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Grigory Sokolov Mittwoch 29. Februar 2012 20:00

Grigory Sokolov - Kölner Philharmonie · Bitte beachten Sie: Ihr Husten stört Besucher und Künstler. Wir halten daher für Sie an den Garderoben Ricola-Kräuterbonbons bereit und

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Grigory Sokolov

Mittwoch 29. Februar 2012 20:00

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Bitte beachten Sie:

Ihr Husten stört Besucher und Künstler. Wir halten daher für Sie an den Garderoben

Ricola-Kräuterbonbons bereit und händigen Ihnen Stoff taschen tücher des Hauses

Franz Sauer aus.

Sollten Sie elektronische Geräte, insbesondere Handys, bei sich haben: Bitte

schalten Sie diese zur Vermeidung akustischer Störungen aus.

Wir bitten um Ihr Verständnis, dass Bild- und Tonaufnahmen aus urheberrechtlichen

Gründen nicht gestattet sind.

Wenn Sie einmal zu spät zum Konzert kommen sollten, bitten wir Sie um Verständnis,

dass wir Sie nicht sofort einlassen können. Wir bemühen uns, Ihnen so schnell wie

möglich Zugang zum Konzertsaal zu gewähren. Ihre Plätze können Sie spätestens

in der Pause einnehmen.

Sollten Sie einmal das Konzert nicht bis zum Ende hören können, helfen wir Ihnen

gern bei der Auswahl geeigneter Plätze, von denen Sie den Saal störungsfrei (auch

für andere Konzertbesucher) und ohne Verzögerung verlassen können.

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Grigory Sokolov Klavier

Mittwoch 29. Februar 2012 20:00

Pause gegen 20:55

Ende gegen 22:10

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PROGRAMM

Jean-Philippe Rameau 1683 – 1764

Suite en re

für Cembalo

Les tendres Plaintes (Die zärtlichen Klagen). Rondeau

Les Niais de Sologne (Die Einfaltspinsel von Sologne) –

1er Double des Niais (1. Variation) – 2nd Double des Niais

(2. Variation)

Les Soupirs (Die Seufzer)

La Joyeuse (Die Fröhliche). Rondeau

La Follette (Die Neckische). Rondeau

L’Entretien des Muses (Die Unterhaltung der Musen)

Les Tourbillons (Die Wirbelwinde). Rondeau

Les Cyclopes (Die Zyklopen). Rondeau

Le Lardon. Menuet

La Boiteuse (Die Humpelnde)

Wolfgang Amadeus Mozart 1756 – 1791

Sonate für Klavier a-Moll KV 310 (300d) (1778)

Allegro maestoso

Andante cantabile

Presto

Pause

Johannes Brahms 1833 – 1897

Variationen und Fuge über ein Thema von Händel

B-Dur op. 24 (1861)

für Klavier

Thema. Aria – Variationen I – XXV – Fuga

3 Intermezzi op. 117 (1892)

für Klavier

Intermezzo Es-Dur

Intermezzo b-Moll

Intermezzo cis-Moll

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ZU DEN WERKEN DES HEUTIGEN KONZERTS

Jean-Philippe Rameau: Suite en re

Mit der Musik von Jean-Philippe Rameau (1683 – 1764) tauchen

wir ein in die faszinierende Klangwelt der französischen Clave-

cinisten (Clavecin, frz. = Cembalo). Rameau gehörte zur zweiten

Generation dieser virtuosen Tastenkünstler, deren Werke inner-

halb weniger Jahrzehnte stil- und formprägend für ganz Europa

wurden. Dies hing mit der aufstrebenden Rolle Frankreichs als

führender Kulturnation im Bereich Musik und Tanz zusammen.

