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ULRIKE BERGERMANN, ELISABETH STROWICK (HG.) Weiterlesen. Literatur and Wissen Festschrift flir Marianne Schuller [transcript]

Groddeck, Zahl, Maß Und Metrik in Hölderlins Hälfte Des Lebens

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  • ULRIKE BERGERMANN, ELISABETH STROWICK (HG.) Weiterlesen.

    Literatur and Wissen Festschrift flir Marianne Schuller

    [transcript]

  • Inhalt

    Tabula Gratulatoria 9

    ULRIKE BERGERMANN/ELISABETH STROWICK Weiterlesen: Literatur und Wissen

    11

    Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

    in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uber

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    2007 transcript Verlag, Bielefeld

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    Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Rockenhaus, Bielefeld

    Umschlagabbildung: Gunter Krug, Mechanische Uhren, Berlin: VEB Verlag Technik, 1987, S. Go

    Herstellung: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

    ISBN 978-3-89942-606-9

    Gedruckt auf alterungsbestandigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

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    KONSTELLATIONEN

    BARBARA HAHN Freundschaft schreiben. Intellektuelle Konstellationen

    nach Friedrich Nietzsche 31

    RAINER NAGELE Konstellationen der Lektiire.

    Peter Szondis kritische Grenzgange 45

    VORSTELLUNG

    ULRIKE HASS Entortung und Sprache. Zu einem Kapitel aus Droge Faust Parsifal von Einar Schleef

    65

    THERESIA BIRKENHAUER oHerzensbiihne. Das Prinzip Inszenierung

    im Werk Else Lasker-Schiilers 77

    JURGEN LINK/URSULA LINK-HEER Das naturalisierte Wunder. Emile Zolas Lourdes-Roman als interdiskursives Ereignis

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  • Zahl, Mall und Metrik in Holderlins Gedicht

    Halfte des Lebens WOLFRAM GRODDECK

    In Holderlins Briefroman Hyperion oder der Eremit in Griechenland erinnert sich Hyperion, wie ihm sein Lehrer Adamas, dem er in >platonischer Liebe< verbunden ist, die Augen fur die Welt geoffnet hat:

    Bald fiihrte mein Adamas in die Heroenwelt des Plutarch, bald in das Zauberland der griechischen Getter mich ein, bald ordnet' und beruhigt' er mit Zahl und Maas das jugendliche Treiben, bald stieg er auf die Berge mit mir; des Tags, urn die Blumen der Haide und des Walds und die wilden Moose des Felsen, des Nachts, um iiber uns die heiligen Sterne zu schauen, und nach menschlicher Weise zu verstehen.1

    Das umfassende Weltwissen, das Adamas dem jungen Hyperion nahe bringt, enthalt auch jenes Wissen, wonach in Anspielung auf Weisheit zo alles nach Mag, Zahl und Gewicht geordneto ist. Far Hyperions Entwicklung zum Dichter, wovon Holderlins einziger Roman handelt, ist dies ein salcularisiertes Wissen, das ebenso sehr die Lebensfiihrung Adamas ordnet' und beruhigt' mit Zahl und Maas das jugendliche Trei-beno des heranwachsenden Griechen als auch die Geheimnisse der Dich-tung selbst regelt. Denn mit Zahl und Maas ordnet der Dichter sein Tun und weig sich im Einldang mit Geschichte, Natur und Kosmos.

    So sagt Holderlin in seiner Elegie Brod und Wein an einer Stelle:

    Fest bleibt Eins; es sei urn Mittag oder es gehe Bis in die Mitternacht, immer bestehet ein Maas, Allen gemein, doch jeglichem auch ist eignes beschieden.2

    1. Friedrich Holderlin: Samtliche Werke. Frankfurter Ausgabe, hg. v. D.E. Satt-ler, Frankfurt a.M.: Roter Stern, 1977ff. [zitiert als: FHA Band], hier: FHA 11, S. 592.

    2. FHA 6, S. 249.

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  • Wolfram Groddeck

    Das Mag des Gedichtes in diesem Fall das metrisch aufgerst flexible ele-gische Distichon entspricht in der Rede des Dichters dem Menschen und seiner geschichtlichen Rilckbesinnung, die das Thema der Elegie ist, und die Vorstellung des Maces ist hier emphatisch als Bedingung einer poe-tisch-dionysischen Erfahrung genannt.

