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Nr. 17 Dezember 2005 GUT ODER BÖSE, RICHTIG ODER FALSCH? DAS MORAL-HEFT

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Nr. 17 Dezember 2005

GUT ODER BÖSE, RICHTIG ODER FALSCH?

DAS MORAL-HEFT

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„Die Welt ist alles, was der Fall ist,“ gut.Allein: was tueich in dem Fall? Was soll ich tun? Auf den Höhen des Un-umstrittenen ist Moral wohlfeil, eine feste Burg in derFerne. Die von dort abgesandten Parolen klingen ofthohl.An den Rändern der Ordnungen aber wartet dasDilemma. Die Fragen werden offener, die Situationenfragwürdiger. Und auf einmal wird der gelassene mora-lische Pragmatismus der alltäglichen Routinen zum op-portunistischen Furor, der alle zu ergreifen droht.Weroder was bewahrt uns davor, zu Folterknechten, zu Ge-setzesbrechern zu werden? Wann schlägt Ehrgeiz in ge-meine korrupte Gier um? Wie begegnen wir dem Ter-ror islamistischer Fundamentalisten und ihren morali-schen Legitimationsfiguren? Was ist im Krieg gegen denTerror erlaubt? Ab wann beginnt die Würde des Men-schen, z.B. angesichts der biotechnologischen Ver-heißungen? Laut Artikel 1 des Grundgesetzes der Bun-desrepublik Deutschland ist sie unantastbar.Was heißtdas? Wo sind die Grenzen? Wer zieht sie? Wann gilt Was?Können wir’s nicht einfach sein lassen?Moralische Fragen sind keine, die aus der sicheren Ent-fernung einfache Antworten abrufen.Wir geraten hierin den Nahbereich unserer Gesellschaften, der wirkli-chen Wirklichkeit von uns selbst.Hehre Ansprüche,ver-kündet von den jeweils verfügbaren Kanzeln (immerherab), sind das eine. Unsere Handlungsweisen sind daskonkrete Andere. Entscheidend ist, wie wir uns ent-scheiden im Fall der Fälle.

Thorsten Schilling

Bisher betrachtete unsere Autorin Meredith Haaf, 22,die Fragen der Welt eher aus geisteswissenschaftlicherSicht – sie studiert Geschichte. Seit ihrem Besuch imMax-Planck-Institut für Molekulargenetik in Berlinund einem Blick durchs Mikroskop auf embryonaleStammzellen weiß sie, dass man das alles auch anderssehen kann: naturwissenschaftlich nämlich. >> Seite 26

Christian Lesemann, 32, begann 1999 im Paparazzo-Stil zu fotografieren. Heute stellt er am liebsten so ge-nannte „gestohlene Fotos“ nach, Fotos also, bei denendie Fotografierten erst im Nachhinein um Erlaubnisgefragt werden. Er selbst lässt sich nicht gerne fotogra-fieren, gestohlene Bilder von sich fände er aber schön.Zu diesem fluter hat er mehrere Bilder beigesteuert.

Editorial

EDITORIAL / INHALT

Fotos: Christian Lesemann Titelfoto: Stefanie Füssenich

4 Wertsachen: Max Frisch und sein Fragebogen – eine Auswahl.

6 Treuepunkte: Wie es ist, immer wieder fremdzugehen.

8 Tatendrang: Stanley Milgram und Philip Zimbardo bewiesen: Der Mensch ist zu allem fähig.

10 Zulassungsbeschränkung: Dr. Jörg Kinzig vom Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht zur Frage: Darf man foltern?

12 Vergangenheitsbewältigung:Woher nehmen wir unsere Arbeitsmoral?Dazu: Interview mit Eberhard Straub.

15 Lebenslauf: Johanna war ungewollt schwanger.Was tun?

16 Buchwesen: Moral in Märchen – überholt oder aktuell?

18 Respektsperson: Die Ärzte gaben Alexandras Tochter keine Chance. Sieirrten sich.

20 Grundeinstellung: Der Tübinger Philosophieprofessor Otfried Höffe hateinige grundlegende Antworten.

24 Regelkunde: Geschichte der Moralphilosophie.

26 Einzelzelle: Boris Greber forscht mit embryonalen Stammzellen.

29 Hausaufgaben: Lisi Wasmer lernt die US-Highschool kennen.

30 Reinigungskraft: Ian Buruma über die wahren Ziele islamischer Terroris-ten und die Sicht auf den unmoralischen Westen.

