rosser hatte in dem genannten Beitrag bewiesen, daß man

Zahlen durch vier Ideen der zweiwertigen Logik erhalten kann, die ihrerseits in einem ebenso

zweiwertigen Kalkül formalisiert sind. Die erste Idee ist die 'Konjunktion' (... und ...); die

zweite ist 'Verneinung' (nicht...); die dritte Idee ist 'alle'; und die letzte Idee ist 'ist Teil von'.

Rosser schlägt dann vor, diese Ideen auf die Struktur eines mehrwertigen Kalküls zu projizieren.

Zum Zweck des Beweises und zur Vermeidung größerer Kompliziertheit illustriert er seine Idee

an einer drei-wertigen Logik. Als Werte nimmt er 'wahr' (W), 'wahrscheinlich' (?), und 'falsch'

(F). McCulloch und der Autor kamen überein, daß diese Interpretation von Dreiwertigkeit sich

zwar in der Kybernetik und anderswo als nützlich erwiesen hat, daß sie aber nicht zu einer

transklassischen Theorie der natürlichen Zahlen führen könne. Denn mindestens seit 1950

(Oskar Becker) ist anerkannt, daß die Einführung von Wahrscheinlichkeit oder von modalen

Werten den formalen Charakter eines logischen Systems zerstört. [10] Wenn man auf strenger

Formalität besteht, reduziert sich jedes solche unechte mehrwertige System automatisch zu

einem zweiwertigen Kalkül. Um McCulloch zu überzeugen, daß Rossers Behandlung des

Problems sehr korrekturbedürftig sei, verwies ihn der Autor auf etwas, worin er Rossers zweiten

Fehler sah. Rosser bestimmt die Konjunktion in der klassischen Logik durch folgende Matrize:

26

Page 24: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

w F

W

W

F

F

F

F

und durch die Forderung, daß W auf keinem der leeren Plätze wieder vorkommen kann, die

entstehen, wenn wir die Plätze der Funktion von vier auf neun vermehren. So bestimmt er in

strenger Analogie die dreiwertige Konjunktion durch die Matrize:

T

?

F

T

T

o

0

?

0

0

0

F

0

0

0

Noch einmal: um den Sinn von Konjunktion beizubehalten, darf "W" keinen der leeren Plätze

besetzen, die in der obigen Matrize offen bleiben. Aber "?" und "F" können unterschiedslos in

jedem der anderen Plätze auftreten. Da acht Plätze zu besetzen sind und da für jeden Platz zwei

mögliche Wahlen bestehen, gibt es für jeden Platz 28, d.h. 256 mögliche Wahlen für seine

Besetzung. Rosser meint, daß sie alle den allgemeinen Sinn der Konjunktion in einer drei­

wertigen Logik erfüllen.

Dieser Anspruch war leicht zu widerlegen, wenn man, wie es McCulloch tat, die Auffassung

von transklassischer Logik, die der Autor in "Cybernetic Ontology and Transjunctional

Operations" gegeben hatte, für richtig hielt. Um zu zeigen, daß Rossers Interpretation von

Konjunktion zu großzügig ist, besetzte der Autor die Matrize folgendermaßen:

27

Page 25: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

1

2

3

1

1

3

3

2

3

2

3

3

3

3

2

Um die ontologischen Folgen zu vermeiden, die aus Rossers Gebrauch der Symbole W für

Wahrheit, (?) für Wahrscheinlichkeit oder Modalität, und F für Falschheit zu ziehen sind,

werden hier die Werte in der gleichen Anordnung mit den ersten drei ganzen Zahlen bezeichnet.

Diese Wertwahl verträgt sich ganz und gar mit Rossers Bestimmung des Sinns von Konjunk­

tion. Aber es besteht dennoch nicht die entfernteste Möglichkeit, diese Aufstellung als die

Matrize eines konjunktionalen Funktors zu deuten. Um auch nur im mindesten den Sinn von

Konjunktion zu geben, müßte eine dreiwertige Logik die Struktur der Konjunktivität wenigstens

in einer der Alternativen: 1 oder 2, 2 oder 3, oder 1 oder 3 beibehalten. Das ist nicht der Fall,

denn für das zweiwertige System, das den ersten und den zweiten Wert umfaßt, bekommen wir

die morphogrammatische Struktur, die nur durch transjunktionale Wertbesetzung ausgefüllt

werden kann. Für das durch 2 und 3 konstituierte System erhalten wir eine morphogrammati­

sche Struktur für Wertbesetzung, die für den Fall der Äquivalenz erforderlich ist, und für das

letzte zweiwertige System, 1 und 3, erscheint wieder die morphogrammatische Struktur der

Transjunktion.

Aber angenommen, Rosser hat recht und wir haben es in einem dreiwertigen System wirklich

mit 256 möglichen Arten von Konjunktion zu tun - was sollen wir mit diesem verwirrenden

Reichtum anfangen? Rosser selbst gibt die Antwort: "Apparently the only thing that can be done

about the matter is to pick out the 'and' that one likes best, and try to ignore the rest." [11]

McCulloch wies daraufhin, daß die Willkürlichkeit, die Rosser vorschlug, bei der Entwicklung

einer grundlegenden Theorie der natürlichen Zahlen nicht am Platze wäre. Aber dann sagte er

nachdenklich: Es deutet auf irgend etwas in der Beziehung zwischen Materie und Form. Der

Autor ist sich nicht ganz klar, ob das genau die Wortwahl McCullochs war; wie auch immer, er

fragte seinen Mentor, was er meinte, worauf McCulloch zur Erklärung dann eine lange Ge-

28

Page 26: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

schichte anspann, die weit über das hinausging, was der Autor aus dem Aufsatz "What Is a

Number that Man May Know it ...?" gelernt hatte. Schließlich sprang ein Funke tentativen

Verstehens vom Sprecher auf den Hörer über: McCulloch sprach über Hermeneutik und über

die Möglichkeit, daß, wenn man Zahlen hermeneutischen Prozeduren unterwürfe im Sinn von

Diltheys 'Verstehen', daß dann für den Wissenschaftler die Kluft zwischen Natur und Geist

definitiv schließen würde. Die Idee einer grundsätzlichen "Arithmetisierung" der Geisteswissen­

schaften schien dem Autor damals nicht nur bizarr, sondern geradezu unerhört, und er wider­

sprach deshalb heftig. McCulloch antwortete auf keinen seiner Einwände und fragte nur etwas

barsch: Und was sagst Du zu Rossers "sidewise motion"? (Der Leser, der nicht mit Rossers

Essay bekannt ist, sollte darüber informiert werden, daß Rosser in seinem Aufsatz in seiner

etwas lockeren Manier sagt, daß eine Art "sidewise motion" erfolgt, wann man antürliche

Zahlen auf eine mehrwertige Logik abbildet.)

Es ist nicht die Absicht dieses Essays, die Theorien des Autors darzustellen, sondern die

philosophische Tiefe McCullochs und wieviel der Autor ihm geistig verdankt. Darum wollen

wir zu den Bemerkungen zurückkehren, die er über die untergründigen Zusammenhänge

zwischen Arithmetik und der Hermeneutik der Geisteswissenschaften machte. Von Dilthey ging

er zurück zu Hegel. Er behauptete, daß die idealistische und die materialistische Interpretation

von Hegel gleichermaßen unhaltbar wären, denn sowohl im Idealismus wie im Materialismus

würde vorausgesetzt, daß seine Äußerungen sich auf das bezögen, was da ist, anstatt auf das,

was das Universum für das Gehirn bedeutet. Jedenfalls sieht Hegels Philosophie Existenz als

einen Kontext von angebbaren Fakten. In dieser Beziehung war Hegel noch abhängig von Kant,

der zwei fruchtbare Dämonen zeugte ("... Kant ... spawned two fertile succubi"), wie wir in

"The Past of a Delusion" lesen. [12] - "One category, the Forms of Sensation, pervaded the

Dynamic Ego as Unconscious Mind. Upon her Freud begat his bastard, Psychoanalysis. The

other, Causality, the Category of Reason, flitted transcendentally through Hegel's Dialectical

Idealism. Upon Causality herself Karl Marx begat his bastard, Dialectical Materialism." [13]

Der Autor war damals ein überzeugter Verteidiger der Theorie der Dialektik und fragte McCul­

loch, ob die Dialektik, von der er in "Embodiments of Minds" eine sehr geringe Meinung zu

haben schien, in einer nicht ontologischen, sondern hermeneutischen Alternative von Idealismus

und Materialismus eine Rolle spielen würde. McCulloch gab zu, daß das wohl so sein könnte,

29

Page 27: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

vorausgesetzt, daß man eine befriedigende Deutung für die däÖQisxoc, öväc,, die "unbestimmte

Zweiheit" der griechischen Philosophie finden könnte. Nach Aristoteles' "Metaphysik" nannte

Plato die Formen Zahlen und lehrte, daß jede Zahl zwei konstituierende Elemente besitzt: die

Eins oder Einheit, von Aristoteles als formales Element bezeichnet, und ein anderes, das er ein

materiales Konstiruens nennt. Dies letztere hält man für die geheimnisvolle (MÖQISTOC, öväc;.

Es ist natürlich anzunehmen, daß die Dialektik ihre Wurzel in einer Zweiheit hat. Hier müßte

also eine erneute und kritische Analyse der Dialektik einsetzen. McCulloch schien sehr vertraut

mit dieser Vorgeschichte der Zahlentheorie, äußerte aber einigen Zweifel, ob man das Problem

der unbestimmten Zweiheit schon richtig verstanden hatte. Er war bereit zuzugeben, daß das

Zeugnis des Aristoteles über das, was Plato gesagt hat, unanfechtbar sei, aber eine andere Frage

schien zu sein, was Plato wirklich gemeint hat. Der Autor hatte die diesbezüglichen Abschnitte

in Aristoteles' "Metaphysik" genau gelesen und sah sich nun genötigt, McCulloch seinen

Eindruck mitzuteilen, daß Aristoteles Piatos Überlegungen hinsichtlich der Zahlentheorie total

mißverstanden hat. Aristoteles selbst bezieht sich auf Piatos Vorlesungen in der Akademie als

der "ungeschriebenen Lehre" (ayQacpa 66y\iaza), was hieß, daß Plato keinen schriftlichen

Text seiner Vorlesungen hinterlassen hatte. Darum überlieferten seine Hörer verschiedene

Versionen seiner berühmten Vorlesung "Über das Gute", die den Studenten Piatos bis zur

Gegenwart Rätsel aufgegeben hat.

McCulloch kannte Alfred North Whiteheads Aufsatz "Mathematics and The Good" [14] genau.

Whitehead hält sich ganz nah an die Tradition, die die Platonische "Zweiheit" in Verbindung zu

dem "Unbestimmten" oder "Unbegrenzten" (arceipov) der Pythagoraer setzt. Er interpretiert

das folgermaßen: "The notion of the complete self-sufficiency of any item of finite knowledge

is the fundamental error of dogmatism. Every such item derives its truth, and its very meaning,

from its unanalyzed relevance to the background which is the unbounded Universe. Not even

the simplest notion of artithmetic escapes this inescapable condition for existence." [15]

McCulloch konnte diesem Standpunkt nicht ganz zustimmen. Zu Recht hat Seymour Papert

darauf hingewiesen, daß McCulloch und Pitts in der berühmten Arbeit von 1943 bewiesen

haben, daß ein logischer Kalkül, mit dem man irgendeine Theorie des Bewußtseins verkörpern

konnte, einigen sehr allgemeinen Prinzipien von Endlichkeit ("some very general principles of

finitude") Genüge tun müßte. [16] An eine solche Beschränkung der Unbestimmtheit der

30

Page 28: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

"unbestimmten Zweiheit" dachte McCulloch, als er die überlieferten und geläufigen Inter­

pretationen von Piatos Zahlvorstellungen in Frage stellte. Es war ihm klar, daß im Grunde der

Unterschied zwischen Plato und Aristoteles der ist, daß Aristoteles nur einen einzigen Begriff

von Zahl zuließ: eine gradweise Häufung von gleichen Einheiten (uovaöiKÖc, apiCuöc,), daß

dagegen Piatos Philosophie einen zweiten Zahlbegriff besäße, der das Resultat des Bruches

zwischen dem Reich der Idee und unserer empirischen Existenz ist. Er bestand energisch darauf,

daß der Autor sich intensiver mit der philosophischen Seite der Zahlentheorie beschäftigen

sollte, als ihm dieser von Hegels Spekulation über ein "zweites" System der Mathematik

erzählte, "welche dasjenige aus Begriffen erkennt, was die gewöhnliche mathematische Wissen­

schaft aus vorausgesetzten Bestimmungen nach der Methode des Verstandes ableitet". [17] Mit

diesem "zweiten" System der Mathematik im Hintergrund drängte er den Autor, seine Vorstel­

lungen über die Verbindung zwischen Zahl und logischem Begriff weiterzuentwickeln. Man

kam bald überein, davon auszugehen, daß die Notation des binarischen Zahlensystems auf

interessante Weise mit der Methode zusammenfiel, durch welche zweiwertige Wahrheitstafeln

im Aussagenkalkül den Sinn von logischen Begriffen wie Konjunktion, Diskunktion, Im­

plikation usw. darstellten. Man brauchte nur die Wertfolgen auf ihre morphogrammatischen

Strukturen zu reduzieren, von denen man acht erhielt, um zu sehen, daß eine eigentümliche

Übereinstimmung bestand zwischen der Methode, die die binarischen Zahlen von 0 - 1 1 1

erzeugt, und den acht vierplätzigen Morphogrammen, die nur die Idee der Gleichheit oder

Verschiedenheit von Plätzen benutzen.

Wir brauchen hier nicht alle folgenden Schritte der Arbeit zu wiederholen, denn sie sind vom

Autor unter dem Titel "Natural Numbers in Trans-Classic Systems" im Ersten Band des

"Journal of Cybernetics" fast ohne philosophischen Hintergrund berichtet worden. [18] Fast -

d.h., daß allerdings der formale philosophische Begriff der Universalkontextur eingeführt

wurde. Aber weder auf Piatos a&OQiSTOC, öväc, noch auf Hegels Idee einer "philosophischen

Mathematik" als logisch verschieden von der überlieferten Mathematik wurde Bezug genom­

men. Es gab auch keinen Hinweis auf das allgemeine Prinzip der Endlichkeit, das für den oben

erwähnten Artikel im "Journal of Cybernetics" ganz wesentlich war. Tatsächlich hätte der

Artikel nie geschrieben werden können ohne die Kenntnis von McCullochs Ideen über Endlich­

keit. Es soll hier versucht werden, diese Ideen aus dem Gedächtnis zu wiederholen, weil das,

31

Page 29: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

was McCulloch entwickelte, vom dem Gedankengang abzuweichen scheint, der sich in "Embo­

diments of Mind" findet.

Nach einer tentativen Diskussion von Hegels transklassischem Konzept der Mathematik nahm

McCulloch das Problem der Endlichkeit wieder auf, indem er eine damals neue Arbeit von C.C.

Chang "Infinite-Valued Logic as a Basis of Set Theory" heranzog. [19] Er und der Autor waren

sich einig, daß Changs Arbeit vom Standpunkt der Endlichkeit her kritisiert werden müsse, weil

Chang ohne weiteres Lukasiewicz' philosophisches Theorem übernommen hatte, daß nur drei

Systeme der Logik ontologisch relevant seien: das zweiwertige, das dreiwertige und das mit

einer unendlichen Anzahl von Werten. [20] Er findet Lukasiewicz' Folgerung ganz stichhaltig

und vernünftig, solange man alle Werte außer Wahr und Falsch "zwischen " zwei klassische

Grenzwerte setzt. Daß eine zweiwertige Logik und ein System mit unendlich vielen Werten

ontologisch relevant sind, versteht sich von selbst. Aber warum außer diesen nur ein drei­

wertiges System? Diese Behauptung von Lukasiewicz kann man wie folgt interpretieren: Da

die Anzahl der Werte zwischen Wahr und Falsch ein Kontinuum darstellt, kann jeder individu­

elle Wert dazwischen, der aus der Totalität der Werte gewählt wird, nur durch einen Dedekind-

schen Schnitt erhalten werden. Dieser Schnitt und nicht die Zahl, die man durch ihn erhält, ist

der gewünschte dritte Wert! Wenn wir also einen vierten, einen fünften und einen sechsten usw.

Zwischenwert hinzufügten, würden wir in logischem Sinn nur die Information wiederholen, die

uns der Schnitt gebracht hat. Und da - um es noch einmal zu sagen - der Schnitt selbst, und

nicht die Resultate des Schnittes, der dritte Wert ist, würde die Wiederholung des Schnittes trotz

eines verschiedenen Zahlenergebnisses logisch betrachtet (nicht arithmetisch) denselben Wert

ergeben. Von hier aus gesehen hat es Sinn, daß Lukasiewicz behauptet, daß nur drei Systemen

der Logik philosphische Bedeutung zugesprochen werden könne. Das Gespräch wandte sich

dann dem Faktum zu, daß der Autor in mehreren Arbeiten gezeigt hatte, daß Mehrwertigkeit

auch anders aufgefaßt werden könnte. Wenn man alle Werte mit ganzen Zahlen bezeichnet und

mit 1 anfängt, kann man alle transklassischen Werte nicht "zwischen" 1 und 2, sondern

"jenseits" von 2 ansetzen. Dies "jenseits" führt unvermeidlich zu einer anderen Interpretation

von mehrwertigen Systemen.

