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1 Dieter Mersch, Potsdam Grammatik der Kultur. Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen als semiotische Theorie Vorbemerkung: Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, die innere Struktur der Philosophie Cassirers zu rekonstruieren. Die Rekonstruktionsarbeit gilt vor allem der "Systematik der symbolischen Formen". Eine solche Systematik ist Desiderat, weil sie von Cassirer selbst anvisiert, aber nie wirklich ausgeführt wurde. Jeder Rekonstruktionsversuch steht indessen vor der Alternative, entweder vom Früheren, d.h. von der chronologischen Entwicklung, oder vom Späteren, dem überschauenden Alterswerk her zu beginnen. Prinzipiell erscheinen beide Wege gleichwertig, denn, wie Heraklit sagt, Aufstieg und Abstieg sind dasselbe. 1. Grundlegung der Kulturphilosophie in der Anthropologie Seit den 40er Jahren hat Cassirer seine Kulturphilosophie in einer philosophischen Anthropologie zu fundieren versucht. Jede Anthropologie nimmt ihren Ausgang bei einer Bestimmung des Menschen. Cassirer bezieht sich dabei auf Johannes von Uexküll. 1 Nach diesem zeichnet sich menschliches Leben gegenüber tierischem vor allem durch die Fähigkeit zur Distanznahme aus. Distanznahme ist eine Form der Freiheit. Sie impliziert die Dopplung von Entfernung und Entfernung der Entfernung. Denn indem wir uns von der Welt lösen, bringen wir sie allererst in die Nähe. Entfernung setzt nicht nur einfach Abstände, sondern überwindet sie gleichzeitig, insofern sie eine "Sicht" und damit auch eine "An-sicht" der Dinge erlaubt. Ent-fernen in diesem zweifachen Sinne ist deshalb konstitutiv für Bezug. Es eröffnet Welt, und zwar als ein vom Menschen her vollzogenes In-Erscheinung-treten des Seienden als solchem. Solches In-Beziehung-setzen geschieht mittels Symbole. Cassirer bestimmt - im Unterschied zu Husserl - Bezug nicht als Intentionalität des Bewußtseins, sondern als Symbolisierung. Damit ist bereits ein Heraustreten aus den spezifischen Engführungen der Bewußtseinsphilosophie in Richtung einer Semiotik als Fundamentalphilosophie anzeigt. Nicht das Bewußtsein setzt Bezüge - gleichsam als "Urphänomen" -, sondern das Symbolische, das selbst schon Vermitteltes ist, insofern es stets auf ein sinnliches Medium angewiesen bleibt. Es setzt sie dadurch, daß es Welt mittels Zeichen zeigt. Das Symbolische, als Vermitteltes, ist dabei Ausdruck eines Gehaltes. Der Symbolbegriff umfaßt, wie es in der Philosophie der symbolischen Formen heißt, "das Ganze jener Phänomene (...), in denen überhaupt eine wie immer geartete »Sinnerfüllung« des Sinnlichen sich darstellt; - in denen ein Sinnliches, in der Art seines Daseins und So-Seins, sich zugleich als Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinns darstellt" 2 . Ans Sinnliche gebunden, bezeugen die Symbole dabei doch ebensosehr eine "Freiheit vom Sinnlichen", denn "(i)n jedem sprachlichen »Zeichen«, in jedem mythischen oder künstlerischen »Bild« erscheint ein geistiger Gehalt, der an und für sich über alles Sinnliche hinausweist." 3 Damit ist das Hermeneutische immer schon im Begriff des Symbolischen impliziert: "Die symbolischen Zeichen (...) »sind« nicht erst, um dann über dieses Sein hinaus, noch eine bestimmte Bedeutung zu erlangen, sondern bei ihnen entspringt alles Sein erst aus der Bedeutung. Ihr Gehalt geht rein und vollständig in der Funktion des Bedeutens auf." 4 1 Cassirer, Versuch über den Menschen, S. 47ff. 2 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3, 9 1990, S. 109 3 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, S. 42 4 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, S. 43

Grammatik Der Kultur. Ernst Cassirers Philosophie Der Symbolischen

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Dieter Mersch, Potsdam Grammatik der Kultur. Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen als semiotische Theorie Vorbemerkung: Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, die innere Struktur der Philosophie Cassirers zu rekonstruieren. Die Rekonstruktionsarbeit gilt vor allem der "Systematik der symbolischen Formen". Eine solche Systematik ist Desiderat, weil sie von Cassirer selbst anvisiert, aber nie wirklich ausgeführt wurde. Jeder Rekonstruktionsversuch steht indessen vor der Alternative, entweder vom Früheren, d.h. von der chronologischen Entwicklung, oder vom Späteren, dem überschauenden Alterswerk her zu beginnen. Prinzipiell erscheinen beide Wege gleichwertig, denn, wie Heraklit sagt, Aufstieg und Abstieg sind dasselbe. 1. Grundlegung der Kulturphilosophie in der Anthropologie Seit den 40er Jahren hat Cassirer seine Kulturphilosophie in einer philosophischen Anthropologie zu fundieren versucht. Jede Anthropologie nimmt ihren Ausgang bei einer Bestimmung des Menschen. Cassirer bezieht sich dabei auf Johannes von Uexküll.1 Nach diesem zeichnet sich menschliches Leben gegenüber tierischem vor allem durch die Fähigkeit zur Distanznahme aus. Distanznahme ist eine Form der Freiheit. Sie impliziert die Dopplung von Entfernung und Entfernung der Entfernung. Denn indem wir uns von der Welt lösen, bringen wir sie allererst in die Nähe. Entfernung setzt nicht nur einfach Abstände, sondern überwindet sie gleichzeitig, insofern sie eine "Sicht" und damit auch eine "An-sicht" der Dinge erlaubt. Ent-fernen in diesem zweifachen Sinne ist deshalb konstitutiv für Bezug. Es eröffnet Welt, und zwar als ein vom Menschen her vollzogenes In-Erscheinung-treten des Seienden als solchem. Solches In-Beziehung-setzen geschieht mittels Symbole. Cassirer bestimmt - im Unterschied zu Husserl - Bezug nicht als Intentionalität des Bewußtseins, sondern als Symbolisierung. Damit ist bereits ein Heraustreten aus den spezifischen Engführungen der Bewußtseinsphilosophie in Richtung einer Semiotik als Fundamentalphilosophie anzeigt. Nicht das Bewußtsein setzt Bezüge - gleichsam als "Urphänomen" -, sondern das Symbolische, das selbst schon Vermitteltes ist, insofern es stets auf ein sinnliches Medium angewiesen bleibt. Es setzt sie dadurch, daß es Welt mittels Zeichen zeigt. Das Symbolische, als Vermitteltes, ist dabei Ausdruck eines Gehaltes. Der Symbolbegriff umfaßt, wie es in der Philosophie der symbolischen Formen heißt, "das Ganze jener Phänomene (...), in denen überhaupt eine wie immer geartete »Sinnerfüllung« des Sinnlichen sich darstellt; - in denen ein Sinnliches, in der Art seines Daseins und So-Seins, sich zugleich als Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinns darstellt"2. Ans Sinnliche gebunden, bezeugen die Symbole dabei doch ebensosehr eine "Freiheit vom Sinnlichen", denn "(i)n jedem sprachlichen »Zeichen«, in jedem mythischen oder künstlerischen »Bild« erscheint ein geistiger Gehalt, der an und für sich über alles Sinnliche hinausweist."3 Damit ist das Hermeneutische immer schon im Begriff des Symbolischen impliziert: "Die symbolischen Zeichen (...) »sind« nicht erst, um dann über dieses Sein hinaus, noch eine bestimmte Bedeutung zu erlangen, sondern bei ihnen entspringt alles Sein erst aus der Bedeutung. Ihr Gehalt geht rein und vollständig in der Funktion des Bedeutens auf."4

1 Cassirer, Versuch über den Menschen, S. 47ff. 2 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3,

91990, S. 109

3 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, S. 42 4 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, S. 43