36 Hochzeitsgeschenk: Scheinehen sind illegal – Bernd schloss dennoch eine mit Fatima.

38 Waschsalon: Deutschlands bekanntester Korruptionsfahnder über das, wasGeschäftsleute hinter den Kulissen tun. Dazu: Simon Gächter im Interview.

42 Gewerbegebiet: Der Bordellbesitzer Bert Wollersheim im Interview.

44 Ehrenwort: Plädoyer für die Lüge.

46 Strafanzeige: Warum Moral in der Werbung so schlecht funktioniert.

47 Impressum

48 Sachwerte: Max Frischs Fragebogen – ein paar Antworten.

50 Antikensammlung: Gewinnspiel.

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WERTSACHEN

WENN SIE JEMAND IN EINER UNHEILBAREN

KRANKHEIT WISSEN: MACHEN SIE IHM DANN

HOFFNUNGEN, DIE SIE SELBER ALS TRUG

ERKENNEN?

5.

1.

2.

3.

4.

GUTE FRAGEIn seinem „Fragebogen“ hat der Schweizer Schriftsteller Max Frisch Fragen zu den wichtigsten Themen des Lebens gestellt und unbeantwortet gelassen. Hier eineAuswahl, einige Antwortversuche auf Seite 48.

4

moral-fragebogen_final 05.12.2005 9:37 Uhr Seite 2

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5

12.

WENN SIE JEMAND DAZU BRINGEN, DASS ER DEN HUMOR VERLIERT

(Z.B. WEIL SIE SEINE SCHAM VERLETZT HABEN), UND WENN SIE

DANN FESTSTELLEN, DER BETROFFENE MENSCH HABE KEINEN

HUMOR: FINDEN SIE, DASS SIE DESWEGEN HUMOR HABEN, WEIL SIE

JETZT ÜBER IHN LACHEN?

WOVOR HABEN SIE MEHR ANGST: DASS SIE AUF

DEM TOTENBETT JEMAND BESCHIMPFEN KÖNN-

TEN, DER ES NICHT VERDIENT, ODER DASS SIE

ALLEN VERZEIHEN, DIE ES NICHT VERDIENEN?

HALTEN SIE’S FÜR HUMOR:

O WENN WIR ÜBER DRITTE LACHEN?

O WENN SIE ÜBER SICH SELBST LACHEN?

O WENN SIE JEMAND DAZU BRINGEN,

DASS ER, OHNE SICH ZU SCHÄMEN, ÜBER

SICH SELBST LACHEN KANN?

GESETZT DEN FALL, SIE SIND BEDÜRFTIG UND HABEN

EINEN REICHEN FREUND, DER IHNEN HELFEN WILL, UND

ER GIBT IHNEN EINE BETRÄCHTLICHE SUMME (ZUM

BEISPIEL DAMIT SIE STUDIEREN KÖNNEN) UND GELE-

GENTLICH AUCH ANZÜGE VON SICH, DIE NOCH SOLID

SIND: WAS NEHMEN SIE UNBEFANGENER AN?

WENN SIE JEMAND LIEBEN:

WARUM MÖCHTEN SIE NICHT

DER ÜBERLEBENDE TEIL SEIN,

SONDERN DAS LEID DEM

ANDEREN ÜBERLASSEN?

8.

13.

HALTEN SIE DIE DAUER EINER

FREUNDSCHAFT FÜR EIN WERTMASS DER

FREUNDSCHAFT?

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TREUEPUNKTE

S06-07_fremdgehen 06.12.2005 14:44 Uhr Seite 6

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Wenn es klappt, ist es einfach und schön: Eine Frau lernt einen Mann kennen,sie leben zusammen, es ist der Mann ihres Lebens. Nicht mehr so einfach undschön ist es, wenn das der gleichen Frau öfter passiert. So wie unserer Autorin.

