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Grenzüberschreitung zwischen buddhistischen Dämonen und westlichen Hexen im japanischen Begriff „maj o (魔女)“ Ein Beitrag zur Übersetzungsgeschichte im modernen Japan Hisako ONO/Yoshie HAYAKAWA Bei der Übersetzung des deutschen Worts „Hexe“, des englischen witch“ und des französischen sorcièregreift man heutzutage automatisch auf das Wort majo ()“ zurück, das sich aus den zwei chinesischen Zeichen „dämonisch ( )“ und „Frau ( )zusammensetzt. Umfragen unter japanischen Studenten/-innen über das Bedeutungsfeld des japanischen Begriffs „majo“ haben gezeigt, dass die meisten Japaner/-innen heute wissen, dass die Vorstellung von „majo“ aus dem Okzident kommt und historisch in einer komplizierten, eher negativ konnotierten Tradition steht, die auch Hexenjagden, Hexenprozesse und Ähnliches einschließt. Aber kaum jemand wundert sich darüber, warum das Wort im Japanischen „majo“ übersetzt und mit den oben genannten Zeichen geschrieben wird. In der vorliegenden Arbeit wird untersucht, wie der japanische Begriff „majo ( 魔女 )entstanden ist. Dabei sollen die Grenzüberschreitungen bzw. die Vermischungen sowohl der kontinental-asiatischen und altjapanischen Kultur im Mittelalter, als auch der westlichen und japanischen Kultur in der neueren Zeit erwogen werden. Das Wort „majo (魔女)“ findet man erst nach der Meiji-Restauration (1868) in der japanischen Literatur; genauer gesagt, wird das Zeichen 魔女“ in der Lesung majo“ zum ersten Mal als Übersetzung für die deutsche „Hexe“ in „Hänsel und Gretel“ (1902) von Oto MORI, dem älteren Sohn von Ogai MORI, verwendet. Das Wort „魔女“ erscheint jedoch schon 1891 in der Übersetzung von Grimms Märchen bei Tamotsu SHIBUE, heißt dort aber „Matsukai -no-onna“, die dämonische Kraft bzw. Zauber beherrschende Frau. Im ersten „Deutsch-Japanischen Wörterbuch“ (1887) von KAZAMATSURI findet sich unter dem Stichwort „Hexe“ „die etwas Dämonisches bzw. den Zauber beherrschende Frau“. Erst im gleichartigen Wörterbuch von GYOTOKU (1890) tritt endlich majo (魔女) auf mit den zwei chinesischen Zeichen dämonischund Frau, aber es bleibt unklar, ob es „majo“ gelesen wurde. Es ist zu vermuten, dass diese Lesung oder selbst diese Kombination damals noch fremd gewesen sind. Ein Grund dafür ist, dass in anderen zeitgenössischen Übersetzungen dieser Hexenbegriff im Japanischen mit onibaba ( 鬼婆 )“ also „teuflische,

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Grenzüberschreitung zwischen buddhistischen Dämonen und westlichen Hexen

im japanischen Begriff „majo (魔女)“

― Ein Beitrag zur Übersetzungsgeschichte im modernen Japan ―

Hisako ONO/Yoshie

HAYAKAWA

Bei der Übersetzung des deutschen Worts „Hexe“, des englischen „witch“ und des

französischen „sorcière“ greift man heutzutage automatisch auf das Wort „majo (魔

女)“ zurück, das sich aus den zwei chinesischen Zeichen „dämonisch (魔)“ und „Frau

( 女 )“ zusammensetzt. Umfragen unter japanischen Studenten/-innen über das

Bedeutungsfeld des japanischen Begriffs „majo“ haben gezeigt, dass die meisten

Japaner/-innen heute wissen, dass die Vorstellung von „majo“ aus dem Okzident kommt

und historisch in einer komplizierten, eher negativ konnotierten Tradition steht, die auch

Hexenjagden, Hexenprozesse und Ähnliches einschließt. Aber kaum jemand wundert

sich darüber, warum das Wort im Japanischen „majo“ übersetzt und mit den oben

genannten Zeichen geschrieben wird. In der vorliegenden Arbeit wird untersucht, wie

der japanische Begriff „majo ( 魔 女 )“ entstanden ist. Dabei sollen die

Grenzüberschreitungen bzw. die Vermischungen sowohl der kontinental-asiatischen und

altjapanischen Kultur im Mittelalter, als auch der westlichen und japanischen Kultur in

der neueren Zeit erwogen werden.

Das Wort „majo (魔女)“ findet man erst nach der Meiji-Restauration (1868) in der

japanischen Literatur; genauer gesagt, wird das Zeichen „魔女“ in der Lesung

„majo“ zum ersten Mal als Übersetzung für die deutsche „Hexe“ in „Hänsel und

Gretel“ (1902) von Oto MORI, dem älteren Sohn von Ogai MORI, verwendet. Das

Wort „魔女“ erscheint jedoch schon 1891 in der Übersetzung von Grimms Märchen bei

Tamotsu SHIBUE, heißt dort aber „Matsukai-no-onna“, die dämonische Kraft bzw.

Zauber beherrschende Frau. Im ersten „Deutsch-Japanischen Wörterbuch“ (1887) von

KAZAMATSURI findet sich unter dem Stichwort „Hexe“ „die etwas Dämonisches bzw.

den Zauber beherrschende Frau“. Erst im gleichartigen Wörterbuch von GYOTOKU

(1890) tritt endlich „majo ( 魔女 ) “ auf mit den zwei chinesischen Zeichen

„dämonisch“ und „Frau“, aber es bleibt unklar, ob es „majo“ gelesen wurde. Es ist zu

vermuten, dass diese Lesung oder selbst diese Kombination damals noch fremd

gewesen sind. Ein Grund dafür ist, dass in anderen zeitgenössischen Übersetzungen

dieser Hexenbegriff im Japanischen mit „onibaba ( 鬼 婆 )“ also „teuflische,

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ungeheuerliche Frau“ wiedergegeben wird, eine Vorstellung, die sich ursprünglich auf

eine Gestalt nach ihrem Tod bezieht, welche sich in der japanischen bzw.

kontinental-asiatischen Tradition zu etwas Überirdischem entwickelt hat. Die

Schwierigkeit der Übersetzung besteht darin, die Differenz zwischen den europäischen

und den japanischen Dämonen zu erkennen.

Nach der Meiji-Restauration (1868) bis zur Veröffentlichung von Goethes

„Faust“ durch Ogai MORI (1913), in welchem mindestens zwei Szenen wie

„Hexenküche“ und „Walpurgisnacht“ die „Hexe“ schildern, gab es nacheinander 3

verschiedene Faust-Übersetzungen ins Japanische. In den „Faust“-Übersetzungen durch

Goro TAKAHASHI (1904) und durch Inazo NITOBE (1910) wird die „Hexe“ mit dem

Neologismus „yōba (妖婆)“, also feenhafte, ungeheuere alte Frau bezeichnet. Erst in der

Übersetzung durch Masaji MACHII (1912) tritt „majo(魔女)“ zwar als Übersetzung

von „Hexe“ auf, erscheint aber mit dem oben genannten neugebildeten Wort „yōba (妖

婆)“ gemischt in einem Text. Diese Mischung von „majo“ und „yōba“ verweist auf den

sogenannten „Trial-and-Error-Prozess“ der Übersetzungspraxis im modernen Japan wie

auch auf die Tendenz, dass die „Hexe“ im „Faust“ sowohl in der Übersetzung

„majo“ wie „yōba“ als Neologismus betrachtet werden kann, mit dem man einen

westlichen Begriff zur Anschauung zu bringen versuchte. Dagegen tritt als Übersetzung

von „Hexe“ in den Grimmschen Märchen nicht nur „majo“, sondern auch das Wort

„onibaba“ abwechselnd auf, um dadurch die „Hexe“ als einen vertrauten und

traditionellen Gegenstand zu antizipieren.

Der japanische, dämonische Begriff „ma (魔)“ geht eigentlich zurück auf das

Sanskrit-Wort „mara (魔羅)“, das einen Gegner oder Verführer Buddhas bezeichnet. Die

Schreibung „fuma (怖魔)“, die „Furcht vor dem Dämonischen“, also „Mönch“, bedeutet,

wurde auf einem alten Holztäfelchen in Ruinen aus dem 7. Jahrhundert in Nara

gefunden; sie scheint das älteste Zeugnis des Zeichens „ma (魔)“ in Japan zu sein.

Darüber hinaus ist erst durch die Einführung des Buddhismus im 6. Jahrhundert das

„ma (魔)“-Zeichen auch in Japan bekannt geworden. In der Heian-Zeit zeigen sich zwei

Richtungen vom „ma (魔)“: das Wort „ma (魔)“ bleibt einerseits als Vorstellung oder

Phänomen des Dämonisch-Verderblichen im buddhistischen Kontext stets mit dem

originalen, chinesischen Zeichen verbunden, andererseits wird es allmählich zur

inhaltlosen Silben- bzw. Tonschrift in den Literaturen.