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Grundlage des Symbolbegriffs, wie Cassirer ihn in der Philosophie der symbolischen Formen und anderen Schriften5 entwickelt, bildet mithin die "Grundfunktion des Bedeutens". Bezugsetzung geschieht so, im Wortsinne, als "Be-deutung" von Welt. Der Symbolisierung - und damit auch Be-deutung - haftet insofern die "Zwiefalt" der Ent-fernung selbst an. Die "doppelte Funktion alles Symbolischen", schreibt Cassirer in Zur Logik der Kulturwissenschaften, ist die "Funktion der Spaltung und Wiedervereinigung"6: "Die symbolischen Formen sind die eigentümlichen Medien, die der Mensch sich erschafft, um sich kraft ihrer von der Welt zu trennen und sich in eben dieser Trennung um so fester mit ihr zu verbinden. Dieser Zug der Vermittlung charakterisiert alles menschliche Erkennen, wie er auch für alles menschliche Wirken bezeichnend und typisch ist."7 Die Doppelfunktion des Symbolischen ist wesentlich für das, was man - in Anlehnung an die "ontologische Differenz" Heideggers - die symbolische Differenz nennen könnte: der Unterschied zwischen Symbol und Realität. Es "gibt" nicht das Wirkliche als Wirkliches, auf die sich der Mensch unmittelbar, d.h. jenseits alles Symbolischen beziehen könnte, weil jeder Bezug immer schon die Symbolisierung und damit Be-deutung der Wirklichkeit impliziert. Cassirer beschreibt dies in der Sprache Kants: als Differenz von An-sich-sein und Für-sich-sein; gleichwohl radikaler. Cassirer löst mithin die Frage nach dem Verhältnis von Symbol und Realität im Sinne der Kantischen "Unerkennbarkeit des Dings-an-sich": Der Begriff des Realen fungiert nurmehr als formaler Bezugspunkt, als ein notwendiges Korrelat, dem kein selbständiger ontologischer Status zukommt, weil er vollständig in den Sinngehalten der Symbolisierungen verschwindet.8 Doch anders als bei Kant wird die Wirklichkeit des Wirklichen nicht gewissermaßen auf die Subjektivität des Bewußtseins zurückverwiesen, um kraft dessen Struktur wieder zu erscheinen, sondern auf das ganze Universaum unserer symbolischen Interpretationen, in dem sie sich objektiviert. Wenn daher Cassirer den Menschen als "animal symbolicum" faßt, so ist damit genau dies bezeichnet: wir können nicht anders als mittels Symbolisierungen uns auf die Welt beziehen und sie durch unsere Symbolsierungen hindurch anschauen und erfassen. "Das Prinzip des Symbolischen mit seiner Universalität, seiner allgemeinen Gültigkeit und Anwendbarkeit", heißt es im Versuch über den Menschen, "ist das Zauberwort, das »Sesam öffne dich!«, das den Zugang zur menschlichen Welt, zur Welt der menschlichen Kultur gewährt."9 Dabei markiert der Begriff des animal symbolicum keine kontingente metaphysische Setzung, die den Katalog der verschiedenen Definitionen vom Menschen um ein weiteres Stichwort ergänzte; vielmehr legt die "symbolische Phantasie"10 - so der Ausdruck in Versuch über den Menschen - die eigentliche conditio humana im Sinne einer ursprünglichen Kulturfähigkeit des Menschen erst frei. Nicht länger bestimmt darum die Vernunft die Menschlichkeit des Menschen, sondern dessen Vermögen zu kreativer Symbol-ererzeugung und -verwendung. Deutlich wird so zugleich, daß die Cassirer - anders als die meisten anderen zeitgenössischen Zei-chen- oder Symboltheorien - nicht eine Theorie der Rezeption bildet, sondern vor allem eine der Konstitution.11 Nicht in erster Linie geht es ihr um die Erforschung der notwendigen und hinreichen-den Voraussetzungen des Zeichenverstehens, sondern der symbolischen "Be-deutung" und damit auch "Erzeugung" von Welt. In dieser Hinsicht knüpft die Philosophie Cassirers durchaus noch an die transzendentale Fragestellung Kants an - allerdings so, daß nicht nach den allgemeinen Prinzipien rationaler Erkenntnis gefragt wird, sondern nach der Vieldeutigkeit und Pluralität der symbolischen Deutungen. Auch wird - im Unterschied zu Kant - kein einheitliches Vernunftsprinzip unterstellt -, sondern eine Vielheit von Formen und Zugangsweisen, denen sämtlich ihr eigenes Recht und ihre eigene Möglichkeit zugeschrieben wird. Freilich hat Cassirer dabei keine

5 Zu nennen wären besonders "Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften" in: H.L. Ollig, Neukantianismus, Stuttgart 1982, S. 127-163, sowie "Zur Logik des Symbolbegriff", a.a.O., S. 201-230 6 Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 54 7 Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 25 8 vgl. dazu auch Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 19, S. 30f. 9 Cassirer, Versuch über den Menschen, 1944; Frankfurt/M 1990, S. 51 und 63 10 Cassirer, Versuch über den Menschen, a.a.O., S. 60 11 vgl. auch K. Neumann, Ernst Cassirer: Das Symbol, a.a.O., S. 123

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"Transzendentalhermeneutik" im Auge, sondern eine "Transzendentalsemiotik" als Rekonstruktion der Bedingungen der Möglichkeit symbolischer Produktivität. 2. Theorie der Symbolisierung als Poiesis Die Symblische Differenz birgt bereits eine Kritik am traditionellen Repräsentationsmodell des Zeichens. Darin liegt bereits eine Absage an das traditionelle Repräsentationsmodell des Zeichens.12 Symbole re-präsentieren nicht, indem sie Seiendes nur widerspiegeln, sondern sie präsentieren es, indem sie es be-deuten und dadurch überhaupt erst zur Erscheinung bringen.13 Überall bleiben wir in einem Universum aus Bildern und Zeichen befangen; "durch sie allein erblicken wir und in ihnen besitzen wir das", schreibt Cassirer weiter, "was wir die »Wirklichkeit« nennen: denn die höchste objektive Wahrheit, die sich der Geist erschließt, ist zuletzt die Form seines eigenen Tuns."14 In Sprache, Kunst, Mythos, Religion und Wissenschaft usw. erschaffen sich, so Cassirer "künstliche Symbole", die nicht Träger von Wirklichkeiten, sondern selbständiger Sinngehalte sind. Die Symbolisierungen, sagt Cassirer, "sind Prägungen zum Sein: sie sind nicht einfach Abbilder einer vorhandenen Wirklichkeit"15. Die Symbole verhalten sich darum auch "nicht wie ein bloßer Spiegel", sondern sie sind, wie es im 1. Band der Philosophie der symbolischen Formen heißt, "statt (...) indifferenter Medien vielmehr die eigentlichen Lichtquellen, die Bedingungen des Sehens wie die Ursprünge aller Gestaltung"16. Man könnte mit Heidegger sagen: das Symbolische vollzieht die "Ent-deckungen" von Sein. Durch sie "lichtet" sich Welt, freilich - nun wiederum gegen Heidegger - nicht im Sinne von "Ereignissen" aus dem "Geschick des Seins", sondern aus der produktiven Spontaneität des Geistes. ... Poiesis ... Für das Verständnis der Philosophie Cassirers grundlegend ist die Bestimmung der Symbolisierung als Produktion. Denn das Symbolische erfüllt sich nicht in einem bloß passiven "Welt-haben", sondern in der aktiven "Welt-erzeugung", wie es Nelson Goodman genannt hat.17 Es bewirkt dabei das schöpferische "Ins-Bild-bringen" des Wirklichen im Sinne seiner "Bildung". Bildung wiederum erfüllt sich, wie Cassirer sagt, nicht so sehr in Richtung eines "äußeren Objekt(s), auf das (es) ziel(t), sondern in einer bestimmten Weise der Objektivierung"18. Der Prozeß der Symbolisierung bewirkt also nicht einfach eine Ab-Bildung von Wirklichkeit, sondern deren Gestaltung. Sie geschieht demnach als "Poiesis". "Poiesis" bedeutet "Herstellen", "Schaffen", "Bilden". Wie der Künstler durch Bearbeitung des Materials erst sein Kunstwerk hervorbringt und es dadurch Wirklichkeit werden läßt, so stellt das Symbolische den Bezug zur Welt her, indem es ihr mittels Be-deutungen eine Gestalt verleiht. Primat des Symbolischen. Der Symbolbegriff erweist sich damit als wesentlich dreistellig19: Denn indem Cassirer die "Grundfunktion des Bedeutens selbst schon vor der Setzung der einzelnen Zeichen vorhanden und wirksam"20 ansieht, andererseits die Hervorbringung von Symbolen sich nicht anders als vermöge "sinnlicher" Zeichen denkt, trennt er zwischen Zeichen und Bedeutung