Rameaus bedeutender Vorgänger Jacques Champion de Cham-

bonnières (um 1601 – 1672) hatte als Hofcembalist Ludwig IV. die

Clavecinmusik zu erster Blüte gebracht. Ihm folgte sein Schüler

Louis und vor allem dessen Neffe »le grand« François Couperin

(1661 – 1733), der vier Bände mit Cembalostücken, genannt Pièces

de clavecin, herausgab. Wie schon der schlichte Titel »piéces« ver-

rät, demonstrieren diese »Stücke« ihre Offenheit bezüglich Inhalt

und Form. Gemeint sind dabei zwar zuallererst die historischen

Tänze Allemande, Courante etc., aber schon bei Chambonnières

treten spielerische Sätze mit illustrativen Titeln hinzu. Die Coupe-

rins gruppierten in ihren Sammlungen die höfischen Tänze nach

Tonarten. Aus diesen »Ordres« konnte sich der Spieler seine eige-

nen Suiten zusammenstellen. Doch schon bei François Couperin

ist eine interessante Beobachtung zu machen: so stellt der Kom-

ponist in seinen Pièces de clavecin den Tanzstücken eine ganze

Reihe origineller Klavierminiaturen gegenüber. Diese Tendenz

setzt sich bei Rameau fort und spiegelt den um die Wende vom

17. zum 18. Jahrhundert einsetzenden Geschmackswandel wider:

weg von den traditionellen Tanzsätzen und hin zu den individuel-

leren Möglichkeiten des Charakter- oder Genrestücks.

Jean-Philippe Rameau ist heute als ein in seiner Zeit führender

französischer Komponist und kühner Musiktheoretiker bekannt.

Sein Traité de l’harmonie (1722) und weitere große Schriften zum

Thema »Harmonik« entfachten heftige Diskussionen unter den

Musikgelehrten seiner Zeit. Skandalumwittert waren auch stets

neue Opernproduktionen Rameaus, darunter Hippolyte et Aricie

(1733), Dardanus (1739) oder Les Fêtes d’Hébé – Werke, die in den

letzten Jahren für das Musiktheater wiederentdeckt wurden. Und

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seine Musik für Cembalo? Diese war, bevor Rameau sich ganz auf

die tragédie en musique verlegte, zum großen Teil schon kompo-

niert. 1706 veröffentlichte er sein Premier livre de pièces de clave-

cin, eine Folge von Tänzen nach dem Modell der französischen

Suite des 17. Jahrhunderts, vermehrt um einige freiere Tanzstücke.

Rameaus zweiter Band Pièces de clavecin erschien 1724, als der

Komponist endgültig nach Paris übergesiedelt war. Diesmal fügte

er der Ausgabe noch Une méthode pour la mécanique des doigts bei,

um so Fingerzeige auf Technik und Interpretation zu geben. Wie-

der sind es zwei Suiten (in e-Moll/E-Dur bzw. d-Moll/D-Dur), aus

denen der Spieler beliebig wählen kann. Die zweite Suite enthält

nun überhaupt keine traditionellen Tänze mehr, sondern besteht

ausschließlich aus Genrestücken mit bildhaften Überschriften.

Titel wie La Boiteuse (Die Hinkende), Les Soupirs (Die Seufzer) oder

Les Cyclopes (Die Zyklopen) appellieren an die Fantasie des Hörers,

sich die Charaktere, Stimmungen oder mythologischen Gestalten

vor dem inneren Auge vorzustellen.