Text: Lena Dreyer Fotos: Christian Lesemann

Ich bin 27 Jahre alt und habe in den letztenacht Jahren drei Beziehungen geführt. MeinFreund ist die wichtigste Bezugsperson inmeinem Leben, der Mensch, dem ich ammeisten vertraue.Ob man mit anderen Typenknutschen, wie weit man bei einem Flirt ge-hen darf oder ob gar One-Night-Stands okaysind oder nicht – diese Fragen stellen sich fürmich nicht. Dasselbe erwarte ich von mei-nem Freund – dem Mann meines Lebens.Meine Beziehungen liefen immer super. Dasdachte ich jedenfalls, bis es plötzlich wieder„Wumms“ machte, ich einen neuen Mannkennen lernte,mich verliebte,eine Affäre be-gann und monatelang meinen Freund betrog– bis ich mich trennte und eine neue Bezie-hung anfing. Dreimal.Wie damals, in einer durchzechten Nacht imJanuar vor knapp vier Jahren, als ich meinenheutigen Ex-Freund kennen lernte.Wir be-gegneten uns in der Arbeit und liefen uns da-nach immer wieder über den Weg.Auf Kon-zerten, bei einem Geburtstag, auf einer Fa-schingsparty.Nach wenigen Treffen spürte ichdieses eindeutige Prickeln,das man so schwerbeschreiben kann.Dieses innere Zerren,einenanderen Menschen unbedingt sehen zu müs-sen. Ich dachte mir fadenscheinige Gründeaus, um ihn treffen zu können. Er lud michzum Kaffeetrinken in sein neues Büro ein.Gleichzeitig sagte ich mir, da sei nichts, undberuhigte mein Gewissen: „Ich mache dochgar nichts, ich gehe nur Kaffee trinken.“ InWirklichkeit,was ich mir bis heute nicht im-mer eingestehen will, sah dieses „Ich machedoch nichts“ so aus:Flirten.So charmant sein,wie es nur geht. Mehr flirten.

An einem Frühsommertag lag ich im Parkund versuchte,Texte für mein Uni-Seminarzu lesen.Er rief an; ich schlug ihm vor, in denPark zu kommen. Eine Stunde danach lagenwir knutschend auf dem Rasen, zwei weite-re Stunden und eine SMS später, in der ichmeinen Freund anlog, ich hätte Freundinnengetroffen und wir würden noch etwas trinkengehen, lag ich mit ihm in seinem Bett.Statt nach diesem ersten Mal sofort mit mei-nem Freund zu reden und zu überlegen, wa-rum es passiert ist, verstricke ich mich immertiefer in ein Gefühls- und Gedankenchaos.Warum fühle ich mich dem Neuen so nahe,mein Freund ist doch der Mann meines Le-bens? Alles Neue ist am Anfang interessant.Kein Alltag, keine nervenden Eigenschaften.Aber wird das bei dem Neuen nicht auchwieder so werden? Meinen Freund und michverbindet eine lange gemeinsame Zeit, daskann ich nicht aufgeben. Ich kann ihn nichtverlassen. Aber ich will den anderen unbe-dingt sehen. Ich halte es nicht mehr aus. Ichrufe jetzt an, obwohl wir gerade beschlossenhaben, uns nicht mehr zu sehen.Von alldem bekommt mein Freund nichtsmit.Er weiß nicht,was in mir vorgeht,und ichdistanziere mich dadurch immer mehr vonihm. Das Merkwürdige ist: Ich habe anfangsnicht einmal ein schlechtes Gewissen. Unddas,obwohl ich gerade den wichtigsten Men-schen in meinem Leben anlüge,den Menschen,dem ich vertraue. Ich erfinde ständig neueAusreden, behaupte, ich wolle noch Freundetreffen oder sei müde, stehle permanent ir-gendwo Zeit und bringe es sogar fertig, voneinem Date mit dem anderen direkt zu ei-