In einem Wörterbuch der Lesart der chinesischen Zeichen „Ruijūmyōge-shō (類聚

名義抄)“ (ca.1100) werden vier Lesungen für „ma (魔)“ genannt, wie „ma“, „,oni“,

„kokome“, „tamashī“. Sie bedeuten „dämonisch“, „asiatischer Teufel“, „hässlicher,

weiblicher Teufel“, „Seele“. Da bemerkt man schon, dass die Vorstellung „ma (魔)“ mit

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der asiatischen Teufelsgestalt „oni“ in enger Beziehung steht. Die beiden sollen

eigentlich Gestalten nach dem Tod bezeichnen. Als etwas Ungeheures, Unklares und

Geheimnisvolles im Überirdischen oder im Makrokosmos präsentieren sich die beiden

allmählich in menschlicher Gestalt. Während „oni“ selber aber als eine noch

allgemeinere Gestalt betrachtet wurde, die bald Krankheit oder Unglück bringt, mit oder

ohne Opfergabe, bald als heilig-fremder Gast „marebito (まれびと)“ Glück bringen

soll, bleibt „ma (魔)“ immer negativ im Religionsbereich.

Die Schreibung „majo (魔女)“, also die Zeichenkombination „dämonisch“ und

„Frau“, aber mit der Lesung „manyo“, findet sich erst in der buddhistischen

Sagendichtung „Shaseki-shū (沙石集)“ (1283) in der Kamakura-Zeit. In diesem Text

darf man zwar „Frau (女)“ nicht in eigener Bedeutung verstehen, sondern nur vermittelt

durch die Konbination mit „ma (魔)“ im Sinne von „Leute in der untereren Schicht, die

nach dem Tod auf den buddhistisch dämonischen, höchst höllischen Weg gingen“ im

Vergleich mit „maō (魔王)“, also der Zeichenkombination von „dämonisch“ und

„König“, was die wenigen Leute in der obereren Schicht bezeichnet, die nach dem Tod

den gleichen Weg gingen. Der Zorn der Götter im Alt-Shintoismus war also früher

eigentlich in der Lage, dem Menschen Unglück, Strafe oder Rache zu bringen. Das

bezieht sich natürlich nur auf die alt-shintoistische Ahnenvergötterung. Aber in der

Vermischung des Buddhismus mit dem Alt-Shintoismus veränderte sich „ma

(魔)“ allmählich zu einem rächenden Geist, d.h. einen gegen etwas Diesseitiges Groll

hegenden Tod. Zum Beispiel in der „Hōgen-Geschichte (保元物語)“ am Anfang des 13.

Jahrhunderts verwandelte sich Kaiser SUTOKU(崇徳) (Regierungszeit 1123-41), der

im Mittelalter häufig als der rächende Geist in Kriegsepen auftritt, aus Rachegefühl

gegenüber seinem Bruder grollend in „maō (魔王)“ (Dämonischer König) bzw. „akuma

(悪魔)“ (Dämon) oder auch „tengu (天狗)“ (langnasiger Berggeist). Man könnte hier

auch sagen, dass sich der Begriff „ma (魔)“ einerseits mit anderen ungeheueren Wesen

wie „oni“ od. „tengu“ vermischt, aber andererseits doch im buddhistischen Bereich im

weiteren Sinne verbleibt.

Wie oben erwähnt, hat das Zeichen „ma (魔 )“ durch die Vermischung des

Buddhismus mit der einheimisch-japanischen Kultur seine eigene Bedeutung verbreitet,

aber es sollte doch bis zum 19. Jahrhundert stets buddhistisch-dämonisch behandelt

werden, dessen Zauberkraft immer etwas Verderbliches in der Ausbildung bzw. Askese

in der Welt implizierte. Erst nach der Öffnung Japans (1868), besonders aber auch

infolge der Einflüsse aus den Auslandsstudien einzelner Japaner konnte man auch den

westlich-christlichen Dämon als Fremdkultur in der eigenen Literatur wie Übersetzung

akzeptieren. Die deutsche Hexe in der japanischen Schrift, nämlich „majo (魔女)“ muss

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zwar ein oberflächliches Vorbild in „manyo (魔女)“ im 13. Jahrhundert haben, aber sie

konnte doch erst unter den Händen von Oto MORI und seinem Vater Ogai MORI als

der nicht vom asiatischen Kontinent, sondern vom Westen gekommene, weibliche Gast

belebt werden.

„Effi Briest“ als „Erziehungsroman“

Takayuki MATSUI

Im Lauf der Handlung von „Effi Briest“ wird das Problem der Erziehung zweimal

ausdrücklich behandelt. Die beiden Stellen sind in Bezug auf die psychologischen

Veränderungen der Hauptfigur sehr wichtig. Auch an weiteren Stellen werden die

Probleme über die Erziehung implizit behandelt. „Effi Briest“ ist paradoxerweise ein

Roman über die Erziehung, d.h. ein „Erziehungsroman“,kann man sagen. Das ist die

These,die diese Abhandlung bieten will. Warum müssen die Probleme der Erziehung in

„Effi Briest“ an entscheidenden Stellen diskutiert werden? Was bedeutet diese

Erziehung der Sache nach? Indem diese Abhandlung solchen Fragen nachgeht, will sie

die besonderen Charakter von Fontanes Kritik der Moderne darzustellen versuchen.

Bereits nach dem Hochzeitstag zeigen die Briests Nachdenklichkeit und Skepsis in

Bezug auf die Zukunft der Tochter. Der vielversprechende adelige Landrat Instetten

lasse als Ehemann der Tochter nichts zu wünschen übrig. Aber er sei nicht der

Mann,ihre Liebe mit leichter Manier zu gewinnen. Diese böse Voraussicht der Eltern

erfüllt sich: Diese Ehe scheitert. Ihre Tochter stirbt einen tragischen Tod. Über die

Ursache des Misserfolges der Ehe zeigen die Gespräche der Eltern im voraus Genaues.

„Arme Effi“! Jeder Leser glaubt,dass der Hauptübeltäter ihres Unglücks niemand

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anders als ihr Ehemann Instetten ist. Der Vorwurf gegen ihn wird direkt zur Kritik

gegen den Bürokratismus von Preußen führen. Aber unvoreingenommen betrachtet,ist

Instetten eine makellose Person,die sowohl gesellschaftlich als auch privat nichts zu

wünschen übrig lässt. Er trägt immer für Effi Sorge. Im Vergleich zu Crampas hat er

eine edle Gesinnung. Deshalb sollten wir vielmehr denken,dass diese Makellosigkeit

von Instetten nichts anders als die Ursache des Unglücks von Eff ist. Eben weil er nichts

zu wünschen übrig lässt,muss sie unglücklich werden. Wie wäre es,wenn wir so denken

sollten?

Indem Crampas Instettens Verhalten gegenüber dem Chinesenspuk als sein

„Erziehungsmittel“ für Effi deutet,fängt er an,sie zu verführen. Das ist die erste Szene

der Erziehung. Instetten sei der geborene Erzieher. Diese von Crampas veranlasste

Deutung kränkt Effi sehr. Diese Schande ist eine der entscheidenden Motive für ihren

Ehebruch. Danach lässt die Existenz von Instetten Effi immer das Wort

„Erzieher“ assoziieren. Warum verletzt diese Deutung,dass der Chinesenspuk eine von

Instetten erfundene List ist,so tief Effis Gefühl? Der Erziehende hat im Vergleich zum

Erzogenen entscheidende Überlegenheit. Der Erzogene ist dem Erziehenden unterlegen.

Die Überlegenheit und Minderwertigkeit,die durch den Betrug erfunden ist,beschädigt

das Vertrauen des Ehepaars. Dies zerstört sowohl die Basis des Selbstbewußtseins von

Effi als auch ihr Ideal des Ehelebens.

Wie kann man eigentlich die Funktion des Chinesenspuks innerhalb des Romans

bestimmen? Dieses wichtige und schwierige Problem wird lebhaft diskutiert. Der Spuk

kann am Anfang als Effis Sehnsucht nach Sinnlichkeit und gleichzeitig als Angst vor ihr

gedeutet werden. Nach dem ehelichen Treubruch bedeutet er ihr schlechtes Gewissen.

Im Lauf der Handlung funktioniert dieses Motiv vieldeutig. Man kann die Bedeutung

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des Chinesenspuks nicht eindeutig erklären. Einfach gesagt,funktioniert dieses Motiv

wie ein Ventil,die vieldeutige Leerheit in den Roman einführt,und entspricht der

Leerheit,die Effi im Eheleben fühlt.

Vor dem Hochzeitstag vertraut Effi ihrer Mutter an,dass sie sich vor Instetten

fürchte. Woher kommt diese Furcht? Dieser Frage beantwortet die Geschichte nicht

explizit. Ursache dieser Furcht ist die öffentliche und private Strenge der Lebensweise

von Instetten. Seine normative Spannung,die er sich selbst alltäglich auflegt,überträgt

sich auf die anderen Menschen,die sich in seiner Nähe befinden. Andere Menschen

finden diese ansteckende Spannung drückend. Crampas charakterisiert diese

Verhaltensweise von Instetten verächtlich als „Erzieher“. Diese Charakterisierung gibt

dem bedrückten Gefühl von Effi seinen Namen.

Als Effi drei Jahre nach der Scheidung ihre Tochter Annie wieder sieht,fühlt sie sich

durch die Wiederholung des verschlossenen Ausdruck ihrer Tochter „O gewiß,wenn ich

darf.“ niedergeschlagen. Schon der Umgang mit der Mutter für ihre Tochter ist

moralisch fragwürdig,weil die Mutter eine Sünderin ist und ihre Sünde unverzeihlich ist.

