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JOURNAL FfYR ORNITHOLOGIE Band 100 1959 Nr. 3
Gnstav Kramer t
Beim Versueh, junge Felsentauben aus den Nestern zu nehmen, stiirzte am
19. April 1959 Gustav Kramer im Gebirge Kalabriens ab und war sofort tot.
Seine beiden jungen S6hne bargen seine Leiehe unter grSBter eigener Lebens-
gefahr aus dem hochgehenden Bergflul~ Raganello. Es wgre vermessen ihn zu
bedauern. Der beispiellos kSrpergewandte, athletisehe und kiihne Mann hgtte
sieh keinen sehSneren Tod wiinschen kSnnen als den, der ihn unerwartet ereilte,
w~ihrend er gleiehzeitig der ornithologischen F orschung und dem Bergsteigen, seinen liebsten Tgtigkeiten, oblag.
Abet das alte Schlagwort yore ,,unersetzlichen Verlust" fiir die gesamte Natur- wissenschaft wird wieder einmal zur bitteren Wahrheit. Wenn aueh im grogen
Kollektivunternehmen der induktiven Forsehung kein Einzelner jemals wirklieh
unersetzlieh ist, so erleidet doch das Fortschreiten wissensehaftlieher Erkenntnis selten dutch den Tod eines Einzelmensehen eine so empfindliehe Unterbreehung wie dureh den Gustav Kramers. Er war der Mittelpunkt und der unbestrittene geistige Fiihrer der Orientierungsforsehung, und zwar durehaus nieht nur in
Deutschland. Er stand~ 49 Jahre alt, nach grogen Entdeckungen, an der Sehwelle noeh grSBerer, u n d e r hinterlgl3t eine groBe Gruppe in gleieher Riehtung forsehen-
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tier Mitarbeiter und Schiller, die seiner Ffihrung nur schwer entraten kSnnen.
Eine im Bau begriffene Abteilung des Max-Planck-Instituts fiir Verhaltensphy-
siologie steht verwaist.
Es gibt Zoologen, die sich fiir Tiere interessieren, und andere, die sich l i ir
Probleme interessieren; nut wenige tun beides, und einer dieser Wenigen war
Gustav Kramer. Er war einer der merkwiirdiger- und bedauerlicherweise often-
sichtlich immer seltener werdenden Biologen, die schon im Vorschulalter zu
solchen wurden, bei denen die Forschung des Mannes in fliedendem ~bergang
aus der spielerischen Tierliebhaberei des Kindes hervorgeht. Das Wort spiele-
risch ist dabei nur dadurch gerechtfertigt, dab alles echte Spiel ein Element neu-
gieriger Forschung und alle Forschung eins des Spiels enth~lt. Eines der ersten
Worte, die er sprechen lernte, war ,,Worrrm", womit er Regenwilrmer bezeichnete,
deren Kriechbewegungen den l lAj~ihrigen vSllig gefangennahmen. Aquarien-,
Terrarien- und vor allem Vogelhaltung vermittelten ibm in der Mittelschulzeit
i~uderst grilndliche Kenntnisse allgemeiner Zoologie; insbesondere war er frilh
ein ausgezeichneter Feldornithologe.
Gustav Kramers wicbtigste Eigenheit und der Schliissel zu seinen wissen-
schaftlichen Erfolgen lag in der seltenen Vereinigung einer primiiren und
geradezu primitiven, tiefen und echten Naturverbundenheit, mit einer ilberragen-
den Begabung zu sch~irfstem analytischen Denken. Der ganze Apparat tier wissen-
schaftlichen Erkenntnis, vom reizaufnehmenden Sinnesorgan his zur hSchsten
auswertenden rationalen Leistung, arbeitete bei ihm gleichzeitig sensitiver und
pr~iziser als bei anderen Menschen. Auf einer Exkursion sah und land er in
sehier unglaublicher Weise die verborgensten, kaum sichtbaren Dinge; in seiner
Begleitung kam der bestandsaufnehmende Ornithologe mit doppelt so vielen
Namen auf seiner Artenliste heim, als wenn er allein gegangen w~ire. Die gleiche
Bef~ihigung zu scharfer Gestaltwahrnehmung, die ihn den ffir jeden anderen
unsichtbaren, schutzf~irbigen Kleinvogel entdecken lied, brachte es abet an& mit
sich, dad er P r o b 1 e m e sah, an denen andere jahrelang achtlos vorbeigegan-
gen waren.