An dieser Stelle möchte der Autor anmerken, daß er im Anfangstadium seiner Untersuchung der

32

Page 30: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Mehrwertigkeit geglaubt hatte, man käme zu der einzigen legitimen ontologischen Deutung der

Mehrwertigkeit, wenn man zusätzliche Werte ganz jenseits der Alternative von Wahr und

Falsch ansetzte. Es war McCulloch, der ihn eines Besseren belehrte. Er ließ ihn sehen, daß in

einem mehrwertigen System, das nach dem Konzept des Autors als eine Ordnung von ontologi­

schen Orten der Zweiwertigkeit zu verstehen ist, jedes zweiwertige System zusätzlich

Lukasiewicz-Werte zwischen Wahr und Falsch enthalten könne. Diese Anregung erwies sich

später als äußerst nützlich, und noch kürzlich hat sie dem Autor geholfen, ein spezifisches

Phänomen der transklassischen Logik zu verstehen, das sonst vielleicht nicht zu deuten gewesen

wäre.

Damals führte das neue Verständnis der Mehrwertigkeit nicht viel weiter. Vorläufig bestand nur

eine allgemeine Übereinstimmung zwischen McCulloch und dem Autor, daß Mehrwertigkeit

ein zweideutiger Begriff sei. Jede Theorie hatte in Betracht zu ziehen, daß zwei Arten von

Mehrwertigkeit unterschieden werden müssen. Darüber hinaus bestand noch wenig Klarheit.

Damals spielte McCulloch mit dem Gedanken der Triaden, und der Autor erinnert sich deutlich

an den Tag, an dem McCulloch sagte: "Gotthard, you can do everything with triads!" Der Autor

war nicht überzeugt; der Satz roch zu sehr nach Post und Lukasiewicz. Doch er schwieg,

McCulloch klang zu emphatisch. Es muß die richtige Diplomatie gewesen sein, denn später -

er erinnert sich nicht mehr, wie viel später - erklärte McCulloch mit gleichem Nachdruck:

"Triads are not enough." Der Autor kann sich denken, was den Meinungswechsel verursacht

hatte. Es war, erstens, die erneute Diskussion der Arbeit von Chang und, zweitens, eine erneute

Analyse der Bedeutung der Zahl im Platonischen System. Wir beginnen mit Chang. Er führt in

seiner Arbeit eine Menge X ein, die er die Menge der Wahrheitswerte der unendlichwertigen

Logik nennt. Zur Diskussion endlichwertiger Logiken betrachtet er eine Folge von Untermen­

gen von X, so daß für jedes Xn

C« = \ f f ' ^ T i ' ^ 2 ' Aj

33

Page 31: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Jede Menge Xn gilt als die Menge der Wahrheitswerte einer n-wertigen Logik. Wenn n=2,

werden natürlich alle Funktionen ihren traditionellen zweiwertigen Charakter und Sinn anneh­

men. Diesem Vorgehen liegt genau derselbe Standpunkt zugrunde, den Lukasiewicz einnimmt.

Alle Werte dieser pseudo-transklassischen Logik haben ihren ontologischen Ort zwischen den

Grenzwerten 0 und 1. Mit anderen Worten: sie sind auf endliche Untermengen des Kontinuums

bezogen. Damit wird es unmöglich, die Unendlichkeit aus der fundamentalen philosophischen

Theorie logischer Werte herauszuhalten.

Andererseits ist das menschliche Bewußtsein, die Quelle der logischen Werttheorie wie der

Theorie der natürlichen Zahlen, ein endliches System des Gehirns ("Why the Mind Is in the

Head"). [21] Obwohl das System endlich ist, kann es als seinen Inhalt solche Begriffe zweiter

Ordnung hervorbringen wie abzahlbare und unabzählbare Unendlichkeiten. Wenn der Autor ihn

richtig verstand, nahm Mc Culloch eine äußerst revolutionäre Haltung ein. Bisher hatten

Philosophen, ohne weiter nachzufragen, immer angenommen, daß das Endliche in dem einge­

bettet sei, was wir das Unendliche nennen. Nach McCulloch müßte diese Ordnung umgekehrt

werden und die Unendlichkeit, ihres primordialen Ranges beraubt, nur als abgeleitetes Er­

zeugnis des endlichen Bewußtseins angenommen werden, das selbst ein Produkt des ebenso

endlichen physischen Gehirns ist. Es wurde immer deutlicher, daß McCullochs letzter Begriff

der Einheiten, die die Wirklichkeit ausmachen, nicht das Reich der Ideen war - weder im

Platonischen noch im Aristotelisch-Hegelschen Sinn - , sondern der "Pythagoreische" Begriff

der Zahl. Im Laufe der Jahre war seine Auffassung von Zahlheit von der Auffassung weg­

geglitten, die er in "What Is a Number, that Man May Know It...?" geäußert hatte. So kam es

dem Autor jedenfalls vor. Als er zuerst über Zahlen nachdachte, geschah das gegen den noch

unbezweifelten metaphysischen Hintergrund, daß alle Endlichkeit im Unendlichen eingebettet

ist. Als der Autor ihn das letzte Mal sah, schien er die entgegengesetzte Haltung eingenommen

zu haben. Er schien zu glauben, daß die letzte Wirklichkeit nur als Endlichkeit verstanden

werden könne, und daß eine als Unendlichkeit verstandene Wirklichkeit bloße Mythologie sei.

Zu diesem Schluß wurde der Autor durch die Diskussion von Whiteheads "Mathematics and the

Good" gebracht, die natürlich zu Piatos Vorlesung IIe?i Tayaüou ("Über das Gute") führte, und

zu den modernen Versuchen, diesen Text wiederherzustellen.

34

Page 32: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Plato beginnt mit der Frage: Was sind die letzten Bausteine des Universums? Die konventionel­

le Plato-Interpretation begnügt sich mit der etwas groben Antwort, daß diese Bausteine die

Ideen sind. Aber wenn die Ideen ein geordnetes System in der Gestalt einer Pyramide präsentie­

ren, mit der einen Idee des Guten an der Spitze und einer Mehrheit von anderen Ideen darunter,

dann taucht das Problem der metaphysischen Zahl auf, und wir werden über die Sphäre der

Ideen hinweggetragen zu der allerletzten Frage: Was ist das Verhältnis zwischen Einheit und

Mannigfaltigkeit? Mit anderen Worten: unser Denken kommt nicht zum Stillstand, bis es den

Begriff erreicht, der gemeinhin und vage als natürliche Zahl bekannt ist. Es war McCulloch

sofort klar, daß unsere gewöhnliche Vorstellung von der Anrodnung der natürlichen Zahlen in

einer Peano-Folge die philosophische Reflexion nicht befriedigen kann, denn es wäre absurd,

auch die Ordnung der Ideen sich als Peano-Folge vorzustellen. Von der Idee des Guten breiten

sie sich aus in einer Anordnung, die mehr oder weniger angemessen als Pyramide beschrieben

wird. Leider machen die Berichte über Piatos Vorlesung nicht klar, wie er selbst das Verhältnis

zwischen Zahl und Idee bestimmt hat. McCulloch, der Kybernetiker, deutete es aus rein syste­

matischen Gründen als Reduktion. Die Analyse der Ideen führt zu einem vor ideativen System

von nur zahlenmäßig zu definierenden Beziehungen. Eine andere, bis zur Antike zurück­

zuverfolgende Deutung, daß Ideen nur Zahlen sind, schätzte er nicht. Die Ideen konnten nicht

die letzten Bausteine des Universums sein - dazu waren sie viel zu komplex. Leider wußten

weder McCulloch noch der Autor damals, daß, kurz bevor sie ihr Gespräch über natürliche

Zahlen hielten, der deutsche Philosoph Klaus Oehler eine Arbeit mit dem Titel: "Der entmytho­

logisierte Piaton" veröffentlicht hatte. [22] Dieser profunde Aufsatz scheint McCullochs

Standpunkt vorweggenommen zu haben. Was Oehler sagt, ist so wichtig, daß es hier wiederholt

werden soll: "Die Entfaltung der Einheit zur Vielheit und die Teilhabe des Vielen an dem

übergeordneten Einen bestimmen den gegliederten Aufbau des Ideenkosmos. Nun geht aber

weder der Aufstieg zu den umfassenden Begriffen ins Unendliche fort, noch geschieht das bei

dem Abstieg zu dem Einzelnen. Der Aufstieg ist begrenzt durch den allgemeinsten und umfas­

sendsten Begriff, das ev, der Abstieg ist begrenzt durch das jeweils letzte eiöoc,. Das bedeutet

aber, daß die Ordnung der Ideen zahlenmäßig bestimmt ist. Folglich ist jede Idee durch die Zahl

von Inhalten, die sie umschließt und an denen sie teil hat, eindeutig festgelegt. Jede Idee ist also

durch eine Zahl bestimmt und ist als solche zahlenmäßig bestimmbar, angebbar. Diese numeri­

sche Fixiertheit verleiht der Ordnung der Ideen ihre rationale Klarheit, ihre Durchsichtigkeit und

35

Page 33: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Übersichtlichkeit. Ist das Mannigfache der sinnlichen Wahrnehmung, nur durch die Teilhabe an

der Idee das, was es ist, so ist die Idee nur durch die Teilhabe an der zahl das, was sie ist. Mithin

muß die Zahl vor der Idee sein. Die Ordnung der Zahlen ist der Ordnung der Ideen überge­

ordnet, weil überlegen. Das bedeutet aber: Die Ideen sind nicht das Letzte und mithin nicht die

Prinzipien des Seienden." [23]

Es ist leicht zu erkennen, daß es Oehler zum Begriff der Endlichkeit zieht, der McCulloch so

teuer war, wenn er darauf hinweist, daß der Aufstieg zum Einen sowohl als der Abstieg zum

Besonderen immer endlich sind. Das schließt natürlich nicht aus, daß jede solche Endlichkeit

durch eine zahlenmäßig größere Endlichkeit ersetzbar ist. Unendlichkeit jedoch ist nichts als die

andauernde subjektive Erwartung, daß keine gegebene Endlichkeit die letzte ist. Es ist falsch,

dem Begriff des Unendlichen letzte ontologische Bedeutung zuzuschreiben. Rückblickend

scheint es, daß McCulloch sich mit solchen Gedanken in die Höhe des mathematischen Intui-

tionsimus und seiner Kritik der transfiniten oder aktuellen (extensionalen) Unendlichkeit

begeben hätte. Logisch gesprochen ist Existenz Konstraierbarkeit.

Exkurs

Vor der Besprechung des Oehler-Zitats wird es nicht nur wünschenswert, sondern notwendig

sein, in diesen Bericht über McCulloch einen Exkurs über den Sinn des Terminus 'Zahl'

einzufügen. Denn ein moderner Mathematiker wird wahrscheinlich Einwände gegen die Art und

Weise haben, wie dieser Begriff bisher benutzt worden ist - nicht nur von McCulloch, sondern

auch vom Autor und Oehler. Die nächstliegende Frage ist diese: Warum wurde, nachdem die

Ideenlehre eine gewisse Reife erreicht hatte, der Begriff der Zahl so wichtig für Plato? Eine

annehmbare Antwort ist, daß die Frage nach der individuellen Idee mehr und mehr an Gewicht

verlor zugunsten der Untersuchung des inneren Zusammenhangs und der systematischen

Ordnung aller Ideen. Das führte selbstverständlich zur Suche nach der allgemeinsten und

zugleich elementarsten Form von Ordnung. Dafür bot sich die lineare Ordnung an, die durch

den einfachen Prozeß des Zählens geliefert wurde. Aber schon die Pythagoräer - und Plato war

mit ihrer Zahlentheorie vertraut - hatten entdeckt, daß diese primitive Ordnung eine außer­

ordentlich tief gehende Behandlung erlaubte, die letzten Endes jedes Ordnen von noch-nicht-

36

Page 34: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Geordnetem umfaßte.

Ein solcher Begriff von Ordnung geht weit über das Prinzip der Quantität hinaus und kann auf

viele Weisen bestimmt werden. McCulloch bestand darauf, daß jedes Ordnungsprinzip sich auf

die vertraute Ordnung der natürlichen Zahlen zurückfuhren lassen müsse. Ob man die Reihe mit

0 oder mit 1 beginnt, ist natürlich reine Konvention, nur darf es zu keiner Verwechslung des

metaphysischen Nichts mit der 0 der Zahlenreihe kommen. Diese Unterscheidungen blieben in

den Diskussionen mit McCulloch immer etwas vage, aber er ließ keinen Zweifel, daß er die

Kluft zwischen Zahl und Begriff niemals als endgültig betrachtete, sondern war davon über­

zeugt, daß sie überbrückt werden könnte. Hierin sah er die Bedeutung der Transzendental­

philosophie, von der er glaubte, daß sie die Vereinigung von Geistes- und Naturwissenschaften

herbeiführen würde. Beide entspringen - so argumentierte er - einem gemeinsamen Grund: der

Elementareinheit, die in ihrer Ursprünglichkeit ununter scheidbar von jeder anderen Einheit ist.

Daher sind die Ur-Einheiten an sich ungeordnet und können eben aus diesem Grunde benutzt

werden, um ein Ordnungssystem für das Reich der Ideen herzustellen. Schon in ihrem ersten

Anfang sah sich die griechische Mathematik einem fast unüberwindlichen Problem gegenüber:

wie sollte man die Beziehung zwischen der Einheit im geometrischen Sinn zu der Einheit im

arithmetischen Sinne verstehen? In der Pythagoräischen Mathematik des fünften Jahrhunderts

ließ man den geometrischen Punkt der arithmetischen Bedeutung von 1 entsprechen. Mit

anderen Worten: Die Zahl 1 bezeichnet einen wirklichen Punkt in der objektiven Welt. Ein

Punkt ist die kleinste Größe, der wir begegnen. Die Schwierigkeiten, die sich aus dieser Mei­

nung ergaben, sind zu bekannt, sie hier zu erwähnen. Es genügt daraufhinweisen, daß Aristote­

les diese Erkenntnisattitüde mit der Formulierung /uov&Q exovvöa Cßöiv (die Einheit mit

Örtlichkeit) festlegte.

Hier wird der dialektische Mechanismus, der in jeder Reflexion steckt, sichtbar, und es erhebt

sich das Gegenargument, daß ein Punkt, der mit der Zahl 1 identifiziert ist, nicht eine minimale

Menge von Objektivität ist, sondern Abwesenheit von Objektivität. Mit anderen Worten: es ist

eine Dualität erforderlich, um eine Zahl als Quantität hervorzubringen. Wenn man das weiß,

wird man den Punkt eher der 0 entsprechen lassen als der 1.

37

Page 35: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Wenn wir heute behaupten, daß wir die erste Zahl sowohl 0 als I nennen können, mag das auf

eine Weise eine Konvention sein, aber es ist auf eine andere Weise keine Konvention, weil es auf

die besondere Beziehung zwischen der Ureinheit und dem Nichts verweist.

Es wäre schön, wenn man in einer zusammenhängenden Erzählung zeigen könnte, wie McCul­

loch seine vielen philosophischen Gedanken über die Zahl miteinander verband. Aber das

würde die Situation verfälschen und soll darum vermieden werden.

Die Verbindung mit Oehlers Plato-Interpretation liegt nahe. Der Unterschied zwischen der

geometrischen und der arithmetischen Bedeutung der Zahl enthält eine unauflösliche Zweideu­

tigkeit, und dies führt zu dem Paradox, daß Zahlen zu einer geeigneten strukturellen Basis für

philosophisches Denken werden und damit zu einer möglichen Verbindung zwischen Natur- und

Geisteswissenschaften.

Da Ureinheiten sich nicht voneinander unterscheiden, sind sie als Bausteine von Gedanken­

gebäuden gleichgültig gegen die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften, wie

wir oben gesagt haben. Begriffliche Unterscheidungen entstehen nur, wenn man Einheiten nach

einem neuen Prinzip ordnet, und eine Ordnung ist immer Sache der Deutung. Wenn die Urein­

heit als Punkt im Raum verstanden wird und man eine ontologische Deutung wählt und wenn

wir 0 als Ausgangspunkt unserer vertrauten Zahlenfolge betrachten, dann haben wir unsere

Deutung umgedreht und unser erstes Symbol designiert - um in Platonischer Terminologie zu

sprechen - nicht eine gegenständliche Einheit, sondern den Beginn des subjektiven Zählaktes

(biaiQeßicJ.