Effi nimmt an,die Erziehung von Instetten verursacht vorsätzlich die ablehnende

Verhaltensweise ihrer Tochter. Das ist die zweite Szene der Erziehung. Instettens

normative Spannung erstreckt sich auch auf seine Tochter. Aus Verzweiflung klagt Effi

ihren früheren Ehemann heftig als „Schulmeister“ und „Streber“ an. Diese Anklage

führt zur scharfen Kritik gegen ganze preußische Bürokratie. Das ist in allen Werken

von Fontane die stärkste kritische Äußerung gegen Preußen.

Auch Instetten selbst reflektiert kritisch sein eigenes Verhalten,indem er sich selbst

„Erzieher“ nennt. Auch für ihn funktioniert das Wort „Erzieher“ als Schlüsselwort. In

der Endephase des Romans verspottet Instetten,der trotz des Aufstiegs schon seine

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Familie und glückliches Leben verloren hat,sein eigenes „Schulmeistertum“. „Kultur

und Ehre“ überhaupt ist etwas Erzieherisches. Etwas Erzieherisches beherrscht

lückenlos die Welt. Es erscheint Instetten wie ein Käfig,der ihn selbst einschließt. Er

wollte sich daraus befreien,aber vergebens. Das Problem der Erziehung in „Effi

Briest“ führt so zu einer seriösen Kulturkritik.

Instetten ist keine einfache Seele. Er kann der konventionellen Norm gegenüber

Distanz halten und sie ironisch kommentieren. Aber trotzdem denkt er,dass er sich ihr

unterwerfen und ihrem Befehl folgen muss. Er ist durch die kollektive Konvention in

die Defensive gedrängt. In diesem Roman ist Instetten Intrigant. Aber zugleich ist er ein

Schwacher. Darin ist dieser Roman sehr überzeugend. Dem Zwang der Konvention

gegenüber muss man kraftlos und gehorsam sein. Das ist das Schicksal des

gesellschaftlichen Menschen,denkt Instetten. Warum? Weil er die gesellschaftliche

Norm internalisiert. Und eben die Prozess dieser Internalisierung ist nichts anderes als

die Erziehung. Instetten kann man Erzieher nennen,weil er dem Zwang der Gesellschaft

gehorcht und die Norm verinnerlicht.

Sowohl Effi als auch Instetten fühlen das eigene normative Bewusstsein als etwas

Äußerliches und Fremdes. „Etwas“,das innerhalb ihrer selbst ist und das sie trotzdem

nicht kontrollieren können,folgt ihnen und bestimmt ihre eigene Handlungen. Die

eigene Kraftlosigkeit schlägt sie nieder. Die Ursache der Tragik von Effi ist die

Spannung,die ihnen die normative Bewusstsein auferlegt. Wenn man solches

Bewusstsein für etwas außerhalb seiner selbst Liegendes hält,fehlt es dort an der

Autonomie,die die Verantwortlichkeit voraussetzt. Deshalb kann man niemanden

verantwortlich machen. Das Subjekt,das solches Böses verursacht,kann man nur

„Gesellschafts-Etwas“ nennen. Solches Böses kann man nur als gesellschaftliches

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Schicksal entsagend dulden. Das ist der Pessimismus,der Fontanes Realismus

kennzeichnet. Es ist auch der Grund,warum Effi Instettn am Ende des Romans vergibt.

Die Tragik,die Instetten für sie verursacht,ist für sie alle nichts anderes als ein

unvermeidliches Schicksal. Das kann man nur entsagend dulden. Auf der Basis der

Entsagung entsteht auch der Fontane typische Humor,der sich im auf Effs Schicksal

gemünzten Wort des Vaters vom „weiten Feld“ verkörpert.

Dieser Roman ist paradoxerweise ein Erziehungsroman. Einfach gesagt,behandelt er

die Geschichte,in der Instettens Erziehung Effis scheitert. Instettens unwillkürliches

Verhalten will Effi seiner normativen Haltung assimilieren. Diesem Zwang

widerstehend,tritt Effi aus der ganzen Gesellschaft,die die Norm umspannt,aus. Etwas

Erzieherisches,das sich in der Gesellschaft ausbreitet,vernichtet die Hauptfigur. Man

kann diese „Erziehung“ als Kraft,mit der sich die normative Spannung unwillkürlich

verbreitet,definieren. Unwillkürlich verbreiten heißt,es geschieht unabhängig von der

eigenen Absicht. Dieser Roman berichtet,wie die gesellschaftliche normative Spannung

einen unglücklich machen kann. Auf diese Weise kritisiert Fontane sehr ernst die

Kultur,die von dieser Spannung ganz durchdrungen ist. Die Kulturkritik dieses Romans

gilt noch heute. Die Moderne,die Fontane kritisiert,dauert immer noch an.

Die dämonische Freiheit

―Eine Untersuchung über Schillers Literatur

im Zusammenhang mit den hermetischen Traditionen―

Takashi SAKAMOTO

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Eklektizismus und Synkretismus lagen am Ursprung der Aufklärungszeit, nachdem

die traditionellen Instanzen der Wahrheit, Schule und Kirche, abgewirtschaftet hatten.

Diese zwei Geistesströmungen schlossen sich an die hermetischen Traditionen an, die

am Ende des Barockzeit durch die verspätete Wirkung Jakob Böhmes fortgesetzt

worden war. So erklärt Rolf Christian Zimmermann in seiner Monographie über das

Weltbild des jungen Goethe einen Hintergrund für die Neubelebung der geheimen

Tradition im Zeitalter der Aufklärung. Analogiedenken kennzeichnet diese Tradition.

Diese Denkweise versucht in Analogie zu Newtons Gravitationslehre, die ein Produkt

des aufklärerischen Empirismus ist, ein die Welt beherrschendes Gesetz zu erforschen.

Schiller sieht in der Liebe ein solches Gesetz, wie er in Tugend in ihren Folgen

betrachtet und seinen Philosophischen Briefen ausführt; Die Liebe bildet für „die

Gottheit“, „die Unsterblichkeit“ und „die Tugend“ die unerlässliche Voraussetzung.

„Die Unsterblichkeit“, vor allem in Schillers Die Künstler, entspricht dem

Palingenesie-Gedanken in Platons Timaios, der lehrt, dass die übernatürlichen Dämonen

das Leben der menschlichen Seelen auf der Erde als Genien begleiten. Schiller legt

dabei im Verständnis der Dämonen mehr Wert darauf, dass sie für die Verbindung der

Menschen mit dem übernatürlichen Bereich bürgen, als darauf, dass sie, als Schicksal,

das Leben der Menschen in vielfachen Formen bestimmen. In Die Künstler schließt sich

die Schönheit als Genius an die Menschheit an, und die Künstler erziehen unter Obhut

der Schönheit die Menschen dazu, dass sie ihr Vermögen der Vernunft, die nach Timaios

der göttliche Teil des Menschen ist, entwickeln. Der Dämon gibt also, in diesem Sinne,

der Menschheit eine teleologische Geschichtsphilosophie als Schicksal auf.

Schiller zieht aber ausdrücklich in seinen Philosophischen Briefen seinen

Palingenesie-Gedanken in Zweifel. Der Materialismus stellt sich hier der Theosophie

des Julius entgegen, die das Analogiedenken der Liebe benennt. Die aufgeklärte

Vernunft soll in dieser Theosophie eigentlich die von Gott erschaffene systematische

Welt entziffern. Aber die menschliche Vernunft erweist sich dafür als nicht ausreichend,

da das menschliche Vermögen im Vergleich zu Gott natürlich begrenzt ist. Die Vernunft

kann selbst die Wirklichkeit der Unsterblichkeit nicht beweisen, und der Materialismus

führt die Liebe nur auf physiologische Gründe zurück. Schillers Zweifel charakterisiert

seine jugendliche Schaffensperiode von Die Räuber bis zu Die Geisterseher, also bevor

er sich mit der Kantischen Philosophie beschäftigt. Später beseitigt Schiller in

Anlehnung an Kant seinen Zweifel mit der Zuversicht, dass die Möglichkeit der Tugend

die Freiheit postuliert. Weder Liebe noch Vernunft, sondern die Freiheit ist nunmehr die

Voraussetzung auch für die Möglichkeit der Gottheit und der Unsterblichkeit, wie es

Kant in seiner Kritik der praktischen Vernunft erläutert. Schiller vergleicht das Schöne

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und das Erhabene mit Dämonen, unter deren Einwirkung der Mensch die Freiheit erhält.