    In dem freirhythmischen Hymnen-Entwurf Der Einzige, der in enger zeitlicher und raumlicher Nachbarschaft zu Brod und Wein entstanden ist, taucht der gleiche Gedanke des Mafges wieder auf, aber nun als Ausdruck einer poetischen Krise: Nie treff ich, wie ich wunsche,/Das Maas.3

    Dass das Mag der poetischen Sprache wesentlich sei, ist eine Gewiss-heit, an der sich viele Dichter orientieren und die sich in der Kunst der Me-trik und des Versbaus bestatigt. Das Wort Metrik stammt aus dem Grie-chischen; ometrike techne heifgt: Die Kunst des Messens. Abgeleitet ist dieser Ausdruck vom Verb metreo, das messen und abschatzen, aber auch kritisch beurteileno bedeuten kann. Das griechische Substantiv to metron bezeichnet neben Mark Richtschnur, Strecke auch, im ubertragenen Sinne, Blilte und Vollkommenheito. Es ist also, so gese-hen, eine emphatische Vorstellung des Mafies, welche den antiken Begriff der Metrik gepragt hat.

    Bettina von Arnim hat in ihrem Buch Die Gunderode eine Bemerkung des schon kranken Holderlin ilberliefert, welche die enge Beziehung von Mag, Geist und Sprache im Begriff des >Metrischen< selbst ausspricht:

    Die Gesetze des Geistes aber seien metrisch, das fate sich in der Sprache, sie werfe das Netz Ober den Geist, in dem gefangen, er das Gottliche aussprechen miisse, und so Lange der Dichter noch den Versakzent suche und nicht vom Rhythmus fortgerissen werde, so Lange habe seine Poesie noch keine Wahrheit4.

    Holderlins Bild von der Sprache als einem Netz, in welchem der Geist gefangen wird, damit er das Gottliche ausspreche, fahrt zu einem Begriff von Poesie, deren absoluter Anspruch die Dichtung holier als Philosophie und Wissenschaft stellt. Denn die metrische Sprache bringt den Geisto erst hervor, dessen Gesetze dann selbst metrisch sind.

    Der poetische oder der poetisch hervorgebrachte Geist denkt also nach Holderlin in rhythmisch-metrischen Gesetzen, d.h. in messbaren rhythmi-schen Proportionen. Das unterscheidet ihn vom begrifflichen Denken des Philosophen oder des Wissenschaftlers und es verbindet ihn zugleich mit dem Paradigma der Wissenschaft.

    Das allem zugrunde liegende Mag, die Zahl, ist also etwas, das den

    3. FHA 7, S. 237. 4. Friedrich Holderlin: Grope Stuttgarter Ausgabe, hg. v. Friedrich Beigner,

    Stuttgart: W. Kohlhammer 1943ff. [zitiert als: StA Band, Seite], hier: StA 7/4, S. 195.

    160

    Zahl, Mal und Metrik

    Geist und seine poetische Sprache erst bedingt. Solche allem poetischen Ausdruck vorgeordnete Klarheit durch die Zahl teilt die Dichtung aber nicht nur mit dem reinen Wissen der Mathematik, sondern auch mit der Musik.

    Die Frage nach der Metrik im Gedicht ist bei HOlderlin verbunden mit der Zahl, mit dem, was er als das kalkulable Gesezo5 bezeichnet hat. Urn diesen Zusammenhang spurbar zu machen, mochte ich nun das Ge-dicht Ha!fte des Lebens ins Zentrum meiner Betrachtung rucken. Es ist ei-nes der bekanntesten Gedichte Holderlins und verschliegt sich einem un-mittelbaren Verstehen weit weniger als die meisten seiner anderen Texte nach 1800. Nachdem es zunachst unter dem Verdacht stand, Produkt eines geistig schon verwirrten Dichters zu sein und folglich in den friihen derlin-Ausgaben weggelassen wurde, hat das Gedicht schliefglich eine gan-ze Reihe von Interpretationen erfahren, die, wenn man sie im Zusammen-hang liest, bald erkennen lassen, wie resistent gegen Auslegung sick dieses kleine Textgebilde erwiesen hat. Es wurde gelesen als Naturgedicht oder als Gedicht von hotichstem Ictinstlerischem Ausdruck, so 1950 von Ludwig Strauss6; zu einem explizit poetologischen Gedicht wurde es 1984 von Jochen Schmidt erldart, der die Schwane als Dichtertopos entziffert und im oheilignuchternen Wasser Holderlins Dichtungsauffassung ausgespro-chen sieht.7 Bei Gerhard Kaiser stellt sich Halfte des Lebens als Gedicht fiber eine Todeserfahrung dar8; Karl Eibl liest es als Gedicht, das eine Krise der Reflexion zur Darstellung bringt.9 Andere, wie Paul Maloney' begreifen es als Gedicht fiber den Verlust von Sprache oder gar, wie Ger-hard Neumann, als Gedicht vom Versagen der Autorschafto." Keine die-ser Interpretationen geht im Text des Gedichtes wirklich auf, immer bleibt eM Unerklartes, Unerldarliches zuriick. Die jiingste, tiefgreifende Studie

