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Glaubenssachen -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- 2. Weihnachtstag, 26. Dezember 2013, 08.40 Uhr „Wie unendlich gemütlich war es einst...“ Weihnachtserfahrungen und Weihnachtsdarstellungen von Schriftstellern Von Frank Kürschner-Pelkmann Redaktion: Dr. Claus Röck Norddeutscher Rundfunk Religion und Gesellschaft Rudolf-von-Bennigsen-Ufer 22 30169 Hannover Tel.: 0511/988-2395 www.ndr.de/ndrkultur - Unkorrigiertes Manuskript - Zur Verfügung gestellt vom NDR Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für private Zwecke des Empfängers benutzt werden. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors zulässig. Die Verwendung für Rundfunkzwecke bedarf der Genehmigung des NDR.

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Glaubenssachen

-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- 2. Weihnachtstag, 26. Dezember 2013, 08.40 Uhr

„Wie unendlich gemütlich war es einst...“ Weihnachtserfahrungen und Weihnachtsdarstellungen von Schriftstellern Von Frank Kürschner-Pelkmann

Redaktion: Dr. Claus Röck Norddeutscher Rundfunk Religion und Gesellschaft Rudolf-von-Bennigsen-Ufer 22 30169 Hannover Tel.: 0511/988-2395 www.ndr.de/ndrkultur - Unkorrigiertes Manuskript -

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Zitator: „Nein, lieber Egon, du bist nicht der einzige, der von mir – warum immer von mir? – eine Weihnachtsgeschichte erwartet. Es haben auch dieses Jahr wieder einige Zeitungen angerufen und gefragt, ob ich ihnen eine Weihnachtsgeschichte schreiben könnte. Noch nie wurde mir eine Ostergeschichte abverlangt, noch nie eine Pfingstge-schichte.“ Erzählerin: Diese Erfahrung hat den Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel veranlasst, seinem Leser mitzuteilen, dass er nie wieder Weihnachtsgeschichten schreiben wird. Aber seine bisherigen Geschichten und all die Erzählungen und Romanpassagen anderer Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu Weihnachtsthemen haben unser Verständnis von diesem Fest und die Weise, wie wir es feiern, stark beeinflusst. Die Weihnachts-darstellungen spiegeln ihrerseits die historischen Erfahrungen und Glaubens-überzeugungen der Verfasser wider. Das verspricht eine spannende Reise in die Weihnachtswelt der Dichter. Wir beginnen sie in Wandsbek vor den Toren Hamburgs. Wie strahlt der Baum im Glanze der Kerzen, und wie strahlen die Augen der Kinder der Familie Claudius. Vor ihnen steht der erste Weihnachtsbaum in Norddeutschland, von dem wir heute noch wissen. Zu diesem Heiligabend des Jahres 1796 hat die Familie von Matthias Claudius gute Freunde eingeladen, allen voran den greisen Dichter Friedrich Klopstock, der aus seinem „Messias“ vorliest, dem berühmten Gedicht vom Leben und Sterben des Heilands. Dass an diesem Weihnachtsabend nicht nur der Geburt des Jesuskindes gedacht wird, sondern auch seines Todes mag heute manche Christinnen und Christen erstaunen, aber für Matthias Claudius gehörten sie aufs Eng-ste zusammen. Leben und Sterben, Leid und Glück sind bei diesem Weihnachtsfest immer präsent. Die Familie gedenkt der im vergangenen Sommer verstorbenen Tochter Christiane – und es bahnt sich ein neuer Lebensabschnitt an für ihre Schwester Caroline. In sie hat sich nämlich einer der Gäste verliebt, der junge Buchhändler und Verleger Friedrich Perthes. Später wird er zu den führenden Köpfen des Hamburger Kulturlebens zählen, aber noch ist er unbekannt und finanziell klamm. So steht er ohne ein Geschenk für „seine“ Caroline da, aber er weiß sich zu helfen. Während ein Weihnachtslied gesungen wird, rückt er umständlich einen Sessel an den Weihnachtsbaum, steigt hinauf und holt den schönsten vergoldeten Apfel von der Spitze des Baums herunter. Damit geht er auf die überraschte Caroline zu und überreicht ihn ihr feierlich. Sie ist so sprachlos, dass sie sich nicht bedanken kann. Im folgenden Jahr stehen Caroline und Friedrich Perthes bereits als Ehepaar vor dem Weihnachtsbaum. Matthias Claudius besaß, wie er selbst schrieb, einen „einfältigen“ Glauben. Für ihn hatte sich das, was Lukas über die Geburt Jesu und sein weiteres Leben auf-geschrieben hat, ganz genau so zugetragen. Die Verfechter der Aufklärung sahen dies anders, aber der Dichter hielt an seinen Auffassungen fest. 1799 veröffentlichte er den Text „An meinen Sohn Johannes“, in dem er pointiert formulierte:

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Zitator: „Was Du sehen kannst, das siehe, und brauche Deine Augen, und über das Unsichtbare und Ewige halt Dich an Gottes Wort. Bleibe der Religion Deiner Väter getreu und hasse die theologischen Kannengießer.“ Erzählerin: In dem Gedicht „Weihnachts-Cantilene“, also einem gesungenen Gedicht zur Ver-ehrung des Jesuskindes, hat Matthias Claudius die Weihnachtsgeschichte romantisch verklärt. Diese Cantilene endet mit zwei Versen, die eine Glaubensgewissheit ausdrücken, nach der sich heute viele sehnen: Zitator:

„Die Weisen fielen vor ihm nieder Und gaben ihre Schätze gern, Und gaben Weihrauch, Gold und Myrrhen. Sie sahen seinen Stern, Und kannten ihren Heiland, ihren Herrn, Und ließen sich das Heu und Stroh nicht irren. Dem Menschen dünkt es wunderbar, Und mag es nicht verstehn; Doch ist’s wahrhaftig wahr! Und selig sind die Augen, die ihn sehn.“ Erzählerin: Wir machen nun einen Sprung in das London des 19. Jahrhunderts. Hier begegnen wir Charles Dickens, der 1812 geboren wurde, drei Jahre, bevor Matthias Claudius starb. Der Schriftsteller Dickens hat zahlreiche Bücher und Geschichten veröffentlicht, aber berühmt geblieben ist er vor allem durch seine Erzählung „Weihnachtsgeschichte“. Die Hauptperson, der geschäftstüchtige Ebenezer Scrooge, wird uns so vorgestellt:

Zitator: „Was war das doch für ein Blutsauger, dieser Scrooge! Ein schröpfender, habgieriger, raffsüchtiger, geiziger alter Sünder! Er war hart wie Feuerstein, nur dass noch kein Stahl ihm je einen warmen Funken entlockt hatte …“ Erzählerin: Scrooge arbeitet auch Heiligabend im Büro und nimmt in einem tristen Gasthaus sein einsames Abendessen ein. Anschließend kehrt er in seine düstere Wohnung zurück, wo ihm der Geist seines vor sieben Jahren verstorbenen Geschäftspartners und Freundes Jacob Marley erscheint. Er warnt Scrooge:

Zitator: „O du verblendeter, unwissender Mensch! Weißt du denn nicht, dass auch die tiefste Reue die Gelegenheiten nicht wettmachen kann, die man im Leben einst verpasste?“

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Erzählerin: Der verstorbene Geschäftspartner will Scrooge zur Umkehr bewegen und kündigt an, dass ihm drei weitere Geister erscheinen werden. Mit den Geistern des vergangenen, des diesjährigen und des zukünftigen Weihnachten unternimmt Scrooge erschreckende Reisen durch sein Leben und erkennt seine Hartherzigkeit und Einsam-keit. Als er einen verwitterten Grabstein mit seinem Namen als Symbol seines gescheiterten Lebens sieht, will er dieses Schicksal abwenden und verspricht:

Zitator: „Von nun an will ich Weihnachten aus tiefstem Herzen ehren und auch das ganze Jahr hindurch im Geist des Christfestes handeln. In mir sollen die Geister der Vergangen-heit, der Gegenwart und der Zukunft fortwirken. Die Lehren, die sie mir erteilt haben, werde ich nie mehr vergessen!“ Erzählerin: Am nächsten Tag kauft Scrooge einen riesigen Truthahn und lässt ihn anonym zur Familie seines bisher schlecht behandelten Büroangestellten bringen. Die Läuterung von Scrooge endet nicht mit dem Weihnachtsfest. Er erhöht zum Beispiel den Lohn seines Angestellten und kündigt an, dessen Familie und vor allem den behinderten Sohn Tim zu unterstützen. Auffällig an dieser Weihnachtsgeschichte wie auch an vielen anderen Erzählungen und Romanen von Charles Dickens ist, dass die innere Umkehr von Menschen den Höhe-punkt der Handlung bildet. Wie sein Zeitgenosse Karl Marx war er empört über die sozialen Missstände in England. Karl Marx schloss daraus, dass radikale Ver-änderungen der ökonomischen Verhältnisse zwingend erforderlich seien. Und Charles Dickens? Er setzte sich immer aufs Neue für Herzensgüte und mitmenschliche Zuwendung ein. Der geläuterte Scrooge wird für Charles Dickens zum Vorbild: Gerade am Weihnachtsfest könne man zu Einsicht und Umkehr gelangen und auf diese Weise das eigene Leben und ein wenig auch die Welt verbessern. Die nächste Station unserer literarischen Weihnachtsreise ist die Kleinstadt Husum in Nordfriesland: Zitator: „Wie unendlich gemütlich war es einst, vor Jahren zu Haus, wenn in der großen Stube die Lichter angezündet waren, der Teekessel sauste; die braunen Kuchen und Pfeffer-nüsse standen auf dem Tisch.“ Erzählerin: So erinnerte sich der 1817 geborene Dichter Theodor Storm später an die Weihnachts-feste seiner Kindheit. Wie schön gerade diese Weihnachtsfeste gewesen waren, konnte er erst richtig ermessen, als er die Heimat 1853 verlassen musste. Er hatte den Auf-stand gegen die dänische Herrschaft unterstützt und daraufhin seine Anwalts-

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zulassung verloren. Als preußischer Justizangestellter sah er sich konfrontiert mit dem sozialen Elend in Städten wie Berlin und Potsdam. Die sozialkritische Dimension seiner Dichtung zeigt sich exemplarisch in der Novelle „Immensee“. In einer Schlüsselszene wird ein Weihnachtsfest beschrieben, das der Student Reinhard Werner fern der Heimat in einer großen Stadt verbringt. Als er spät-abends durch die Straßen geht, ist er tief betroffen:

Zitator: „Scharen von Bettelkindern gingen von Haus zu Haus oder stiegen auf die Treppen-geländer und suchten durch die Fenster einen Blick in die versagte Herrlichkeit zu gewinnen.“ Erzählerin: In seinem Zimmer angekommen, erwartet den Studenten ein großes Weihnachtspaket seiner Freundin und seiner Mutter, dem der süße Duft von braunem Festkuchen ent-strömt. Die kleinen Bettelkinder auf der Straße kommen ihm auch in diesem Augen-blick nicht aus dem Sinn, und so geht er hinaus und verteilte die Hälfte des Kuchens an sie. Anders als Charles Dickens glaubte Theodor Storm aber nicht daran, dass nur Herzens-güte einkehren müsse, um soziale und politische Missstände zu beseitigen. Er lehnte das preußische Herrschaftssystem und seine sozialen Ungerechtigkeiten zutiefst ab. Um so enttäuschter war er, dass ausgerechnet preußische Truppen sein geliebtes Schleswig-Holstein von der dänischen Herrschaft befreiten. Theodor Storm kehrte als Landvogt in preußischen Diensten nach Husum zurückkehrte. 1865 stürzte ihn der Tod seiner geliebten Frau in eine tiefe Krise. Der Witwer beschäftigte sich viel mit dem Gedanken der Unsterblichkeit. Immer wieder äußerte er: Zitator: „Wenn ich doch glauben könnte.“ Erzählerin: Bitter enttäuscht von der Kirche, die sich auf die Seite des politischen Establishments gestellt hatte, fand er nicht zu diesem Glauben zurück. Theodor Storm blieb ein „Weihnachts-mensch“. Aber anders als Matthias Claudius konnte er die Geburt des Christuskindes und das Leben und Sterben der Menschen nicht als Teile des Heils-plans Gottes verstehen. Wir bewegen uns nun einige Jahre und eine Tagesreise mit der Kutsche weiter und sind zu Gast bei den Weihnachtsfesten der Familie Buddenbrook in Lübeck. In seinem 1901 erschienenen Roman „Buddenbrooks: Verfall einer Familie“ hat Thomas Mann drei Weihnachtsfeste der Kaufmannsfamilie beschrieben.