Der Mensch fühlt sich in Hinsicht auf die Schönheit frei und ahnt in dieser dämonischen

Freiheit das Übernatürliche. Aber dass der Mensch mit der Schönheit spielt, stellt das

Ideal des freien Menschen nur in der Erscheinungswelt dar. Das Ideal des freien

Menschen, der die Erscheinungswelt überschreitet, verwirklicht das Erhabene. Wenn die

wirkliche Gewalt seine physische Existenz zu zerstören droht, handelt der Mensch hier

als reiner Geist, als ob er unter keinen andern als seinen eigenen Gesetzen stünde, um

diese Gewalt dem Begriff nach zu vernichten. Der Mensch fühlt sich frei beim

Erhabenen, indem er nur in der reinen Intelligenz im Menschen Grund für das Dasein

legt und die Freiheit dieses übernatürlichen intelligenten Wesens für göttlich hält. Auf

diese Weise beweist die Freiheit beim Erhabenen die Möglichkeit der Gottheit. Die

Wirklichkeit dieser transzendentalen Idee begründet die Freiheit des Dämons, die der

Mensch beim Schönen und Erhabenen in sich fühlt.

Schiller denkt, dass die moderne tragische Kunst durch die Darstellung des

Erhabenen den Menschen zu dieser Freiheit erziehen kann. Das Erhabene im

Trauerspiel bietet zwar dem Zuschauer die Gelegenheit, aus der Überwindung des

dargestellten Leidens die Autonomie und Freiheit zu begreifen, um wirkliche

Schwierigkeiten seiner Lebens außerhalb des Theaters bewältigen zu können. Aber die

vernünftige Hermetik bei Schiller ermöglicht, das Erhabene als eine Art ‚mystischer

Orgie‟ zu begreifen. Denn Schiller sagt in Über das Erhabene, dass die Freiheit den

Menschen „zum Bürger und Mitherrscher eines höheren Systems“ macht, „wo es

unendlich ehrenvoller ist, den untersten Platz einzunehmen, als in der physischen

Ordnung den Reihen anzuführen.“ Die Passage beschreibt genau ,die große Kette der

Wesen„ im Analogiedenken, die einmal Arthur O. Lovejoy darstellte. Der Mensch kann

zu diesem höheren System schon gehören, wenn er nur moralisch, also intelligibel

handelt. Wenn Schillers modernes Trauerspiel auch dieses höhere System als Zuschauer

annimmt, dann hat es einen Charakter des Welttheaters. Schillers Trauerspiel macht die

Welt zum Theater, in dem der vom Demiurgen in die Sterblichkeit verwiesene Mensch

anlässlich des Erhabenen die dämonische Freiheit erhält und zu seinem lichten

göttlichen Ursprung zurückzukehren beginnt. Schillers tragisches Welttheater fundiert

ein höheres System und zeigt aus diesem Gesichtspunkt das menschliche Leben als

Wanderung der unsterblichen Seele auf der Erde.

Die hermetische Tradition bzw. der Neuplatonismus ist bisher nur in Schillers frühen

Gedanken nachgewiesen worden. Jedoch muss in Zukunft herausgearbeitet werden,

dass diese geheime Tradition auch nach Schillers Kant-Rezeption von ihm

weiterentwickelt wurde. Die hermetische Tradition ist ganz grundsätzlich in Schillers

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literarischen und ästhetischen Werken zu finden.

Der Dämon, der Wahn heißt. Natur, Psyche und Spukerei in Richard Wagners >Die

Meistersinger von Nürnberg< im Vergleich mit Carl Maria von Webers >Der

Freischütz<

Taro Yamazaki

Sowohl den >Freischütz< als auch >Die Meistersinger von Nürnberg< hat man seit

jeher für den Inbegriff der deutschen Nationaloper gehalten und miteinander verglichen.

Aber während die nationalistischen Elemente der beiden Opern immer wieder

hervorgehoben und im Zusammenhang mit der Problematik der Rezeptionsgeschichte

diskutiert wurden, sind die textlichen sowie musikalischen Inhalte bislang kaum zum

Gegenstand einer vergleichenden Analyse gemacht worden. Das ist eher

verwunderlich, denn die Gemeinsamkeit der beiden Stücke fällt sofort auf, wenn man

nur die Handlungen miteinander vergleicht.: So findet in beiden Stücken 1. der

Handlungsverlauf innerhalb von 24 Stunden statt (1.Aufzug: Nachmittag/früher Abend,

2. Aufzug: Nacht, 3. Aufzug: nächster Morgen). 2. In beiden Stücken muss der Held

einerseits, nach dem Gesetz der Gesellschaft, in ‚technischer‟ Hinsicht seine

Meisterschaft beweisen (z.B. durch einen Probeschuss oder einen Wettgesang), um die

Geliebte zu heiraten. 3. Es wird aber andererseits dieses Gesetz von einem geehrten

Weisen als veraltet und unmenschlich kritisiert.

Der Grund, warum diese Parallelität eher übersehen worden ist, findet sich vermutlich

in der Tatsache, dass im >Freischütz< die Geistererscheinung in der Wolfsschluchtszene

den wesentlichen Teil der Handlung ausmacht, während im komödienhaften sowie

realistischen Ambiente der >Meistersinger< solche übernatürlichen Elemente nur

schwer vorstellbar sind.

Dieser Aufsatz zielt darauf, in der letzten Hälfte des zweiten Aufzugs der

>Meistersinger<, die vom dramatischen Aufbau her der Wolfsschluchtszene entspricht,

zuerst die geisterhaften Elemente zu suchen, um sie auf das Menschliche

zurückzuführen, d.h., um sie als Projektion eines Gemütszustands zu deuten; im Inneren

eines Menschen haust eigentlich der Dämon, der die äusserliche Turbulenz in der

nächtlichen Gasse verursacht, die innerhalb einer nächtlichen Stunde (von 22 bis 23

Uhr) geschieht, genau wie die Spukerei in der Wolfsschluchtsszene (von 24 bis 1 Uhr).

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Betont wird das Geisterhafte im zweiten Aufzug der >Meistersinger< textlich durch

Wörter wie „Gespenster und Spuk“, „böse Geister“, „Kobold“, sowie durch die

Situation selbst; es handelt sich hier doch um den Polterabend genauso wie im

>Freischütz< und überdies um die Johannisnacht (d.i. die

„Midsummernight“ Shakespeares) mit all den Streichen, die übernatürliche Wesen in

dieser Nacht spielen. Sogar die Stadt Nürnberg gleicht in dieser nächtlichen Stunde

dem Wald im >Freischütz<, mit den Tannenwipfeln nachgestalteten Giebeldächern, die

den Vollmond von der schmalen Gasse abhalten und somit eine Dunkelheit erzeugen,

die der mondfinsteren Nacht in der Wolfsschlucht entspricht.

In den >Meistersingern< wird jedoch das Geisterhafte auch von einem Menschen

manipuliert wie das Benehmen des Protagonisten Hans Sachs zeigt, der das Licht auf

seinem Werktisch plötzlich auslöscht, um so eine völlige Finsternis gerade in dem

Augenblick zu schaffen, als die Bewohner aus ihren Häusern in die Gasse strömen.

Der dämonische Eindruck dieses eigentlichen Drahtziehers der Handlung wird durch ein

musikalisches Motiv, das sogenannte „Schustermotiv“, verstärkt, das „melodisch in

seinen Eckpunkten durch ein stachliges Tritonus-Intervall gekennzeichnet wird“ (Kurt

Overhoff), also durch den „Teufel in der Musik“. Dieses Motiv mit seiner derben und

dunklen Tonfarbe schildert nicht nur „den sauren Schweiß harter Mühe und Plage”

(ebd.), sondern weist mit seinen besonders im 2. Aufzug vielfältigen Verwendungen

wohl darauf hin, wer eigentlich hinter dem ganzen Geschehen steckt.

Dieser Hans Sachs nämlich, der alles in der Hand zu haben scheint, ist jedoch von einer

unbekannten Macht getrieben, wie er selbst am nächsten Morgen sagt: „Ein Mann weiß

sich nicht Rat; ein Schuster in seinem Laden, zieht an des Wahnes Faden; wie bald auf

Gassen und Straßen fängt der da an zu rasen.” Sachs ist also ein vom Wahn

Gefangener, der aber am Ende seines Monologs der äußeren Natur die Schuld zuschiebt:

„Der Flieder war‟s.“ Ist das bloß eine rhetorische Ausrede? Nein. Denn gerade der

zauberhafte Duft des Flieders war es, der im zweiten Aufzug seine Erinnerung an die

gewaltige Kunst Walthers und somit in seinem Herzen „die süße Not“ (d.h. den Eros,

den Schöpfungstrieb und zugleich die Liebe zu einem Mädchen) erweckt hat. In seine

Empfindung mischt sich dabei aber die bittere Erkenntnis, dass er in der Kunst sowie in

der Liebe dem genialen Jungen unterlegen sei; wer „wahnbetört“ versucht, ihm

nachzusingen, „dem brächt‟ es Spott und Schmach.“

Seine Ahnung bestätigt sich, als Eva ihn zornig verläßt, da er über Walther schlecht

geredet hat. Dass das dem jungen Ritter geneigte Mädchen trotzdem zuvor Sachs

aufgehetzt hat, am Wettsingen um ihretwillen teilzunehmen, ist weder bloße Koketterie

noch Kalkül, um das schlechteste Ergebnis, d.i. die Heirat mit Beckmesser, zu

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vermeiden, sondern ist als der Ausdruck ihres Herzens zu verstehen, das zerrissen ist

zwischen dem väterlichen teuren Freund und dem jungen Mann, der plötzlich vor ihr

erschien und sie unwiderstehlich gebannt hat, wie sie im dritten Aufzug Sachs

gegenüber bekennt: “Hatte ich die Wahl, nur dich erwählt‟ ich mir: ... doch nun hat‟s

mich gewählt zu nie gekannter Qual. ... ... Euch selbst, mein Meister, wurde bang‟.”