Grigoy Sokolov beginnt seinen heutigen Klavierabend mit Les ten-

dres Plaintes (Zärtliche Klagen), einem lyrischen Stück voll zarten

Gefühls im pastoralen Stil. Dass es Rameau auf eine Vielfalt an

Emotionen ankam, macht der Kontrast zum nachfolgenden Les

Niais des Sologne deutlich. Nach dem ersten Auftritt der »Einfalts-

pinsel von Sologne« kommt das Stück erst in der zweiten Variation

so richtig in Fahrt. In Les Soupirs (Die Seufzer) besinnt sich Rameau

auf den Stile brisé (»gebrochener Stil«) des Lautenspiels, dessen

typisches Klangidiom die Clavecinisten einst nachahmten. Das

Stück spielt mit dem Eindruck stockenden Atems und befreien-

der Seufzer. Die nachfolgenden graziösen Rondeaus La Joyeuse

und La Follette stehen in der Tradition musikalischer Por träts, wie

sie einst die Lautenisten in ihren Tombeaukompositionen als

Gedenkmusiken auf verstorbene Personen verfassten; hier nur

allgemeiner aufgefasst als Seelenschilderungen. Dass Rameau

kühnere Harmoniefolgen einsetzt, die virtuosen Schwierigkeiten

steigert, die ausdrucksmäßige Spannweite des Cembalos nahezu

ausschöpft und damit das Clavecin zum Konzertinstrument ent-

wickelt, hat seine Pièces de clavecin populär gemacht (eine zweite

Auflage der Sammlung erschien 1731). Berühmte Beispiele dafür

finden sich in den nachfolgenden Cembalostücken. In Les Tour-

billons wird die Vorstellung turbulenter Wirbelwinde dank eines

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Sturms herabrauschender Arpeggien evoziert. In Les Cyclopes

(Die Zyklopen) fordert Rameau das schnelle Gleiten der linken

Hand in hohe und tiefe Lagen. Die (hand)übergreifenden Staccati

symbolisieren quasi akustisch und visuell das furchteinflößende

Hämmern der einäugigen Ungeheuer. Technische Souveränität,

theatralisches Gespür und ästhetisches Kalkül fließen in Rameaus

Pièces de clavecin meisterhaft zusammen. Nicht zuletzt zeigt sich

hier der zukünftige Musikdramatiker.

Wolfgang Amadeus Mozart: Sonate für Klavier a-Moll KV 310 (300d)

Fast möchte man es nicht glauben, dass die Klaviersonate a-Moll

KV 310 (300d) wirklich von Mozart komponiert wurde. Das schroffe

Hauptthema – ein absteigender punktierter Dreiklang, begleitet

von unerbittlich pochenden Akkord-Achteln in der Linken –, mit

dem der erste Satz eröffnet wird, gibt bereits die dunkel gefärbte

Gesamtstimmung des Werkes vor. Auch in den beiden folgenden

Sätzen zeigt sich kein Lichtblick am düsteren »Sonatenhimmel«.

In Mozarts Schaffen gibt es nur wenige Stücke in Moll, unter den

Klaviersonaten hat die vorliegende nur eine Schwester in c-Moll

KV 457. Deshalb wurden stets private Gründe im Erleben des Kom-

ponisten gesucht – und auch gefunden: der plötzliche Tod der

Mutter im Juli 1778 im Zusammenhang mit der insgesamt negati-

ven Bilanz seines zweiten Paris-Aufenthalts und die unglückliche

Liebe zu Aloysia Weber. Auch wenn sich Mozarts Beweggründe

nicht mehr konstruieren lassen, zumal weder persönliche Äuße-

rungen überliefert sind noch das genaue Entstehungsdatum der

Sonate bekannt ist, lässt sich konstatieren: diese Sonate, kompo-

niert »im Sommer« 1778, gehört fraglos zu Mozarts kompromiss-

losesten musikalischen Äußerungen. Mit Allegro maestoso hat der

Komponist den ersten Satz überschrieben und dabei gleich die

nötige Gewichtung auf das dominante Hauptthema gelegt. Sei-

ner Unerbittlichkeit vermag das Seitenthema nichts entgegenzu-

setzen, so dass die Durchführung hauptsächlich vom Kopfmotiv

des Hauptthemas bestimmt wird. Hier nun setzt Mozart unge-

heure Energien frei, indem er, angeheizt von unablässig laufenden

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16tel-Läufen, dissonanzenreich moduliert und dynamische Ext-

reme aufsucht. Die aufgewühlte Stimmung beherrscht auch die

Reprise, die konsequenterweise den Seitensatz nach Moll wendet.

Das nachfolgende Andante cantabile übt sich zunächst in Gefasst-

heit, doch in der Durchführung gewinnen wieder die schmerzlich

dissonanzreichen Passagen die Oberhand. Beeindruckend, wie

Mozart die reich mit Trillern und Vorhalten verzierte Kantilene

zum Ausdruck emphatischer Gefühle nutzt. Auch im Rondo-Finale

wird kein wirklicher Ausweg gesucht und gefunden. In gleichför-

mig ruheloser Bewegung durchläuft das Rondo-Thema auch den

A-Dur-Mittelteil, bevor der Satz in a-Moll endet. Ein versöhnliches

Ende konnte und wollte Mozart in dieser außergewöhnlichen Kla-

viersonate seinen Hörern nicht bieten.