12 vgl. dazu Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, S. 5ff. Cassirer kritisiert nicht nur das "naive" Abbildkonzept der Aufklärung, sondern gleichermaßen auch dessen vermeintliche Überwindung durch Heinrich Hertz - ebenso wie mutatis mutandis Wittgensteins frühe Isomorphietheorie der Sprache. 13 Wenn gleichwohl Cassirer noch am Begriff der "Repräsentation" festhält, so im Wortsinn als Prozeß einer "Vergegenwärtigung", nicht im nominalistischen Sinne der "Substitution". Symbole "stehen" nicht für irgendwelche Gegenstände, indem sie diese lediglich "be-zeichnen"; sie "präsentieren" sie und verleihen ihnen dadurch Sinn. Vgl. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, S. 33ff. 14 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 1. Bd., S. 48 15 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, S. 43 16 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 1, Bd., S. 27 17 Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt 18 vgl. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3, a.a.O., S. 447 19 Unterstellt man mit Ch. W. Morris, Grundlagen der Zeichentheorie, Frankfurt/M Berlin Wien 1979, besonders Kap. III-V., einen dreigliedrigen Zeichenprozeß, der zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik unterscheidet, ist der für Cassirer relevante Aspekt der semantische, freilich spezifiziert als Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des symbolischen Weltbezugs. Die Syntaktik, d.h. die Relation der Zeichen untereinander, spielt überhaupt keine Rolle, ebensowenig die Pragmatik im Sinne einer empirischen Verhaltenslehre der Zeichenverwendung. 20 ebenda S. 42

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und versteht den Zeichenprozeß aus dem Primat der Symbolisierung. "Die Zweiteilung: Symbol oder Gegenstand erweist sich (...) hier als unmöglich", heißt es in Zur Logik der Kulturwissenschaft, "da die schärfere Analyse uns lehrt, daß eben die Funktion des Symbolischen es ist, die die Vorbedingung für alles Erfassen von »Gegenständen« oder Sachverhalten ist."21 Weder etwas Subjektives noch etwas Objektives bezeichnet demnach die Symbolisierung, sondern ein eigentümliches "Zwischen", bei dessen Gelegenheit sich allererst Ich und Welt bzw. Subjekt und Objekt zeigen. Die Symbole, schreibt Cassirer in "Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften", "treten zwischen uns und die Gegenstände"; sie sind "das Medium, durch welches uns irgendwelches geistige Sein erst faßbar und verständlich wird"22. Sie bilden dergestalt einen eigenständigen Bereich, der sich "den herkömmlichen metaphysischen Einteilungen und Dualismen nicht fügt, sondern (...) ihren Rahmen sprengt"23. Cassirer gerät auf diese Weise, wie zuvor schon Humboldt mit seiner Sprachtheorie, in die Nähe jener Autarkie des Zeichens, wie sie für die Philosophie des 20. Jahrhunderts überhaupt charakteristisch geworden ist und wie sie bereits für die Antike und das Mittelalter galt. Doch bedeutet diese Autarkie, im Unterschied zum Strukturalismus und zur jüngeren Semiotik, nicht der bloße zirkuläre Selbstverweis der Symbole auf sich, um, wie bei Roland Barthes oder Jacques Derrida, als lauter sekundäre Effekte eines freien Spiels von Signifikanten in die Beliebigkeit zu driften; sondern stets bleiben sie, wie bei Peirce, auf Wahrnehmungen und damit auf die Erfahrung von Wirklichkeit bezogen: "Wir können »Bedeutung«", konstatiert Cassirer im 3. Band der Philosophie der symbolischen Formen, nicht anders als durch Rückbeziehung auf die »Anschauung« erfassen - wie uns Anschauliches nie anders als im »Hinblick« auf Bedeutung »gegeben« sein kann."24 Die Symbolisierung partizipiert daher gleichermaßen am Realen wie am Imaginären und stiften zwischen ihnen eine dialektische Einheit: "Das Symbolische", so heißt es weiter, "gehört niemals dem »Diesseits« oder »Jenseits«, dem Gebiet der »Immanenz« oder »Transzendenz« an: sondern sein Wert besteht eben darin, daß es diese Gegensätze (...) überwindet. Es ist nicht das Eine oder das Andere, sondern es stellt das »Eine im Anderen« und das »Andere im Einen« dar."25 Das bedeutet freilich nicht, wie es Marc-Wogau kritisiert hat, daß das Reale als Reales ... Wenn gleichwohl weiterhin vom Realen die Rede ist, so lediglich als Grenzbegriff. Cassirer hat vielmehr demgegenüber geltend gemacht, daß "die »Materie« der Wahrnehmung (...) kein reales Sein" darstelle, welches "sich isolieren und in dieser Isolierung als reine Gegebenheit (...) aufzeigen ließe": "Sie ist vielmehr ein Grenzbegriff (...). Er dient nicht dazu, ein eigenes, selbständiges, absolutes Sein gegenüber der Welt der reinen Formphaenomene zu behaupten, sondern vielmehr dazu, bestimmte Beziehungen innerhalb dieser letzteren aufzuweisen. Kraft dieser Beziehungen gliedern sich die Formphaenomene in sich selbst."26 D.h. das Symbolische ist Funktion, der Symbolbegriff ein Relationsbegriff; daher könne vom Realen, wie von den Variablen einer mathematischen Funktion, immer nur in einem "reinen Beziehungssinne" gesprochen werden, nicht in einem absoluten. Der Glaube, "daß wir die »Wirklichkeit« als ein gegebenes und selbstgenügsames Sein (...) vor aller geistigen Formung besitzen", sei daher prinzipiell verfehlt.27 Reines Stellenzeichen innerhalb der notwendig dreistelligen Relation. Dreistelligkeit zeigt an, daß das Symbolische immer Bezug ist, d.h. auf etwas bezogen bleibt und sich nicht ganz in reine Immanenz abkoppelt. 3. Philosophie des Geistes als energeia Wenn sich aber die Symbolisierungen derart als reine Produktionen erweisen, dann erhebt sich die weitere Frage, was das zugrundeliegende konstitutive Prinzip der Produktivität ist. Cassirer bestimmt es aus der Freiheit des Geistes. Diese Freiheit erscheint nicht beliebig im Sinne unbeschränkter Möglichkeit, sondern sie findet ihr Maß in der Notwendigkeit geistiger

21 Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 31 22 Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, a.a.O., S. 133 23 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3, a.a.O., S. 447 24 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3, a.a.O., S. 449 25 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3, a.a.O., S. 447 26 Cassirer, Zur Logik des Symbolbegriffs, a.a.O., S. 213 27 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, a.a.O., S. 137