Aus dieser Zweiteilung führt der Weg entweder zu den Naturwissenschaften oder zu den

Ge isteswissenschaften.

Mit dieser These, daß nicht das Endliche im Unendlichen enthalten ist, sondern daß vielmehr

das Unendliche - ganz gleich, ob als potentiell oder aktuell aufgefaßt - metaphysisch nur ein

untergeordnetes Element der Endlichkeit ist, erwies sich McCulloch als Metaphysiker ersten

Ranges. Diese Auffassung von Metaphysik war dem Autor neu, obwohl er glaubte, selber in

38

Page 36: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

"Cybermetic Ontology ..." mit dem Rejektionswert einen metaphysischen Ausbruch aus der

klassischen Tradition bewirkt zu haben. Aber mit seiner Umkehr der gegenseitigen Rollen von

Endlichkeit und Unendlichkeit ging McCulloch weit darüber hinaus. Wann immer in der

Geschichte der Philosophie der Sinn des Absoluten zum Thema wurde, würde man an dem

Verstand eines Philosophen gezweifelt haben, wenn er das Absolute für ein Endliches erklärt

hätte und behauptet, daß die Haupteigenschaft der empirischen Welt ihre Unendlichkeit sei.

Leider ging McCulloch bei dieser Besprechung nicht ins Einzelne, und der Autor hielt ihn nicht

dabei fest, denn er hoffte später eine bessere Gelegenheit zu finden, eine genauere Erklärung

dieses überraschenden und paradoxen Theorems zu erbitten. Aber dazu kam es nicht.

Es gab nur eine leise Andeutung von Erklärung in McCullochs Bewertung der Platonischen

Gegenüberstellung des Einen und der äÖQißxoc, övdg, der unbestimmten Zweiheit. Er billigte

die Aristotelische Ansicht, daß diese Zweiheit nur ein materialer Bestandteil sei. Um es anders

zu sagen: eine Zahl als Wesenheit entsteht durch die tatsächliche Bestimmung einer bestim­

mungsfähigen Möglichkeit. Und das Vehikel dieser Bestimmung ist immer Eins. Dieser

Aristotelischen Interpretation stimmte McCulloch zu, wenn auch nicht ohne Bedenken. Immer

wieder sagte er dem Autor, daß bei dieser Überlegung etwas übersehen würde und daß sie den

Unterschied nicht deutlich begründete, der zwischen dem Schritt von 1 zu 2 im vertrauten Sinn

einer Peano-Folge, und dem Schritt von der Einheit zur Zweiheit besteht, in dem anderen Sinn,

in dem die Zweiheit bereits ein grenzenloses Mannigfaltiges impliziert. Es ist schon früher

bemerkt worden, daß Aristoteles sich vielleicht nicht ganz klar war über den Unterschied

zwischen "unbestimmter Zweiheit" und der Zahl 2. [24] Da er das wußte, gab der Autor McCul­

lochs neuem Gesichtspunkt mehr Gewicht, als er sonst vielleicht getan hätte. Er beschloß,

veranlaßt durch den neuen metaphysischen Gesichtspunkt von McCulloch, eine neue Inter­

pretation der natürlichen Zahlen zu suchen, auf der Basis einer mehrwertigen Logik und

kenogrammatischem Hintergrund. Er suchte und erhielt McCullochs Einverständnis, Barkley

Rossers Weg nicht zu folgen, sondern eine andere Methode zu wählen. In Rossers Arbeit war

die unbestimmte Zweiheit nicht erwähnt, während sich McCulloch und der Autor darin einig

waren, daß der Sinn dieses Terminus den Schlüssel zu dem ganzen Problem enthielt. Weil

Aristoteles das Problem nicht verstand, kam er nur zur Erkenntnis dessen, was er die "ma­

thematische Zahl" nannte, die nichts anderes ist als das, was wir Peano-Zahlen genannt haben.

39

Page 37: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Wenn wir Aristoteles folgen wollten, würden die anderen Zahlen, die Zahlen der Platonischen

Idealität, die die Ordnung der Ideen bestimmen, keinerlei logische Legitimität besitzen. Das war

nach McCulloch unannehmbar, denn die Ordnung der Peano-Zahlen war ihrem Wesen nach

unfähig, den begrifflichen Reichtum des Systems der Ideen wiederzugeben. Nach McCullochs

Meinung war Rossers Zahlentheorie noch Aristotelisch. Mit einigem Zögern entschloß sich der

Autor nun, die reine Logik zu verlassen und sich mit der Zahlentheorie zu befassen, obwohl er

von anderer Seite gewarnt wurde, daß sein Mangel an mathematischem Training nur zu einem

abgrundtiefen Scheitern fuhren könnte. Mit seiner ersten Skizze, die er "Proto-Zahlen" nannte,

ging er zu McCulloch, erzählte ihm von der empfangenen Warnung und gab seine mathemati­

sche Imkompetenz umstandslos zu. Er konnte aber im gleichen Zug darauf hinweisen, daß

dasselbe Argument gegen die entsprechenden Bemühungen der Mathematiker vorgebracht

werden könnte. Seit Frege hat man versucht, der Mathematik eine sichere logische Grundlage

zu geben, aber es kann kaum bestritten werden, daß die Logik, die diesen Versuchen zugrunde

lag, nirgendwo über Leibniz hinausging und daß die Mathematiker weder die transzendentale

Wendung, die der Deutsche Idealismus gebracht hatte, noch das Problem der Dialektik und den

Unterschied zwischen Platonischer und Hegelscher Dialektik verstanden. Hier stand eine

fachliche Inkompetenz gegen die andere, und man konnte nur hoffen, daß bessere Zusammen­

arbeit zwischen Mathematik und Philosophie zu etwas Lohnendem fuhren würde. McCulloch

ermutigte den Autor weiterzuarbeiten, und der nahm es als Teil der Ermutigung, daß McCulloch

zwei oder drei seiner Mitarbeiter und Freunde einlud, denen der Autor seine Ideen vorstellen

sollte. Er hat jetzt vergessen, wer außerdem zuhörte, aber er erinnert sich, daß Professor Manuel

Blum da war. Er berücksichtigte alles, was McCulloch über die unbestimmte Zweiheit gesagt

hatte, ging auch auf das Ergebnis der Diskussionen über Hegel ein und versuchte dann den

nächsten Schritt zu einer transklassischen Theorie natürlicher Zahlen. Geleitet von Hegels

Dialektik sagte er dann, daß der Vorgang der Addition von 1 zu einer vorangehenden Zahl

zweideutig sei: er könne entweder als "iterativ" oder als "akkretiv" aufgefaßt werden. Wenn

man von 1 zu 2 gehe, sei die so gewonnene Zweiheit in der Tat unbestimmt, aber nicht in dem

Sinne, den Plato (nach seinen Interpreten) gemeint hat. Diese Interpreten sind gewöhnlich der

Ansicht gewesen, daß für Plato der Schritt von 1 zu 2 nur der Schritt von der Einheit zur

Mannigfaltigkeit war und daß die Unbestimmtheit des Mannigfaltigen, zu der dieser Schritt

führte, eben nicht positiv festgelegt werden könnte. Sie könnte alles sein: 2, 3,4 usw.

40

Page 38: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Gegen diese Deutung spricht, daß sie nicht zur Dialektik führt, und Plato war ein Dialektiker.

Seine Ideenlehre zeigt deutlich dialektische Struktur, und wenn die Ordnung der Ideen durch

Zahlen bestimmbar ist, so müssen die Zahlen selber dialektische Struktur zeigen. Diese Folge­

rung hatte McCulloch in den Diskussionen mit dem Autor nicht nur zugestanden. Mehr noch:

er hatte sogar darauf hingewiesen, ehe sich der letztere über sie klar war.

Die dialektische Behandlung - 'dialektisch' im kombinierten Sinn von Plato und Hegel -

impliziert, daß der Vorgang der Addition 1+1 = 2, auf zweierlei Weisen gedeutet werden muß:

die beiden 1-en können einmal als identisch und dann auch als nicht-identisch vorgestellt

werden. Dies geschieht, indem man einmal das Faktum ignoriert, daß die zweite 1 ein Repetitor

der ersten 1 ist, das andere Mal aber den repetetiven Charakter der zweiten Einheit nicht

ignoriert. Das Resultat ist in beiden Fällen verschieden. Welche Deutung auch gewählt wird, das

Resultat ist in beiden Fällen eine Dualität. Aber Dualität würde nun zwei Bedeutungen tragen;

das Wichtige war, einen Ausdruck zu finden, der den Bedeutungsunterschied berechenbar

machte.

Hier half eine Bemerkung, die McCulloch etwa ein Jahr früher nebenher gemacht hatte und die

der Autor zunächst übersehen hatte. McCulloch hatte gesagt, daß ihm der Sinnunterschied ein

Qualitätsunterschied zu sein scheine in der Weise, wie Hegel im Beginn seiner Logik zwischen

Sein und Nichts als antithetischen Qualitäten unterscheide. Nur auf diese Weise könne man

verstehen, wie die Dialektik schließlich Qualitäten zu Quantitäten machen könne. Der Autor

fand diese Bemerkung äußerst dunkel und frag McCulloch, wie dieser dialektische Übergang

sich vollziehen könnte. Die Antwort war enttäuschend: "This is for you to find out." Bei einem

erneuten Versuch, wenigstens einen Hauch von Information herauszubekommen, wurde er an

eine frühere Unterhaltung über Heidegger und seine Behandlung des Nichts erinnert. [25] Das

schien ihm gar keine Hilfe. Aber dann wandte sich seine Aufmerksamkeit von der Zahl zurück

zu der Idee des Kenogramms. Kenogramme sind leere Plätze, die mit Werten besetzt sein

können oder nicht. Bis dahin hatte er gedacht, daß ein einzelnes Kenogramm immer nur von

einem Wert besetzt sein könnte. Jetzt fiel ihm ein, daß sich ein Kenogramm Zahlen gegenüber

vielleicht anders verhalten könnte, daß es der ontologische Ort nicht bloß für eine einzelne Zahl,

sondern für eine ganze Peano-Folge von natürlichen Zahlen sein könnte. Und da eine Peano-

41

Page 39: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Folge von unendlicher Ausdehnung ist, würde hier eine Illustration für McCullochs erregende

metaphysische These gefunden sein, daß nicht das Endliche vom Unendlichen umschlossen ist,

sondern alle Unendlichkeit als untergeordnetes Element der Endlichkeit verstanden werden

muß, d.h. als Kenogramm. Dieser Einfall war so aufregend, daß der Autor etwas tat, was er nie

zuvor und wohl auch später nie getan hatte: er rief McCulloch an, um seine Meinung zu hören.

Entgegen seiner Erwartung war McCulloch nicht hingerissen, sondern hatte alle möglichen

Fragen, wie ein einzelnes Kenogramm definiert werden könnte als eine alles enthaltende

Domäne, die einen nie endenden Zählprozeß erlaubt. McCulloch erinnerte daran, daß in der

ursprünglichen Konzeption des Kenogramms nichts war, das an eine solche Eigenschaft denken

ließ. Der Autor muß gestehen, daß er sich einigermaßen enttäuscht fühlte, als er den Hörer

auflegte. Aber seine Achtung vor dem Scharfsinn McCullochs war so groß, daß er sich sofort

daran machte, das Problem neu zu durchdenken. Sehr bald verkehrte sich seine ursprüngliche

Enttäuschung in tiefe Dankbarkeit, denn McCullochs Kritik führte ihn zum Begriff der Uni­

versalkontextur. Er ist überzeugt, daß er diesen Begriff nie gefunden hätte, wenn es ihm nicht

vergönnt gewesen wäre, McCullochs Gedanken über den metaphysischen Rang von Endlichkeit

und die telefonisch gegebenen Informationen zu hören. Dankbar bezeugt er, daß McCulloch

ebenso viel Anteil an der Schöpfung des Begriffs der Universalkontextur als Gegensatz zum

bloßen Kontext hat wie er selbst. Darum scheint es angemessen, den Unterschied zwischen

einem bloßen Kontext und einer universalen Kontextur hier darzustellen.

Wenn sich zum Beispiel in einem Gerichtshof die Frage erhöbe, ob der Angeklagte schuldig

oder nichtschuldig ist, dann würde es sinnlos sein zu antworten: 'nein, er ist breitschultrig'. Mit

anderen Worten: die Alternative 'schuldig oder nichtschuldig' gehört in den Kontext, den das

Strafrecht beschreibt. In gleicher Weise kann die Frage: 'ist die Geschwulst in diesem Mann

bösartig oder nicht?' nicht beantwortet werden mit dem Satz: 'nein, er ist ein Dichter', denn die

aufgeworfene Alternative gehört in den Kontext der Pathologie. In beiden Fällen muß die

Antwort einem Tertium-non-datur gehorchen, das sich auf einen übergeordneten Gesichtspunkt

bezieht, der im ersten Fall das Kriminalgesetz, im zweiten die Pathologie ist. Die Alternativen

mögen sehr eng sein oder weite Allgemeinheit zeigen, sie konstituieren einen bloßen Kontext,

solange es noch einen übergeordneten Gesichtspunkt für sie gibt. Erst wenn es grundsätzlich

unmöglich ist, einen übergeordneten Gesichtspunkt zu finden, der den Sinn des Tertium-non-

42

Page 40: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

datur für die in Frage stehenden Gegensätze bestimmt, - erst dann wird ein Kontext zu einer

Universalkontextur. Das klassische Beispiel für diese Situation ist Hegels "Alternative" zwi­

schen Sein und Nichts. Sie sind Alternativen, die einander ausschließen.

Niemand kann das bestreiten. Aber niemand kann einen metaphysischen Begriff denken, der

von größerer Allgemeinheit ist als diese beiden. Mit anderen Worten: Jeder von ihnen ergibt

eine gesonderte Universalkontextur. Wir können den Unterschied von Sein und Nichts nicht als

eine Alternative innerhalb eines Kontextes verstehen. Die Frage: innerhalb welchen Kontextes?

ist in diesem Fall nicht zu beantworten. Ahnlich lesen wir auch bei Lenin, daß für den Gegen­

satz von Bewußtsein und Materie kein Nenner von größerer Allgemeinheit existiert. Bewußtsein

und Materie sind nicht Elemente innerhalb eines Kontextes, sie sind Universalkontexturen, die

Kontexte mit beschränkten Alternativen in sich enthalten können. Lenin schließt aus dieser

Erkenntnis, daß der Denker, der diese Alternative erreicht hat, ans Ende seines theoretischen

Wegs angekommen ist und ihm nun nichts übrig bleibt als die Entscheidung, sich entweder als

Idealisten oder als Materialisten zu erklären. Hier ist nicht der Ort, um über die Legitimität oder

Illegitimität der Schlußfolgerung Lenins zu urteilen, aber dieses Beispiel zeigt, daß die Situa­

tion, die Hegel am Anfang seiner Logik beschreibt, unter radikal anderen Aspekten wieder

auftreten kann. [26]

Wenn der Leser glaubt, daß diese Überlegungen sich weit von jedem Inhalt der "Embodiments

of Mind" entfernen, so sei er an den Aufsatz "A Heterarchy of Values Determined by the

Topology of Nervous Nets" erinnert. Da hören wir: "An organism possessed of this nervous

system - six neurons - is sufficiently endowed to be unpredictable from any theory founded on

a scale of values. It has a heterarchy of values, and is thus internectively too rich to submit to a

summum bonum." [28]

Ein Summum Bonum benötigt eine Hierarchie von Werten mit einem absoluten Wert an der

Spitze. Das bedeutet logisch, daß es ein Tertium-non-datur geben muß, dessen letzter gemein­

samer Nenner "Sein" oder "Nichts" ist. Wenn jemand bestreitet, daß ein solcher Nenner denkbar

ist, würde der Anhänger der Hierarchie das gern zugeben, aber erklären, daß der letzte gemein­

same Nenner Gott selbst ist, Gott selbst als der Herr eines monokontexturalen Universums. Im

43

Page 41: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Gegensatz dazu postuliert McCullochs Heterarchie von Werten eine Wirklichkeit, die nur in

einem polykontexturalen Sinn gedacht werden kann. Anders ausgedrückt: die Welt, in der wir

leben, kann nicht als ungebrochener Universalkontext verstanden werden. Tatsächlich ist die

Bezeichnung "Universalkontext" an sich eine contradictio in adjecto. - Gewiß hat der Autor

schließlich den Unterschied zwischen Kontext und Kontextur formuliert, aber daß er es konnte,

dankt er der Vorarbeit, die McCulloch geleistet hatte.