    5. FHA 16, S. 411. 6. Ludwig Strauss: Friedrich Holderlins >Halfte des Lebensw, in: Interpreta-

    tionen, hg. v. Jost Schitlemeit und Dieter Steland, Bd. I, Frankfurt a.M.: Fischer 1965, 5. 113-134.

    7. Friedrich Holderlin: Samtliche Werke und Briefe, 3 Bande, hg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992ff.

    8. Gerhard Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis zur Gegen-wart, Bd. I, Frankfurt a.M.: Inset 1988, S. 281-291.

    9. Karl Eibl: Der Kick hinter den Spiegel. Sinnbitd und gedankliche Bewe-gung in Holderlins >Halfte des Lebensm, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesell-schaft 27 (1983), S. 221-234.

    10. Paul W. Maloney: Bild und Sinnbild in Holderlins >lialfte des Lebens

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    2 Homburger Folio-heft

  • Wolfram Groddeck

    immerhin auf Holderlins Brief vom Silvester 1800 berufen, wo er seinem Bruder in Beziehung auf den erwarteten neuen Frieden schreibt: dig ists, was vorzuglich mit Heiterkeit mich in die zweite Halfte meines Le-bens hinaussehn lagto.r8 Die Mitte des Lebensweges, die Halfte des Le-bens, ist unter der Perspektive der biblischen Lebenserwartung von 7o Jahren das 35. Jahr. Silvester r800 ist es Holderlins 3o., bei der Publika-tion von Halfte des Lebens, 1805, ist es aber tatsachlich das 35. Lebens-jahr Holderlins.

    Die zweimal sieben Verse des 7. Gedichtes liegen sich nun als Zah-len-Allegorien far die sieben Lebensjahrzehnte verstehen. Der Begriff Halfte des Lebens bezeichnet hier wohl kaum eine Halbierung der 7o Jahre, wonach die ersten 35 Jahre glilcklich, die letzen 35 Jahre dagegen kalt und traurig vorzustellen waren, sondem er meint die Zasur des Eingeden-kens, welche das Leber, aus der Mitte heraus als Ganzes betrachtet und es in dieser Anschauung zugleich reflexiv verdoppelt. Die bei Dante mit der Jahrhundertwende in eins fallende >Mitte des Lebens< verteilt sich also bei Holderlin mit dem ersten Entwurf und der fiinf Jahre spateren Publikation des endgiiltigen Textes auf die beiden Jahre r800 und 1805. Die doppelte Beziehbarkeit der Lebensmitte auf die epochale Jahrhundertwende und auf das eigene Leben liege sich demnach als ein weiterer Aspekt der mar-kanten formalen Zweiteilung von Holderlins Gedicht verstehen.

    Dem Titel Halfte des Lebens lasst sich jedenfalls die Vorstellung eines Maps entnehmen, wie es auch an der eingangs zitierten Stelle aus der Ele-gie Brod und Wein zum Ausdruck kommt. Die Vorstellung eines Maces bezieht sich hier gleichermagen auf das Leben des Einzelnen wie auf das der Gemeinschaft aber auch auf die Gestalt des Gedichtes selbst.

    Die Komposition mit der symbolischen Sieben-Zahl im Aufbau des Textes ist eine der Realisierungen der poetischen Mag-Vorstellung Holder-lins, die Frage nach der Metrik im Gedicht fiihrt zu einer anderen Konkre-tisierung der Zahl, die sich im Silbenmag verwirldicht. Die 7-Zahl stellt die Bedingung fur den metrischen Sinn des Gedichtes dar und bringt die transzendentale Vorstellung des Maces im Gedicht augenfallig zum Aus-druck und konkretisiert sich in der metrischen Feinstruktur der Verse.