nem Treffen mit meinem Freund zu fahren.Es liegt, glaube ich, an dieser seltsamenGleichzeitigkeit. Ich schlafe zwar wochenlangmit einem anderen und führe mit diesemMann die Gespräche, die ich eigentlich mitmeinem Freund führen sollte, aber gleich-zeitig fühlt es sich nach wie vor so richtig an,wenn ich mit meinem Freund zusammen bin.So,als könnte es nie anders sein.Dadurch ver-dränge ich den Betrug und ermögliche ihnüberhaupt erst.Irgendwann stürzt die Fassade dann ein. Et-wa nachdem ich mich endlich getraut habe,einer Freundin von meiner Affäre zu erzählen,und sie mir immer wieder deutlich sagt, wasich gerade tue: lügen, hintergehen und mei-nem Freund keine Chance zur Reaktion ge-ben.Ein grauenhafter Moment, in dem nichtnur mein Selbstbild zerbricht, sondern auchdas, woran ich drei Jahre lang geglaubt habe:meine Beziehung.Diesmal war es im April so weit.Wir hattenuns im Herbst kennen gelernt, im Winter mit-einander geschlafen und mein fester Vorsatzlautete wieder: Ich will meine Beziehung ret-ten.Wir verstanden uns doch gerade so gutund sprachen sogar von Zusammenziehen.Dennoch – seit Monaten tat ich genau dasGegenteil. Ich zerstörte sie, indem ich zu ei-nem Date nach dem anderen marschierte,mich immer wieder bei dem Neuen melde-te und gegenüber meinem Freund schwieg.Das erste Mal sprach ich im April mit ihmüber mein Gefühlschaos – als ich ihn verließ.Seitdem bin ich mit meinem neuen Freundzusammen und sehr glücklich. Ich glaube, erist der Mann meines Lebens.

ERSTMAL FÜR IMMER

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TATENDRANG

Ganz oben: Szene aus dem Standford-Prison-Experiment. Oben: Szenen ausdem Milgram-Experiment. Oben rechts: Versuchsanordnung von Milgram,Stanley Milgram.Rechts: Inserat für das Stanford-Prison-Experiment, Szene aus dem Experiment.

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DIE WAHL DER QUAL

Liebender Vater, fürsorglicher Ehemann, in jeder Hinsicht nor-mal.Zu diesem Ergebnis kommt ein psychologisches Gutach-ten,das den Geisteszustand des US-Soldaten Ivan „Chip“ Fre-

derick einschätzen soll. Frederick hat drei Monate lang als Wärter inAbu Ghraib gearbeitet, dem Gefängnis im Westen von Bagdad, indem Saddam Hussein politische Gefangene foltern ließ und in demamerikanische Geheimdienste seit der Invasion im Irak Terrorver-dächtige festhalten.Ein Jahr später steht er vor Gericht. „Ich bin keinSadist“, sagt Frederick während der Vorverhandlung. Und doch hater Gefangene misshandelt und gedemütigt,hat sie gezwungen,vor denAugen der Mitgefangenen zu masturbieren,Oralsex zu simulieren,sichnackt übereinander zu legen und eine Pyramide zu bilden.Wie kann es sein, dass ein unauffälliger, normaler Mensch dazu fähigist? Der Sozialpsychologe Philip Zimbardo,der Frederick interview-te und das Gerichtsgutachten erstellte, behauptet, dass nicht die per-sönlichen Eigenschaften der Täter die Hauptursache für die Eskalati-on von Gewaltakten und Erniedrigungen waren, sondern die anar-chischen Zustände in Abu Ghraib. Die Verwahrlosung. Der Dreck.Die Langeweile.Die Angst vor einem Aufstand.Die Abwesenheit vonRegeln und Kontrolle. „In einem Essigfass kann man keine süßeGurke sein“, sagt Zimbardo.Man verwandele sich automatisch in ei-ne saure Gurke.Der inzwischen emeritierte Stanford-Professor hat sichjahrzehntelang mit der Frage beschäftigt, warum Menschen un-moralisch handeln. „Die Psychologie des Bösen“ nennt er sein For-schungsgebiet. Um das menschliche Verhalten unter den Bedingun-gen von Gefangenschaft zu untersuchen, führte er bereits 1971 das Stanford Prison Experiment durch – und zeigte, wie einfach es ist,Menschen dazu zu bringen, Dinge zu tun, von denen sie behaupten,dass sie sie niemals tun würden. Im Keller der psychologischen Fa-kultät seiner Uni simulierte Zimbardos Team ein Gefängnis. 24 Test-personen, alles Studenten aus Palo Alto, darunter erklärte Bürger-rechtler und Pazifisten, wurden willkürlich in Häftlinge und Aufse-her unterteilt.Die Wärter bekamen Schlagstöcke und Sonnenbrillen,die Gefangenen mussten Fußketten und Kittel ohne Unterwäschetragen. Ihre Köpfe wurden kahl rasiert und anstelle ihres Namens be-kamen sie eine Nummer verpasst.Ohne weitere Vorschriften wurdendie beiden Gruppen sich selbst überlassen. Nach 36 Stunden hatteder erste Häftling einen Nervenzusammenbruch, weil der Stress zugroß wurde.Nach zwei Tagen brach ein Aufstand aus.Nach sechs Ta-gen war das Experiment völlig außer Kontrolle geraten und mussteabgebrochen werden. Die Wärter hatten angefangen, die Häftlingesexuell zu erniedrigen und zu quälen.Parallelen zwischen den Ereignissen im Keller der Stanford-Univer-sität und Vorfällen in Abu Ghraib sind auffällig: In beiden Situationen