Johannes Brahms: Händel-Variationen op. 24

und 3 Intermezzi op. 117

Im Unterschied zu den sogenannten ›Neudeutschen‹ um Franz

Liszt und Richard Wagner, die der Tradition eher skeptisch

gegenüberstanden, fühlte sich Johannes Brahms dieser durch-

aus verbunden. Während die Progressiven bewährte musikalische

Formen wie Fuge, Passacaglia und Sonate für erschöpft erklär-

ten, bedeuteten diese für Brahms einen steten Anreiz kreativer

Auseinandersetzung. Mit dem Freund Joseph Joachim betrieb

er intensive Kontrapunktstudien und als 1851 der erste Band der

ersten Bach-Gesamtausgabe erschien, gehörte er sogleich zu

ihren Abonnenten. Seit 1850 beschäftigte er sich intensiv mit alter

Musik und setzte auch regelmäßig Werke der Zeit aufs Programm.

So führte er z. B. während seiner Tätigkeit als »artistischer Direk-

tor« der österreichischen Gesellschaft der Musikfreunde Händels

»Dettinger Te Deum« und das Oratorium Saul auf, obwohl es in

Wien zu dieser Zeit gar keine barocke Aufführungstradition gab.

Die Varationen und Fuge über ein Thema von Händel op. 24 ent-

standen 1861 als Geburtstagsgeschenk für Clara Schumann. Das

Thema der Variationen entnahm Brahms Händels erster Suite

B-Dur aus den 1733 erschienenen Pièces pour le clavecin, von

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denen er eine Erstausgabe besaß. Ausgehend von diesem ein-

fachen Thema entwickelt Brahms 25 vor Originalität sprühende

Variationen und fügt diesen noch eine ausgedehnte Schlussfuge

hinzu. Zu bewundern sind nicht nur der scheinbar unerschöpfli-

che Einfallsreichtum bei der Findung abgewandelter thematischer

Gestalten, sondern auch das Austarieren persönlichen Ausdrucks

mit den Vorgaben satztechnischer Strenge. Brahms, der einmal

zugab, »eine eigene Liebhaberei für die Form der Variation« zu

haben, verwirklichte mit op. 24 sein eigenes hochgestecktes Vari-

ationsideal: so rangieren die Händel-Variationen von ihrer Bedeu-

tung her auf einer Höhe mit Bachs Goldberg-Variationen BWV

988 und Beethovens Diabelli-Variationen op. 120. Sein Vorgehen

beschrieb der Komponist einmal so: »Bei einem Thema zu Vari-

ationen bedeutet mir eigentlich, fast, beinahe nur der Baß etwas.

Aber dieser mir ist heilig, er ist der feste Grund, auf dem ich dann

meine Geschichten baue. Was ich mit der Melodie mache, ist nur

Spielerei oder geistreiche – Spielerei […]. Variiere ich die Melodie,

so kann ich nicht leicht mehr als geistreich oder anmutig sein

oder, zwar stimmungsvoll, einen schönen Gedanken vertiefen.