    Die Eingangsverse im Gedicht bestehen aus je sieben Silben insofern bildet sich die numerische Struktur des zweistrophigen Gedichtes in den ersten beiden Versen metrisch ab.

    Diese beiden Verse zitieren dabei den Auftakt der alkaischen Oden-strophe, die in der Anfangszeile nach fiinf alternierenden Silben eine obliga-torische Zasur zeigt und dann in einem anderen Rhythmus fortfahrt. Also etwa: In jungern Tagen war ich des morgens froh so der Beginn der

    18. StA 6, S. 407.

    Zahl, Mali und Metrik

    Ode Ehmals und jetzt.I9 Bemerkenswert an den ersten beiden Zeilen von Hale des Lebens ist der Umstand, dass, sobald man uber die erste Zeile hi-naus liest, die vollstandige metrische Periode der alkaischen Ode horbar wird:

    Mit gelben Birnen hanget Und volt mit wit-/den Rosen [...].

    Bekannt ist Rudolf Borchards auflagenstarke Anthologie von 1926, Ewiger Vorrat Deutscher Poesie, wo Wilderlins Hale des Lebens als eine fragmen-tierte Ode von vier Strophen abgedruckt wurde." Interessant scheint mir bei diesem Kulturkuriosum die nachgelieferte Bemerkung Borchardts fiber den deutlich erhaltene[n] alkaischen Rhythmus021, den er in HOlderlin Halfte des Lebens zu erkennen glaubte. Das unterscheidet Borchardts im Ubrigen barbarische Lektiire von den gangigen, die hier nur freie, ei-gene oder unregelmagige Rhythmen, das heigt in letzter Konsequenz: gar keinen metrisch bestimmten Rhythmus mehr wahrnehmen. Nur noch von >>freien Rhythmen oder gar von )>Zeilen zu sprechen bedeutet fur dieses Gedicht eine Reduktion, welche nicht nur die Spannung zwischen Metrum und Rhythmus nivelliert, sondem das Gedicht auch aus seinen metrischen Verwandtschaftsbeziehungen mit anderen Texten aus der Tra-dition der Odendichtung heraustrennt.

    Bei dem Versuch, aus dem Text von Halfte des Lebens eine metrische Struktur zu extrapolieren, will ich nicht verhehlen, dass die metrische Ana-lyse kein eineindeutiges Schema ergibt; bestimmte rhythmische Sequen-zen lassen sich auf verschiedene Wese skandieren, abhangig von der Inter-pretation des Textes selbst. Aber das ist von untergeordneter Bedeutung; entscheidend ist die Erkenntnis, dass man es hier mit antiken Versmagen, oder besser gesagt mit Zitaten antiker Versmage zu tun hat":

    19. FHA 5, S. 470. 20. Vgl. Michael Knaupp: Holderlin und endlich ein Ende, in: Le Pauvre Hot-

    terling 8, 1988, S. 98-104. 21. Ebd., S. 102. 22. Auch Menninghaus verwendet die Bezeichnung Metrische Zitate (W.

    Menninghaus, Halfte des Lebens, S. 39) oder auch metrische Hypogramm[e] (ebd., S. 40) und schlagt vor: Filr Phanomene wie diese bedarf es einer neuen Sub-Disziplin der Rhetorik, die >allegorische Metrik< heiRen konnte (ebd., S. 84).

  • U U U U U U, U U U U, U U U U U U U UUUU U U UU,UUU

    U U U U U U, U U, U U U U UUUU U U U U U U U UUU

    Adoneus Alkaischer Ffinfsilber + Trochaus Alkaischer Funfsilber + Trochaus Jambus + Anapast (gespiegelter Adoneus) Alkaischer Fiinfsilber Akephaler Pherekrateus (Reizianus) Chorjambus Amphibrachys + Adoneus

    Spondeus + zweiter Paon Zweiter Paon + Amphibrachys + Jambus Zweiter Hon Akephaler Pherekrateus (Reizianus) Zweiter Hon Chorjambus + Amphibrachys Adoneus