Seine von ihm selber nicht kontrollierbare Haltung in der letzten Hälfte des zweiten

Aufzugs, die am Ende zu Verwirrungen führt, war also der Ausdruck sowohl seiner von

Evas Angst angesteckten Empfindung als auch seiner inneren Natur, die umso stärker

widerstand und sich Luft zu machen versuchte, als es ihm galt, „Herzens süß Beschwer

zu bezwingen.“

„Das Schusterlied“ ist Ausdruck eines solchen Ventils. Indem Sachs nach der

biblischen Episode der Verbannung von Eva und Adam aus dem Paradies satirisch den

Vorwurf gegen sein Evchen macht, vernimmt man leise im Orchester jenes

Entsagungs-(bzw. Wahn-)Motiv, dessen “schwermütig sinnender“ (so Thomas Mann)

Klang den verborgenen Sinn des Liedes andeutet, nämlich das verlorene Paradies; die

idyllische Zeit sei schon vorüber, in der Sachs und Eva, weder durch das Problem der

wirklichen Heirat, noch durch das Erscheinen einer dritten Person gestört, gemeinsam

im harmonischen Einklang gelebt haben.

Am Ende der zweiten Strophe dieses Liedes donnert Sachs los.: „Wär‟ ich nicht fein

Engel rein, Teufel möchte Schuster sein!“ Die danach stattfindende Prügelei sieht

gerade wie der Streich eines solchen Teufels aus, der aber in der Tat als Projektion des

tobenden Innenlebens von Sachs anzusehen ist. Er nimmt doch am nächsten Morgen

wieder seinen engelhaften Zug an, als er sich entschließt, den Wahn fein zu lenken.

Wie sich das Dämonische nach der berühmten Aussage Goethes „nicht teuflisch, denn

es war wohltätig, nicht englisch, denn es ließ oft Schadenfreude merken,“ nur in

Widersprüchen manifestiert, wirkt der Wahn für Sachs, den Lenker der dämonischen

Kraft des Wahnes, nicht nur negativ, sondern auch positiv, nämlich als schöpferische

Energie (ein „Wesen, das zwischen alle übrigen hineinzutreten, sie zu sondern, sie zu

verbinden schien“). Diese schöpferische Energie beweist er dadurch, dass er Walther

lehrt, aus seinem Traum, „des Menschen wahrstem Wahn“, ein Meisterlied zu

erschaffen.

Gerade weil er diese Ambivalenz des Dämonischen bemerkt hat, ruft er in seiner

Schlußanrede zum Volk.: „Ehrt eure deutschen Meister, dann bannt ihr gute Geister.”

Dieser Satz bedeutet nämlich, dass man jetzt im Licht des Tages die gute schöpferische

Seite des Dämons anlocken muss, in dieser Stadt Nürnberg, wo in der vergangenen

Mitternacht die zerstörerische Kraft, also die boshafte Seite des Dämons, getobt hat.

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Diesem Wunsch von Sachs/Wagner kommt jedoch eine ironische Bedeutung zu, wenn

man den Lauf der deutschen Geschichte im Auge behält: Auf das Volk in Nürnberg im

16. Jahrhundert wartet in der Zukunft der verheerende dreißigjährige Krieg; während für

Wagners Zeitgenossen mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871. also drei Jahre

nach der Uraufführung der Oper, Deutschlands „Sonderweg“ begann, der bis zur

Katastrophe des Nationalsozialismus führen sollte.

"Geist" bei Johann Georg Hamann

Daimon - Genius - Genie

Yoshikatsu

KAWANAGO

Hamanns erstes Werk trägt den Titel "Sokratische Denkwürdigkeiten" (1759).

Motiviert wuede diese Schrift von außen: Sein Freund Berens, ein Rigaer Kaufmann

und überzeugter Anhänger der Aufklärung, bedauerte Hamanns "Bekehrung" zum

christlichen Glauben, die sich ein Jahr zuvor in London ereignet hatte, und wollte ihn

wieder für sein Lager zurückgewinnen. Berens bat Kant, den damaligen

Philosophiedozenten der Königsberger Universität, um Hilfe und besuchte Hamann mit

ihm zusammen, um den "schwärmenden" zu einer "nützlicheren" Tätigkeit zu

veranlassen. Nach einem ironisch-humoristischem Brief an Kant schrieb Hamann dann

seine Erstlingsschrift. Sie war aber keine bloße Apologie seines neuen Lebenswandels.

Hamann schildert alle Seiten von Sokrates' Leben, auch die dunklen, mit einigen für ihn

nachteiligen Erkenntnissen. Seine Unwissenheit ist keine bloß intellektuelle

Schwachheit, sondern ein moralisch-existenzielles Unvermögen, das als Urquell seines

inneren Leidens sein ganzes Dasein bestimmt und es ins Nichts aufzulösen droht.

Hamann sieht in Sokrates' Geständnis der Unwissenheit eine Entsprechung zum

biblischen Sündenbekenntnisses.

Daß er diese Selbsterkenntnis der eigenen Problematik als tiefste Erfahrung des

Sokrates deutet, erlaubt Hamann, die sokratische Unwissenheit auf Empfindung zu

gründen. "Die Unwissenheit des Sokrates war Empfindung. Zwischen Empfindung aber

und einen[sic!] Lehrsatz ist ein grösserer Unterscheid als zwischen einem lebenden

Thier und anatomischen Gerippe desselben."(II,73) Hamann fügt hinzu, daß diese

Selbsterkenntnis völlig verschieden von jedem intellektuellen Nichtwissen sei. Weil die

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Unwissenheit bei Sokrates tief ins Dasein eingeprägt ist, als wäre sie ein Teil seines

Leibes geworden, erhält sie die Bestätigung von innen, d.h. vom ganzen Leben. Die

Wirklichkeit dieses Lebens ist viel tiefer als die des bloßen Verstandes, der nur

intellektuell Beweise und Gründe angeben kann. Hamann vergleicht die Gewißheit

dieser Empfindung mit der des Todes: "Was ist gewisser als des Menschen Ende?"

Unwissenheit ist also keineswegs der Nullpunkt, der nur eine bloße Leere bedeutet,

sondern sie ist ein prägnantes Nichts, wodurch alles bestimmt und geordnet wird, wie

das Leben erst vom Tod her seinen vollen Sinn erhält. In diesem Zusammenhang deutet

Hamann selbst an, daß die Unwissenheit mit dem Glauben gleichen Ursprungs sei.

Die Unwissenheit ist bei Sokrates als Erkenntnis seines Selbsts als Nichts tief

ins Dasein eingesenkt und deutet mithin auf das Positive, welches äußeren Ursprungs ist.

Sokrates vertraut nämlich seinem "Dämon", den Hamann zunächst mit dem Wort

"Genie" wiedergibt. "Was ersetzt bey Homer die Unwissenheit der Kunstregeln, die ein

Aristoteles nach ihm erdacht, und was bey einem Shakesspear die Unwissenheit oder

Uebertretung jener kritischen Gesetze? Das Genie ist die einmüthige Antwort."(II,76)

Zwei Dichternamen werden hier genannt. Hamann scheint plötzlich das neue Thema des

literarischen Genies aufzugreifen. Seine Erwähnung des Genies in dieser Schrift ist aber

nicht so sehr literarisch orientiert, sie zeigt eher die Gegenwartsbezogenheit des

sokratischen "Dämon". Was Hamann unter Genie versteht, bezeugt er selbst mit einem

prägnanten Ausdruck: "Sokrates hatte also freylich gut unwissend seyn; er hatte einen

Genius, auf dessen Wissenschaft er sich verlassen konnte, den er liebte und fürchtete als

seinen Gott, an dessen Frieden ihm mehr gelegen war, als an aller Vernunft der Egypter

und Griechen, dessen Stimme er glaubte, und durch dessen Wind, [...] der leere

Verstand eines Sokrates so gut als der Schoos einer reinen Jungfrau, fruchtbar werden

kann."(II,76) Das Genie wird hier durch den Genius ersetzt, der dem Menschen nicht

von Natur aus eigen ist, sondern immer von außen kommt und in ihm haust. Der Dämon

des Sokrates wird als solch ein Schutzgeist verstanden. Hier wird dann auf jene

bekannte Stelle der "Sprüche Salomos" (1,7) hingewiesen, die das Wesen der Weisheit

lehrt. Die Haltung des Sokrates zu seinem Genius wird mit der biblischen "Furcht des

Herrn" gleichgesetzt. Das andere Bild spielt auf eine Episode von Nikodemus (Joh.3,8)

an, in der Jesus die Wirkung des Geistes mit der des Windes vergleicht, der gegenwärtig

bläst aber dessen Ursprung und Zielrichtung dem Menschen unbekannt bleiben. Dieser

Wind weist, zusammen mit dem Bild von der Befruchtung der Jungfrau Maria, auf die

Neugeburt durch den Geist hin. Bei dem Empfang des Genies, dieses Genius, handelt es

sich also um eine Neugeburt, um eine Neuschöpfung von oben.