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Beim ersten Weihnachtsfest lebt der alte Konsul Jean Buddenbrook noch, und die tiefe Feierlichkeit ist noch ungetrübt. Zu diesem großbürgerlichen Fest gehört es, dass alte und arme Leute in das Haus des Kaufmanns eingelassen werden und Geschenke empfangen. Den Armen muss geholfen werden, wenigstens zu Weihnachten. Den Rest des Jahres geht es um Geschäfte. Bei der zweiten Weihnachtsdarstellung im Roman erlebt Hanno, das einzige Kind des Senators Thomas Buddenbrook, ein Fest, bei dem die Familientraditionen gewahrt werden, aber die Fassade zu bröckeln beginnt. Den Heiligen Abend hält die Konsulin fest im Besitz.

Zitator: „... das weihevolle Programm, das der verstorbene Konsul für die Feierlichkeit fest-gesetzt hatte, musste aufrechterhalten werden, und das Gefühl ihrer Verantwortung für den würdigen Verlauf des Abends, der von der Stimmung einer tiefen, ernsten und inbrünstigen Fröhlichkeit erfüllt sein musste, trieb sie rastlos hin und her …“ Erzählerin: Die Fröhlichkeit im Hause Buddenbrook wird dadurch getrübt, dass die Geschäfte schlecht laufen und die Beziehungen in der Familie zerrüttet sind. Erst in letzter Minute fällt auf, dass Christian Buddenbrook fehlt, den man wohl getrost als „schwarzes Schaf“ der Familie bezeichnen kann. Es wird nach ihm geschickt, und als er endlich erscheint, sagt er lediglich:

Zitator: „Donnerwetter, Kinder, das hätte ich beinahe vergessen!“ Erzählerin: Die Konsulin erstarrt, aber die Feier beginnt schon mit dem Gesang der Chorknaben „Tochter Zion, freue dich!“. Die Jungen singen so rein, jubelnd und lobpreisend, dass bei den älteren Damen ein mildes Lächeln zu sehen ist und die Jüngeren für ein Weilchen ihre Sorgen vergessen. Nachdem der letzte Ton verklungen ist und die Konsulin die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium vorgelesen hat, zieht die Festgesellschaft feierlich in den schön geschmückten Saal mit dem großen, festlich geschmückten Weihnachtsbaum. Auf der langen Tafel mit den Geschenken entdeckt Hanno ein großes Puppentheater, ein „Überfluss von Glück“, erfahren wir. Und wir ahnen, dass das ganze Weihnachtsfest der Buddenbrooks zu einem Theaterstück geworden ist, in dem alle ihre Rollen spielen, aber sich nicht darüber hinwegtäuschen können, dass der Vorhang bald für immer fallen wird. Aber noch ein letztes Mal feiern die Buddenbrooks in diesem Roman Weihnachten. Inzwischen ist die Konsulin verstorben, die Söhne haben heftig über das Erbe gestritten und der wirtschaftliche Niedergang ist weiter vorangeschritten. Viele

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Weihnachtstraditionen werden nun aufgegeben. Es gibt keinen Gesang der Chor-knaben mehr, die Armen werden nicht mehr beschenkt und verschiedene Gäste früherer Feiern nicht mehr eingeladen. Die Stimmung ist gedrückt. Als die Budden-brooks das, was von der Feierlichkeit des Weihnachtsabends noch übrig ist, „hinter sich“ gebracht haben, sind alle beinahe froh darüber. Wie anders die Stimmung, die uns bei einem Weihnachtsfest in Schweden begegnet.

Zitator: „Weihnachten ist herrlich. Und eigentlich ist es schade, dass nicht ein wenig öfter Weihnachten ist.“ Erzählerin: Diese Sätze hat die Schriftstellerin Astrid Lindgren dem kleinen Mädchen Lisa aus Bullerbü in den Mund gelegt. Und wenn man die Beschreibung des Bullerbü-Weihnachten liest, kann man das nur zu gut verstehen:

Zitator: „Die Kerzen am Weihnachtsbaum brannten, und auf dem Tisch standen auch brennende Lichter. Ich hatte Gänsehaut. Die habe ich immer, wenn es so schön und spannend ist. Vater las aus der Bibel vor. Und ich sagte einige schöne Verse auf …“ Erzählerin: Spiegeln die Bullerbü-Bücher die schönen Kindheitserfahrungen der kleinen Astrid wider? Wahrscheinlich war die Welt von Lisa „heiler“ als die von Astrid, aber wer will das einer Schriftstellerin verwehren? Geboren wurde sie am 14. November 1907 in einem der typischen rot gestrichenen Bauernhäuser in Südschweden. Ihre Eltern waren Pächter eines Hofes und mussten für ihren Lebensunterhalt hart arbeiten. Auch für die vier Kinder war das Leben auf dem Bauernhof von klein auf mit Pflichten verbunden. Selbst am Tag ihrer Konfirmation musste Astrid morgens auf dem Feld arbeiten. Mit 16 Jahren schloss sie die Schule ab und wurde Volontärin bei der „Vimmerby Tidningen“. Zwischen dem verheirateten Chefredakteur der kleinen Lokalzeitung und der Volontärin entwickelte sich eine Liebesaffäre, und mit 18 Jahren war Astrid schwanger, ein großer Skandal in der kleinen Provinzstadt. Die junge Frau zog nach Stockholm und musste sich dort unter ärmlichsten Bedingungen durchschlagen. Ihr neugeborener Sohn Lars lebte zunächst drei Jahre bei einer Pflegefamilie in Dänemark. Seine Mutter heiratete bald darauf, musste aber erleben, wie ihr Mann Alkoholiker wurde, so wie später auch der Sohn. In ihren Kinderbüchern ließ Astrid Lindgren eine ganz andere Welt entstehen, als die, die sie in ihrer Familie und in der Gesellschaft erlebte. Manche ihrer harmlos erscheinenden Geschichten gewinnen Brisanz, wenn man sie vor dem Hintergrund der Biografie der Schriftstellerin liest. Das gilt etwa für eine ihrer berühmtesten Geschichten, „Pelle zieht aus“.

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Zitator: „Pelle ist böse. Er ist in einem solchen Grad böse, dass er beschlossen hat, von zu Hause wegzuziehen.“ Erzählerin: Fälschlicherweise ist Pelle vorgeworfen worden, er habe einen Füller des Vaters verlegt, und so zieht er zwei Tage vor Weihnachten nach „Herzhausen“, in das kleine rote Häuschen auf dem Hof mit dem Herzen in der Tür. Weihnachtsgeschenke von seinen Eltern will er nicht haben. Aber die Geschichte wendet sich zum Guten, als Pelle noch am gleichen Tag die Bitten seiner Mutter erhört und in die Wohnung der Familie zurückkehrt. Das bevorstehende Weihnachtsfest trägt zweifellos zu diesem Sinnes-wandel bei. Warum die Geschichte vom Auszug des kleinen Pelle ein gutes Ende nimmt, hat Astrid Lindgren in einer Beschreibung ihrer Kindheit verraten. Als sie selbst ungefähr fünf Jahre alt war, fühlte sie sich von ihrer Familie schlecht behandelt und zog davon – auf das Plumpsklo. Aber in ihrem Falle kam niemand, um sie wieder ins Haus zu holen.

Zitator: „… und es war sehr bitter für mich, dass keiner, aber auch keiner in der ganzen Welt mich vermisst hatte. Und darum reagiert Pelles Mutter so einsichtig, als Pelle versucht, Reißaus zu nehmen. Damit wollte ich nur endlich mein fünfjähriges Ich trösten, das bestimmt noch irgendwo in all den Jahresringen der Seele versteckt ist.“ Erzählerin: Astrid Lindgren hat mit ihren Geschichten ganze Generationen von Kindern in eine Welt entführt, in der es menschlicher und friedlicher zugeht als häufig in der Realität. Es sind Geschichten voller Hoffnung. Hier wird eine Nähe zu der Geburtsgeschichte Jesu im Lukasevangelium deutlich. Der Evangelist hat diese Geschichte von einem neuen Anfang in sein Evangelium auf-genommen, um den kleinen Gemeinden der Jesusanhänger in Zeiten der Verfolgung und Anfechtung Mut zu machen. Er hat davon erzählt, dass mit der Geburt des Kindes eine Alternative zu der anscheinend uneingeschränkten und ewigen Herrschaft der römischen Kaiser in diese Welt gekommen war. Bei Astrid Lindgren können wir etwas von dieser Hoffnung auf das ganz andere Leben spüren – besonders in ihren Weihnachtsgeschichten.

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Zum Autor: Frank Kürschner-Pelkmann, Autor und Publizist