    Wolfram Groddeck

    Eine wichtige Voraussetzung fur einen solchen Versuch metrischer Analy-se ist im Verhaltnis Holderlins zu Klopstock gegeben. Klopstock, der die antiken Odenformen in deutscher Sprache poetologisch durchgesetzt hat und zu Holderlins grogem, wenn auch durch ihn ubertroffenen Vorbild wurde, hat ja neben den ilberlieferten klassischen Odenstrophen der sapphischen, der alkaischen und der asklepiadeischen auch neue Oden-formen mit eigenen metrischen Schemata erfunden, die er den Gedichten dann vorangestellt hat. Bei Klopstock, der in zahlreichen Aufsatzen far sei-ne neue, silbenmessende Metrik gekampft hat, findet sich aber auch, in seinem Aufsatz Von der Darstellung, die beruhmte Formulierung: Mich deucht, dag auch das Silbenmag hier und da etwas mitausdrucken Icon-ne./Oberhaupt wandelt das Wortlose in einem guten Gedicht umher, wie in Homers Schlachten die nur von wenigen gesehnen Gotter.23 Der Ver-gleich mit den Gottern, welche in Homers Epos die Geschicke lenken und von den meisten doch nicht gesehen werden, mit der Metrik ist nicht nur Ausdruck poetischen Selbstbewusstseins, sondern auch Indiz einer merk-vviirdigen Unbestimmbarkeit. Die Metrik ist in einem Gedicht, das kein vorgegebenes Schema mehr erfiillt, nicht einfach gegeben, sie will gesucht werden: Sie ist da und sie ist nicht da.

    Zahl, Mali und Metrik

    Klopstock hat schlieglich auch den Begriff des Worffudges in seine Poetik der antiken Metren eingefIihrt, den er dem des olcanstlichen Vers-fuges komplementar gegenuberstellt.24 Die schone, praxisnahe Theorie von Klopstock, spater noch verfeinert von Karl Philipp Moritz, geht davon aus, dass die Prosodie der einzelnen Waller im Deutschen selber metrisch zu begreifen sei. Und dies zur Erganzung einer aufgerlichen, mehr sche-matischen Metrik, die als >>Icanstliche Versfilfge bezeichnet werden. Auch wenn die oWortflige sich weniger auf Wailer als vielmehr auf kleine Sinneinheiten im Satz beziehen, ermoglicht die Konzeption einer derge-stall prosodisch orientierten Metrik doch eine viel flexiblere, metrisch le-bendige Versgestaltung. Man kann also sagen, dass die sogenannten >frei-en Rhythmen< ganz im Gegensatz zu den >freien Versen< in der Lyrik des 20. Jahrhunderts eine artistische Steigerung und Weiterentwicklung des metrischen Denkens darstellen, wie es sich far Holderlin im Ideal der oPindarischen Ode gezeigt zu haben scheint. Das Problem dabei ist far den Literaturwissenschaftler nur, dass sich die Pindarischen Oden Holder-lins metrisch nicht mehr eindeutig bestimmen lassen, weil die Analyse je nach Lektiire so oder anders ausfallen kann im Gegensatz zu den Elegien oder den klassischen Odenmagen, deren Schemata man schon kennt, be-vor man die konkreten Gedichte skandiert.

    Hier scheint es hilfreich zu sein, sich an den komplexen Entstehungs-zusammenhang von Halfte des Lebens mit der sogenannten Feiertagshymne zu erinnern. Als einziger Ausdruck wird hier jenes oWeh mirk das zum Abbruch des Entwurfes der Feiertagshymne fiihrt, in das endgultige Gedicht Heilfte des Lebens ithemommen. Es steht im spateren Erstdruck zu Beginn der zweiten Strophe.25

    Der groge Gedichtentwurf der Feiertagshymne zeigt nun als einziger der sogenannten >Vaterlandischen Gesange< eine eindeutige metrische Struktur, die sich an der Pindarischen Ode orientiert und die sich aus dem Verhaltnis der respondierenden Strophen erschliefgen und schematisch abstrahieren lasst, wie das Friedrich Beifgner auch vorgefiihrt hat.26

    Da das Gedicht Hale des Lebens wie es Peter Szondi in seinem heute noch gultigen Aufsatz Der andere Pfeil herausgestellt hat27 unmittel-bar aus dem gescheiterten Versuch einer Pindarischen Ode mit Strophen-responsion hervorgegangen ist, durfte es plausibel sein, dass nicht nur die metrische Verfasstheit Par dieses kleine, zweistrophige Gedicht verbindlich

    23. Friedrich Gottlieb Klopstock: Gedanken Ober die Natur der Poesie, Dich-tungstheoretische Schriften, hg. v. Winfried Menninghaus, Frankfurt a.M.: Inset 1989, S. 172.