Erkenntnis entsteht als Neugeburt, als Neuschöpfung aus dem Nichts. Der

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Genius ist es, der dabei sowohl das neue Leben als auch die Weisheit ermöglicht und

verwirklicht. Die Unwissenheit des Sokrates ist hier im Horizont der Bibel im

pneumatologisch-soteriologischen Sinne verstanden. Warum gibt er diesem Genius,

dem biblischen Geist, eine ästhetisch-literarische Prägung? Hamann spricht einmal von

der besten Art, über Gott nachzudenken und nennt als besten Weg den "als Christ oder

Poet." Daraus ist zu schließen, daß die beiden Existenzbestimmungen, Christ zu sein

und Poet zu sein, für Hamann eigentlich nicht verschieden sind: Beide sind Begeisterte.

Diese Auffassung der Begeisterung kommt bei Hamann vor allem von den biblischen

Propheten. Die pneumatologische Seite der prophetischen Existenz hat er in den

"Wolken" noch weiter entwickelt. Im dritten Aufzug behandelt er den Vorwurf, daß "der

sokratische Schriftsteller an Körper und Kopf ungesund sey." Für die gesunde Vernunft ,

die die aufklärerisch Gesinnten hochachten, sei die Art, wie hier Sokrates dargestellt

wird, "verwirrt", "unsinnig" und "voll süßes Weins". Sie verurteilen das Genie als

"Beseßenen, Mondsüchtigen und Paralytischen", das voll von der "Krankheit",

"Raserey" und "fanatischem Schwindel" ist.(II,104-106) Hamann will aber

philologisch verdeutlichen, welches Wesen hinter diesen negativen Phänomenen steckt.

"Nichts ist also mehr übrig als die Gränzstreitigkeiten des Genies mit der Tollheit zu

unterscheiden. Das gröste Schisma hierin ist unter den Juden gewesen über den Vortrag

eines Propheten aus ihren Brüdern. Einige sagten: ΔΑΙΜΟΝΙΟΝ εχει

και ΜΑΙΝΕΤΑΙ [Er(=Jesus) hat einen bösen Geist und ist unsinnig. Joh.

10,20]."(II,104) Hamann führt dann Davids "Geberde am Hofe zu Gath" (1.Sam.17)

als Beispiel an und setzt sie mit der "Verwirrung" des Paulus vor Festus gleich

(Apg.26,24). Er zeigt dadurch, daß die prophetische Existenz notwendig von den

negativen Erscheinungen des Geistes begleitet wird. Dies seien aber "das Θειον

[Göttliche]", das Hippokrates vergebens zu vernichten versuchte. Hamann zitiert das

Endresultat des Hippokrates und deutet darin auf das Wesen des Geistes: Alles ist

göttlich und alles ist menschlich. Dies ist ein wichtiger Satz, der Hamanns

Hauptgedanken ausspricht, daß nämlich die ganze Wirklichkeit dieser Welt

"Herablassung Gottes." sei. Gott läßt sich leidenschaftlich mit all seiner Liebe zu den

Niedrigen herab. Diese Herablassung zeichnet sich noch durch eine andere Dimension

aus: Ironie ist bei den Propheten eines der göttlichen Kampfmittel und ein Ausdruck der

Stärke der Sprache Gottes. Gott läßt sich herab und eignet sich die Redeweise des

Menschen, ja des Feindes selbst, an, um dadurch gerade diesen Feind zu besiegen.

Hamann sieht ein Beispiel solcher "göttlichen Ironie" eben in der Geschichte von David

und Goliath (1.Sam.17). Er setzt nämlich "Goliaths Schwert" mit dessen spöttischen

Worten gleich. Das Schwert allegorisiert dabei die Schärfe der Ironie, mit der man Gott

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zu verspotten versucht. Goliath wurde zuletzt mit "seinem eigenen" Schwert enthauptet.

Das versinnbildlicht, daß Gott die Feinde mit deren eigenen Waffen schlägt. Dies ist

nach Hamann die Kampfweise Gottes, womit er immer seinen Feind besiegt. So ist "die

Thorheit des Genies reich genug die Weisheit zu ersetzen."(II,107)

Diese Redekunst eignete sich Hamann selbst an. In der "Aesthetica in nuce"

wurden z.B. auch mythologische Figuren - Bacchus, Ceres und Narziß - im Sinne des

sokratischen Dämon als Zeugen der göttlichen Rede herangezogen. Dabei kommt die

Rolle des "Geistes" auch beim Verständnis der Geschichte deutlich zum Tragen. Für

Hamann ist die geschichtliche Wahrheit nicht das absolut und einzig Bestimmte. Sie

erhält je nach der Situation der Mitteilung ihren Leib und ihr Kleid. Die Mitteilung wird

dabei zuerst von der "Empfindung" des Verfassers der Geschichtsschreibung bestimmt.

Und nur bei demjenigen, der dieselbe Empfindung hat, kann diese Mitteilung Resonanz

finden. Denn Geschichte wird nur dann wieder lebendig und fängt an zu tönen, wenn

man sich dazu mit all seiner "Empfindung" affektiv verhält. Es handelt sich dabei einzig

um die Lebensfrage, wie man einer zeitlich entrückten Person wie Sokrates mit seiner

ganzen Existenz begegnet. Das bezeugt Hamann schon in seiner Erstlingsschrift:

"Sokrates scheint von seiner Unwissenheit so viel geredt zu haben als ein

Hypochondrianer von seiner eingebildeten Krankheit. Wie man dies Übel selbst kennen

muß um einen Milzsüchtigen zu verstehen und aus ihm klug zu werden; so gehört

vielleicht eine Sympathie der Unwissenheit dazu von der sokratischen einen Begriff zu

haben."(II,70) Die Sym-pathie im Sinne des existenziellen Mit-leidens ist es, die auch

dabei eine Mitteilung ermöglicht und verwirklicht, indem sie die Distanz der Zeit

suspendiert und jeder spezifischen Situation das leidende Pathos als "gleichzeitig"

einpflanzt. Eben auf dieser existenziellen Sympathie ruht Hamanns hermeneutischer

Standpunkt. In der späteren Schrift "Entkleidung und Verklärung" nennt er diese

dialogisch-dialektische Geschichtsauffassung, die heute "Typologie" genannt wird,

"Geist der Weissagung": "Geist der Beobachtung und Geist der Weissagung sind die

Fittige des menschlichen Genius. [...]"(III,382)

Das Dämonische bei Goethe

Sanayuki NAKAI

Einleitung

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Goethe hat den Begriff des Dämonischen gebildet, als er die Erscheinungen bemerkte,

die die Sittlichkeit Gottes in Frage stellten. Obwohl er sich schon früh solcher

dämonischen Erscheinungen bewußt war, beginnt Goethe erst um 1805 dieses

Phänomen begrifflich zu erörtern. Im Gespräch mit Carl Ernst Hagen in Nienburg

unterschied er das Dämonische von Gott als dem „sittlich vollkommensten Wesen“.

Kurz vor diesem Gespräch hatte Friedrich Heinrich Jacobi Goethe in Weimar besucht

und die Identitätsphilosophie Schellings aus dem sittlichen Grund, den er einst gegen

den Pantheismus von Spinoza angeführt hatte, kritisiert. Nachdem der Streit zwischen

Schelling und Jacobi begonnen hatte, beschrieb Goethe im Brief vom 6. 1. 1813 seine

komplexe Gottesvorstellung. Als Dichter und Künstler sei er Polytheist, als

Naturforscher Pantheist. Wenn er als sittlicher Mensch eines Gottes bedürfe, sei dafür

auch gesorgt. Diese Arbeit expliziert, wie Goethe das Dämonische aus dieser

komplexen Gottesvorstellung herausarbeitet. Zuerst werden die Deutungen des

Dämonischen von Hans Blumenberg und Peter Hofmann, die einen ähnlichen Ansatz

zeigen, kritisch aufgearbeitet. Dann wird durch die Interpretation der „Wahlverwandt-

schaften“ gezeigt, welche Bedeutung dem Dämonischen in der Problematik des

Göttlichen zugewiesen ist.

1

Nach der ersten Thematisierung des Dämonischen sind dessen Spuren im Gedicht

„Mächtiges Überraschen“ (1807) und dem Festspiel „Pandora“ (1807/8) zu erkennen.

Zu dieser Zeit erwähnt Goethe den Spruch „Nihil contra Deum nisi Deus ipse,“ der als

Vorläufer des Spruchs in „Dichtung und Wahrheit“ zu betrachten ist, mit dem Goethe

die mächtige Wirkung des dämonischen Menschen zum Ausdruck bringt: „Nemo contra

deum nisi deus ipse.“ Er äußert auch folgende Bemerkungen, die als Kommentar zum

Spruch aufzufassen sind. „Ein Gott kann nur wieder durch einen Gott balanciert werden.

(…) Das Ganze, welches sich spezifiziert, schränkt sich eben dadurch selbst ein, aber

nicht das Einzelne sich.“ Hans Blumenberg sieht darin das polytheistische Prinzip der

„Gewaltenteilung“ und ihre pantheistische Versöhnung. Er betrachtet diese Denkform,

in der Annahme, dass Goethe in Napoleon das personifizierte Dämonische erkannte, als

Ergebnis der Auseinandersetzung Goethes mit dem französischen Kaiser. Goethe habe

auf seine vorige ästhetische, selbstmächtige Lebenshaltung verzichten müssen, die er in

Prometheus darstellte. Er habe diese Identitätskrise durch den Gedanken der

„Balance“ überwunden, der sich erst durch die „Verbindung von Polytheismus und

Pantheismus“ einstellte.