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Bezugsetzung selber. Das bedeutet: der Geist ist nur insoweit frei, als er mittels Symbolisierungen überhaupt Bezüge setzt und damit Bedeutungen hervorbringt. Dieses Setzen, mit Fichte zu sprechen, geschieht als reine "Tathandlung". "(A)ller Inhalt der Kultur", schreibt Cassirer im 1. Band der Philosophie der symbolischen Formen, "sofern er in einem allgemeinen Formprinzip gegründet ist, (hat) eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Voraussetzung (...). (D)as »Sein« ist hier nirgends anders als im »Tun« erfaßbar."28 "Nicht das bloße Betrachten, sondern das Tun bildet vielmehr den Mittelpunkt, von dem für den Menschen die geistige Organisation der Wirklichkeit ihren Ausgang nimmt."29 "Im Anfang ist die Tat: im Gebrauch der Sprache, im künstlerischen Bilden, im Prozeß des Denkens und Forschens drückt sich je eine eigene Aktivität aus (...). (A)lle Kulturformen, so verschieden sie voneinander auch sein mögen, sind aktive Ausdrucksformen. (...) Sie sind nicht einfache Geschehnisse, die sich in uns und an uns abspielen, sondern sie sind sozusagen spezifische Energien, und durch den Einsatz dieser Energien baut sich für uns die Welt der Kultur, die Welt der Sprache, der Kunst, der Religion auf."30 Cassirers Symbolphilosophie wurzelt also letztlich im Begriff der "reinen Subjektivität" des Geistes. Sie verbleibt damit noch ganz im Umkreis des neuzeitlichen Diskurses, indem sie das Wesen der Freiheit aus dem Pathos der Subjektivität versteht. Und wie für Humboldt die Sprache kein "Ergon", Werk, sondern "Energeia", Am-Werk-sein, ist31, so konkretisiert sich auch für Cassirer die Seinsweise des Geistes in seiner "Energie", seinem "Leben".32 Energie und Leben wiederum zeigen sich im Wirken. "Wirken" ist "Wille zur Form". Für Cassirer gibt es demnach eine genuine Identität von Form und Vollzug: "Das Werden", so schreibt er im 3. Band der Philosophie der symbolischen Formen, "ist (...) weder bloßes Leben, noch bloße Form, sondern es ist Werden zur Form."33 Der Geist im Sinne der "Energeia" tendiert mithin zur Schließung der Form: Sein Wirken rundet sich zur konkreten Gestalt. Beide - Wirkung und Werk, Formung und Vollendung - gehören indessen zusammen. Sie markieren die spezifische Struktur der Subjektivität des Geistes, in der sich die "Arbeit" der Symbolisierung als Objektivation von Welt zeigt.34 Der Geist wird so zum Künstler, zum eigentlichen Werkmeister. Sein Kunstwerk, sein Gebilde ist das Ganze der Kultur. Diese enthüllt sich als ein stets sich in Formen vollendender Prozeß. 4. Funktionen des Geistes und die Vielfalt der symbolischen Formen Hier sehen wir uns allerdings mit einer grundsätzlichen methodischen Schwierigkeit konfrontiert, die in ähnlicher Weise auch die Philosophie Kants traf. Denn soweit sich der Geist nicht anders zu objektivieren vermag als vermittels Symbole, kann er sich umgekehrt als das, was er ist, nicht objektivieren. "Der Gehalt des Geistes erschließt sich nur in seiner Äußerung; die ideelle Form wird erkannt nur an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen, derer sie sich zu ihrem Ausdruck bedient", konstatiert Cassirer im 1. Band der Philosophie der symbolischen Formen35. Ebenso wie die Objektivität des Objekts entzieht sich auch die Subjektivität des Subjekts. Die Wirklichkeit des

28 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, S. 11 29 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2, a.a.O., S. 187 30 Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 51 31 vgl. W. v. Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (1830-1835), in: ders., Werke, Darmstadt

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32 vgl. Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, a.a.O., S. 132; ferner ders., Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, S. 48ff. 33 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 4; zitiert nach Schwemmer, Der Werkbegriff in der Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., S. 240. Im Bd. 3 der Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., S. 447 heißt es: "(Die symbolischen Formen, H.v.m.) sind Weisen des »Werdens zum Sein«". Werden zur Form ist daher zugleich Werden zum Sein. 34 In dem jetzt aus dem Nachlaß edierte vierte Band der Philosophie der symbolischen Formen entwickelt Cassirer - im Anschluß an Goethes Lehre von den "Urphänomenen" - eine Theorie der drei Basisphänomene "Ich" (Selbst), "Wirken" (Wille) und "Werk". Cassirer bezieht sich dabei auf Goethes Maxime 391-393. Vgl. dazu auch O. Schwemmer, Der Werkbegriff in der Philosophie der symbolischen Formen, S. 228f. Das "Leben" des Geistes vollzieht sich dann als deren Einheit, wobei sich die Basisphänomene jeweils als irreduzible Aspekte eines Ganzen erweisen. 35 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., Bd. 1, S. 18

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Geistes ist sowenig faßbar wie die Wirklichkeit des Wirklichen. "Wir können niemals das unmittelbare Sein und Leben des Bewußtseins rein als solches bloßlegen", heißt es entsprechend im 3. Band der Philosophie der symbolischen Formen36 weiter; wohl aber ließe sich, so Cassirer, am "Bilden selbst, so verschieden und ungleichartig die Gestalten auch sein mögen, die aus ihnen hervorgehen, doch gewisse gemeinsame und typische Grundzüge der Gestaltung selbst herausheben"37. Die Philosophie der Kultur ist damit nur mittelbar zu gewinnen. Die auffallende Unbestimmtheit in den Formulierungen Cassirers reflektiert diese Verlegenheit. Ihr entspricht der Vorwurf Heideggers in der "Davoser Disputation", daß zwar der terminus ad quem, der Endpunkt, klar sei, nicht aber der Anfang, der terminus a quo - ein Vorwurf, der in Bezug auf den Mythos von Hans Blumenberg wiederholt wurde. Auszugehen hat die "Philosophie der symbolischen Formen" jedoch in der Tat vom Ende her. Ihr Material sind die mannigfachen Zeichen und Äußerungen, die Bildungen und Gestalten, in denen sich der Geist symbolisch selbst objektiviert hat: "Die Religion, die Sprache, die Kunst", schreibt Cassirer in Zur Logik der Kulturwissenschaft: "das alles ist für uns nicht anders faßbar als in den Monumenten, die sie sich geschaffen haben. Sie sind die Wahrzeichen, die Denk- und Erinnerungsmale, in denen wir allein einen religiösen, einen sprachlichen, einen künstlerischen Sinn erfassen können."38 Darum nennt Cassirer seine "Philosophie der symbolischen Formen" auch - so der Untertitel der drei Bände - eine "Phänomenologie der Kultur" - freilich eine Phänomenologie weder im Hegelschen noch im Husserlschen Sinne, sondern als Spurenlese im Symbolischen selbst.39 Solche Spurenlese geschieht zunächst als Hermeneutik aus der Mitte der Kultur. "Eine Kultur wird uns nur zugänglich, indem wir aktiv in sie eingehen", sagt Cassirer40. Außerdem findet sich im Nachlaß die Bemerkung: "Erkenntnistheorie ist im Grunde nichts anderes als eine Hermeneutik der Erkenntnis."41 Angewiesen bleibt sie nämlich auf die Deutung der symbolischen Selbstentäußerungen, um durch sie hindurch auf das zurückzuschließen, was ihnen als konstitutives Bildungsprinzip zugrundeliegt. Doch erschöpft sich die Kulturphilosophie keinesfalls nur Hermeneutik - diese gilt ihr vielmehr bestenfalls als "Propädeutik" -, sondern ihr wesentlichen Anliegen ist die Rekonstruktion von Basisstrukturen: "(D)ie Kulturwissenschaft lehrt uns", heißt es in Zur Logik der Kulturwissenschaft, "Symbole zu deuten, um den Gehalt, der in ihnen verschlossen liegt, zu enträtseln - um das Leben, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen sind, wieder sichtbar zu machen."42 Die Gesamtheit des geistigen Lebens präsentiert sich uns jedoch, so Cassirer, "unendlich-differenziert"; es tritt uns "in tausend Offenbarungen und tausend Masken" entgegen43. Seine Mannigfaltigkeit geht auf jeweils unterschiedliche, wie Cassirer in Der Begriff der symbolischen Form und der Aufbau der Geisteswissenschaft sagt, "Energien des Bildens" zurück44. "Das System der mannigfachen Äußerungen des Geistes ist für uns nicht anders faßbar, als dadurch, daß wir die verschiedenen Richtungen seiner ursprünglichen Bildkraft verfolgen", heißt es entsprechend im 1. Band der Philosophie der symbolischen Formen. Nicht an sich selbst, sondern als unterschiedliche "Sichten" oder "Orientierungen" des Denkens und Erkennens lassen sie sich rekonstruieren. "Gelänge es, einen systematischen Überblick über die verschiedenen Richtungen dieser Art des Ausdrucks zu gewinnen - gelänge es, ihre typischen und durchgängigen Züge, sowie deren besondere Abstufungen und innere Unterschiede aufzuweisen, so wäre damit das Ideal der >allgemeinen Charakteristik<, wie Leibniz es für die Erkenntnis aufstellte, für das Ganze des