    24. Ebd., S. 130ff. 25. FHA 7, S. 109. 26. StA 2/2, S. 677f. 27. Peter Szondi: Holderlin-Studien. Mit einem Traktat Ober philologische Er-

    kenntnis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1970, S. 37-61.

  • Wolfram Groddeck

    ist, sondern dass auch das Prinzip der metrischen Responsion in irgendei-ner Weise im Text wirksam bleibt.

    Die metrische Struktur des Gedichtes Halfte des Lebens entspricht frei-lich keinem bekannten metrischen Schema, es erfindet vielmehr seine ei-gene metrische Form. Auch die Zweistrophigkeit scheint auf den ersten Blick nicht viel weiter zu helfen, obwohl die beiden Strophen fast gleich lang sind, namlich 42 und 41 Silben. Bei genauerer Betrachtung gewahrt man dann aber bald einige signifikante metrische Korrespondenzen. So sind nicht nur die beiden ersten Verse metrisch gleich: sie bestehen, wie gesagt, aus je 7 Metren in der gleichen Abfolge von betonten und unbeton-ten Silben. Auch der 5. und der ti. Vers sind metrisch identisch. Metrisch identisch ist aber auch der letzte Vers Klirren die Fahreno mit dem Titel >>1-151fte des Lebenso. Es handelt sich hierbei urn einen Adoneus, d.h. urn eine der eingangigsten metrischen Figuren tiberhaupt.

    Am Ende des siebten Verses, in der Mitte des Gedichts, wird der Ado-neus ebenfalls horbar: Ins heilignachterne Wasser. Sonst wird im Ge-dicht kein Adoneus mehr verwendet. Die signifikante Plazierung des Ado-neus am Anfang, in der Mitte und am Ende des Gedichtes scheint bedeut-sam zu sein, nicht zuletzt in Hinblick auf das Thema des Lebensweges.

    Der Adoneus selbst hat seinen Namen von Adonis, dem schonsten Jangling der Antike, urn dessen Tod bei der Eberjagd Aphrodite trauert. Der Adoneus wurde urspriinglich in den Totenklagen urn diesen Adonis verwendet in der metrischen Form der Klage: o ton Adonin.28 Bekannt ist der Adoneus aber auch als Hexameterschluss oder als Schlusszeile der Sapphischen Ode, die man gerade am Adoneus besonders leicht erkennt.

    Holderlin selbst hat nur eine einzige Sapphische Ode gedichtet, Unter den Alpen gesungen, er hat aber noch eine zweite begonnen und zwar wie-der im Stuttgarter Foliobuch, auf S. 103, die zunachst den Titel Sapphos Schwanengesang tragen sollte, doch hat er dann das Verma1 verandert in eine alkaische Odenstrophe und das Gedicht unter dem Titel Thranen als das zweite der neun bei Wilmans publizierten Gedichte veroffentlicht. Die Entstehungsgeschichte der Ode Thranen ist gerade auch mit dem grogen zeitlichen Abstand zwischen Entwurf und Publikation der von Halfte des Lebens nahe verwandt.29

    Beide Gedichte beginnen nun mit derselben funfsilbigen Figur U U U, die den Beginn der alkaischen Ode markiert.

    Sappho, die im Gedicht Hale des Lebens auf eine verschwiegene Weise in der Apostrophe Ihr holden Schwane prasent zu sein scheint, in jenem Vers, der wieder den alkaischen Fiinfsilber zitiert, gehort zu den bewunder-

    28. Vgl. dazu auch Menninghaus, Halfte des Lebens, S. 40. 29. Vgl. dazu Vf.: Ober das >Wortlose< in Holderlins Ode >Thranerm, in: Deut-

    sche Vierteljahrsschrift 2006, Heft 4, S. 624-639.

    Zahl, Mali und Metrik

    ten Dichtergestalten der jonischen Inseln3, zu den aolischen Dich-terno.