Über den gegebenen Baß erfinde ich wirklich neu, ich erfinde ihm

neue Melodien, ich schaffe.«

Selbst Richard Wagner nötigte das Werk Respekt ab. Hatte er einst

Brahms vorgeworfen, er habe sich bei seinem Triumphlied die

»Hallelujah-Perücke Händels« aufgesetzt, schrieb er nach einer

Aufführung der Händel-Variationen 1863 in Wien: »Hier sieht man,

was noch in den alten Formen geleistet werden kann, wenn einer

kommt, der sie zu gebrauchen weiß.«

Sammeln, Sichten, Resüme ziehen: zeitlebens Kreative sehen sich

oft im Alter veranlasst, Bilanz zu ziehen, mit Erreichtem abzu-

schließen. So ging es auch Johannes Brahms, der Ende der 1880er

Jahre danach trachtete, sich als Komponist von der Sinfonie, der

Kammermusik und auch vom Klavier zu verabschieden. Und so

stellte er mit Erleichterung fest, dass schon sein energischer Ent-

schluss, nichts mehr zu schreiben, ihn »so froh, so zufrieden, so

vergnügt« gemacht habe, »dass es auf einmal wieder ging.« Ein

Glücksfall für den wertvollen Fundus spätromantischer Klavier-

musik, denn nun komponierte er – gewissermaßen unbelastet von

allen äußeren Zwängen und erklärten Absichten – im Jahr 1892

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noch 20 Klavierstücke, die er in den Sammlungen op. 116, op. 117,

op. 118 und op. 119 zusammenfasste.

Eines von diesen – das Intermezzo op. 119,1 – übersandte Brahms

an Clara Schumann mit den Worten: »Ich bin in Versuchung, Dir

ein kleines Clavierstück abzuschreiben … Es wimmelt von Dis-

sonanzen! Diese mögen recht sein und zu erklären – aber sie

schmecken Dir vielleicht nicht … Das kleine Stück ist ausnehmend

melancholisch, und ›sehr langsam spielen‹ ist nicht genug gesagt.

Jeder Tact und jede Note muss wie ritard. klingen, als ob man

Melancholie aus jeder einzelnen saugen wolle, mit Wollust und

Behagen aus besagten Dissonanzen! …« Dies ist eine der selte-

nen Äußerungen, in denen Brahms einmal selbst die resignativ-

melancholischen Züge seiner Musik thematisiert. Und wirklich

handelt es sich bei Brahms letzten Klavierkompositionen, glaubt

man Eduard Hanslick, um verspätete »Monologe, wie sie Brahms

in einsamer Abendstunde mit sich und für sich hält, in trotzig-pes-

simistischer Auflehnung, in grüblerischem Nachsinnen, in roman-

tischen Reminiscenzen, mitunter auch in träumerischer Wehmut.«

In poetischer Musik, wie sie Robert Schumann auffasste, mani-

festieren sich seltene und geheime Seelenzustände. Um die

angeregte Fantasie auf die richtige Bahn zu lenken, fügte Schu-

mann seiner Klaviermusik inhaltsreiche Überschriften hinzu. Dies

vermied Brahms in der Regel, dennoch liegt es nahe, auch bei

seinen Klavierstücken zumindest »poetisierende« Intentionen

anzunehmen.

Auf eine außermusikalische Anregung weist Brahms übrigens

selbst hin: dem Es-Dur-Intermezzo op. 117, 1 ist als Motto »Schlaf

sanft, mein Kind, schlaf und schön, mich dauerts sehr, dich weinen

seh’n« beigegeben. Der Text dieses schottischen Volkslieds ent-

stammt Johann Gottfried Herders Sammlung Stimmen der Völker,

die Brahms außerordentlich schätzte. Brahms erfindet im Versmaß

dieses Textes eine berührende Melodie, die er in der Mittelstimme

der rechten Hand »versteckt«. Dort erblüht sie gewissermaßen im

Halbschatten, unter dem Schutzmantel gleichmäßig repetierter

Akkorde. Der B-Teil führt in entrückte Klangwelten in es-Moll, bis

das Stück im lichten dritten Teil mit der Wiederholung des Volks-

liedes zu einem friedlichen Abschluss findet.

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Brahms soll seine Intermezzi op.  117 gegenüber Freunden als

»Wiegenlieder seiner Schmerzen« bezeichnet haben. Zuvörderst

bezieht Brahms sich damit auf op.  117, 1 mit dem aus Herders

Wiegenlied einer unglücklichen Mutter entnommenen Motto. Da

jedoch alle drei Stücke die introvertierte Ausprägung des lyrischen

Charakterstück vertreten, lässt sich ihr geheimes Programm viel-

leicht doch recht gut mit Brahms Äußerung zur Deckung bringen.