Die groBe Vielfalt seiner Interessen, deren jede wissenschaftlich bedeutsame
Friichte trug, erkl~irte sich zum Tell daraus, dag er an den verschiedenen Tieren
und Tiergruppen, denen seine Liebe galt, und die er, zun~chst aus ,,Liebhaberei", in Gefangenschaft hielt, so sehr verschiedene Probleme entdeckte. Sein berech-
tigter Weltruhm als Initiator der exprimentell analytischen Orientierungsfor-
schung liidt oft vergessen, welch hochwichtige Ergebnisse Gustav Kramer a.uf giinzlich andersartigen .Gebieten errungen hat. Sicherlich ist es vielerL unbekannt,
dag er der eigentliche Entdecker des ,,Ferntastsinnes" war, den er in seiner
Heft 31 1959 J Gustav Kramer t 267
Doktorarbeit am Krallenfrosch, Xenopus laevis, untersuchte, eine Arbeit, auf
Grund deren er 1933 in Berlin promovierte. Nach Erlangung des Doktorgrades
arbeitete er im Kaiscr-Wilhelm-Institut ffir medizinische Forschung in Heidelberg
bei Prof. L. YON KREHL fiber Stoffwechsel an Kaltblfitlern. Sein groBes Interesse
an Reptilien, das wohl aus der Zeit stammt, in der er als ~Student bei OSKAR
HEINROTH am Berliner Aquarium hospitierte, trug in drei unabh~ngigen Hin-
sichten reiche Frucht, als er sich sp~ter, erst als Assistent am Deutsch-Italieni-
schen Institut ffir Meeresbiologie in Rovigno, sp~ter an der Neapeler Station,
eingehender mit Eidechsen besch~ftigte. Aus diesen Zeiten (1934--1941) stare-
men nicht nur ausgezeichnete ethologische Arbeiten, vor allem fiber Lacerta melisellensis, die zurn Ausgangspunkt ffir eine ganze Reih~ yon gleichgerichteten
Untersuchungen anderer Autoren an anderen Eidechsenarten wurden, sondern
auch phylogenetische Arbeiten, in denen Kramer nicht nur vergleichend mor-
phologisch, sondern auch experimentell-genetisch jene zwischen Festlands- und
Inselrassen bestehenden Unterschiede untersuchte, die geeignet sind, Licht auf
die Probleme der Artbildung zu werfen.
Zweifellos waren es diese Untersuchungen, bei denen Gustav Kramer auf
einen Kreis g~inzlich andersartiger Probleme stieB, der, neben der Orientierungs-
forschung, das zweite Hauptinteresse seines Forscherlebens bilden sollte: auf
den Problemkreis der A 11 o m e t r i e. Auf diesem Gebiete ist Kramer fast ebenso zu einer Welt-Autorit~it geworden wie auf dem der Orientierungsfor-
schung. Besonderes interesse beanspruchen seine jfingsten Untersuchungen fiber
die Wechselbeziehungen zwischen Allometrie und der Verschiedenheit mechani-
scher Beanspruchung bei den GliedmaBen yon verschieden groBen, aber zur
gleichen Familie gehSrigen und -- yon den Allometrien abgesehen -- ann~hernd
gleich proportionierten VSgeln.