    Die aolischen Versmaige lassen sich als metrische Perioden auffassen, die aus Kombinationen von Trochaen und Jamben komponiert sind.3' Eine, wenn nicht die metrische Grundfigur der aolischen Versmaige ist der Chorjambus, begreiflich als eine Kombination von Trochaus bzw. Choreus und Jambus: U U In Halfte des Lebens ist der Chorjambus in v. 6: Tunkt ihr das Haupto aber ebenso im vorletzten Vers: Sprachlos und kalto in genauer strophischer Responsion realisiert. Und nun erkennt man auch, dass die beiden Strophenschlusse insgesamt die gleiche metri-sche Periode Widen, die nur durch den Zeilenbruch uberspielt wird. Am Schluss der ersten Strophe steht der Chorjambus fur sich, die folgende Zei-le zeigt eine Kombination von Amphibrachys und Adoneus.

    Tunkt ihr das Haupt Ins heiligniichterne Wasser.

    Der Schluss der zweiten Strophe besteht aus einer Kombination von Chor-jambus und Amphibrachys in der vorletzten Zeile, in der letzten steht der Adoneus fur sich:

    Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen.

    Die Verschmelzung metrisch einfacherer Versflige zu komplexeren metri-schen Perioden war ein poetisches Spezifikum der aolischen Dichter, wie es Bruno Snell in seiner Griechischen Metrik anschaulich dargestellt hat.32 In der produktiven Nachahmung der Odendichter Sappho und Alkaios fin-det das Verfahren solcher metrischen Emergenz seine poetische Entspre-chung in den sogenannten >eigenrhythmischen Versen< der Klopstock-Tradition, die aus Wortfiigen gebildet werden und sich zu metrisch komplexeren Figuren konstellieren.

    So sind die Anfangsverse der zweiten Strophe besonders individuali-siert und lassen sich nur noch etwas willIciirlich in einfachere Versfilfge zer-legen.

    30. Holderlin: Fragment von Hyperion: Wir sprachen viel von den herrlichen Kindern des alten Joniens, von Sappho und Aldus, und Anakreon, sonderlich von Homer [...] (FHA 10, S. 53).

    31. Vgl. dazu Bruno Snell: Griechische Metrik, 4. Aufl., Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1982, S. 43-48.

    32. Snell: Griechische Metrik, S. 43f.

  • Wolfram Groddeck

    Weh mir, wo nehm' ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein

    Die synkopische Versetzung von Verszeile und syntaktischen Kola wel-che die zweite Strophe stilistisch auffallig von der ersten unterscheidet ist das eine, das andere ist die komplexe in sich mehrdeutige Metrik selber. Automatisch, mtichte ich sagen, orientiert man sich nun an den Wortfii-gen, urn dem Rhythmus und der Metrik gerecht zu werden. Als dominie-rende metrische Figur erscheint hier, meiner Auffassung nach, der Zweite Non, der in der zweiten Strophe viermal horbar wird: owo nehm ich wenn es Winter ist/[...] den Sonnenschein, [...1 Die Mauern stehn. Der zweite Non ist ein im Deutschen selten gebrauchter Versfug, der eine nervose Unruhe zum Ausdruck bringt und der nach dem Versuch einer deutschen Prosodic von Karl Philipp Moritz, erschienen 5786, oetwas Hartes hat und als unpoetisch gilt.33

    Eine besonders deutliche metrische Korrespondenz lasst sich auch zwischen v.5 dem Mittelvers der ersten Strophe und v.55 erkennen. Beide Verse deute ich als einen sogenannten Reizianus bzw. als einen akephalen Pherekrateus, d.h. als einen urn den Auftakt geldirzten Phrere-krateus, wie er ungekurzt in der Asklepiadeischen Odenstrophe regel-magig in der dritten Zeile auftritt. Die beiden Verse stehen nun in einem besonderen Verhaltnis zueinander. Die oholden Schwane, die als Chiffre des Dichters gelesen werden konnen, sind trunken von Kiisseno eine Metapher, die freilich kaum mehr im naturlichen Bildzusammenhang auf-geht, sondern die sich selbst als Emblem von Liebesdichtung allegorisiert. Diesem Vers steht, durch die Kompositionslogik des Gedichtes exponiert, die Frage gegeniiber: oUnd Schatten der Erde?

    Zunachst ist, im Sinnzusammenhang der zweiten Strophe, oSchatten der Erde dem Sonnenschein gleichgeordnet als ein sich Entziehendes oder zumindest als ein im oWinter in Frage Stehendes.