nahmen die Wärter die Gefangenen nicht mehr als Individuen, son-dern als anonyme Objekte wahr. Sie waren nicht darauf trainiert, ei-ne so schwierige Aufgabe zu bewältigen.Sie wurden kaum überwachtund mussten für ihr Verhalten keine Rechenschaft ablegen.Unter sol-chen Voraussetzungen sind Exzesse programmiert. „Für jemanden,der sich noch nie etwas hat zu Schulden kommen lassen, ist es kom-fortabel zu glauben, dass nur die anderen zu Grausamkeiten fähigsind“, sagt Zimbardo. „Doch dieses Gefühl der moralischen Über-legenheit ist eine Illusion. So gut wie jeder, der mit derart extremenUmständen konfrontiert wird, würde sich ähnlich verhalten.“ Folgt man Zimbardos Ergebnissen, ist das Handeln eines Menschennicht von seinen moralischen Prinzipien abhängig, sondern von derSituation, in der er sich befindet.Zu einer ähnlichen Schlussfolgerungwar der Sozialpsychologe Stanley Milgram bereits Anfang der sech-ziger Jahre an der Yale University in New Haven gekommen.Bei demnach ihm benannten Experiment wird den Testpersonen erklärt, dasses darum gehe, den Zusammenhang von Lernerfolg und Bestrafungzu untersuchen. Das Los bestimmt einen Lehrer und einen Schüler.Unter Aufsicht eines Wissenschaftlers verpasst der Lehrer dem Schülereinen Stromschlag zwischen 15 und 450 Volt,wenn dieser seine Auf-gabe nicht lösen kann.Bei jedem Fehler soll der Lehrer die Spannungum 15 Volt erhöhen.Tatsächlich handelt es sich beim Schüler jedochum einen Schauspieler, der bald beginnt, Schmerzen zu simulieren.Wahres Ziel des Experiments ist es zu testen,wie hoch die Bereitschaftvon Menschen ist,Anweisungen zu folgen und einen Unbekanntenzu quälen, auch wenn das Gewissen dagegen rebelliert. Zögert derLehrer, die Spannung zu erhöhen, wird er vom Versuchsleiter zumWeitermachen aufgefordert – er habe keine andere Wahl.Im Gegensatz zum Stanford Prison Experiment führt beim MilgramExperiment nicht das Fehlen von Kontrolle zu unmoralischen Hand-lungen, sondern der Druck einer Autorität. Der Versuch wird in et-wa vierzig Ländern wiederholt. Die Ergebnisse sind überall die glei-chen: Unabhängig von Alter, Bildung und Geschlecht bringen zweiDrittel aller Versuchspersonen den Versuch zu Ende und verpassendem Schüler tödliche Stromschläge – auch wenn dieser um den Ab-bruch des Versuches bettelt, vor Schmerzen schreit oder gar nichtmehr auf Fragen reagiert.Den Lehrern reicht die Begründung,sie han-delten im Dienste der Wissenschaft und jemand anderes übernehmedie Verantwortung. „Früher habe ich mich gefragt, ob man in denganzen USA genug moralische Dummköpfe finden könnte, um denPersonalbedarf für ein nationales System an Konzentrationslagern zudecken,wie es dies in Deutschland gegeben hat“,schrieb Milgram nachAbschluss der ersten Versuchsreihe.„Jetzt glaube ich langsam,dass dieganze Belegschaft in New Haven allein rekrutiert werden könnte.“