Intermezzo op. 117, 2 ist wie die Nr. 1 ein Andante-Satz, diesmal

dominiert durchweg von 32tel-Figuren, aus deren Spitzentönen

sich die wehmütige Melodie des Stückes herauskristallisiert. So

wenig Brahms mit dem nur vage andeutenden Titel Intermezzi

mitteilt, so vielsagend sind seine Vortragsbezeichnungen: im Falle

von op. 117, 2 con molta espressione. Das abschließende Intermezzo

Nr. 3 cis-Moll sucht wieder die Nähe zum Wiegenlied vom Beginn

und knüpft auch musikalisch an den dortigen Überleitungsge-

danken zum es-Moll-Teil an. Die absichtsvolle Balance zwischen

Monologisieren und Improvisieren ist Brahms wohl hier am ein-

drucksvollsten gelungen. Mit seinen letzten Kompositionen macht

uns Brahms zum Zeugen seiner intensiven Gespräche mit sich

selbst und seinem langjährigen Gefährten, dem Klavier.

Tilla Clüsserath

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PORTRAIT

»Überwältigende Klangmagie« –Der russische Pianist Grigory Sokolov

Jeder Ton ist wichtig, jede Phrase atmet, die Musik wirkt frei. Ins

Gesicht geschrieben ist ihm die körperliche und seelische Anstren-

gung, mit der er Musik durchlebt. Konzerte des Russen Grigory

Sokolov sind etwas Besonderes. Nur wenige Pianisten machen

Klaviermusik so zum Erlebnis. Seine Interpretationen sind wohl

kalkuliert, klug aufgebaut und berühren unmittelbar. Doch woran

liegt das, und wieso lassen uns viele andere Interpreten trotz aller

technischen Perfektion kalt? Ein Grund mag jene russische Kla-

viertradition sein, die sich in der Sowjetunion relativ eigenständig

entwickelte. Neben der Beweglichkeit und Sprungfähigkeit der

beiden Hände wurde großer Wert auf die Ausbildung eines kanta-

blen Anschlags, eine Tiefe des Vortrags gelegt. Freilich avancierte

der 1950 in Leningrad (St. Petersburg) geborene und am dortigen

Konservatorium ausgebildete Sokolov schnell zum Individualis-

ten. Seine Interpretationen verströmen eine poetische Kraft und

dynamische Weite, sind pointiert und rhythmisch flexibel. Diese

Freiheit wird an modernen Musikhochschulen nicht immer gerne

gesehen. Zu viel Wert liegt auf einer ebenmäßigen, technisch sau-

beren, klassischen Sicht auf pianistische Meisterwerke. Schüler

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nehmen bewusst oder unbewusst den Ton und die Klangästhetik

ihrer Lehrer an. Und doch bewundern wir stets Pianisten, die von

der Norm abweichen, nicht so spielen, wie es eigentlich beige-

bracht wird. Sokolov stammt aus einer Zeit, in der Charakter viel

zählte. Als einer der letzten transportiert er jenen russisch-expres-

siven Klavierstil, den sein Entdecker Emil Gilels oder Svjatoslaw

Richter einst weltbekannt machten, der jedoch auch mit Vladimir

Sofronitzky oder Tatjana Nikolajewa eine Blüte erlebte. Vielleicht

ist es gerade die Mischung aus Persönlichkeit und Ausbildung, die

all diese Künstler so bedeutend werden ließ.