Man kann noch auf andere Weise zeigen, wie nahe McCulloch der Unterscheidung zwischen

Kontext und Kontextur gekommen war. Er hatte eine erstaunliche Kenntnis der mittelalterlichen

Logik und sprach einmal über das berühmte neunte Kapitel von Peri Hermeneias und seinen

Einfluß auf die Logik des Mittelalters bis zu William Occam. Aristoteles hatte behauptet, daß

der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft logisch dadurch definiert werden könnte,

daß für alle Vergangenheit das Tertium-non-datur gültig und anwendbar ist. Für die Zukunft

dagegen ist das Tertium-non-datur zwar ebenso gültig, aber es ist nicht anwendbar. McCulloch

hielt diesen Unterschied für sehr wichtig zum Verständnis der Gegenwart, und das zeigt, wie

nahe er der Unterscheidung von Kontext und Kontextur kam, weil wir uns im Blick auf die

Vergangenheit auf das beziehen, was sich in einem Kontext ereignet hat. Wenn wir über die

Vergangenheit nachdenken, haben wir immer die wirklichen Inhalte einer Kontextur im Sinn,

wenn wir dagegen an die Zukunft denken, meinen wir nur einen noch leeren Universalrahmen,

der noch nicht mit Inhalten gefüllt ist, denn wenn er es wäre, wäre er nicht Zukunft. Bei Nieder­

schreiben dieser Zeilen ist sich der Autor nicht klar, wie weit er McCulloch vielleicht plagiiert,

weil er überzeugt ist, daß seine eigenen Gedanken wahrscheinlich nicht in diese Richtung

gegangen wären, wenn er nicht das Glück gehabt hätte, jene langen Nächte im Gespräch mit

ihm zu verbringen.

Es war nicht immer leicht, ihm zuzuhören, weil sein Denken, wie Seymour Papert richtig

bemerkt, auf sehr persönliche Weise gewürzt ("with a very personal flavor") war, was leicht zu

Mißverständnissen fuhren konnte. Ein Beispiel ist die Ankündigung, daß Endlichkeit metaphy­

sische Priorität vor dem Unendlichen eingeräumt werden müsse. Der Autor ist sich in keiner

Weise sicher, daß er die Bedeutung dessen, was McCulloch mit dieser Feststellung wirklich

meinte, voll und ganz verstanden hat. Es ist viel zu sehr eine bloße Behauptung, um eine

44

Page 42: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

vielschichtige Situation korrekt zu beschreiben. Aber es war eine der Anregungen, die ihm

halfen, zu seiner eigenen Unterscheidung von Kontexturalität und ihren potentiellen Inhalten zu

kommen. Eine Universalkontextur ist eine Endlichkeit, da sie nur ein Stück innerhalb einer

unbegrenzten Menge von Kontexturen ist. Sie ist gehalten und eingeschränkt durch die Grenze

zu der benachbarten Kontextur, aber ihre Aufnahmefähigkeit für Inhalte ist grenzenlos dank

dem besonderen Charakter ihres Terium-non-datur. Im Gespräch über die metaphysische

Priorität von Endlichkeit oder Unendlichkeit erwähnte McCulloch einmal nebenher Heideggers

"Seinsvergessenheit". Es ist keineswegs sicher, daß ihn der Autor richtig verstand, denn der

Morgen dämmerte, und er war übermüdet, aber es scheint, daß man Heideggers "Seins­

vergessenheit" nicht als einen Begriff verstehen sollte, der auf die Kontextur 'Sein' bezogen ist,

sondern nur auf deren Inhalte. Andererseits war es selbstverständlich, daß es sich um den

kontexturalen Rahmen handelte, wenn das Gespräch sich um Heideggers 'Nichts' drehte, denn

es würde sinnlos gewesen sein, von wirklichen Gegenständen zu sprechen, die das Nichts etwa

umfassen könnte. Ferner muß gesagt werden, daß der Ausdrack 'Universalkontextur' zu dieser

Zeit weder von McCulloch noch vom Autor benutzt wurde, weil keiner der beiden so weit war.

An seiner Stelle wurden ziemlich komplizierte Umschreibungen benutzt. Aber im Versuch, aus

seinem Gedächtnis das herauszudestillieren, was ihm die Essenz der Diskussion zu sein scheint,

findet es der Autor einfacher, diesen präziseren Begriff zu benutzen, der ganz gewiß ein Resultat

des geistigen Austausches zwischen McCulloch und ihm war.

Bei ihrem letzten Zusammensein - der Autor kam gerade von seinen jährlichen Skiferien zurück

- wurde beschlossen, daß er für die nächste Tagung der American Society for Cybernetics

(ASG) in Gaithersburg eine Arbeit über die Theorie der natürlichen Zahlen im Rahmen der

transklassischen Logik schreiben sollte. Der Autor erinnert sich, daß er schwere Zweifel hatte,

daß diese Arbeit für das Third Annual Symposion of the American Society for Cybernetics

fertig sein würde. Infolge seiner Zweifel informierte er McCulloch, daß er noch nicht wüßte, ob

er in der Lage sein würde, der Society rechtzeitig etwas vorzuweisen. Es zeigte sich später, daß

sein Pessimismus ungerechtfertigt war, und innerhalb der gegebenen Zeit beendete er zunächst

den zweiten Teil des oben schon erwähnten Textes, der später in der Juli-September Ausgabe

von 1971 des Journal of Cybernetics erschien. McCulloch konnte es nicht mehr lesen. Er war

inzwischen in Europa gewesen, und nach seiner Rückkehr erkundigte er sich, ob der ver-

45

Page 43: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

sprochene Beitrag eingereicht worden sei. Das wurde dem Autor am ersten Tage des Sympo­

sions berichtet, an dem McCulloch nicht teilnehmen konnte, weil er am 24. September 1969 auf

seiner Farm in Old Lyme, Conn., gestorben war.

Als das Papier schließlich mit einem Teil I veröffentlicht wurde, der dem nun als Teil II geführ­

ten ursprünglichen Text vorausging, fügte der Verfasser eine Fußnote an, die besagte, daß die

im ersten Teil ausgesprochenen Ideen größtenteils einem nächtlichen Gespräch entstammten,

das der Verfasser Ende Febraar 1969 mit McCulloch gehabt hatte. Seitdem sind mehr als fünf

Jahre vergangen und seine Erinnerungen an McCulloch haben eine neue Dimension gewonnen.

Jetzt weiß er, daß er McCulloch viel mehr verdankt, als die Fußnote ausdrückt. Das Reifen

seiner Erinnerungen hat ihm klar gemacht, daß McCullochs Einfluß nicht nur in einem Teil der

Arbeit spürbar ist, sondern in beiden. Dieser große Mensch und Gelehrte besaß die bemerkens­

werte Gabe, in seinem Kreis Ideen und Bewegungen zu entwickeln, die seine Gesprächspartner

ohne seine Hilfe nie zur Reife hätten bringen können. Der Autor dieser Erinnerungen hat sich

bemüht zu zeigen, wie McCulloch dadurch, daß er selbst tief in den philosophischen Aspekt der

Endlichkeit schaute, im Geist seines Zuhörers die Vorstellung erweckte, daß unser Universum

nicht aus einer einzigen Kontextur besteht, sondern ein Netzwerk von Endlichkeiten ist, die teils

aneinander grenzen, sich teils überschneiden und im Fall von Verbundskontexturen sogar

elementare Kontexturalitäten umschließen, kurz: einpoly-kontexturales Universum. Er bedauert

es tief, daß McCulloch den endgültigen Text nicht mehr gesehen hat und so sein Imprimatur

weder geben noch versagen konnte. Es scheint ihm, daß der Anstoß, den McCullochs Denken

auf philosophischem Gebiet gab, selbst von seinen Schülern und Bewunderern noch weit

unterschätzt wird. Er war ein so vielseitiger Denker, daß er rätselhaft wirkte; niemals zeigte er

alle Facetten seines Geistes einem einzelnen Gesprächspartner. Einem Neurologen war er ein

Neuerer in der Neurologie; einem Psychiater enthüllte er neue Gedanken über psychiatrische

Probleme; mit einem Mathematiker erörterte er die mathematische Seite seiner Arbeit, und mit

dem Autor traf er sich in der 'Höhle des Metaphysikers'.

McCulloch liebte es, im Gespräch eine enorme Menge von Gegensätzen zu berühren, und sein

schweifender Geist führte den Zuhörer manchmal ganz unerwartet zu Verbindungen, die weit

über konventionelle Assoziationen hinausgingen. Aber wann immer er auf das Problem letzter

46

Page 44: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

oder vorletzter Grundlagen zu sprechen kam, suchte er seine Daten im Reich der Zahlen, und

Zahl war für ihn unveränderbar mit Endlichkeit verbunden.

Einmal war ein Absatz in "Why the Mind Is in the Head?" über das Verhältnis von Quantität

und Zahl das Diskussionthema gewesen. Dort lesen wir: "In so-called analogical contrivances

a quantity of something ... is replaced by a number ... or, conversely, the quantity replaces the

number." [29] Als der Autor dem Beispiel der Hegeischen Logik folgend, vorschlug, daß man

auch der triadischen Beziehung zwischen Quantität, Zahl und Qualität einen genaueren Blick

widman wollte, ging McCulloch zu der Frage über, warum die Fähigkeit des Zählens in pri­

mitiven Gesellschaften oft sehr gering sei. Das elementarste Zählsystem arbeite ja nur mit drei

unscharfen Begriffen: Einheit, Zweiheit und allgemein Mannigfaltigkeit. McCulloch behaupte­

te, daß irgendetwas begrifflich nicht stimme, wenn Plato - wie die Tradition annimmt - die

allgemeine Mannigfaltigkeit in den Begriff der Zweiheit hereinnimmt, nur weil Zweiheit nicht

mehr Einheit ist. Die Schuld an diesem inkorrekten Schluß sei auf das Faktum zurückzuführen,

daß die klassische Logik nur zwei Werte und nichts darüber hinaus zuläßt. Aber, fuhr McCul­

loch fort, wenn ein endliches Zahlensystem um einen Zahlbegriff wachse, sei es nicht mehr

dasselbe System, sondern es sei, logisch gesprochen, in seiner Ganzheit ein neues Zählsystem!

Und wann immer man eine Einheit hinzufüge, sei es nicht ein Additionsprozeß im herkömm­

lichen Sinn, durch den wir eine gegebene Menge vergrößern, indem wir gerade 1 hinzufügen.

Vielmehr verließen wir durch die Addition die zahlenmäßige Darstellung einer gegebenen

begrifflichen Ordnung und bewegten uns zu einem anderen begrifflichen Zusammenhang mit

einer irgendwie höheren Komplexität. Das bedeutet, daß sagen wir die Zahl 3 in einer Zahlen­

ordnung, die bis zu 4 geht, logisch nicht mehr identisch mit der 3 wäre, die in einem System

erscheint, das bis zu 5 zu zählen erlaubte. Um alle die logisch unterscheidbaren Systeme

endlichen Zählens zu einer unendlichen Peano-Folge zusammenzuschmelzen, müsse man die

meisten logischen Besonderheiten unterdrücken, die mit der Zahl als metaphysischem Begriff

verbunden gewesen seien. Eben deshalb sei die Zahl als Mittel des Denkens in der Ontologie in

Mißkredit geraten und habe der konventionellen Sprache bei der Darstellung metaphysischer

Begriffe weichen müssen.

Der Autor muß gestehen, daß er diese Bemerkungen aus dem einen oder anderen Grund verges-

47

Page 45: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

sen hatte, als er "Natural Numbers in Transclassic Systems" schrieb. Aber er wurde peinlich

daran erinnert, als er später versuchte, seinen Zahlbegriff auf Hegels System der Dialektik

anzuwenden. Erst dann wurde ihm klar, daß McCullochs verwundernder Ausspruch - wonach

eine 3 in einem System, das nur bis zu 4 zu zählen erlaubt, logisch nicht identisch ist mit der 3

in einem System, wo das Zählen bis zu 5 erlaubt ist - mit der Tatsache in Zusammenhang

stand, daß eine gegebene Zahl sogar in ihrer eigenen Ordnung von Zahlheit etwas von ihrer

rigiden Identität verliert, wenn sie auf eine mehrwertige Logik abgebildet wird. Es war offen­

kundig, daß Zahlen auch dann ihre Positionen nicht "der Länge nach" ändern können, wenn sie

auf ein transklassisches System der Logik abgebildet werden. Eine 3 blieb immer eine 3 und

konnte nicht den Platz der 4 einnehmen. So blieb 1 + 1 immer 2, aber wenn der Platz für 2 nicht

ein fester Punkt auf einer sozusagen horizontalen Linie war, konnte man immer fragen: auf

welchem Punkt der Linie die 2 ihren Platz hatte. Dann konnten die Zahlen je nach ihrem

Standort verschiedene Bedeutungen haben. Mit anderen Worten: jedes Zahlensystem von

endlicher Länge stellte sich dem Philosophen als eine deutbare Ordnung dar. So war sogar

schon die Zahl 2 offen für begriffliche Deutungen. Von diesem Standpunkt aus war es offen­

kundig, daß ein System von höherem Zahlenwert in einem metaphysischen Sinn mehr Deu­

tungschancen bot und daß deshalb mit der Addition einer nachfolgenden Zahl das vorige

System semantisch verworfen wurde, daß also jeder spezifische Begriff von Welt sein eigenes

Zahlensystem hatte, das auf seine philosophischen Bedürfnisse zugeschnitten war. Wenn wir

hier den Ausdrack 'Zahl' gebrauchen, dann muß verstanden sein, daß wir damit nicht das

meinen, was Aristoteles "mathematische Zahl" oder "aus 1-en aufgebaute Zahl" (fxovaöiKÖg

OCQICHÖC,) nennt, sondern was wir hier esoterische Zahl nennen wollen, dem terminologischen

Gebrauch folgend, in dem die Vorlesungen von Plato, die er nicht selbst aufgeschrieben hat,

oftmals seine esoterische Lehre genannt werden. Die imbestimmte Zweiheit ist zum Beispiel

eine solche esoterische Zahl. Und so jede Zahl, die die Distanz zwischen dem universalen Einen

(ev) und dem letzten einzelnen, dem Zufall unterliegenden el6o<; ausmißt. Es ist klar, daß die

Aristotelischen Zahlen empirische Gegenstände oder Gegebenheiten unserer Welt zählen und

daß die esoterischen (Platonischen) Zahlen nur mit dem Reich der Ideen befaßt sind.

Viel von dem, was über den Unterschied des Zählens nach Aristotelischer oder Platonischer

Weise gesagt wurde, blieb dem Autor zu der Zeit, als er es hörte, dunkel, und er ist sich nicht

48

Page 46: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

sicher, wieviel von dem folgenden Bericht über die Philosophie der Zahl McCullochs bzw. sein

eigenes Verständnis des Problems ist. Es sollte auch hinzugefügt werden - und'das beunruhigt

ihn im Rückblick - , daß in seinen Gesprächen mit McCulloch keiner von beiden je den Begriff

des Kenogramms erwähnte. (Außer in einem Telefongespräch.) Das ist in doppelter Hinsicht

sehr beunruhigend für ihn gewesen, denn erstens fand er den Gebrauch von kenogrammatischen

Strukturen unvermeidlich, um das zu Papier zu bringen, was er von McCulloch über Zahlen

gelernt hatte, und zweitens ergab sich keine Gelegenheit, ihn zu fragen, was er mit dem Unter­

schied zwischen Zahlen innerhalb des Raums eines Kenogramms und Zahlen, die die Keno­

gramme zählen, machen würde. Seit dieser Zeit ist dieser Punkt überaus bedeutend geworden,

viel mehr, als der Autor in früheren Jahren angenommen hatte, und auch das verhindert seine

Erinnerung an McCullochs grundlegende philosophischen Konzepte. Nur über eines ist er sich

sicher, daß McCulloch in seinen letzten Lebensjahren Klaus Oehlers Urteil zugestimmt haben

würde: "Ist das Mannigfache der sinnlichen Wahrnehmung nur durch die Teilhabe an der Idee

das, was es ist, so ist die Idee nur durch die Teilhabe an der Zahl das, was sie ist. Mithin muß

die Zahl vor der Idee sein. Die Ordnung der Zahlen ist der Ordnung der Ideen übergeordnet,

weil überlegen." [30]

Diese Verknüpfung von esoterischer Zahl und Idee scheint eine weitere Übereinstimmung mit

Oehlers Plato-Interpretation nahezulegen, daß nämlich esoterische Zahlenfolgen völlig von dem

Prinzip der Endlichkeit beherrscht werden. Wenn wir im täglichen Leben von natürlichen

Zahlen reden, nehmen wir selbstverständlich an, daß sie eine nicht endende Folge bilden. Aber

wenn wir Oehlers Interpretation Vertrauen schenken, dann steigt kein System esoterischer

Zahlen auf einem endlosen Weg zum Einen auf, noch kann es je ins Bodenlose versinken.