36 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3, a.a.O., S. 63 37 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, a.a.O., S. 51 38 Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 42 39 In Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 42, schreibt Cassirer: "Die Lösung kann nur in einer phänomenologischen Analyse gelingen", die, "ohne Vorbehalt und ohne erkenntnistheoretisches Dogma, jede Art von Sprache, die wissenschaftliche Sprache, die Sprache der Kunst, der Religion usf., in ihrer Eigenart zu verstehen such(t)". 40 Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 76 41 vgl. J.M. Krois, Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen, in: Orth et al (Hsg.), Über Cassirers Philosophie der symbolische Formen, Frankfurt/M 1988, S. 26 42 Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 86 43 vgl. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 76 44 Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form und der Aufbau der Geisteswissenschaft, a.a.O., S. 163

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geistigen Schaffens erfüllt. Wir besäßen dann eine Art Grammatik der symbolischen Funktion als solcher, durch welche deren besondere Ausdrücke und Idiome, wie wir sie in der Sprache und in der Kunst, im Mythos und in der Religion vor uns sehen, umfaßt und generell mitbestimmt würden."45 Eine solche "Grammatik der Funktionen" hat Cassirer indessen nirgends explizit ausgeführt. Sie bleibt Desiderat, das aus dem Gesamtwerk bestenfalls indirekt abgeleitet werden kann. Freilich gibt Cassirer eine Reihe von Hinweisen. Offenbar denkt sich Cassirer die "Energeia" des Geistes aufgefächert nach verschiedenen "geistigen Grundhandlungen", vermöge derer sich erst der symbolische Bezug auf Welt gestaltet. Der Prozeß der Kultur, schreibt Cassirer, beruht auf "Grundformen und Grundrichtungen des geistigen Produzierens". "Es ist eine Art des Sich-Verhaltens, es ist die Richtung, die sich der Geist auf ein gedachtes Objektives gibt, in welcher hier die letzte Gewähr eben dieser Objektivität selbst enthalten ist."46 Diese Grundrichtungen werden in der Davoser Disputation mit Heidegger auch als "Funktionen" der "produktiven Einbildungskraft" charakterisiert47. Cassirer spricht in Zur Logik des Symbolbegriffs auch von "Vektoren", von gleichsam differenten "»Dimensionen« des Erfassens, des Verstehens, des Denkens der Phaenomene", gemäß derer "auch das Verhältnis von Ich und Welt einer mehrfachen Fassung und Gestaltung fähig ist"48. Diese Dimensionen oder Vektoren des Erkennens lassen sich nach Anschauen, Fühlen, Bestimmen, Erinnern, Werten etc. gliedern. Cassirer stellt weder eine allgemeine Hierarchie auf noch läßt sich ihre lose Aufzählung zu einem vollständigen System abschließen. Wir haben hier keine "Kategorientafel" im Sinne Kants, sondern ein loses Band von Perspektiven und Zugangsformen. Sie beruhen auch nicht auf einzelnen Bewußtseinszuständen oder intentionalen Akten - das hieße, das Geschehen der Kultur in lauter Einzelleistungen zu zersplittern - sondern sie sind vielmehr praktische Vollzüge im Sinne formaler Bezugsweisen. Sie gleichen den "Wegen" des Geistes, in denen er sich objektiviert und die Welt erschließt - im Wortsinne von met'hodos: "Methoden" der kulturellen Selbstentfaltung. Der Inbegriff aller dieser Wege macht das Ganze der Kultur aus. D.h. Kultur ist gleichsam durch die Vielfalt der Grundhandlungen "orientiert", und zwar in Richtungen des Ästhetischen, Begrifflichen, Sprachlichen, Werthaften und Geschichtlichen etc. Zu ihnen gehören jeweils Formen des Be-deutens oder der Symbolisierung, welche die Wirklichkeit kraft der von ihr geschaffenen Bilder, Zeichen und Figuren je verschieden klassifizieren, ordnen und einteilen. Sie öffnen die Welt nach unterschiedlichen Seiten hin, geben ihr Struktur, Halt und Orientierung: Mythos und Religion als Gestaltung des Gefühls, Sprache als Gliederung und Be-zeichnung des sinnlich Gegebenen, Kunst als Konstruktion von Anschauung und Intuition, Wissenschaft als Ordnung der Begriffe und Erkenntnisse, Geschichte als Organisation von Zeit und Erinnerung, Sitte und Moral als Prägungen des Wertens usw. Aus der Pluralität der Funktionen des geistigen Tuns folgt so die Pluralität der zu "objektiven Gestalten" geronnenen symbolischen Formen. Cassirers Kulturphilosophie erweist sich so in ihrem Kern als pragmatisch. Doch muß der Begriff der Pragmatik strikt vom Pragmatismus der modernen Handlungstheorien getrennt werden. Cassirer spricht nicht über Basishandlungen oder empirisch beschreibbare Verhaltensweisen. Vielmehr ist die "Philosophie der symbolischen Formen" reine Formenlehre. Gleichwohl bleibt das Praktische im Sinne von "Funktionen" oder "Richtungen" des "Wirkens" überall leitend. Sie entsprechen notwendigen conditiones sine quibus non, gewissermaßen unentbehrliche Präsuppositionen der Beschreibung des kulturellen Geschehnis. Darüber hinaus aber finden sie als solche bei Cassirer keine nähere Begründung oder Deduktion, sondern sie werden in ihrer Vielfalt als Faktum hingestellt. Sie sind gleichursprünglich und irreduzibel. Sie erscheinen als "Funktionen des Geistes". Als solche bleiben sie letztlich anthropologisch fundiert.

45 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 1. Bd., S. 21 46 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 1. Bd., S. 11 47 Davoser Disputation, in: Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, S. 247f. 48 Cassirer, Zur Logik des Symbolbegriffs, a.a.O., S. 208, 209