In Ausnahmesituationen sind Menschen zu allem fähig.Text: Heiko Zwirner

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ZULASSUNGSBESCHRÄNKUNG

Herr Kinzig, darf man in Deutschlandfoltern?Aus meiner Sicht: nein.Das verbietet Artikel104 Grundgesetz, in dem es heißt: „Festge-haltene Personen dürfen weder seelisch nochkörperlich misshandelt werden.“ Und spezi-ell für den Strafprozess gibt es auch eineVorschrift – Paragraf 136a StPO,der Folter imStrafverfahren verbietet.Ist es woanders erlaubt? Die internationale Völkergemeinschaft istsich inzwischen einig, dass Folter verbotensein sollte,und hat das festgelegt.Zum Beispielin Artikel 5 der Allgemeinen Erklärung derMenschenrechte von 1948, in Artikel 3 derEuropäischen Menschenrechtskonvention,

in Artikel 1 des UN-Übereinkommens gegenFolter von 1984. Das Folterverbot war auchBestandteil des Entwurfs für eine europäi-sche Verfassung. In den internationalen Be-stimmungen ist neben Folter meistens von„grausamer, unmenschlicher oder erniedri-gender Behandlung oder Strafe“ die Rede.Wo Folter beginnt und wo sie aufhört, kannman nicht immer sagen. Sicher ist:Wenn ichjemandem körperliche Schmerzen zufüge,zum Beispiel um von ihm eine Aussage oderein Geständnis zu erlangen,dann ist das Folter.Der stellvertretende Frankfurter Poli-zeipräsident Wolfgang Daschner hat imSeptember 2002 dem damals mutmaßli-chen Entführer des Bankierssohns Jakob

von Metzler Folter androhen lassen, umzu erfahren,wo Jakob versteckt war.Wardas auch schon Folter?Meiner Ansicht nach schon. Und wenn esnicht Folter ist, dann ist es zumindest eine„unmenschliche Behandlung“ und damitauch verboten.Gibt es in den angesprochenen Konven-tionen oder im Grundgesetz irgend-welche Lücken oder Unklarheiten, dieim Fall der Folter vielleicht einen Hand-lungsspielraum lassen?Nein. Nach Artikel 15 der EuropäischenMenschenrechtskonvention ist das Folter-verbot sogar „notstandsfest“.Das heißt,davondarf in keinem Fall abgewichen werden.Dort

Dr. Jörg Kinzig vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg über Folter, Nothilfe und Daumenschrauben im Keller.Interview: Dirk Schönlebe

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ALLES, WAS RECHT IST

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steht explizit: „Selbst wenn das Leben einerNation durch Krieg oder einen anderen öf-fentlichen Notstand bedroht wird, ist Folterausgeschlossen.“In der Folterdebatte wird oft das „tickingbomb scenario“ angeführt: Eine Bombeist versteckt, man hat einen Terroristenund nur er weiß,wo sie explodieren wird.Wenn man ihn nicht foltert, um dieBombe zu finden – wird dann nicht dasRecht des Täters über das Recht der po-tenziellen Opfer auf Leben gestellt?Diese Argumentation ist schon im Ansatzproblematisch. Sie sprechen vom Recht desTäters. In diesen Fällen handelt es sich aberum Verdächtige. Ich würde schon bestreiten,dass man sicher sein kann, wer der Täter ist.Das ist wie die Argumentation bei der Todes-strafe,da sagt man auch:Wir wissen ganz sicher,dass er der Täter ist. Aber Beispiele aus denUSA zeigen,dass es eine Vielzahl von Leutengab, die unschuldig hingerichtet wurden.Als potenziellem Anschlagsopfer hilftmir das nicht weiter. Ich hätte da lieber,dass alles unternommen wird, um dieBombe zu finden.Das ist eine so genannte „tragic choice si-tuation“: eine Situation, in der man Schuldauf sich lädt, möglicherweise Unrecht tut,

ganz egal, wie man handelt. Das ist einfacheine schwierige Situation, die man nicht soeinfach rechtlich auflösen kann.Aber den Rettungsschuss gibt es dochauch,da wird das Opfer auch geschützt.Beim finalen Rettungsschuss sehe ich imIdealfall den Bankräuber, der die Pistole hatund an den Kopf der Geisel hält.Aber geradedie vorhin besprochenen „ticking bomb“-Szenarien oder auch der Daschner-Fall sinddadurch gekennzeichnet, dass die Gefahrnicht präsent ist. Ich kann die Gefahr nichtsofort sehen und mit der Folter beseitigen,sondern bin immer auf die Mitwirkung desGefolterten angewiesen.Wenn man das ein-mal durchdenkt,wie die Folter rechtlich aus-zugestalten wäre,dann kommt man ohnehinin große Schwierigkeiten.Nämlich?Dann müsste man rechtlich regeln:Wie sollgefoltert werden? Ganz langsam oder dochschnell? Nur ein bisschen oder dann auch biszum Tod? Sind Ärzte dabei? Wie sicher mussman sein, um foltern zu dürfen? Im Frank-furter Fall hatten sie zunächst auch einen an-deren Tatverdächtigen – genügt denn eigent-lich schon eine „überwiegende Sicherheit“für die Folter? Oder muss es eine „großeWahrscheinlichkeit“ sein?