So sieht sich der irdische Denker einer merkwürdigen dialektischen Situation gegenüber. Er hat

die Wahl, die Peano-Folge als letzte Verwässerung esoterischer Zahlenordnungen aufzufassen,

bis zu einem Grade, wo sie für die Behandlung philosophischer Probleme nicht mehr taugen

und wo sie nur dazu gut sind, Geldmengen in Kassenabrechnungen oder Temperaturgrade auf

Thermometerskalen zu zeigen, oder für andere ähnliche Zwecke gut sind. Aber wir können sie

auch als das Material ansehen, aus dem wir esoterische Zahlenordnungen aufbauen, beginnend

mit Systemen mit minimaler Komplexität bis zu immer reicheren Strukturen höherer Ordnung.

49

Page 47: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Das produziert eine Skala, die von Endlichkeit zu Endlichkeit reicht! Ein unendliches System

esoterischer Zahlen ist undenkbar. Wenn wir versuchen, es zu denken, wenden wir unversehens

immer wieder die Zahlen der Peano-Folge an - was heißt: wir verlassen das Reich der Metaphy­

sik.

Was eben gesagt worden ist, ist wichtig, um die philosophische Radikalität von McCullochs

Prinzip der Endlichkeit zu erhellen, das ihn schließlich zu der Beobachtung führte, daß das

Endliche, metaphysisch gesehen, nicht in ein unendliches Absolutes eingebettet ist, sondern

daß, wo immer wir Begriffe von Transzendenz finden, diese endlich sind und das Unendliche

als ihren untergeordneten Inhalt umfassen.

McCulloch bemerkte nicht selten, daß es nötig sei, 'das Gespenst des Absoluten zu bannen',

weil das Absolute und die Unendlichkeit in der philosophischen Tradition unentwegt gleichge­

setzt werden. Heideggers Behandlung des Nichts schien ihm eine Bestätigimg seiner Ansichten.

Das war sehr schwer zu verstehen, besonders für jemanden, dem Heideggers Verachtung für ein

"rechnendes Denken" immer gegenwärtig war und der die strenge Kritik nicht vergessen

konnte, die McCulloch bei anderer Gelegenheit als Psychiater gegen Heidegger und sein Werk

geäußert hatte. Der Autor war verwirrt; aber er gewann einiges Verständnis, als McCulloch

gelegentlich bemerkte, daß Peanos Definition eines Fortschreitens, angewandt auf das System

natürlicher Zahlen, stillschweigend voraussetzte, daß wir wissen, was hell ist. Es war diese

Bemerkung, die dem Autor sehr half, als er im Verfolg von McCullochs Gedanken ein System

von transklassischen Zahlen entwickelte.

Um zu erklären, wie der Autor McCullochs Bemerkung zu Null und Nichts zu implementieren

versuchte, wird es zweckmäßig sein, mit Leibniz' dyadischer Zählmethode anzufangen:

Tafel I

1 (1)

1 1 (2) (3) 0 1

50

Page 48: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

1 1 0 0 0 1

1 1 0 0 0 0

1 1 1 1 0 1

(4) (5) (6) (7)

(8) (9) o o o

0 1 o o o

o o o o o o o o o o

Die linke Seite von Tafel I zeigt die Folge der natürlichen Zahlen in ihrer binarischen Form; auf

der rechten Seite notieren wir (immer in Klammern) dieselbe Folge in der herkömmlichen

dezimalen Schweibweise. Wenn wir die Leibnizsche Methode von der binarischen auf eine

ternarische Notation ausdehnen, dann erhalten wir

Tafel II

1

1 1 1 2 2 2 0 1 2 0 1 2

1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 0 0 0 1 1 1 2 2 2 0 0 1 2 0 1 2 0 1 2 0

1 1 0 0 0 0 0 1 ° °

Beiden Tafeln ist etwas gemeinsam: a) 0 tritt niemals an der ersten Stelle einer vertikalen

Kolonne auf; und b) kann jede Zahl des Systems (außer 0) an jedem beliebigen Platz der

vertikalen Folge auftreten.

Jedoch besteht ein bedeutungsvoller Unterschied zwischen beiden Tafeln: da keine Folge mit 0

beginnen darf, kann es nie Redundanz der Strukturen in Tafel I geben; anders ausgedrückt:

51

Page 49: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

solange wir bei zwei Symbolen bleiben, kann unsere Darstellung einer Peano-Folge nicht

negiert werden, ohne daß unsere erste Regel verletzt wird. Tafel II zeigt ein anderes Bild. Wir

bemerken sofort, daß in der Gruppe der zweistelligen Folgen (dieses Mal aus Bequemlichkeit

horizontal angeschrieben) 1 0, 1 2,2 0 und 2 1 strukturell (morphogrammatisch) identisch sind;

das gleiche gilt für 1 1 und 2 2. In anderen Worten: was Tafel II zeigt, ist keine Sequenz, die aus

Kenogrammen aufgebaut ist. Diese Redundanz von Strukturmerkmalen würde auch in quaternä-

rer, quinternärer und jeder folgenden Leibnizschen Notation des Zählens auftreten.

Es versteht sich, daß in beiden Fällen (dargestellt durch Tafel I und Tafel II) der 0 eine sehr

spezifische Bedeutung zuerkannt wird: es wird a limine angenommen, daß ein unbegrenzter

Vorrat von Nullen zur Verfügung steht, der einen neutralen Hintergrund bildet, gegen den

Zahlen geschrieben werden können. Aber man kann die Null auch anders deuten!

Wenn man jedoch - mit mehr oder weniger Erfolgsaussicht - versucht, Piatos esoterische

Zahlen adäquat darzustellen (indem man als eine bloße Konvention dieselben Symbole benutzt),

muß man sich an zwei Regeln halten: erstens, jede Zahl muß mit 0 beginnen - als ein ein­

führendes Symbol, das als solches gekennzeichnet ist - und, zweitens, kein anderes Symbol darf

in der Darstellung auftreten, ehe es in unserer herkömmlichen Ordnung von Zahlzeichen 0, 1,2,

3 ... wenigstens einmal vorgekommen ist. 0 2 1 2 ist es nicht, weil sie lediglich die morpho­

grammatische Struktur der ersten vierstelligen Folge wiederholt. Es folgt, daß ein System

esoterischer Zahlen etwa die Form einer Pyramide haben und jede horizontale Schicht ein

verhältnismäßig unabhängiges Zahlensystem darstellen würde, das mit 0 anfinge und mit der

höchsten strukturell in dem System erlaubten Zahl endete.

Peano hatte drei primitive Begriffe benutzt:

Null

Zahl

Nachfolger

52

Page 50: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Da die Null keine Menge vertritt, war es selbstverständlich, daß seine Ausdrücke immer mit

einer Zahl beginnen mußten, die eine meßbare Menge bezeichnete. Die Null stellt hier nur einen

grenzenlosen Hintergrund dar, gegen den Zahlen sich abzeichnen konnten. Diese Bedeutung der

Null ändert sich natürlich, wenn die Unterscheidung zwischen Vordergrund und Hintergrund

unwichtig wird, im Versuch, eine quantitative Ordnung von Symbolen zur Darstellung von

Struktur zu benutzen. Es versteht sich, daß eine solche Kombination von Menge und Struktur

immer einen höchsten Zahlenwert haben muß. Und da McCulloch schließlich die Unterschei­

dung von Iteration und Akkretion gut geheißen hatte, war immer die Frage, wieviele Struktur­

differenzen zwischen der 0 der Akkretion und dem höchsten Wert unterzubringen wären.

Tafel III

0 0 0 0

A 0 0 0 1

0 0

A / \

0 0 0 0 0 1

A A/1

0 . 0 0 0 0 0 1 1 1 0 1 2

A 0 1 2 3

0 1

A / 0 1 0

0 0 1 1 0 0 0 1

h 0 ' 1 0 0 0

> ^

0 1 1

0 1 0 2

0 1

^ A 1 1 1 1 0 1

^

^0 1 1 2

^ ^ A ^

1 2 0

— « ^ _ A= 1 2 1

^r-1 2 2

0 1 2 3

53

Page 51: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Tafel III versucht ein Platonisches System von esoterischen Zahlen für ein Maximum von vier

Stellen darzustellen. Sie zeigt dasselbe wie eine Sektion der Tafel VII in Teil II von "Natural

Numbers in Transclassic Systems". Ob McCulloch diese Tafel als Darstellung einiger seiner

Ideen anerkannt hätte, werden wir leider nie wissen.

Tafel III dieses Berichts gibt wenigstens eine Andeutung, was er gemeint haben könnte mit

seinen Reflexionen, daß jeder Weg, das Absolute zu verstehen, endlich sein müsse; aber

andererseits sagt Tafel III auch, daß einige Vorsicht nötig ist, wenn wir die klassische These

umkehren wollen, daß alle irdische Existenz Endlichkeit und als solche vom unendlichen

Absoluten umfangen ist. Es ist wahr, daß das Absolute, wann immer und wo immer wir uns ihm

gegenüberzustellen versuchen, das Gesicht der Endlichkeit zeigt. Aber Tafel III zeigt auch, daß

es zu den Attributen des Absoluten gehört, daß jeder finite Aspekt, den wir an ihm entdecken,

von einer nichtendenden Reihe von Aspekten höherer Komplexität gefolgt ist.

An dieser Stelle tritt ein verwickeltes Problem der Zahlentheorie auf, indem die Zahlen, die den

Zuwachs an Akkretion ausmachen, die esoterischen Zahlen sind. Denn die Zahlen, die uns zur

Verfügung stehen, wenn wir die Sequenz der esoterischen Zahlensysteme zählen, sind die

Zahlen der nicht-esoterischen Peano-Ordnung.

Es ist schwer zu sagen, wie weit McCulloch sich dieser Seite des Problems bewußt war. Der

Autor hoffte, nach der Rückkehr des Freundes aus Europa Klarheit darüber zu gewinnen. Er hat

ihn nicht wieder gesehen. Trotz der Ungewißheiten vielen über McCullochs Weltanschauung ist

der Autor überzeugt, daß er zu den hervorragensten Gestalten dieser Epoche der Philosophie

gezählt werden muß. Aber daß er als solche in Kreisen der Berufsphilosophen anerkannt worden

wäre, auch wenn er weniger schweigsam über Philosophie gewesen wäre, ist sehr zu bezweifeln.

Seine sich stetig vertiefende Überzeugung, daß das letzte Schlüsselwort der Philosophie nicht

IDEE, sondern ZAHL ist, ist immer noch Anathema in den Departments für Philosophie.

Genauso wie in den Geisteswissenschaften. Der Autor selbst bekennt, daß er, ehe er das Glück

hatte, McCulloch zu kennen, wohl mehr oder weniger höflich das Gesprächsthema gewechselt

haben würde, hätte jemand vorgeschlagen, daß wir in der Metaphysik Zahlen benötigen, um

Ideen zu verstehen; statt zu sagen, daß Ideen nötig sind, um Zahlen zu verstehen. Erst durch

54

Page 52: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

McCulloch wurde ihm klar, daß es ein tragischer Irrtum der westlichen Zivilisation war, der

Idee metyphysischen Vorrang vor der Zahl einzuräumen und daß von eben dieser Bevorzugung

der verhängnisvolle Brach zwischen Natur- und Geisteswissenschaften herrührt. In McCulloch

war kein solcher Brach. In den Augen des Autors macht ihn allein diese kühne Umkehr in der

Rangordnung von Idee und Zahl zu einem Philosophen von bedeutendem Format. Es ist

unmöglich, die philosophische Bedeutung im Detail zu ermessen, weil das eine Sache zukünfti­

ger historischer Entwicklung ist. Vorläufig herrscht ganz entschieden der traditionelle Stand­

punkt vor. Aber mit Sicherheit kann man sagen, daß McCullochs Werk und die philosophische

Haltung, die ihm zugrunde liegt, die Bedingungen für eine vollständige Revision der logischen

Grundlagen in den Geisteswissenschaften geschaffen hat, und es hat zugleich einen Standard für

künftige kybernetische Arbeit gesetzt. Der Autor hat niemals seine Unzufriedenheit mit der

bedauernswerten Ärmlichkeit verhehlt, die auf dem Gebiet der Kybernetik an leitenden meta­

physischen Prinzipien besteht. Aber erst nach seinem Tod hat er gehört, daß McCulloch diese

Unzufriedenheit teilte und daß er das mit gleicher Heftigkeit tat. Schon lange vor dem Autor

hatte er erkannt, daß die Kybernetik nicht einfach eine neuartige technische Disziplin unter

andern war, sondern daß ihre zukünftige Entwicklung einen neuen philosophischen Begriff von

Wirklichkeit implizierte. Im Grunde ist sie nichts geringeres als eine neue Form philosophi­

schen Denkens in der Gestalt einer besonderen wissenschaftlichen Disziplin, weil ihr Ziel ist,

der philosophischen Methode durch Neurologie und verwandte Gebiete eine Präzision zu geben,

die sie vorher nie hatte.

Eine kurze Darstellung gewisser Folgen, die McCullochs Denken für ein der Kybernetik

fernliegendes Gebiet hat, mag ihre philosophische Wichtigkeit illustrieren. Es ist das Gebiet der

philosophischen Hermeneutik, wie es in der Historie und anderen Zweigen der Geisteswissen­

schaften angewandt wird. Zunächst erscheint es absurd, die Hermeneutik, wie sie Dilthey und

seine Nachfolger verstanden, mit arithmetischen Verfahren anzugehen. Eine Zahl ist immer, was

sie ist, und das Ergebnis einer arithmetischen Operation ist entweder wahr oder falsch - oder

unentscheidbar. Es besteht nicht der geringste Raum für 'Interpretation'. Aber wenn wir auf das

numerische System schauen, das in Tafel III entwickelt wird, genügt es nicht mehr zu sagen: das

ist 2, das ist 3, das ist 4 usw. Denn selbst bei der Addition 1 + 1=2 erhebt sich schon die Frage:

welche 2 meinst Du? 2 im iterativen, oder 2 im akkretiven Sinn? Wenn wir Tafel III von oben

55

Page 53: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

nach unten lesen, finden wir keinen Fall, in dem eine Zahl nur einen Nachfolger hat; sie hat

wenigstens zwei, meist sogar mehr. In Tafel III würde die voll akkretive Version von 4 zum

Beispiel fünf Nachfolger haben. Um diese Situation zu erreichen, braucht man nur die elementa­

re Dichotomie von Gleichheit und Andersheit anzuwenden. Das hat zur Folge, daß sich, mit 0

beginnend, eine immer wachsende Anzahl von Peano-Folgen nicht-esoterischer Zahlen in

verschiedenen Sequenzen esoterischer Zahlen ausbreitet. Indessen, wo es sich um ein gegebenes

System von esoterischen Zahlen handelt, ist das Nachfolger-Prinzip ein anderes als das eben

beschriebene. In diesen endlichen Zahlenfolgen, die wir horizontal lesen müssen, hat jede

"esoterische" Zahl einen und nur einen Nachfolger - außer der letzten, die ganz akkretiv ist und

deshalb gar keinen Nachfolger hat. Dementsprechend besitzt die erste, die ganz iterativ ist,

keinen Vorgänger. Daraus folgt, daß das Prinzip der Hermeneutik nur im Übergang von einem

endlichen System zum folgenden, das zunehmende Struktureigenschaften hat, seinen Ursprung

nimmt. Aber solange wir uns auf einem und demselben esoterischen Niveau bewegen, gilt das

Prinzip des einen Nachfolgers bedingungslos.

Wenn wir uns in Platonischen Termini ausdrücken wollen, können wir sagen, daß die esoteri­

schen Zahlen teilhaben (ueüe^ic,) an den "mathematischen" Zahlen des Aristoteles ((iOvaöiKOi

apiöfioi). Andererseits, wenn wir auf Tafel III eine Zahlenfolge nicht horizontal, sondern

vertikal ablesen, sehen wir, daß die steigende Vielfältigkeit der Peano-Folgen durch die Tatsa­

che bestimmt ist, daß jede von ihnen die waagrechte Ordnung an verschiedenen Punkten kreuzt.

Es ist diese Verkettung zweier verschiedener Zahlenordnungen, die der Zahl Eigenschaften

verleiht, die sie für Philosophie im allgemeinen und besonders für die Hermeneutik zu einem

nützlichen Werkzeug macht. Außer unter sehr spezifischen und einschränkenden Bedingungen

genügt es nicht mehr zu fragen: was ist die Zahl? sondern die Frage muß lauten: auf wieviel

Weisen kann sie gedeutet werden, hermeneutisch? Ein erster Schritt in diese Richtung ist eine

Beobachtung, die fast gleichzeitig von Heinz von Foerster und dem Logiker Bruno von Freytag-

Löringhof gemacht wurde. Sie informierten den Autor, daß der Unterschied zwischen völlig

iterativer und ganz akkretiver Zahl als die Differenz von Kardinalität und Ordinalität gedeutet

werden könnte. In der herkömmlichen Mathematik würde man natürlich schwerlich in diesem

Gegensatz eine Aufgabe für Deutung sehen. Was ihn zu einem hermeneutischen macht, ist die

Tatsache, daß Kardinal- und Ordinalzahlen durch "vermittelnde" Zahlen verbunden sind, die

56

Page 54: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

eine kardinale und eine ordinale Komponente haben. Das erfordert eine neue Art des Zahlenden­

kens - ein Umstand, den McCulloch wahrscheinlich klarer sah als irgend ein anderer Wissen­

schaftler seiner Zeit.