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Im echten Sinne erweist sich Cassirers Philosophie damit zugleich im pluralistisch. Sie leitet das Viele nicht aus dem Einen ab, sondern läßt es als Vielheit bestehen. Das bedingt zugleich, daß Kultur ihr rationales Zentrum verliert. Darin liegt die eigentliche Überwindung des Rationalismus der Aufklärung. Man könnte sagen: Es gibt nur noch an der Peripherie gelegene Erkenntnisformen, die sich gleichsam um das imaginäre Zentrum der Energeia des Geistes bewegen. 5. Mythos und Logos Cassirer bettet seine "Philosophie der symbolischen Formen" gleichzeitig in eine komplexe Theorie der Geschichte ein, und keine Rekonstruktion seiner Theorie kann gelingen, die nicht zugleich die "Grammatik der Formen" in den Zusammenhang der Historie stellte. Gleichwohl zeichnet Cassirer so etwas wie eine allen Kulturen gemeinsame Grundfläche aus, über die sich erst aufgrund historischer Ausdifferenzierung der ganze Raum der Kultur erhebt. Diese Grundfläche besteht aus den Gegenrichtungen "Mythos" und "Logos". In ihrem Wesen erweist sich so die Philosophie Cassirers als dualistisch. Die historische Grundform, sozusagen der Keim jeder menschlichen Kultur bildet der Mythos. Er verfaßt bereits in sich ein Ganzes von Welt vermöge Anschauung, Wertung, Erinnerung, Bezeichnung etc. Er ist daher selbst schon in sich eine pluralistische Organisation des Wirklichen entsprechend den unterschiedlichen Grundhandlungen oder Bezugsformen des Geistes. Er gibt dergestalt dem Ästhetischen, Ethischen, Technischen, Historischen, Sprachlichen usw. eine Basis im Fühlen, aber in sich noch ungeschieden, sozusagen als unmittelbare Einheit, und zwar so, daß das Symbolische mimetisch funktioniert und die Welt physiognomischen Charakter hat. Von Anfang an denkt aber Cassirer ein dem Mythos entgegengesetztes Prinzip. Anhand der Bildung der "Götternamen" zeigt Cassirer, daß zwar die sprachlichen Benennungen und Begriffsbildungen einen mythischen Kern besitzen;49 gleichwohl aber die Sprache insofern "universal" erscheint, als sie am Aufbau jeder anderen symbolischen Form immer schon beteiligt ist: "Denn die Sprache gehört nicht ausschließlich dem Reich des Mythos an; sondern in ihr ist von ihren Anfängen an eine andere Kraft, die Kraft des Logos, wirksam. (...) Der Geist lebt und waltet im Wort der Sprache wie im mythischen Bilde, ohne von beiden beherrscht zu werden."50 Mit anderen Worten: schon mit dem ersten Zeichen, dem ersten sprachlichen Ausdruck ist das Prinzip des logos anwesend. Er ermöglicht überhaupt erst die Dynamik der historischen Ausdifferenzierung der Kultur durch die einzelnen Formen, die sonst unverständlich bliebe. Logos ist das Prinzip der Rationalisierung, daß allererst die Macht des Mythos zu brechen und einen Fortschritt in der Selbsterkenntnis der Menschheit ermöglicht. Diesen Fortschritt bestimmt Cassirer als fortlaufenden Bildungsprozeß hin zu einer zunehmenden inneren Autonomisierung der symbolischen Formen, und zwar entlang dreier idealtypischer Stadien, die freilich nicht einen unab-änderlichen Stufengang markieren, sondern ausschließlich den Charakter von Potentialitäten tragen: die Phase des Ausdrucks, der Darstellung und der reinen Bedeutung.51 Ihnen korrespondieren histo-risch herstellbare Sinnschichten, die Cassirer jeweils als "mimetisch", "analogisch" und "symbolisch" bezeichnet. Sie betreffen nicht die Bedingungen der Bedeutungskonstitution als solche, sondern deren historische Realisierung. Das erhellt sich daran, daß Cassirer sie am konkreten Geschichtsverlauf jeder einzelnen symbolischen Form nachzuzeichnen versucht, sei es anhand der Entwicklung der Sprache, des mathematischen Zeichens,52 des physikalischen Kausalitätsbegriffs,53 des philosophischen Erkenntnisproblems54 oder der Staatsauffassungen55 usw.

49 vgl. Cassirer, Sprache und Mythos, a.a.O. 50 ebenda S. 156, 157 51 vgl. besonders Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, a.a.O., Kap. II-IV 52 vgl. Cassirer, Das Erkenntnisproblem, Bd. IV, Darmstadt 1973, S. 29ff. sowie Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3, a.a.O., S. 383ff., 417ff. 53 vgl. Cassirer, Das Erkenntnisproblem, Bd. IV, a.a.O., S. 88ff., sowie Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3, a.a.O., S. 474ff. 54 vgl. Cassirer, Das Erkenntnisproblem, Bd. I-III (1906-1920), Darmstadt 1974 55 vgl. Cassirer, Der Mythus des Staates, a.a.O.

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Man kann daher sagen, daß Cassirer derart vertikale Strukturprinzipien der Symbolisierung mit horizontalen Dimensionen ihrer Geschichtlichkeit zusammenbringt - gleichsam eine Verschränkung von "Synchronie" und "Diachronie". Den vertikalen Strukturprinzipien entspricht die "Grammatik" der symbolischen Formen als einer "Grammatik der Kultur"; den horizontalen Dimensionen die Stufen ihres möglichen historischen Bildungsprozesses. Als Ziel dieses Bildungsprozesses läßt sich ausweisen, daß "der Geist (...) in seinen selbstgeschaffenen Symbolen nicht nur ist und lebt, sondern daß er sie als das, was sie sind, begreift".56 M.a.W.: Das Ziel ist das Sich-selbst-durchsichtig-werden des Geistes, das gleichwohl nirgends ankommt oder Erfüllung findet, sondern höchstens asymptotisch im Unendlichen konvergiert.

So könnte man mit Cassirer "im ganzen genommen (...) die Kultur als den Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen beschreiben."57 Doch gibt es im Abenteuer der Freiheit keine festen Haltepunkte oder Garantien, sondern lediglich Versuch und Anstrengung. Sie sind gleichbedeutend mit der immer wieder neu ansetzenden Bemühung um Humanität. 6. Theorie der symbolischen Prägnanz Dennoch bleibt als letzte Frage die des Kriteriums oder Maßes der Symbolisierung. Wenn die Formen ihre Grundlage in einer freien "Energie" des Geistes haben, erhebt sich das Problem eines bindenden Prinzips oder einer "ver-bindlichen" Synthesis. Sie führt zur Theorie der "symbolischen Prägnanz". Sie bildet gewissermaßen das theoretische Herzstück der Philosophie der symbolischen Formen58. "Unter »symbolischer Prägnanz« soll (...) die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als »sinnliches« Erlebnis, zugleich einen bestimmten anschaulichen »Sinn« in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt."59 Cassirer begreift sie als "echtes »Apriori«, als wesensmäßig-Erstes"60, das insofern weder erklärt noch symbolisiert werden kann, weil es bereits den Grund aller möglichen Erklärung und Symbolisierung darstellt. Weist man auf die etymologische Wurzeln des Ausdrucks aus dem deutschen "Prägen" und dem lateinischen "praegnans" (schwanger) hin61, verbindet sich in ihm die Idee der Formung mit der Vor-stellung von Fruchtbarkeit. Die "symbolische Prägnanz" beschreibt mithin einen schöpferischen Formprozeß. Cassirer verankert auf diese Weise alles symbolische Bedeutungsgeschehen in einem kreativen Gestaltungswillen, welcher im ungeordneten Fluß der Wahrnehmung "Pointierungen" oder "Aus- und Abgrenzungen" vornimmt oder "Identifizierungen" und "Kontraste" einträgt.62 So gibt die Arbeit der Prägnanz dem anschaulich Gegebenen seine Kontur und Fixierung - und gestattet derart allererst die symbolische Strukturierung der Wirklichkeit. Als allgemeines Gestaltungsprinzip hebt Cassirer besonders die "Kraft der Verdichtung" bzw. "Konzentration" hervor: "Es ist, als würde durch die Schöpfung eines neuen Symbols eine gewaltige Energie des Denkens aus einer relativ-diffusen Form in eine konzentrierte Form überführt."63. Die Ähnlichkeit der Formulierung mit den Mechanismen der "Traumarbeit" in der Psychoanalyse Freuds und der Theorie von Metonymie und Metapher im Strukturalismus ist auffällig64 - freilich so, daß Cassirer den Prozeß der "symbolischen Prägnanz" augenscheinlich ganz auf die "dichterische" Funktion der Metaphernbildung konzentriert und die Metonymie, als dem nach Roland Barthes

56 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd 2, a.a.O., S. 34 57 Cassirer, Versuch über den Menschen, a.a.O., S. 345 58 vgl. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3, a.a.O., S. 222-237 59 ebenda, S. 235 60 ebenda, S. 236 61 Krois, Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., S. 25. Zur Bedeutung des "symbolischen Prägnanz" vgl. auch Krois, Cassirer, Symbolic Forms and History, a.a.O., p. 52-57 62 vgl. O. Schwemmer, Die Philosophie und die Wissenschaften, Frankfurt/M 1990, S. 57 63 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3, a.a.O., S. 469. Vgl. auch ders., Der Mythus des Staates, a.a.O., S. 65 64 vgl. dazu H. Gallas, Strukturalismus als interpretatives Verfahren, in dies. (Hsg.), Strukturalismus als interpretatives Verfahren, Darmstadt Neuwied 1972, S. XIff., XXVIIff.