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Blumenberg beschränkt sich in seiner Darstellung auf das Dämonische in Napoleon und

übersieht, dass es für Goethe überall in der Natur gegenwärtig ist. Er hat auch das

„Unfaßliche“ und „Ungeheure“ dieses Wesens allzu sehr in dem versöhnten Weltbild

des sogenannten „Pantheismus mit verteilten Rollen“ aufgelöst.

2

In seiner Schrift „Über das Wesen der menschlichen Freiheit“ (1809) hat Schelling in

dem Versuch, die Realität der einzelnen Dinge und die Freiheit des Menschen zu

erklären, „Gott, (…) sofern er existiert“ und „den Grund seiner Existenz“ d. h. das, „was

in Gott selbst nicht Er selbst ist“, unterschieden. Indem der „bewußte, intelligente“ Gott

auf den „Grund“, aus dem er selbst geboren ist, wirkt, entwickeln sich stufenweise die

einzelnen Wesen und zuletzt der Mensch als das geistige Wesen, das die Freiheit zum

Guten und zum Bösen hat. Im Zusammenhang mit dieser theosophischen Kosmogonie,

die den Pantheismus mit dem persönlichen Gott des Theismus zu versöhnen trachtet,

deutet Peter Hofmann das Dämonische bei Goethe. Das Dämonische sei „Negation in

Gott“, „die dem chaotischen Urgrund Gottes entspringt und auch das Werden der Natur

zum Menschen hin begleitet, um dann in ihm als Freiheit zum Bösen zu sich zu

kommen.“ Im Gedicht „Urworte. Orphisch“ (1817) erkennt Hofmann Goethes

Forderung, den „dämonischen Urgrund im Menschen (…) in die sittliche Freiheit zu

integrieren und in ihr aufzuheben.“ So habe Goethe für das Problem des Dämonischen,

das in der Naturforschung (Pantheismus) unlösbar ist, eine sittliche Lösung gefunden.

Es ist aber nicht festzustellen, ob Goethe das Dämonische so spekulativ aufgefaßt hat,

wie Hofmann es darstellt. Hofmann identifiziert den „Dämon“ im Sinne von

„Individualität der Person“ in dem Gedicht ohne weiteres mit dem Dämonischen. Aber

es gilt, die beiden zu unterscheiden. Das erstere ist „notwendig“, gesetzmäßig, das

Bleibende im Menschen und wird im Gedicht mit dem „Zufälligen“ in Kontrast gestellt,

während sich das letztere „mit einem Male“, ohne „Folge“ von außen in das Leben und

Schicksal des Menschen einmischt und eher „dem Zufall“ gleicht.

3

In den „Wahlverwandtschaften“ (1809) wird die sittliche Problematik des Pantheismus

thematisch. Der Roman stellt dar, wie die Figuren unter der Wirkung der „nur einen

Natur“ allmählich ihre „Vernunftfreiheit“ verlieren. Dieser Vorgang wird mit dem

Problem des „Bewußtlosen“, das Jacobi in Bezug auf den Spinozismus Schellings

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thematisierte, in Zusammenhang gestellt. Gegen die Warnung Charlottes: „Das

Bewußtsein (…) ist keine hinlängliche Waffe“ erliegen fast alle Figuren der Wirkung

der Wahlverwandtschaften, die ihr Bewußsein unterläuft. Über Eduard und Ottilie sagt

der Erzähler: „Nach wie vor übten sie eine unbeschreibliche, fast magische

Anziehungskraft gegeneinander aus. (…) Dann waren es nicht zwei Menschen, es war

nur Ein Mensch im bewußtlosen, vollkommnen Behagen.“ Dies ist als Ergebnis, das

sich notwendig aus der „Natur (…), Charakter, Individualität“ entwickelt, dargestellt.

Ottilie allein wehrt sich dagegen nach dem Gebot des „Gewissens.“ Sie deutet in ihrem

Tagebuch eine von der pantheistischen unterschiedene Gottheit an, die in der „guten

Tat“ des Menschen als „Gleichnis“ zu erkennen ist. So hat Goethe auf die sittliche Frage,

die der Pantheismus aufwirft, seine Antwort gegeben.

Aber im Roman ist in Ottiliens Wort „ein feindseliger Dämon“ auch die Spur des

Dämonischen zu erkennen, das seinerseits ein sittliches Problem darstellt. Welche Rolle

ist ihm zugewiesen? Aus Goethes Verhalten gegen die Erbsünde (Herrnhuter), das

Radicalböse (Kant) und die Gott verbergende Natur (Jacobi) ist zu erkennen, dass es

ihm unerträglich war, die negative Seite der Natur zu betonen, die trotz ihrer sittlichen

Indifferenz „göttlich“ war. Auf das Dämonische, das die Menschen aus „der

moralischen Weltordnung“, die bei Goethe mit dem Willen Gottes gleichgesetzt ist,

entfernt, wird das widersittliche Verhalten der Figuren zurückgeführt.

Schluss

Das Dämonische ist für Goethe sowohl aus dem Gesichtspunkt des Naturforschers

(Pantheismus), als auch aus dem des sittlichen Menschen (Theismus) nicht zu fassen.

Als Dichter flüchtete er sich vor „diesem furchtbaren Wesen (…) hinter ein Bild.“ Dies

ist im polytheistischen Weltbild von „Pandora“ (1807/8) und „Des Epimenides

Erwachen“ (1814) dokumentiert.

Vorbereitende Studie zur Kollokationsextraktion: Nützlichkeit von statistischen

Verfahren

Haruhiko IMAMICHI

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Durch die rasante Entwicklung der Computertechnologie erfreut sich die Nutzung von

Sprachkorpora in der linguistischen Forschung seit kurzer Zeit einer zunehmenden

Beliebtheit. Korpuslinguistische Ansätze werden allerdings auf der anderen Seite oft

kritisch betrachtet, weil sie nahe legen, dass ein Korpus ein Spiegel des

Sprachgebrauchs sei, und dass ein Korpus zur Erklärung der Natur der Sprache beitrage.

Die Korpuslinguistik beschäftigt sich dennoch nicht nur mit der Sprachforschung

mittels Korpora. Sie kann z.B. für eine Kollokationsextraktion für die Deutschlernenden

oder eine quantitative Beschreibung der konkurrierenden Formen (z.B.

Genitivendung-s/-es) genutzt werden. In Wirklichkeit können selbst die

Deutschlernenden relativ leicht extrahieren, mit welchen Nomen z.B. das Verb

„aussetzen“ (auf Japanisch „sarasu“) oft auftritt. Deswegen werden in jüngster Zeit die

Vorzüge des entdeckenden Lernens mit Hilfe von Sprachkorpora im DaF-Unterricht

betont. Trotz dieser Beliebtheit werden aber fast noch keine konkreten Ergebnisse

vorgestellt. Darüberhinaus werden methodische Probleme, die bei der

Kollokationsextraktion für die Deutschlernenden entstehen, fast nicht zur Diskussion

gestellt.

In der vorliegenden Arbeit soll versucht werden, als Vorbereitung der

Kollokationsextraktion für die Deutschlernenden einen umfassenden Überblick über die

Nützlichkeit der schon bekannten 9 Arten von statistischen Verfahren zu geben:

Frequenz, t-score, MI-score, LLR, loglog, MI3-score, MI-log-prod, minimum sensitivity

und Dice Coefficient. Im Folgenden soll zunächst kurz vorgestellt werden, warum sie

bei der Kollokationsextraktion nützlich sind. Danach sollen sie anhand der Häufigkeit

und der Wortschatzniveaus von Kookkurrenzen des Lemmas „frisch“ charakterisiert

werden. Die einzelnen Analysen und ihre Ergebnisse sind wie folgt:

In der ersten Stufe werden die häufigsten 10 Lemmata der Kookkurrenzen (Span: R1)

des Lemmas „frisch“ aus dem DEWAC (etwa 17 Milliarden Wörter) extrahiert, das ein

erstes deutsches Webkorpus ist. Anhand ihres Mittelwertes und ihres Medians werden

sie miteinander verglichen. Dadurch werden die einzelnen statistischen Werte grob

gesehen in drei Gruppen: 1) Frequenz, t-score, LLR, minimum sensitivity, Dice

Coefficient, 2) MI-score, 3) loglog, MI-log-prod, MI3-score aufgeteilt. In der ersten

Gruppe wurden insbesondere Nomen als Kollokationspartner des Wortes

„frisch“ extrahiert, die zum deutschen Grundwortschatz gehören, während in der dritten

Gruppe (MI-socre) schwierige Wörter (Partizip 2) gefunden wurden. Die zweite Gruppe

stand in der Mitte dazwischen.

In der zweiten Stufe wird die Häufigkeit der häufigsten 100 Lemmata der

Kookkurrenzen des Lemmas „frisch“ in einem Punktdiagramm dargestellt, um die

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Veränderung der Häufigkeit zu untersuchen. Im Punktdiagramm sind ähnliche

Tendenzen wie oben erläutert festzustellen.