Es mußte so sein. Als Rufus Jones, der Quäker, ihn in seiner Jugend fragte, was er in seinem

Leben tun wollte, antwortete er, daß die Frage nach der Zahlheit der Leitstern seines Denkens

sein würde. Als der Autor ihn am Abend seines Lebens kennenlernte, war McCulloch der

selbstgewählten Aufgabe seiner Jugend treu geblieben.

Die Bezugnahme auf die Platonischen Zahlen mag den Gedanken nahelegen, daß McCulloch

grundsätzlich Platoniker war. Aber das wäre keineswegs richtig. Es war ihm klar, daß der strikte

Piatonismus einer vergangenen Epoche der Philosophie angehörte, die ihre Zeit gesehen hatte.

Für ihn bewegte sich die Philosophie noch zwischen zwei grundlegenden Fragen: hat die

Wirklichkeit ihre Wurzel in einem letzten unauflöslichen Zwiespalt oder in einer letzten

Übereinstimmung und Versöhnung aller Gegensätze? Die "Embodiments of Mind" lassen

annehmen, daß er mehr der Idee der schließlichen Versöhnung zuneigte. Im "Mysterium

Iniquitatis ..." lesen wir: "Cybernetics has helped to pull down the wall between the great world

of physics and the ghetto of the mind." Und: "So we seem to be groping our way toward an

indifferent monism." [31] Aber der Autor hörte am Ende der sechziger Jahre mitunter Aussagen,

die mit dem letzten Zitat eigentlich nicht übereinstimmten. Er erinnert sich einer Gelegenheit,

wo McCulloch die Psychoanalyse mit Feindseligkeit angriff und der Autor ihn auf einen kurzen

Satz in "The Past of a Delusion" hinwies, wo er gelesen hatte: "Upon Causality herself Karl

Marx begat his bastard, Dialectical Materialism." Der Autor, der sich niemals fur einen Marxi­

sten gehalten hatte, sondern für einen Hegelianer, verteidigte die Dialektik (ohne Rücksicht auf

die Unterscheidung zwischen dialektischem Idealismus und dialektischem Materialismus)

standhaft. Für ihn mußte jede transzendentale Theorie des Universums dialektische Struktur

haben. McCulloch leugnete die Gültigkeit dieser Haltung, aber die Frage interessierte ihn

genügend, daß sich eine Art Diskussion ergab. In deren Verlauf entwickelte er Gedanken, die

sich mit seiner Neigung zum Monismus schlecht vertragen. Der Autor ist sich nicht sicher, ob

sie einige wirkliche Überzeugungen und neue philosophische Einsichten ausdrückten oder ob

sie nur argumentative Strategeme waren, mit denen er seinen Gegner gewinnen und ihn von der

57

Page 55: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Dialektik abbringen wollte. Der Autor ist geneigt, das erstere zu glauben; aber er ist sich dessen

keinesfalls sicher.

Gelegentlich erwähnte McCulloch das Buddhistische Nirwana und behauptete, daß europäische

Gedanken über die Wirklichkeit zu eng mit der Idee der "Substanz" verbunden waren auf

Kosten der "Relation". Wie immer in seinen Gesprächen mit dem Autor holte er seine Beispiele

eher aus der formalen Logik und der abstrakten Zahlentheorie als aus der eigentlichen Kyberne­

tik. Als Kommentar zu seiner Vermutung, daß das Konzept der Substantialität auf Kosten des

Problems der Relationalität eine zu ausgedehnte Rolle in der westlichen Philosophie gespielt

habe, spekulierte er darüber, wie die Philosophie aussehen würde, wenn wir aufhörten, so viel

von letzten Bausteinen des Universums zu reden und stattdessen postulierten, daß es so etwas

nicht gäbe und daß jede angebliche letzte Einheit nur eine Relation zwischen noch

fundamentaleren Einheiten sei, und daß dieses Spalten der Bausteine ein nie endender Prozeß

wäre. Als gläubiger Dialektiker konnte der Autor nur zustimmen. Die Ansicht verträgt sich ganz

gut mit McCullochs Spekulationen über Zahl und Endlichkeit. Dagegen harmoniert sein

Nachsinnen über Substanz und Relation nicht mit dem Begriffeines "indifferenten Monismus",

denn es gibt keinen transzendentalen 'Raum', in dem der Unterschied zwischen Relator und

seinen Relata je verschwinden könnte. [32]

Leider bleibt ein Rest von Zweifel bestehen. Wie gewöhnlich zeigte sich McCulloch außer­

ordentlich abgeneigt, die Argumente seines Gegners zu kritisieren und ihm viel von seinen

eigenen philosophischen Ausflügen in letzte Gründe zu enthüllen.

Eines jedoch scheint gewiß - die philosophische Position, die in "Embodiments of Mind"

entfaltet wird, ist keine volle Spiegelung dessen, was McCulloch in den letzten Jahren seines

Lebens dachte. Er war nicht mehr sicher - wie wir noch in "Through the Den of the Metaphysi­

cian" lesen - , daß die anscheinenden Widersprüche im Licht größeren Wissens verschwinden

("the seeming contradictions vanish in the grace of greater knowledge"). [33] Sein Begriff von

Metaphysik hatte sich vertieft, und er sprach oft Behauptungen aus, die nur schwer in Einklang

zu bringen waren mit der Bemerkung in "Mysterium Iniquitatis of Sinful Man ...", daß Begriffe

metaphysisch sind, wenn sie dazu anleiten, in physikalischer Weise über sogenannte geistige

58

Page 56: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Ereignisse nachzudenken, ("they prescribe ways of thinking physically about affairs called

mental"). [34] Vieles, was er in seinen letzten Jahren sagte, läßt vermuten, daß für ihn solche

Begriffe metaphysisch waren, die sich auf eine Situation beziehen, in der es prinzipiell un­

möglich ist, Objekt und Subjekt einschließlich des Denkers zu trennen.

Es sind McCullochs Überlegungen über die gegenseitige logische Stellung von Substanz und

Relation, die den Autor zu dieser Folgerung führen. Relation kann auf keine Weise in Sub­

stantialität aufgelöst werden und umgekehrt. Andererseits hängen ein Relator und seine Relata

in ihrer Wirkung voneinander ab; keines läßt sich ohne Beziehung auf das andere denken. Sie

sind - wie Hegel sagen würde - dialektisch verbunden, und das Problem dieser Verbindung

definiert den metaphysischen Raum. Der Autor glaubt, daß McCulloch dem zuletzt zugestimmt

haben würde. Wenn man nun von der Unterscheidung zwischen 'physisch' und 'geistig' in

seiner früheren Definition dessen, was er bereit wäre, "metaphysisch" zu nennen, übergeht zu

dem rein logischen Kontrast zwischen Relation und Relator, dann muß offenbar auch der Sinn

des Ausdrucks 'metaphysisch' sich ändern. Im Sinne Hegelscher Logik kann der Unterschied

zwischen Relator und Relatum niemals "im Lichte größeren Wissens verschwinden". Während

nur Relata Substanz metaphysisch designieren können, deutet der Relator immer auf einen Akt

der Subjektivität hin. Das erfordert tiefere Einsicht in die philosophischen Probleme, als die

Kybernetik gegenwärtig besitzt.

Als dem Autor gesagt wurde, daß McCulloch ernstlich unzufrieden mit der Entwicklung der

Kybernetik war, konnte er das gut verstehen. Aber während er diesen Essay schrieb und ver­

suchte, McCullochs philosophische Reflexion in größere Tiefen zu verfolgen, hat er auch

gelernt, McCullochs Zurückhaltung zu verstehen, den Kurs zu kritisieren, den die Kybernetik zu

nehmen dabei war. In seinen letzten Jahren experimentierte er mit neuen Gedanken, hatte aber

noch nicht den Grad von Sicherheit erreicht, der es seinem Gewissen als Gelehrten erlaubt hätte,

seinen Zweifeln und Befürchtungen öffentlich Ausdrack zu geben.

Es mag möglich sein, ein klareres Bild von McCullochs letzten philosophischen Vorstellungen

zu zeichnen; aber das würde einen größeren Anteil von Interpretation auf Seiten des Autors

erfordern - in anderen Worten: es würde immer schwieriger geworden sein, zwischen dem zu

59

Page 57: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

unterscheiden, was McCulloch dachte, und dem, was der Autor glaubte, daß er dachte. Darum

ist größere Klarheit und Schlüssigkeit dem Ziel geopfert worden, wenigstens eine annähernde

historische Genauigkeit zu erreichen. Der Autor ist sich sicher, daß ihm das nicht in dem

wünschenswerten Grade gelungen ist, nur das weiß er, daß - nach den 'Klassikern' Piaton,

Aristoteles, Leibniz, Kant und Hegel - kein modemer philosophischer Denker größeren Einfluß

auf ihn ausgeübt hat als Warren Sturges McCulloch, dessen Erinnerung er immer bewahren und

verehren wird.

Anmerkungen zu "Zahl und Begriff'

[I] Gotthard Günther: Cybernetic Ontology and Transjunctional Operations. In: M.C. Yovits, G.T. Jacobi und G.D. Goldstein (Hrg.), Self-Organizing Systems 1962. Washington D.C.: Spartan 1962, Seite 313-392.

[2] Gotthard Günther: Die Aristotelische Logik des Seins und die nicht-Aristotelische Logik der Reflexion. In: Zeitschrift für philosophische Forschung Bd. 12, 1958, Seite 360-407.

[3] Warren St. McCulloch: Mysterium Iniquitatis of Sinful Man Aspiring into the Place of God. In: W.S. McCulloch: Embodiments of Mind, Cambridge, Mass.: M.I.T. 1965, Seite 157-164.

[4] A.a.O., Seite 158.

[5] Warren St. McCulloch: Through the Den of the Metaphysician. A.a.O., Seite 142-156.

[6] Warren St. McCulloch: What Is a Number, that a Man May Know It, and a Man, that He May Know aNumber? A.a.O., Seite 1-18.

[7] A.a.O., Seite 143.

[8] A.a.O., Seite XIX.

[9] Barkley Rosser: On the Many-Valued Logic. In: American Journal of Physics, Bd. 9, 1941, Seite 207-212.

[10] Oskar Becker: Einführung in die Logistik. Vorzüglich in den Modalkalkül, Meisenheim a. Glan: Westkultur Hain 1951.

[II] Barkley Rosser: On the Many-Valued Logic. A.a.O., Seite 209 (Sperrung von uns).

[12] Warren Stuges McCulloch: The Past of a Delusion. In: W. St. McCulloch: Embodiments

60

Page 58: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

of Mind, Cambridge, Mass.: M.I.T. 1965, Seite 276-306, Seite 297.

[13] A.a.O., Seite 297.

[14] Alfred North Whitehead: Mathematics and The Good. In: A.N. Whitehead: Essays in Science and Philosophy, New York N.Y.: Philosophical Library 1947, Seite 97-113.

[15] A.a.O., Seite 101.

[16] Warren St. McCulloch und Walter Pitts: A Logical Calculus of the Ideas Immanent in Nervous Activity. In: W.St. McCulloch: Embodiments of Mind, Cambridge, Mass.: M.I.T. 1965, Seite 14-39.

[17] G.W.F. Hegel: System der Philosophic Sämtliche Werke hrsg. v. H. Glocker Bd. 9, 3. Aufl., Stuttgart: Frommann 1958, Seite 84.

[18] Gotthard Günther: Natural Numbers in Trans-Classic Systems 1.2.1: Mathematico-Phi-losophical Prolegomena. 2: The Mapping of Natural Numbers onto Kenogrammatic Structures. Journal of Cybernetics Bd. 1, 1971, Seite 23-33 und 50-62.

[19] C.C. Chang: Infinite-Valued Logic as a Basis of Set Theory. In: C.C. Chang: Logic, Methodology and Philosophy of Science, Amsterdam: North Holland 1965, Seite 93-100.

[20] Vgl. dazu und zu den folgenden Bemerkungen Gotthard Günther: Die Theorie der "mehrwertigen" Logik. In: Rudolph Berlinger und Eugen Fink Hrsg.: Philosophische Perspektiven Bd. 3, Frankfurt am Main: Klostermann 1971, Seite 110-131.

[21] Warren St. McCulloch: Why the Mind Is in the Head. In: W. St. McCulloch: Embodi­ments of Mind, Cambridge, Mass.: M.I.T. 1965, Seite 72-141.

[22] Klaus Oehler: Der entmythologisierte Piaton. Zur Lage der Piatonforschung. In: K. Oehler: Antike Philosophie und byzantinisches Mittelalter. Aufsätze zur Geschichte des griechischen Denkens. München: Beck 1969, Seite 66-94.

[23] A.a.O., Seite 82.

[24] A.E. Taylor: Plato. The Man and His Work. New York: Dial 1927, Seite 512.

[25] Vgl. auch Martin Heidegger: Was ist Metaphysik? Frankfurt am Main: Klostermann 1951, Seite 22-38.

[26] Vgl. Gotthard Günther: Life as Poly-Contexturality. In: H. Fahrenbach (Hrsg.): Wirklich­keit und Reflexion, Festschrift für Walter Schulz, Pfullingen: Neske 1973, Seite 187-210.

[27] Warren St. McCulloch: A Heterarchy of Values Determined by the Topology of Nervous Nets. In: W. St. McCulloch: Embodiments of Mind, Cambridge, Mass.: M.I.T. 1965, Seite

61

Page 59: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

40-44.

[28] A.a.O., Seite 44.

[29] Warren St. McCulloch: Why the Mind Is in the Head. A.a.O., Seite 73.

[30] Klaus Oehler: Der entmythologisierte Piaton. Zur Lage der Piatonforschung. A.a.O.. Seite 82.

[31] Warren St. McCulloch: Mysterium Iniquitatis of Sinful Man Aspiring into the Place of God. A.a.O., Seite 163.

[32] Vgl. Gotthard Günther: Cognition and Volition. In: Cybernetics Technique in Brain Research and the Educational Process, 1971 Fall Conference of American Society for Cybernetics, Wahington D.C., Seite 119-135.

[33] Warren St. McCulloch: Through the Den of the Metyphysician. A.a.O., Seite 155.

[34] Warren St. McCulloch: Mysterium Iniquitatis of Sinful Man Aspiring into the Place of God. A.a.O., Seite 155.

62

Page 60: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Gotthard Günther

Information, Kommunikation und mehrwertige Logik1

Die exakte wissenschaftliche Behandlung der Probleme von Information und Kommunikation

ist relativ neu. Sie hat ihre erste Auswirkung - wie könnte es anders sein - in den mathematisch

orientierten Wissenschaften gezeigt. Jedoch erfordert die von C.C. Shannon 1948 präsentierte

Kommunikationstheorie [1] obwohl sie für ihre Zwecke reicht, eine zusätzliche Bearbeitung

von Logikern und Semantikern, um ihre volle Anwendung in den Humanwissenschaften wie in

der Philosophie wirksam werden zu lassen. Shannons Theorie läßt den Begriff Sinn in der In­

formation nicht zu, um das Phänomen mathematischen Mitteln zugängig zu machen, die derzeit

verfügbar sind. Wenn wir den Begriff Sinn wieder einführen wollen, müssen wir annehmen,

daß zwei Personen, die über einem Kommunikationsskandal miteinander in Kontakt stehen mit

dem expliziten Zweck, sinnvolle Information auszutauschen, in Besitz eines vorher aus­

gemachten Codes sind, um die Signale zu interpretieren, die sie erhalten. Wir alle haben solche

Codes in unserem gemeinsamen kulturellen Erbe und in den gesellschaftlichen Institutionen

(z.B. Erziehung) zur Verfügung, die den Hintergrund unserer Existenz repräsentieren.

Das kulturelle und philosophische Problem von Information und Kommunikation ist genauso

alt wie das früheste Bemühen des Menschen um Reflexion über sich selbst, seine Artgenossen

und die menschliche Gesellschaft, welche ihn beschützte und nötigte. Heute ist diese Frage

sogar akuter geworden. Theoretische genauso wie praktische Motive, die Natur von Kommuni­

kation zu studieren und - wenn möglich - zu verbessern, haben eine neue Dringlichkeit erreicht.