Von Anfang an hochbegabt und diszipliniert, gab Sokolov bereits

mit Zwölf seinen ersten Klavierabend in Leningrad. Doch obwohl

er mit sagenhaften 16 Jahren 1966 den dritten Moskauer Tschai-

kowsky-Wettbewerb gewann, verlief seine Laufbahn unauffälliger

als die anderer Kollegen. Bis in die 1980er Jahre hinein legte er in

der Sowjetunion eine beeindruckende Karriere hin, war im Westen

jedoch kaum bekannt. Bereits damals entstand ein Mythos um

seinen Namen. Dieser Ruf eilte ihm voraus, als er ab 1990 diesseits

des geöffneten Eisernen Vorhangs zu konzertieren begann. Lon-

don, Paris, Wien, Berlin, Madrid, Salzburg, München, Rom oder

New York eroberte er im Sturm. Dabei blieb er ein eigenwilliger

Mensch, verweigert sich bis heute aufwändigem Marketing, das

im Klassikbetrieb immer dominanter wird. Seine allesamt hörens-

werten Aufnahmen erschienen beim kleinen französischen Label

»Opus 111« (Naïve) und nicht bei einem den Markt dominierenden

Major-Label. Und dann bevorzugt er noch Live-Einspielungen, da

ihn das trockene Studio wenig inspiriert. Sokolov passt eben in

keine Schublade.

Die große Werbetrommel hat er gar nicht nötig, sein Name ist

längst zur Marke geworden. Jedenfalls für Kenner und Liebhaber

anspruchsvoller Konzerte, denn Klassikstar-Allüren sind Sokolov

fremd. Fast widerwillig nimmt er die anschließenden Ovationen

entgegen. Bei ihm steht nicht die eigene Person, sondern die Musik

im Vordergrund. So findet sich in seiner Biografie eher beiläufig

der Hinweis, dass er bereits mit 200 Dirigenten arbeitete, darunter

Myung-Whung Chung, Valery Gergiev oder Herbert Blomstedt.

Sokolov steht nicht gerne im Rampenlicht, liebt eher das intime

Erlebnis eines Solorecitals statt die große Orchesterbühne. Auch

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sucht er die Dunkelheit im Konzertsaal. Nur sein Arbeitsplatz, der

Konzertflügel, darf spärlich beleuchtet werden. Darüber diskutiert

er vor seinen Konzerten lange mit Veranstaltern und Bühnentech-

nikern, denn nicht jeder akzeptiert dies sofort. Ob er sich wohler

fühlt, wenn er das Publikum nicht sieht, sei einmal dahin gestellt.

Auch Svjatoslaw Richter bevorzugte bei seinen letzten Auftritten

abgedunkelte Säle. Die Saalbeleuchtung hat großen Anteil an der

Atmosphäre eines Konzerts. Wird sie reduziert, sind die Ohren des

Hörers direkt auf die Musik fokussiert. Ablenkende Blicken durch

den Zuschauerraum sind kaum möglich. So erlebt das Publikum

noch unmittelbarer Sokolovs »überwältigende Klangmagie«, wie

die Frankfurter Allgemeine Zeitung einmal schrieb.

Sokolovs Auftritte besitzen eine Aura, die man bei anderen Ver-

anstaltungen oft vermisst. Vielleicht besuchen aus diesem Grund

auch viele Musikstudenten seine Konzerte. Von den Interpretati-

onen des Russen kann man offenbar viel lernen. »Bei Sokolovs

Recitals ist eben nichts wie gewohnt, und doch genau so, wie

man es sich nur wünschen kann«, schrieb Die Presse 2008 nach

einem umjubelten Konzertabend im Wiener Konzerthaus. Dabei

sind seine Programmfolgen eher traditionell, legen den Schwer-

punkt auf die europäische und russische Romantik. Große Meister-

werke dieser Epoche stehen im Zentrum seiner Konzerte. Doch hat

Sokolov auch ein Faible für die Klaviermusik des Barock, etwa von

Jean-Philippe Rameau. Nach einem Konzert ist er dann so in Fahrt,

dass er sein vorbildlich aufmerksames Publikum mit einem wahren

Zugaben-Reigen verwöhnt. Auch zu diesem Zeitpunkt wird selbst

das kürzeste Chopin-Prélude mit einer staunenswerten Farbpalette

vorgetragen. Und noch etwas ist bemerkenswert: Vor seinen Auftrit-

ten begutachtet Sokolov den ihm zur Verfügung gestellten Flügel

genau; mit der Technik des Instruments ist er fast so vertraut wie ein

Klavierbauer. Stundenlang spielt er sich vor dem Klavierabend ein,

um den Flügel ganz genau kennen zu lernen. Bei aller Spontaneität

seines Vortrags ist er ein Perfektionist, der sich minutiös vorbereitet.