    Aber die metrisch harmonische Entgegensetzung von oUnd trunken von Kilssen zu oUnd Schatten der Erde? verweist noch auf einen funda-

    33. Der Fall, womit sich der erste Peon anhebt, wird durch die folgenden bei-den kurzen Silben fast ganz unmerklich gemacht, und dieser metrische Fug bekommt dadurch etwas Hartes [...] Eben das ist auch der Fall bei dem zweiten Peon. Karl Phi-lipp Moritz, Versuch einer deutschen Prosodie. Unveranderter reprografischer Nach-druck der Ausgabe Berlin 1786, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973, S. 71f.

    34. Der Name Reizianus ist eine moderne Bezeichnung und bezieht sich auf den Altphilologen Reiz, der diesen Vers anscheinend erstmats als eine Grundform der Soli-schen Versma(,e bestimmt hat.

    Zahl, Mar3 und Metrik

    mentaleren Gegensatz als >Liebesrausch< und >Entzuw. Denn die liebes-trunkenen Schwane kann man durch die pointierte Bildlichkeit der ora-len Lust als Inkorporation des gesprochenen Dichterworts begreifen. Die ))Schatten der Erde aber als ein Bild fur die Schrift.

    In der groigen Elegie Brod und Wein findet sich in der ersten Strophe die wahrhaft dunide Metapher: oSieh und das Schattenbild unserer Erde, der Mond/Kommet geheim nun auch.35 Wenn man nun das Wort >>Er-de, das in der spaten Dichtung vermehrt verwendet wird, als ein Ana-gramm versteht, so sieht man im Wort ERDE das Wort REDE. Ich sehe da-rin eine Anspielung auf die beruhmte Stelle aus Platons Phaidros, jenen platonischen Dialog, von dem Uberliefert ist, dass er ein Lieblingstext von Holderlin war:

    Du meinst die lebende und beseelte Rede des wahrhaft Wissenden, deren Schattenbild man die geschriebene mit Recht nennen konnte.36

    Platons Verbannung der Schrift ins Schattenreich und seine Lobpreisung der lebendigen Rede hat bei Holderlin ein vielfaltig reflektiertes Echo ge-funden, das sich in den spaten Gedichten zur Bejahung und Pflege des Buchstablichen gewandelt hat. Beriihmt ist der Schluss der Patmos-Hymne:

    daft gepfleget werde Der veste Buchstab, und bestehendes gut Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang.37

    Die oSchatten der Erde werden so, als >Schriftbild der RedeKlirren der Fahnen< zu-nachst als leere Signifikanz dar, denn die oFahne ist nachgerade der Pro-totyp des Zeichens, das sich hier jedoch als leer erweist, oder um mit ei-

    35. FHA 6, S. 248. 36. Platon, Phaidros 276a, in: Platons Werke von F. Schleiermacher. Ersten

    Theiles erster Band, Berlin: Reimer 1804, S. 164. 37. FHA 7, S. 421,

  • Wolfram Groddeck

    nem anderen Gedicht Holderlins zu argumentieren als ein Kleutungslo- ses ZeichenWetter-fahnen< lesen, was aber im Text des Gedichtes so nicht steht. Klirrenq kann, laut Grimmschen Worterbuch, auch bildlich als eine Charakteri-sierung von Sprache verwendet werden: diese harten klirrenden worte. J. PAUL. Aber auch bei Bettina von Armin findet rich, im Kontext der ein-gangs zitierten Stelle, ein eigentiimlicher Gebrauch der Wortes Klirren:

    Und Du Giinderode so adelig wie Du bist in Deinen poetischen Schwingungen!

    KIirrt [Hervorhebung W.G.] da nicht die Sehne des Bogens des Dichtergottes? [...] Klingt nicht so der Widerhall aus der Ode in Holderlins Seele. -39

    Und so ware vielleicht gerade in dem >Sprachlosen< der Mauern das Echo jenes Wortlosen zu vernehmen, das, ich erinnere noch einmal an Klop-stocks Worte: in einem guten Gedicht umher[wandelt] wie [...] die nur von wenigen gesehnen Gaffer?

    Literaturverzeichnis

    Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Worterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit bestandiger Vergleichung der ubrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, 4 Bde., Leipzig: Johann Gottlob Immanuel Breitkopf 1793-1801.

    Eibl, Karl: Der Buick hinter den Spiegel. Sinnbild und gedankliche Bewe-gung in Holderlins >Halfte des Lebens