Auf der theoretischen Seite ist es der Aufstieg der philosophischen Anthropologie, die Fragen

stellt, die nur beantwortet werden können, wenn wir ein tieferes Verständnis bekommen, was

Information in Relation zum menschlichen Bewußtsein und Selbstbewußtsein bedeutet. Auf der

praktischen Seite ist es der gegenwärtige Zusammenprall diverser Ideologien und Weltbilder,

'Aus dem Englischen übersetzt von Ernst Kotzmann

63

Page 61: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

die im Osten und Westen entstanden sind. Der technische Fortschritt, der all die verschiedenen

menschlichen Gesellschaften und Kulturen zusammengeführt hat, die auf diesen Planeten ent­

standen sind, fordert zu einem Ideenaustausch und zu einer Kommunikation zwischen doch

größtenteils unversöhnlichen Anschauungen heraus. Unter diesen Umständen können wir der

Aufgabe nicht ausweichen, eine zuverlässige Kommunikationstheorie zu entwickeln, die uns

die Mittel zeigt, unzweideutige Information über die kulturellen Aspekte des menschlichen

Lebens zu vermitteln.

Wie oben ausgeführt wurde, ist in der gegenwärtigen Lage die Informations- und Kommuni­

kationstheorie noch nicht voll in der Lage, diese Arbeit zu leisten. Dies liegt größtenteils an

ihrer strengsten Abgrenzung: Sie ist nicht imstande, eine Definition der Beziehung zwischen

Information und Sinn (Bedeutung Anm.d.Ü.) zu geben! Tatsächlich beruht der Erfolg der von

Shannon und seinen Mitarbeitern entwickelten Theorie gerade auf der sorgfältigen Trennung

der beiden Konzepte und auf dem Ausschluß des Sinnbegriffes von den Formeln, die die Ge­

setze für die Übertragung von Information von ihrer Quelle zu ihrem Empfänger beschrei­

ben.Es ist offensichtig, daß dieser Zugang sowohl für die philosophische Anthropologie als

auch für die Kulturtheorie, die die Humanwissenschaften zu entwickeln versuchen, inadäquat

ist, Um eine Antwort zu geben, wollen wir das einfachst mögliche Schema darstellen, um zu il­

lustrieren, wovon Kommunikationstheorien handeln.

Kommunikationskanal Empfänger

I

Geräusch

Diese Skizze besteht im wesentlichen aus drei Teilen. Auf der linken Seite steht der Sender, der

eine Botschaft kreieren und senden kann. Der mittlere Teil repräsentiert den Kommunikations­

strom sowie das Medium, das ihn trägt. Dieser Strom kann gestört und daher die Botschaft

verzerrt werden durch ein "Geräusch", das auf den spezifischen Charakter des Medium zurück­

zuführen ist. Detailliertere Modelle, die üblicherweise dargestellt werden, brauchen wir für die

Illustration unserer Argumentation nicht.

64

Page 62: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Unsere Argumentation verläuft wie folgt: Die derzeitige mathematische Kommunikationstheorie

ist weder für die Philosophie noch für die Human (Kultur) Wissenschaft ausreichend, da der

Beobachter, der den Prozeß beschreibt und seine Formeln entwickelt, nicht mit der logischen

Position (dem logischen Ort, Anm. Ü.) des Senders identifiziert werden kann, und er auch

nicht in der Lage ist, den logischen Standpunkt des Empfängers einzunehmen. Sein Status in

der Theorie stellt ihn völlig außerhalb des Systems, das er beobachtet. Dies führt zu ver­

wickelten logischen Konsequenzen, wenn wir annehmen, daß der Ersteller einer kommuni­

kationstheoretischen Formel die Position einnimmt, daß Sender genauso wie Empfänger mit

demselben, oder zumindest approximativ mit demselben Grad logischer Organisation arbeite

wie er selbst als Außenbeobachter. Solange diese Annahme nicht gemacht wird, sind die Positi­

onen von Sender und Empfänger logisch reversibel [2]. Mit anderen Worten, in unserer Pro-

zeßbeschreibung ändert sich logisch nichts, wenn wir den Kommunikationsfluß in die entge­

gengesetzte Richtung fließen lassen. Es folgt, daß es keinen formalen, logischen Unterschied

zwischen Sender und Empfänger gibt sondern nur zwischen dem Kommunikationsprozeß und

den Systemen, welche einander Botschaften senden. Anders gesagt: Die derzeitige logische

Struktur der Kommunikations- und Informationstheorie ist strikt zweiwertig. Und diese Zwei­

wertigkeit ist keinesfalls davon beeinträchtigt, daß eine gegebene Botschaft durch verschiedene

Wahrscheinlichkeiten charakterisiert werden könnte. Diese Bemerkung ist deshalb wichtig, da

die irrige Meinung noch immer besteht, Wahrscheinlichkeiten könnten mit der Anzahl der

Werte, die einer Logik zugeordnet sind, gleichgesetzt werden [3].

Wir werden nun aber annehmen, daß Sender, Empfänger und Beobachter alle menschliche Per­

sonen darstellen. Das macht sie zu relativ unabhängigen und subjektiv aktiven Zentren von

Selbstreflexion. In diesem Fall mag sich der Beobachter (oder auch nicht) spontan außerhalb

des Systems stellen, das Sender, Kommunikationskanal und Empfänger umfaßt. Wir werden

nun annehmen, daß - für einen gegebenen Fall einer Botschaftsübermittlung - der Beobachter

mit jenem Teil des Systems übereinstimmt, der als Empfänger agiert. Das kompliziert die

Situation. Auf der einen logischen Stufe, welche strikt zweiwertig ist, mögen wir die zu­

sätzliche selbstflexive Kapazität des Empfängers vernachläßigen und ihn als ein "Es" behan­

deln, das Botschaften empfängt, wie es irgendein entsprechend konstruierter Hardwareteil

könnte. Aber auf einer zweiten logischen Stufe der Logik werden alle unsere zweiwertigen

65

Page 63: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Daten unentwirrbar im Prozeß des Selbstbewußtsein umgarnt, welches das frühere "Es" in ein

"Er" oder "Sie" verwandelt. Wenn diese Situation betrachtet wird, bricht die ursprüngliche

zweiwertige Umkehrbarkeit zwischen Sender und Empfänger zusammen, weil das System, das

ursprünglich als Empfänger bestimmt war, sich nun selbst im Rollentausch und zum Sender

werdend beobachten können. Was verstanden werden sollte, ist, daß diese Selbstbeobachtung -

logisch gesprochen - ganz verschieden von der Beobachtung eines neutralen Beobachters ist,

der den Prozeß von außen beobachtet. Wenn wir den Unterschied in Begriffen von Identität

ausdrücken wollen, können wir sagen: Der neutrale Beobachter, der weder mit dem Sender

noch mit dem Empfänger identisch ist, formuliert seine Beobachtungen in Begriffen hetero­

reflexiver Identität. Der Beobachter, der zu einem gegebenen Zeitpunkt entweder mit dem einen

oder anderen Ausgang des Kommunikationskanal identisch ist, drückt seine Erkenntnisse in

Begriffen selbstreflexiver Identität aus. Dieser Unterschied ist der transzendentalen Logik seit

mehr als eineinhalb Jahrhunderten bekannt gewesen. Es ist auch bekannt gewesen, daß unsere

zweiwertige klassische Logik nur mit Begriffen agiert, die heteroreflexive Identität nach sich

zieht. Tatsächlich ist dies - in extrem verkürzter Form - die Lektion, die Kants Kritik der reinen

Vernunft den Schüler der formalen aristotelischen Logik lehrt.

Um den Unterschied zwischen heteroreflexiver und selbstreflexiver Identität klarer darzulegen,

lassen sie uns einmal mehr auf unsere festgelegte Situation des nichtneutralen Beobachters

zurückkehren, der entweder mit dem Sender oder Empfänger identisch ist. Er muß entweder an

dem einen oder an dem anderen Ende des Kommunikationskanals lokalisiert werden. Es ist für

ihn unmöglich, auf beiden Enden gleichzeitig positioniert zu sein. Es folgt, daß er in sehr ver­

schiedener Art beobachtet, was auf beiden Enden passiert. An dem einen Ausgang erscheinen

die stattfindenden Ereignisse innerhalb der Dimension seiner "privaten" Selbstreflexion. Er

besitzt sozusagen Einsicht in sie. Sie konstituieren Ereignisse innerhalb der Grenzen seines

"Bewußtseinsraums". Aber was am anderen Ausgang passiert, sind Erscheinungen der

Außenwelt. Anders gesagt: Die symmetrische Umtauschrelation zwischen Sender und Em­

pfänger, die der "neutrale" Beobachter in einer Logik hetero-identischer Terme etablieren mag,

ist für den nichtneutralen Beobachter gestört, der die Ereignisse in Tennen der Selbstreflexion

versteht. Für den neutralen Beobachter sind die beiden Ausgänge des Kommunikationskanals

logisch äuqivalent auf der Basis einer formalen Umtauschrelation in einer zweiwertigen Logik.

66

Page 64: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Für den Beobachter, der sich selbst mit einem der beiden Ausgänge des Kommunikations­

kanals identifiziert hat, endet die logische Äquivalenz dieser Orte. Diese Situation erfordert

zumindest eine dreiwertige Logik! Anstelle unserer früheren Dichotomie von Kommunikation

und den Teilnehmern an dem Kommunikationsprozeß haben wir nun eine Trichotomie von a)

Sender, b) Kommunikation und c) Empfänger. Und Selbstreferentialität wird entweder a) oder

c), aber nicht beiden zugleich zugeordnet. Anders formuliert: Wir haben zwei logische Mög­

lichkeiten. Wir mögen die Äquivalenz von a) mit c) behaupten. In diesem Fall ist der Kom­

munikationsprozeß reversibel. Das ist die Art, in der der Außenbeobachter ihn sieht. Oder wir

mögen sagen, a) ist nicht äquivalent zu c). Wenn wir das machen, nehmen wir an, daß der Be­

obachter im Kommunikationsprozeß involviert und zumindest teilweise mit dem Empfänger

identisch ist. Das Ergebnis dieser reflexiver Identität ist die Tatsache, daß der Kommuni­

kationsprozeß irreversibel wird und es unmöglich ist, ihn mit Begriffen der zweiwertigen Logik

zu behandeln.

All dies ist den Schülern der transzendentalen, selbstreflexiven Logik seit langem bekannt ge­

wesen. Daher ist es vernünftig zu fragen: Warum ist mehrwertige Logik niemals ernsthaft in

den Humanwissenschaften und in der philosophischen Anthropologie eingeführt worden, wo

das Problem der Kommunikation mit Selbstbezug vorherrschend ist [4]. Die Antwort ist, daß

jeder Logiker ohne Illusionen zugeben wird, daß er nicht versteht, was eine mehrwertige Logik

wirklich ist.

Seit mehr als 40 Jahren sind Versuche - initiiert von Lukasiewicz und Post - unternommen

worden, mehrwertige Theorien des Denkens in die Philosophie einzuführen. Bislang sind all

diese Versuche gescheitert, wie CT. Lewis, I.M. Bochenski, H.A. Schmidt und andere be­

zeugt haben. Ein deutscher Logiker, von Freytag-Löringhoft, hat auf eine praktische Schwie­

rigkeit aufmerksam gemacht. In zweiwertiger Logik, was gewöhnlich als Aussagenlogik be­

zeichnet wird, haben wir es mit 16 binären Konstanten zu tun. Es ist innerhalb unserer Mög­

lichkeiten, jede dieser Konstanten individuell zu untersuchen. Eine Menge Arbeit wurde in

dieser Richtung vollbracht, obwohl sie keineswegs beendet ist. Aber wenn wir nur einen Wert

mehr dazu nehmen, erhöht sich die Zahl binärer Konstanten auf 19683, und Freytag-

Löringhoff hat gezeigt, daß es unmöglich jede dieser Konstanten in derselben Art zu entwickeln

67

Page 65: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

wie es in der zweiwertigen Logik üblich ist. Die Schwierigkeit ist sogar größer als der deutsche

Logiker vermutet.

Wenn wir das Reich einer dreiwertigen Logik beschreiten, sind nicht nur binäre Operatoren zu

berücksichtigen. Wir haben auch eine dritte Variable einzuführen und tertiäre Funktionen zu be­

rücksichtigen. Das erhöht die Zahl der ausschlaggebenden Operationen auf 19683 + 3^7, was

ungefähr gleich 1 0 ^ ist. Aber wie wir gezeigt haben , ist das keineswegs genug. Eine drei­

wertige Logik ist morphogrammatisch unvollständig, und wir sind gezwungen, auf vier Werte

und vier Variablen überzugehen und mit ihnen zu arbeiten. In anderen Worten: Wir müssen zur

Anzahl der binären und ternären vierwertigen Folgen 4^56 quaternäre Funktionen, das sind

zirca 1 0 ^ 3 > dazunehmen. Diese Anzahl liegt bereits weit über der Größenordnung der

größten, in der Astronomie verwendeten Zahlen, die kaum 10^0 überschreiten. Unglück­

licherweise erfüllt eine vierwertige Logik nur die Minimalanforderungen der morpho­

grammatischen Theorie von Logik. Es kann mit einer an Sicherheit grenzenden Wahr­

scheinlichkeit gesagt werden, daß sogar die Beschreibung der Komplexität selbstreflexiver

Strukturen, die sich in den einfachsten Formen lebender Zellen finden lassen, derartige Funk­

tionen K und T erfordert. Für die Werte benützen wir die ersten drei Zahlen unsers De­

zimalsystems. Wir setzen ferner fest, daß 1 und 2 die Werte unserer traditionellen, klassischen

Logik darstellen.

68

Page 66: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

p

1

2

3

1

2

3

1

2

3

q

l

l

l

2

2

2

3

3

3

K

1

2

3

2

2

3

3

3

3

T

1

3

2

3

2

1

2

1

3

K kann als die normale Konjunktion in einem dreiwertigen System leicht erkannt werden, und

T ist eine andere Funktion aus dem Reservoir jener 19683. Da sie sehr spezifische Eigen­

schaften hat, die sie auszeichnet, geben wir ihr einen Namen. Wir nennen sie "Transjunktion".

Der grundlegende Unterschied zwischen Wertsequenzen vom Typ K und Typ T ist leicht

faßbar. Wann immer sich die Werte der Variablen p und q unterscheiden, nimmt K einen der

zwei Werte an. Die Funktion wählt sozusagen ihren Wert aus einer Alternative, die durch p und

q "offeriert" wird. Die Funktion T folgt genau der entgegengesetzten Regel. Wann immer sich

die Zustände von p und q unterscheiden, nimmt T niemals einen der Werte an, die von den

Variablen bereitgestellt werden. T verweigert sozusagen das Angebot und "verwirft" die Al­

ternative von Werten, die sechs Zustände der Funktion charakterisieren. Im Fall eines dreiwer­

tigen Systems steht nur ein "Rejektionswert" für einen gegebenen Zustand von p und q zur

Verfügung. Im Fall der Alternative 1'2 ist er 3. Wenn p und q sich durch 2'3 unterscheiden,

muß er 1 sein, und wenn die Alternative durch 1 '3 gegeben ist, dann wird 2 der Wert, der den

Zustand sowohl von p als auch von q verwirft.

Es ist klar, daß uns die Unterscheidung zwischen Wertsequenzen, wo die Funktion immer

einen der Werte "akzeptiert", den p und q konkurrierend anbieten, und den Wertsequenzen, wo

69

Page 67: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

ihre Angebote entweder total oder partiell verworfen werden, erlaubt eine Dichotomie innerhalb

der 19683 Funktionen (im Original: constants) zu definieren. Das ist jedoch nicht sehr viel, und

wir müssen einen beträchtlichen Schritt weiter tun. Wir sollten zumindest eine siebenwertige

Logik haben. Um die strukturelle Komplexität einer Hochkultur, wie die Westliche Zivilisation,

zu beschreiben, müßten wir eine Anzahl logischer Funktionen der Selbstreflexion einführen,

die weit jenseits der Leistungsfähigkeit eines siebenwertigen Systems liegt. Die Anzahl der

Werte und Variablen, die eine adäquate Beschreibung des derzeitigen historischen Status des

Menschen erfordert, würde wahrscheinlich in der Größenordnung der Zahl der Neuronen des

Gehirns liegen, welches mitbeteiligt gewesen ist, die Menschheit auf den jetzigen Stand der Ge­

schichte zu bringen.

Es ist klar, daß alle heutigen logischen Methoden zur Analyse der selbstreflexiven Struktur der

Geschichte im Allgemeinen und einzelner Zivilisationen als Kommunikationsmittel für die Men­

schen von einer fast unglaublichen Ineffizienz sind. Sie beruhen auf 16 logische Funktionen

eines zweiwertigen, morphogrammatisch unvollständigen Aussagenkalküls. Aber es ist völlig

unmöglich sogar die kleinsten mehrwertigen Systeme mit den traditionellen Methoden logischer

Analyse in den Griff zu bekommen, wie von Freytag-Löringhoff gezeigt hat. Der deutsche Ge­

lehrte folgert, daß keine anderen Methoden verfügbar sind.