Wenn er dann beginnt, oft konzentriert über die Tastatur gebeugt,

entführt er sein Publikum für gut zwei Stunden in eine andere Welt.

Sokolov zeigt, wie wichtig es ist, jeden Moment unseres Lebens zu

genießen. Am besten mit seinem begnadeten Klavierspiel.

Matthias Corvin

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März

DO 0120:00

Noémi Kiss SopranAtala Schöck MezzosopranZoltán Megyesi TenorPeter Harvey Bass

Budapest Festival OrchestraIván Fischer Dirigent

Johann Sebastian Bach»Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht« BWV 105

Anton BrucknerSinfonie Nr. 7 E-Dur WAB 107

Internationale Orchester 4

FR 0218:00

Singen mit Klasse!

Ph. Matthias Kaufmann

»Malheur in der Geisterwelt«

Kölner Schülerinnen und Schüler aus zwölf Klassen singen auf dem Podium der Kölner Philharmonie ein eigens für sie komponiertes Bühnenstück, beglei-tet von professionellen Musikern und Musikerinnen.

Gefördert durch das Kuratorium KölnMusik e.V.

KÖLNMUSIK-VORSCHAU

SA 0320:00

Fatoumata Diawara voc, gitMo Kouyaté gitJean-Alain Hohy bJean-Baptiste Gbadoe dr

Corine Thuy-Thy back vocals

Fatou

Fatoumata Diawara, kurz Fatou, ver-wandelt Elemente aus Jazz und Folk zu einem exquisiten, zeitgenös- sischen Folk-Sound. Dabei bricht sie die rocki-gen Rhythmen und reichen Melodien ihrer Wassoulou-Tradition mit einer instinkthaften Pop-Empfi ndsamkeit auf. Im Zentrum ihrer Kunst stehen Fatous warme, berührende Stimme, sparsames und rhythmisches Gitarrenspiel und atemberaubend melodische Songs.

SO 0416:00

Andreas Brantelid Violoncello

Scottish Chamber OrchestraRobin Ticciati Dirigent

Toshio HosokawaBlossomingfür OrchesterDeutsche Erstaufführung

Robert SchumannKonzert für Violoncello und Orchester a-Moll op. 129

Johannes BrahmsSerenade D-Dur op. 11

Sonntags um vier 4

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Riccardo Chailly Dirigent

Hélène Grimaud Klavier

Gewandhausorchester Leipzig Luba Orgonášová Sopran

»Die himmlischen Freuden«

Erstmalig gastiert Hélène Grimaud gemeinsam mit dem Gewand-

hausorchester Leipzig in der Kölner Philharmonie. Dass nun Grimaud

als Pianistin, die auch für ihren Eigensinn berühmt ist, das Ravel’sche

Klavierkonzert spielt, passt besonders gut. So wurde die Uraufführung

1932 auch von einer eigensinnigen Pianistin übernommen: Marguerite

Long. Mit dieser Darbietung brachte sie ihre frauenfeindlichen Wider-

sacher am Pariser Konservatorium endgültig zum Verstummen.

Riccardo Chailly, seit 2005 Chefdirigent des Orchesters, dirigiert in der

zweiten Hälfte Gustav Mahlers 4. Sinfonie. Das Werk, dem das Publi-

kum bei seiner Uraufführung vor 80 Jahren nur wenig Respekt zollte,

wurde nicht allein wegen seines letzten Satzes später zu einem der

beliebtesten Mahlers.

Sonntag 13. Mai 2012

20:00

Maurice Ravel

Konzert für Klavier

und Orchester G-Dur

Gustav Mahler

Sinfonie Nr. 4 G-Dur

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Redaktion: Sebastian Loelgen

Corporate Design: hauser lacour

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Textnachweis: Die Texte von

Tilla Clüsserath und Matthias Corvin

sind Original beiträge für dieses Heft.

Fotonachweise: Hyou Vielz S. 10

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otline

Sonntag18.03.2012

20:00

Maurizio Pollini

spielt Chopin und Liszt

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