In der dritten Stufe wird das Wortschatzniveau anhand seiner Kookkurrenzen

überprüft. Es gibt jedoch keine Wortlisten, die für eine Evaluation eines deutschen

Wortschatzniveaus nützlich wären. Deswegen berechnet sich hier die so genannte

„Häufigkeitsklasse“ der Wörter nach dem DEWAC. Die Häufigkeitsklassifizierung folgt

dem Zipf‟schen Gesetz, wo behauptet wird, dass eine bestimmte regelhafte Beziehung

zwischen der Häufigkeit und dem Rang eines Wortes besteht. Diesem Gesetz zufolge

kommen relativ wenige Wörter sehr häufig und sehr viele Wörter sehr selten vor. Diese

Erwartung spiegeln die Häufigkeitsklassen wieder. Die Zuordnung eines Wortes in eine

Häufigkeitsklasse berechnet sich folgendermaßen: Häufigkeitsklasse(N) = log2

(Häufigkeit des häufigsten Wortes)/ (Häufigkeit des untersuchten Wortes). Obwohl der

Analysegegenstand hier begrenzt ist, zeigte sich der Unterschied klar: bei der Frequenz

wurden Wörter gefunden, deren Häufigkeitsklassen durchschnittlich 11 betragen,

während sie beim MI-score auf 14 bis 23 lagen. Die Häufigkeitsklassen der restlichen

statistischen Werte lagen auf 10 bis 15. Aus den Ergebnissen der Analyse lässt sich

schließen, dass diese statistischen Werte bei der Kollokationsextraktion entsprechend

dem Wortschatzniveau angewendet werden können.

In der letzten Stufe wurden der Pearson‟sche Korrelationskoeffizient und die

Clusteranalyse verwendet, um die Zusammenhänge der einzelnen statistischen

Verfahren in Zahlen und auch visuell auszudrücken. Durch die Analysen wurde

verdeutlicht, dass sich grob die schon oben genannten 3 Gruppen zeigen. Werden die

Unterschiede im Einzelnen stärker beachtet, können sie auch noch ausführlicher

klassifiziert werden. Bei der Kollokationsextraktion für die Deutschlernenden sollten

daher derartige Eigenschaften genügend berücksichtigt werden.

Die Erzählung als künstlerisches Umwandlungsorganon – „Die Schachtel mit der

Friedenspuppe“ von C. Brentano

Kazuko OKAMOTO

„Die Schachtel mit der Friedenspuppe“ (1814) von Clemens Brentano ist eine

Rahmenerzählung, deren Schauplatz auf dem Landgut eines preußischen Edelmanns in

der Zeit des Wiener Kongresses, gerade ein Jahr nach der Leipziger Schlacht (Oktober

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1813) gelegen ist. Das ist die unmittelbare Gegenwart der Entstehung des Werkes. Da in

diesem Werk politische und restaurative Motive zu erkennen sind, gilt es bisher als

„eine patriotische Restaurations-Erzählung“. Andererseits wird es wegen seiner

Handlung (der Aufdeckung der Unterschiebung eines Kindes) auch als eine Erzählung

der Gerechtigkeit oder sogar als eine Kriminalnovelle gelesen. Dieses Werk – als

Kriminalnovelle – zeigt aber manche Inkonsequenten, die vor allem von den Figuren

der Puppe und der Schachtel herkommen. Diese beiden Figuren entfalten ihre

Bedeutung auch dann nicht vollkommen, wenn man dieses Werk für eine

Restaurationserzählung hält. Es kann vielmehr als Poetologie gelesen werden, die sich

anhand dieser Schlüsselfiguren entwickelt. In der vorliegenden Arbeit wird die in den

Text eingeschriebene Poetologie Brentanos erklärt. Dabei wird dargelegt, dass der Tod

den Kern seiner Poetologie ausmacht.

Im Mittelpunkt der Erzählung steht eine Schachtel, die der Baron in Paris von einer

Trödlerin gekauft hat, um die Friedenspuppe, ein Geschenk für seine Frau, unbeschädigt

in die Heimat zu tragen. Die vier Franzosen, die zufällig bei dem Baron beisammen sind,

kennen diese Schachtel schon und nennen sie „die Büchse der Pandora“. Sie erzählen

abwechselnd über die Schachtel, und aus ihren Geschichten wird klar, dass einmal der

Frau eines Chevaliers anstelle ihres Kindes eine Kinderleiche in dieser Schachtel

untergeschoben worden ist. Die vier Franzosen hatten auf irgendeine Weise an dieser

Aktion Anteil.

Die Erzählung ist aber nicht nur in der Form einer Rahmenerzählung geschrieben,

sondern ist auch auf der Ebene der Rahmenhandlung voll von Figuren, deren Funktion

es ist, das Leben einzuschließen und zu töten. Der Inbegriff solcher Rahmenfiguren ist

diese Schachtel mit der Puppe bzw. der Leiche. Während diese Schachtel für den Baron

ein Behälter des Friedens ist, ist sie für die Franzosen die Schachtel der Leiche. Aber

gerade diese Erkenntnis der Schachtel als Todesschachtel verleiht den Franzosen die

Fähigkeit zu erzählen. Die Schachtel schließt das Leben als Stoff der Dichtung ein und

transformiert es in einen künstlerischen Zusammenhang, indem sie es tötet. Die

Schachtel drückt die Gewalt der künstlerischen Umwandlung von Leben zum Tod aus.

Auch die Außenerzählung beruht auf dem Todesmoment. Zwei von vier Franzosen

sterben, nachdem sie die Geschichte über die Schachtel erzählt haben. Bei ihrem Tod

haben die Schachtelfiguren wie Büchse (Jagdgewehr) und verschlossene Zimmer

gewirkt. Und hier wird die Funktion der totbringenden Schachtel klar. Die voll

entfaltete Gewalt der Schachtel schafft nicht eine Erzählung mit lebendiger Stimme,

eher eine Erzählung in der Schrift. Die Aussage der beiden Franzosen wendet sich in der

Mitte des Werkes sowohl von der Falschaussage zum Geständnis der Wahrheit, als auch

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vom Mündlichen ins Schriftliche Die literarisierende Funktion der Schachtel ist im Bild

des Verbandes dargestellt.

Am Anfang war die Schachtel für den Baron zum Schutz der Puppe bestimmt. Aber

alle Binnenerzählungen zielen darauf ab, die Puppe zu beschädigen und sie mit der

Leiche zu identifizieren. Bei Brentano zeigt sich die Puppe, die einmal verneint wird,

als Leiche. Das Eigentümliche an der Puppe bei Brentano liegt darin, dass sie als Balg

ohne geringste Lebendigkeit dargestellt ist. Seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts,

als „L„homme machine“(1748) von La Mettrie erschien und die erste Ausstellung von

Vaucansons präzisem Automaten „Flötenspieler“(1838) stattfand, kam großes Interesse

für Automaten in Europa auf, was seinen Niederschlag auch in der zeitgenössischen

deutschen Literatur Brentanos gefunden hat. Autoren wie E.T.A. Hoffmann, Jean Paul

oder A.v.Arnim haben in ihren Werken das Motiv der Automaten häufig behandelt. Aber

die Brentanosche Puppe ist wegen ihrer Leichenhaftigkeit nicht mit solchen Automaten,

sondern eher mit der Puppe verwandt, die W. Benjamin im Kontext seiner Analyse des

barocken Trauerspiels untersucht hat. Benjamin findet die Puppe zur Vorstellung der

Leiche geeignet. Aber er sieht in der Puppe nicht allein ein Todesmoment, sondern hält

den Menschenkörper selber für puppenhaft. Die Puppe stellt den verletzten

Menschenkörper dar, dieser aber, der lebendige Menschenkörper, die starre Puppe.

Wenn das Leben als Körper dargestellt wird, geht es nur als starre Puppe, nämlich als

Leiche in den Bereich der Kunst ein. In diesem Sinne verkörpert die Puppe das Leben

des Kunstwerks und den Tod des Lebens als Gegenstand der Darstellung. Jedes

Kunstwerk kann nämlich als Puppe betrachtet werden. Daher liegt die Figur der Puppe

in der Mitte des Werkes von Brentano, das die Poetologie zum Thema macht.

Die Erzählung von Brentano schließt mit einer Blaupause einer neuen Kapelle im

Bau. Die Erzählung, die bisher ausschließlich die Geschlossenheit des Rahmens betont

hat, endet mit einer offenen Form. Das Werk „Die Schachtel mit der Friedenspuppe“ ist

in die noch nicht vollendete Kapelle versetzt. Das heißt diese ganze Erzählung ist nicht

auf den geschlossenen Kunstraum, sondern auf den historischen offenen Zeitraum

bezogen. Während Brentanos künstlerisches Schaffen – dem Leben als Stoff Tod zu

schenken und es in den geschlossenen Kunstraum zu transformieren – vollkommene

Geschlossenheit behauptet, sagt er dem so geschaffenen Kunstwerk keine

Geschlossenheit bzw. Vollkommenheit zu. Die Geschichtlichkeit seines Werks liegt in

der Kritisierbarkeit in der Nachwelt. Sie ist nicht in seiner Thematik, sonder in seiner

Poetologie begründet.

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