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lediglich prosaischen Spiel der Verschiebung, vernachlässigt65. Der Schluß liegt nahe, daß Cassirer die Kreativität des Geistes wesentlich "metaphorisch" versteht. Weltdeutung beruht immer schon auf einem metaphorischen Bezug. Das gilt nicht nur für das mythische und religiöse Denken oder für die Kunst, sondern gleichermaßen auch - in scharfem Gegensatz zur Erkenntnistheorie des Neukantianismus - für die wissenschaftliche Begriffsbildung. Damit ist freilich zugleich die Frage nach Cassirers Wahrheitsverständnis tangiert. Zwar bildet die Metaphorik die Grundlage allen Be-deutens und damit auch Erkennens; doch bleiben - anders als bei Heidegger, der Wahrheit im Sinne von "aletheia" als "Entdecktheit" bzw. "Unverborgenheit" in-terpretiert - Klarheit und Bestimmtheit des symbolischen Zugriffs maßgeblich. Die metaphorische "Entdeckung" der Welt stellt so nur eine Seite des Wahrheitsprozesses dar; seine Ergänzung findet er erst in einer ständig noch zu vollziehenden begrifflichen - bzw. logischen - Verfeinerung. Der Befund entspricht zugleich der Dopplung der Grundformen von Mythos und Logos. Wie der Mythos wesentlich dichterisch oder metaphorisch arbeitet, so das Prinzip des Logos mittels klarer und eindeutiger Symbolisierung. Der Dualismus Cassirers findet in der Theorie der Prägnanz seine Bestätigung. Insbesondere legt die Rolle der Metaphorik abermals Zeugnis ab vom eigentlich produktiven Verhältnis des Menschen zur Welt. Durch sie beweist sich erneut seine Unabhängigkeit und damit seine Freiheit. Doch erscheint diese für Cassirer niemals beliebig, sondern - im Sinne des logisch-begrifflichen Prinzips - immer zugleich gliedernd, ordnend und strukturierend. Die Kreativität der Metaphorik bleibt demnach durch ein Maß gebunden, insofern die "symbolische Prägnanz" bereits beides enthält: Erfindung und Treffsicherheit. So verwirklicht sich ihr Vermögen, Sinnliches in präzise Bedeutungsgehalte zu kleiden, in dem, was Goethe schlagend mit dem scheinbaren paradox klingenden Ausdruck der "exakten Phantasie" bezeichnet hat. In ihr verschränken sich Rationalität und Imagination. So schließt sich an die Diskussion der "symbolischen Prägnanz" gleichzeitig die Frage nach der Vernunftsauszeichnung des Symbolischen an. Offensichtlich fügt sich die "Bedeutungsgebung" keinen festen Regeln oder allgemeingültigen Prinzipien. Es gibt für Cassirer keine definitiven Kriterien der Symbolisierung, darum auch keine strikte Rationalisierbarkeit; vielmehr scheint sie sowohl gekoppelt an die Ungreifbarkeit des Ereignisses schöpferischer Einbildungskraft als auch an die Strenge genauer Formgebung, die ihr Maß nicht in Wahrheit, sondern allein in Triftigkeit oder Angemessenheit findet. Die Symbolisierung partizipiert somit letztlich an beiden: an der Metaphorik wie an der Logik der Begriffsbildung. Cassirer hat damit vor Blumenberg bereits darauf hingewiesen, daß das rhetorisch-metaphorische Denken auch für die präzise Sprache der Wissenschaften und der Philosophie konstitutiv ist; freilich hat er, moderater als Blumenberg, diese nicht in der Rhetorik wurzeln lassen, sondern die Logik und Rhetorik gleichermaßen als notwendige Elemente beschrieben. M.a.W.: Zur Grundlage der Symboltheorie gehört daher neben der Systematik auch eine Ästhetik.66 Gemeint ist damit freilich keine artistische Stilisierung im Sinne eines unverbindlichen l'art pour l'art, auch kein bloß äußerlicher Ästhetizismus, sondern im umfassenden Sinne die Konstruktivität des Poietischen.67 Cassirers symbolische Kulturphilosophie findet in dieser ihr eigentliches Fundament.

65 vgl. R. Barthes, Die Augenmetapher, in: H. Gallas (Hsg.), Strukturalismus als interpretatives Verfahren, a.a.O., S. 26. Ebenso wäre an dieser Stelle auf Blumenbergs Metaphorologie hinzuweisen; vgl. etwa H. Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt/M 1979, vor allem S. 75ff. Bezug auf Cassirer nimmt Blumenberg in: Ernst Cassirers gedenkend bei Entgegennahme des Kuno-Fischer-Preises der Universität Heidelberg, in: ders., Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1981, S. 163-172. 66 Darauf weist auch R.S. Hartman, Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, in: Schilpp (Hsg.), Ernst Cassirer, a.a.O., S. 187-228, hier S. 224, hin: "Cassirer faßte die Aufgabe der Ästhetik derart allgemein, daß sie sich zu dem erweitert, was er als die Aufgabe einer universellen »Philosophie der symbolischen Formen« zu bestimmen versucht hatte." 67 Das deckt sich auch mit Cassirers Verständnis der Kunst, der er eine "konstruktive Rolle bei der Gestaltung des menschlichen Universums" zugedenkt; vgl. dazu Versuch über den Menschen, a.a.O., S. 256.

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Die symbolische Prägnanz markiert das "synthetische Prinzip" in Cassirers Symbolphilosophie. Durch sie wird allererst die Produktivität des Geistes, seine energeia in eine bestimmte Richtung gelenkt. In der "prägnanten" Setzung des Symbols schlägt, wie Cassirer in Anspielung auf Goethes Bild vom Weberschiffchen sagt: "ein Schlag tausend Verbindungen" (vgl. auch Symb. Form. 1, S. 45). Diese "Kraft der Verknüpfung", wie Cassirer sagt (ebenda), geschieht durch "Verdichtung" und "Konzentration". Sie bilden die beiden Grundprinzipien der Synthesis. Die Prägnanz bildet durch Verdichtung und Konzentration, durch Vereinheitlichung und Verknüpfung, Differenzierung und Bestimmung etc. die eigentliche synthetische Leistung des Geistes. Sie markiert die Stelle der Transzendentalität nicht des Bewußtseins, sondern des Geistes. Diese werden gefaßt in Bild bzw. Metapher und Begriff , in "mythos" und "logos", wobei diese nun abstrakte Funktionen bezeichnen sollen, elementare Grundrichtungen des Geistes, aus denen sich erst die konkreten anderen: Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft entfalten. D.h. in allen ist die Dopplung von Metapher und Begriff wirksam. Ich interpretiere den zentralen Begriff der "symbolischen Prägnanz" bei Cassirer als Zusammenspiel aus Logik und Metaphorik, Rationalität und Ästhetik - und damit nicht von einer gegebenen Struktur oder Form der Wahrnehmung, sondern als "Formung des Geistes". Dabei: Metaphorische konstituiv für Prägnanz. Metaphorik: Verdichtung und Konzentration. Blick auf Freud, R. Barthes. Metynomie: Verschiebung (nicht relevant); vielmehr das "Bilden", zu Bildern gestalten, Formen im Sinne des Formprozesses - freilich im Sinne einer Pointierung. Goethewort vom "Weberschiffchen": "ein Schlag schlägt tausend Verbindungen". Ferner Goethes scheinbarer Oxymoron von der "exakten Phantasie"68. Die Prägnanz als Prinzip der Synthesis enthält wegen der Rolle der Metaphorik kein strenges und einheitliches Vernunftsprinzip im Sinne Kants. Gleiches gilt für die symbolischen Formen, die zwar Rationalisierungsmöglichkeiten bilden, aber den Begriff der Vernunft zugleich pluralisieren wie verflüssigen. Darum kann an ihnen auch kein Wahrheitskriterium begründet werden, bestenfalls ein Kriterium der Angemessenheit oder Triftigkeit. Bei kant ist die Freiheit der Subjektivität des Subjekts fest in Begriff und Prinzip der Vernunft als einer Vernunft verankert und dadurch gegen Willkür gesichert. Bei Cassirer gewinnt die Freiheit des Geistes ein ganz anderes Gewicht, wodurch alles Geistige relativer und ungesicherter wird - gleichwohl nicht in die Beliebigkeit sinkt. Prägnanz lebt aus der Dopplung von Bild und Begriff. Sie zeigt sich zugleich in den Grundfunktionen, die für jede Kultur charakteristisch ist, von "Mythos" und Logos". Sprache, heißt es, sei ein geistiges Grundmittel, das "im Keim bereits jene intellektuelle Arbeit in sich (schließe), die sich weiterhin in der Bildung des Begriffs (...) äußert." Gleichzeitig entsteht "neben der Welt der Sprach- und Begriffszeichen (...) mit ihr unvergleichbar", dennoch ihrem "geistigen Ursprung nach verwandt" die Gestaltwelten des Mythos und der Kunst. In der "symbolischen Funktion des Bewußtsein" heben sich so "zuerst (...) bestimmte gleichbleibende Grundgestalten, teils begrifflicher, teils anschaulicher Natur" heraus. Die erste Fixierung des geistigen Inhalts erfolgt so durch das "sprachliche Zeichen" und "das mythische oder künstlerische Bild" (vgl. Symb. Form. 1, S. 21, 22 passim). Diese Dopplung ist in jeder Symbolisierung, also auch in jeder symbolischen Form wirksam. Sie bedingt als Ursprung aller Kultur die Dopplung von Mythos und Logos, die als zwei Prinzipien zu verstehen sind. Daraus folgt die Deduktion der Grundformen: Mythos und Sprache bei Cassirer. Alle anderen Formen entfalten sich aus ihr als Ausdifferenzierung entlang der Achse des Logos. Die Logifizierung der Sprache bildet die Wissenschaft, die Logifizierung des Mythos Religion und Kunst. Das wirft die Frage nach dem Kriterium der Symbolisierung auf. Die "Prägnanz" als eigentliche Synthesis liefert gleichsam zur ein verwachsenes, verschwommenes Maß. Man kann sagen: Es gibt bei Cassirer kein absolutes Maß, kein strenges und eindeutiges Rationalitätskriterium, aber ebensowenig eine schlechthinnige Freiheit im Sinne eines bloßen Spiels. Wohl aber gibt es die relativen Maßstäbe der Angemessenheit und Triftigkeit. Die Prägnanz bezeichnet daher kein