Ich ffihle reich nieht berufen, und es erfibrigt sich wohl auch an dieser Stelle,
die Verdienste Gustav Kramers auf seinem eigentlichen Hauptgebiet zu wfirdigen,
auf dem er so erstaunliche Ergebnisse erzielte, obwohl er sich ibm erst verh~lt-
nism~Big sp~t, nach dem letzten Kriege, zuwandte. Jeder weiB, dab er es war, der die Sonnenorientierung der VSgel nachgewiesen und damit der exak~en Kau- salforschung ein neues Feld zug~nglich gemacht hat, dessen grunds~tzliche
Wichtigkeit heute noch kaum fiberblickt werden kann. Jedenfalls geht die theo-
retische Tragweite des Nachweises yon ,,inneren Verrechnungsmaschinen" im Zentralnervensystem weit fiber das Gebiet der Orientierung hinaus und ist ffir die ganze Problematik zentralnervSser Systemfunktionen yon grundlegender Be-
deutung. Dagegen halte ieh es ffir angebraeht, hier ein paar Worte fiber die M e t h o -
d i k Gustav Kramers zu sagen. Mensehen, die mit einer so ausgezeichneten
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F~higkeit zur Gestaltwahrnehmung ausgestattet sind, wie er es war, erliegen
leicht der Versuehung, den Hypothesen allzuviel Vertrauen entgegenzubringen,
die ihr ,,seherischer Blick" sie entdeeken l~Bt. Gustav Kramer besaB die seltene
Selbstdisziplin, solchen. Seherblick mit iiuBerstem und tief eingewurzeltem MiB-
trauen gegen die eigene Hypothesenbildung zu vereinen. Sein Vorgehen war
meist das des AusschlieBens. Er brachte es fertig, iiuBerst scharfsinnige und be-
s~echende Hypothesen aufzustellen, ohne an sic zu glauben und nur, um sich
sofort an die Arbeit zu machen, ihre Unstimmigkeiten nachzuweisen, bzw. die
Tatsachen klarzustellen, die sic unerkl£rt lieBen. So arbeitete er sich mit z~hem
FleiBe von allen Seiten her, alle fiberhaupt bestehenden MSglichkeiten beden-
kend und eine nach der anderen ausschlieBend, an die Wahrheit heran. Wenn er
dann etwa yon einem ,,Faktor X" sprach, bedeutete dies beileibe nicht die An-
nahme von etwas grundsiitzlich Unerkl~irlichem, sondern einen, per exclusionem,
bereits yon vielen Seiten her streng definierten Bereich des noch Unerkli~rten.
Die ungeheure Sch~rfe und Redlichkeit der iSelbstkritik Gustav Kramers ist
es wohl auch gewesen, die seiner ganzen PersSnlichkeit hSchste Vertrauenswiirdig-
keit und Auto r i t~ verlieh. Er erweckte in jedermann eine persSnliche Hochach-
tung, wie man sie einem so jungen Mann sonst selten entgegenbringt. Wenn er
es fiir nStig eraehtete, in eine Diskussion einzugreifen, was er oft erst dann tat,
wenn diese sich festgefahren hatte, horchten alle Beteiligten auf, in Erwartung
der erstaunlich kliirenden Wirkung seiner kurzen und stets auch sprachlich
meisterhaft formulierten Bemerkungen. AuBerste Sparsamkeit im Ansdruck, die
fiir ihn ganz allgemein kennzeichnend war, trug dazu bei, seinen Worten unter
allen Umst~nden Gewieht zu verleihen.
AnBerste Sparsamkeit affektiven Ansdrucks kennzeichnete Gustav Kramer
auch im pers5nlichen Verkehr, selbst mit seinen ~ltesten und besten Freunden.
Trotzdem war man bei ihm wie bei kaum einem anderen sicher, da~ man sich
auf seine t~tige Freundschaft in jeder ernsten Notlage unbedingt verlassen
konnte. Ihn zum Freund zu haben, bedeutete, einen unbestechlichen Kritiker und
einen lebensli~nglichen Verbiindeten in einer Person zn besitzen. Warum jeder
seiner seltenen nnd kurzen Besuche bei uns nicht nur ffir seine alten Freunde, sondern auch ffir allq jungen Leute, vom rang~iltesten Mitarbeiter bis hinunter
zu den Kindern eiu Fest war, ist schwer in: Worten wiederzugeben.
Konrad Lorenz Max-Planck-Institut ffir Verhaltensphysiologie