Das ist aber eine unberechtigte Annahme, und wir werden den Rest dieses Artikels dazu be­

nützen, die Richtung aufzuzeigen, in die nach der Lösung des Problems zu suchen ist. Im

Moment fürchten sich die Logiker sogar vor der Zahl 19683 in Verbindung mit binären Ope­

rationen des Aussagenkalküls. Die Astronomen sind aber nicht von Zahlen der Größenordnung

10*00 beunruhigt. Und warum sollten sie? Sie benützen ein System, mit Zahlen zu operieren,

das so einfach ist, daß es Kinder in der Schule lernen, lange bevor sie eine Universität be­

suchen. Es ist ein Stellenwertsystem mit einem vorbestimmten Bereich, in dem jede Zahl

wiederholt wird, sobald sie den Bereich überschreitet. Der Umfang dieses Bereichs für unsere

konventionelle Art des Zählens wird durch das Dezimalstellenwertsystem der Zahlen bereit­

gestellt. Wie wir gezeigt haben [5], ist diese Idee mit einfachen Modifikationen auch für mehr­

wertige Systeme anwendbar. Es wird leicht zu zeigen sein, daß uns die Interpretation mehr­

wertiger Systeme als Stellenwertanordnung unserer zweiwertigen klassischen Logik ahnen

70

Page 68: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

läßt, wie sich die 19683 binären Operationen eines dreiwertigen Systems klassifizieren und id­

entifizieren lassen.

Eine dreiwertige binäre Funktion hat neun verschiedene Zustände für jede mögliche Belegung

der Variablen p und q. In Tabelle II haben wir unsere Funktionen K und T niedergeschrieben,

nun aber in 3 zweiwertige Teilsysteme zerlegt gemäß der Stellenwerttheorie.

n

p

1

2

3

1

2

3

1

2

3

q

l

l

l

2

2

2

3

3

3

Kl

1

2

2

2

K2

2

3

3

3

K3

1

3

3

3

Tl

1

3

3

2

T2

2

1

1

3

T3

1

2

2

3

Es ist leicht zu sehen, daß die morphogrammatische Struktur von K als vierstellige Wert­

sequenz (wie sie im Aussagenkalkül der klassischen Logik benützt wird) an drei verschiedenen

Plätzen auftaucht. Die verschiedene Werteintragung, wie durch 1222, 2333, 1333 dargestellt,

fungiert nur zur logischen Unterscheidung der Plätze voneinander. Was aber wirklich zählt, ist

das Fakt, daß die Struktur, die durch die Wertverteilung über vier Stellen generiert wird, drei­

mal wiederholt wird.

Ein Merkmal fehlt: die verschiedene Rolle, die die Werte in den Positionen 1,5 und 9 im

Gegensatz zu den Positionen 2,3,4,6,7 und 8 spielen. Wenn an einer der letzteren Stellen ein

Wert in einen niederen oder höheren Wert umgewandelt wird, ist nur die morphogrammatische

Struktur der vierstelligen Sequenz betroffen, die ihn beinhaltet. Ein Wechsel in der 71

Page 69: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Wertbesetzung an den Stellen 1,5 und 9 aber betrifft immer zwei Morphogramme. Eine Än­

derung in der ersten Position von K betrifft Kl und K2 in relevanter Weise. Jede Änderung in

der letzten Position ist sowohl für K2 als auch für K3 von Bedeutung. Wir werden nun sagen,

daß die Werte in den Positionen 1,5 und 9 der Tabelle II den "Frame" der Sequenz und jene in

2,3,4,6,7,8 den "Core" der Sequenz darstellen. Allgemein gesprochen, jede m-wertige

Sequenz besitzt m Frame-Positionen. Der Rest gehört zum Core. Die Negation eines einzelnen

Werts aus dem Frame vermag unter gewissen Umständen die gesamte Struktur des Frames ver­

ändern. Eine Negation einer gesamten Wertsequenz (Frame und Core) vermag dies nie.

Wir sind nun bereit, die Prinzipien zur Klassifikation aller binären logischer Operationen einer

beliebigen m-wertigen Logik aufzuzeigen. Wir werden mit dem eher trivialen Fall eines zwei­

wertigen Systems beginnen. Dazu schreiben wir alle 16 Wertsequenzen in spezifischer Ord­

nung nieder, die den Klassifikationsprinzipien folgt, die wir zu verwenden gedenken. Es bleibt

zu überlegen, daß das Konzept des Rejektionswertes keine Rolle im Fall der klassischen Logik

spielt, da nur zwei Werte zur Verfügung stehen. Tabelle III zeigt die Ordnung der Klas­

sifikation, die nebenbei eine andere Dichotomie mit sich bringt, nämlich zwischen den so-

genannten "irreflexiven" und "reflexiven" Wertsequenzen. Diese Dichotomie bezieht sich auf

die Unterscheidung von Position und Negation in der klassischen Logik. Im einfachen Fall

eines zweiwertigen Systems stellt diese Dichotomie kein Problem dar. Wenn die Wertesequenz

für den Fall, daß p und q beide den Wert 1 annehmen, ebenfalls den Wert 1 besitzt unabhängig

von der Wertbelegung der nachfolgenden Positionen, nennen wir die sich ergebende Folge

irreflexiv oder positiv. In allen anderen Fällen heißt sie reflexiv oder negativ. In den

mehrwertigen Fällen ist es jedoch nicht so einfach, auf eine geeignete Dichotomie zu kommen.

Tabelle m wird uns helfen, dieses Verfahren zu erläutern.

72

Page 70: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

m

a

1

1

1

1

2

2

2

2

b

1

2

1

1

2

1

2

2

c

1

1

2

1

2

2

1

2

d

1

2

2

1

2

1

1

2

e

1

1

1

2

2

2

2

1

f

1

2

1

2

2

1

2

1

g

1

1

2

2

2

2

1

1

h

1

2

2

2

2

1

1

1

irreflexiv

reflexiv

Die punktierten Rechtecke, die die zweite und dritte Position der Spalten umfassen, trennen den

Core der Folgen von ihrem Frame. Wir sehen sofort, daß die Wertsequenzen des Aussagen­

kalküls der klassischen Logik zwei Frames verlangen. In der oberen Gruppe ist die Wertbe­

legung der Frames (erste und vierte Position) irreflexiv. In der unteren Gruppe ist sie reflexiv.

Überdies entdecken wir - und dies ist von größter Wichtigkeit - daß es hinreichend ist, den

Frame des irreflexiven Teils von Tabelle III zu negieren, um alle reflexiven Wertfolgen zu er­

halten. Dies beinhaltet eine Feinheit. Wenn wir den Frame der irreflexiven Folge a) negieren,

erhalten wir natürlich nicht die reflexive Folge a), sondern die reflexive Folge d). Und die Ne­

gation des Frames der irreflexiven Folge b) produziert die reflexive Folge c). Diese Fakten

spielen eine subtile Rolle für die Relationen zwischen Morphogrammen und ihren möglichen

Wertbelegungen. Hier mögen sie vemachläßigt werden, weil sich unsere Diskussion nur auf

zweiwertige Systeme bezieht. Es ist hinreichend zu wissen, daß, um alle negierten Wertsequen­

zen einer zweiwertigen Logik zu erhalten, wir nicht alle Werte zu negieren haben, sondern nur

die Wertbelegungen des Frames. Das gilt in gleicher Weise für den Fall eines beliebigen m-

wertigen Systems. Wir werden nur den Fall dreiwertiger binärer Sequenzen darstellen.

73

Page 71: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Aus der Tabelle II wissen wir bereits, daß diese Sequenzen Frames mit drei Wertpositionen be­

sitzen. Die Zahl der möglichen Frames beträgt fünf, wie es Tabelle IV zeigt:

rv

irrefl irref^ irref^ irref^ irref

Wir legen fest, daß die Wertbelegungen der Frames in Tabelle IV ihren irreflexiven Charakter

darstellen. Jede andere Wertbelegung durch Negation der Werte verwandelt sie in reflexive

Framestrukturen. Es ist eine signifikante Abkehr von der traditionellen Logik, daß wir nun

zwischen fünf Graden der Irreflexivität für den Frame einer Wertesequenz unterscheiden. Die

Wahl der Werte für Irreflexivität ist keineswegs beliebig. Wir legen fest, daß für die n-te

Position des Frames der belegte Wert niemals höher als n sein kann, wenn Irreflexivität

verlangt ist.

Zu jedem irreflexiven Frame gehört eine Anzahl reflexiver Versionen. Im Fall irref* gibt es nur

zwei, aber in allen anderen Fällen der Tabelle IV ist die Anzahl fünf. Es folgt, daß eine drei­

wertige Logik, die fünf Frames besitzt, in der Lage ist, 27 Wertbelegungen für sie zu produ­

zieren . Auf der anderen Seite beträgt die Anzahl der möglichen Wertbelegungen für die sechs

Core-Positionen 36 = 729, und 27 * 729 = 19683 ergibt, wie wir uns erinnern, die Anzahl aller

binären Operationen eines dreiwertigen "Aussagenkalküls".

74

Page 72: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Wir sind nun in der Lage, alle binären Sequenzen einer dreiwertigen Logik gemäß folgender

Charakteristika zu klassifizieren:

Wert: Akzeptanz

Rejektion

Stelle: V2

2'3

1'3

Frame: irref*, irref^, ... irref^

refl. (Ni und N2)

Ni und N2 bezeichnen die beiden Negationsoperatoren eines dreiwertigen Systems,

p

1

2

3

Nl

2

1

3

N2

1

3

2

die in geeigneter Weise miteinander kombiniert [6] alle möglichen Permutationen der Wertfolge

1,2,3 ergeben.

Jedoch sind einige der Klassen von Wertsequenzen, die man mittels der obig aufgezählten Prin­

zipien erhält, noch immer ziemlich groß und unhandlich. Daher führen wir eine weitere Unter­

teilung für Akzeptanz - genauso wie für Rejektion - der Werte ein. Es ist für die Bewer-

tungszustände der Variablen, die die Wertbelegungen des Cores einer Funktion bestimmen,

wohlbekannt, daß zumindest eine der Variablen p,q,r .. einen Wert aufweisen muß, der sich

von den Werten der anderen Variablen in diesem speziellen Fall unterscheiden muß. Wenn nur

zwei Variable zur Unterbringung dreier Werte zur Verfügung stehen, können wir zwischen so-

genannter symmetrischer und asymmetrischer Akzeptanz und Rejektion unterscheiden. Die

folgende Tabelle V

75

Page 73: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

p

1

2

q

2

l

sym asym

Akzeptanz

1

1

2

2

1

2

2

1

sym

3

3

asym

Rejektion

1

3

3

1

2

3

3

2

zeigt für den Fall p=l und q=2 und vice versa die möglichen Bewertungen für symmetrische

und asymmetrische Akzeptanz und Rejektion.Wenn die Akzeptanz symmetrisch ist, werden

beide Bewertungen von p und q mittels desselben Wertes akzeptiert. Im asymmetrischen Fall

unterscheiden sich die Akzeptanzwerte. Dasselbe gilt für die Rejektion. Hier kann eine feinere

Unterscheidung getroffen werden gemäß, welcher der beiden Werte 1 oder 2 die Rejektion

asymmetrisch macht. In unserer gegenwärtigen Diskussion werden wir diese Möglichkeit nicht

berücksichtigen, welche für umfassendere Logiksysteme von beträchtlichem Nutzen ist. Wir

wollen nur die allgemeinen Prinzipien zur Klassifikation der m-wertigen "Aussagen"-Operati-

onen aufzeigen, ohne sämtliche Möglichkeiten der Unterteilung auszunützen. Was unberück­

sichtigt bleibt, sind zusätzliche Klassifikationsprinzipien, die sich aus einer weiteren Analyse

des Cores einer Wertesequenz ergeben. Die Klassifikationstabelle VI lautet wie folgt:

76

Page 74: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

VI Klassifikation der 19683 binären Operationen der dreiwertigen Logik

A: Operationen ohne Rejektionwerte:

I. Symmetrische Bewertungen

Frame Anzahl der Operationen

irref1 8

ref1 2 x 8 = 16

irref2 8

ref2 5 x 8 = 40

irref3 8

ref3 5 x 8 = 40

irref4 8

ref4 5 x 8 = 40

irrefS 8

ref5 5 x 8 = 40

(Um die folgenden Teile der Tabelle zu verkürzen, werden wir von nun an die Frames 2 bis 5

zusammenfassen, da sie stets dieselbe Anzahl reflexiver Wertbesetzungen haben)

n. Asymmetrische Bewertung

Frame Anzahl der Operationen

irref1 56

ref1 2x56.= 112

irref2"5 4 x 56 = 224

ref2"5 4 x 2 8 0 = 1120

77

Page 75: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Anzahl der Operationen von AI und AII: 1728

B: Operationen mit Rejektionswerten

I. Symmetrische Bewertung

a) Teilsystem 1 '2

Frame Anzahl der Operationen

irref1

ref1

irref2"5

ref2"5

2x4 .=

5 x 1 6 =

insgsamt

4

8

16

80

108

b) Teilsystem 2'3

c) Teilsystem 1 '3

d) Teilsysteme 1 '2 und 2'3

insgsamt 108

insgsamt 108

Frame Anzahl der Operationen

irref1

ref1

irref2~5

ref2"5

2 x 2 =

5 x 8 =

insgsamt

2

4

8

40

54

78

Page 76: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

e) Teilsysteme 2'3 und 1 ' 3

insgsamt 54

f) Teilsysteme 1 ' 2 und 1 ' 3

g) Sämtliche Teilsysteme

insgsamt 54

Frame Anzahl der Operationen

irref1

ref1

irref2"5

ref2"5

2 x 1 =

5 x 4 =

insgsamt

1

2

4

20

27

Anzahl der Operationen von B I: 513

n. Asymmetrische Wertbelegung

a) Teilsystem 1 '2

Frame Anzahl der Operationen

irref1

ref1

irref2"5

ref2"5

76

2 x 7 6 = 152

4 x 76 = 304

4 x 380 = 1520

insgsamt 2052

79

Page 77: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

b) Teilsystem 2'3

insgsamt 2052

c) Teilsystem 1 '3

insgsamt 2052

d) Teilsysteme 1'2 und 2'3

Frame Anzahl der Operationen

irref1

ref1

irref2"5

ref2"5

98

2 x 98 = 196

4 x 98 = 392

4 x 4 9 0 = 1960

insgsamt 2646

e) Teilsysteme 2 3 und 13

f) Teilsysteme 1 '2 und 13

g) Sämtliche Teilsysteme

insgsamt 2646

insgsamt 2646

Frame Anzahl der Operationen

irref1

ref1

irref2'*

ref2"5

124

2 x 124 = 248

4 x 124 = 496

4 x 620 = 2480

insgsamt 3348

80

Page 78: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

Anzahl der Operationen von B II: 17442

Diese Klassifikationstabelle läßt sich auch verallgemeinem, wenn entweder mehr Variable oder

mehr Werte oder beides eingeführt werden. Es wird behauptet, daß dies alle grundsätzlichen

logischen Konzepte nach sich zieht, die sich auf den Kommunikationsprozeß beziehen. Über­

dies wird gezeigt, daß es unter den

1278 Operationen von AI und AII

513 Operationen von B I

17442 Operationen von B II

19683 Operationen

eine, nämlich B i g ) irref1, gibt, die die Schlüßelsequenz des gesamten Systems bildet, indem

sie sich durch sehr einzigartige Eigenschaften auszeichnet. (B I g) irref1 ist die Funktion T aus

Tabelle II.) Der phantastische Reichtum an Aussagenoperationen eines mehrwertigen Systems

hat bislang ein ernstes Hindernis für die Anwendung dieser Systeme auf das Problem von

Kommunikation dargestellt. Die oben durchgeführte Klassifikation sollte diese Aufgabe erleich­

tern. Der Kommunikationsprozeß, wenn er nur in Begriffen von Information beschrieben wird,

bezieht sich logisch ausschließlich auf die Gruppe A unserer Klassifikation. Das Konzept von

Sinn ist mit der Gruppe B verbunden. Die Verbindung von Information und Sinn jedoch er­

fordert A und B.

Anmerkungen

[1] S. Claude Shannon: "A Mathematical Theory of Communication", Bell Syst.Tech. Journal

27, pp. 379-423 and 623-656.

[2] Die Asymmetrie von Zweideutigkeit, Hx(y) kann in diesem Kontext vemachläßigt werden.

Nur der Fall H(x) + H(y) = H(x,y) wird betrachtet.

[3] Vgl. H. Reichenbach, Experience and Prediction, Chicago, p. 326ff. Ebenso: G. Günther,

Cybernetic Ontology and Transjunctional Operations. Self-Organizing Systems (Hrg.

Yovits, Yacobi, Goldstein) Spartan Books, Washington, 1962.

81

Page 79: Gotthard Günther im Gespräch (Helmut Schelsky, Warren ... · Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen". Hierzu auch Lars Clausen: Die Jagd um

[4] Cybernetic Ontology ... p. 347 ff

[5] "Die Logik des Seins und die Logik der Reflexion", Zeitschrift für philosophische

Forschung XU, 3 (1958), pp 360-407

[6] Cybernetic Ontology ... p. 357

82