68 Auf sie weist auch Cassirer an einer zentralen Stelle hin: Es gäbe eine "Aktivität des Sinnlichen", eine "exakte sinnliche Phantasie" im Sinne Goethes, die in den verschiedenen Gebieten des geistigen Schaffens wirksam sei. Durch sie entstehe "neben und über der Welt der Wahrnehmung" eine "eigene freie Bildwelt", die bereits "geformte Sinnlichkeit" darstelle. Vgl. Symb. Form 1, S. 20

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geschlossenes Vernunftsprinzip, sondern in der Dopplung von "mythos" und "logos" ein zugleich von Rationalisierung und Ästhetik. Sie bildet ein Prinzip der "Entdeckung". Zu ihr gehört darum keine ausschließlich ratio iudicandi, sondern weit eher beides, die Ergänzung von ratio iudicandi und ars inveniendi. Die Symbolisierungen sind Weisen der Entdeckung; sie erschließen, wie Cassirer mit Bezug auf Leibniz sagt, "neue Wege ins Unbekannte". Jedes Synthesis entwirft, entdeckt, eröffnet eine "neue Sicht", gewährt eine andere Richtung des Sehens. Durch sie wird allererst Welt beherrschbar - doch nicht so, daß Welt damit aus einem Prinzip "erklärbar" ist, sondern im beständigen Wechselspiel von Erklären (Begriff) und Verstehen, von Bild (Metapher) und Intuition zugänglich und aufschließbar wird. Doch bleibt letztlich die Frage, welche der Sichten produktiv sind, sich durchsetzen. Cassirer löst sie entlang der Listen der symbolischen Formen. So wird die Frage der Freiheit des Geistes nicht radikal beantwortet im Sinne der Beliebigkeit, aber auch nicht im Sinne der gesamten neuzeitlichen Philosophie als durch das Maß einer einheitlichen Vernunft beschränkte und begrenzte Freiheit. Bei Cassirer gibt es keinen einheitlichen Begriff der Vernunft mehr, kein einheitliches Rationalitätsprinzip, sondern nurmehr Rationalisierungsmöglichkeiten, wie sie die symbolischen Formen eröffnen und die Prägnanz ihnen Angemessenheit und Triftigkeit verleiht. Cassirers Verhältnis zur Transzendentalphilosophie: Cassirer spricht überall die Sprache der Kantischen Philosophie: er nennt sein Projekt eine "Kritik der Kultur" oder auch "kritische Kulturphilosophie" etc. Er spricht von Funktionen des Geistes etc. Gleichwohl greift sein Unternehmen weit über den Bereich der Transzendentalphilosophie hinaus. Die transzendentalphilosophische, z.T. neukantianische Sprache ist Analogie, Paradigma, um gleichsam durch sie hindurch etwas anderes zu sagen. Kants Kritik der reinen Vernunft (kritische Philosophie) ist selbst noch einmal in einem einheitlichen Vernunftbegriff verankert. Die reinen Verstandesfunktionen oder Kategorien bilden Invarianten, die Tafel gilt als vollständig. Dagegen pluralisiert Cassirers "Kritik der Kultur" das Erkenntnisvermögen des Menschen, ohne sie auf ein gemeinsames Prinzip, wohl aber ein gemeinsames "Zentrum", nämlich das der Symbolisierung" zurückzuführen. Die Symbolischen Formen fungieren zwar als Analogon der Kategorien; aber deren Liste ist nicht abgeschlossen oder vollständig und sie repräsentiert die Einheit des Geistes, nicht die Einheit der Vernunft. Kritik: Unterscheidet sich Cassirer in seinem Pluralismus der symbolischen Formen von der der Einheit der Vernunft im Sinne der Aufklärung, so bleibt er gleichwohl in seiner Geschichtsphilosophie, auch der historischen Ausdifferenzierung der Symbolformen der Aufklärung wiederum verpflichtet. Cassirer argumentiert latent hegelsch, freilich unter Abzug des Gedankens eines Wachstums der Vernunft, wohl aber eines Fortschritts der Symbolisierung, und damit des Zu-sich-selbst-kommens des Geistes. Es gibt nach Cassirer keinen notwendigen Prozeß der Rationalisierung in der Geschichte, wohl aber einen fortgesetzten Lernprozeß vom Mimetischen zum Symbolischen. Darin liegt für Cassirer zugleich die mögliche Überwindung der Macht des Mythos, des bloß Bild- und Ausdruckshaften hin zur Selbstgewahrung der Symbolisierung. Die Kriterium des Fortschritts liegt in der Ausdifferenzierung und Selbstentfaltung der Symbolformen. Die Kontingenz ihrer historischen Ausfaltung wird so zur Konsequenz eines Aufklärungsprozesses. Cassirer wird auf diese Weise die Idee der Geschichte als Bildungsroman nicht los. Er verkennt damit überall das Historische. Man muß entsprechend Cassirer gegen Cassirer lesen. Man muß seine Kategorien konsequent verzeitlichen und in den geschichtlichen Kontext stellen, dem sie angehören. Die Produktivität Cassirers besteht darin, daß er die Bedeutung des Symbolischen für die Kultur des 20. Jahrhunderts erkannte - aber er erkennte sie nicht als Spezifikum des 20. Jahrhunderts, sondern von Kultur überhaupt. D.h. er verkannte sie, indem er sie zugleich hypostasierte. Wenn man jedoch mit der Ausdifferenzierung der Formen Kunst, Wissenschaft, Sprache, Technik, Ökonomie etc. als historische Tatsachen und Resultat der Aufklärung beginnt, dann zeigt sich, wie die Kultur des 20. Jahrhunderts, dadurch daß sie sich pluralisiert, ihr rationales Zentrum verliert, indem sie zusehends unter den Primat der Autarkie des Symbolischen geraten. Nicht länger

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erscheint Vernunft als ihr gemeinsamer Bezugspunkt, sondern die Pluralität der Zeichenfunktion und der Bedeutungen, des Sinns. Von da her ereignet sich eine fundamentale Destruktion der Tradition.