Der Staat darf also nicht foltern. Darfder Privatmann foltern, in Notwehrvielleicht?Notwehrrechte habe ich.Wenn ich bedrohtwerde, kann ich dem anderen auf die Nasehauen.Wenn mein Kind verschleppt ist undich kriege den Entführer,dann stehen mir sogenannte Nothilferechte zu. Und da wird’ssehr schwierig, da gibt es keine eindeutigenAntworten. Bei der Nothilfediskussion gibtes eine Einschränkung:Die Abwehr muss ge-boten sein.Und da würde ich sagen, aber dasist meine private Ansicht:Geboten wäre,dassich die Polizei anrufe,wenn ich den Entfüh-rer habe. Ich darf nicht selbst anfangen, demVerdächtigen im Keller die Daumenschrau-ben anzulegen.Als Privatmann: Könnten Sie einen Va-ter verstehen, der den mutmaßlichenEntführer seines Sohnes gefoltert sehenwill, um das Versteck zu erfahren?Ich kann mich da nicht hinstellen und sagen,ich hätte dafür nicht irgendwie Verständnis.Aber darauf können wir nicht unsere Rechts-ordnung aufbauen.

☞Auf www.fluter.de:Was sagt eigentlich unserGrundgesetz über Moral? Politische Philosophengeben Antworten.

Linke Seite, von links: Szene aus dem Standford-Prison-Experiment, Foltermethode „Zwangsjacke“, Frauen am Pranger, Ivan „Chip“ Frederick in Abu GharibOben, von rechts: Foltermethode „Beruhigungsmittel“, Szene aus dem Standford-Prison-Experiment

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VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG

arbeitsmoral_final 05.12.2005 9:23 Uhr Seite 2

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ICH ARBEITE,ALSO BIN ICH

Früher galt:Wer arbeitet, ist wenig wert. Gute alte Zeiten? Text: Sebastian Wehlings Fotos: Christian Lesemann

Im letzten Wahlkampf war es das Zauber-wort: Arbeit. Eine Partei verkündete:„Sozial ist,was Arbeit schafft“,eine ande-

re: „Arbeit muss sich wieder lohnen“, dienächste: „Arbeit soll das Land regieren“. DieZustimmung der Wähler hatten all diese Pa-rolen sicher. Einer Umfrage zufolge fürchtensich die Deutschen mehr vor dem Verlust desArbeitsplatzes als vor einer schweren Krank-heit. Den rund viereinhalb Millionen Ar-beitslosen stehen über 1,4 Milliarden bezahlteÜberstunden gegenüber. Arbeit ist anstren-gend,aber man kann nicht genug von ihr be-kommen.„Wir sind,was wir tun.“ So sehr istdieser Glaubenssatz verinnerlicht, dass vieleMenschen jene Momente gar nicht mehr ge-nießen können, in denen sie einfach malnichts tun. Für faul will niemand gehaltenwerden. Aber warum hat Arbeit in unsererGesellschaft diesen hohen Wert?In der griechischen Polis oder im antikenRom hätten Parolen wie die oben genanntenEntsetzen ausgelöst. Jede Form von körperli-cher und kommerzieller Erwerbstätigkeit galtals erniedrigend. Wer konnte, überließ dasArbeiten den Sklaven. Der freie Bürger wararbeitslos, aber nicht untätig. Er hatte Zeit,sich mit den wirklich wichtigen Dingen zubeschäftigen:mit den Künsten,dem Philoso-phieren und der Politik. Im jüdisch-christli-

chen Kulturkreis wurde Arbeit bis ins Mit-telalter hinein als Fluch begriffen.Arbeit war– so steht es im Alten Testament – die Strafe,die Gott über Adam und Eva und all ihreNachfahren für die Ursünde verhängt hatte.Erst im jenseitigen Paradies wartete der natür-liche Urzustand: eine Existenz in ungetrüb-ter Freude – von Arbeit befreit.Wer es dort-hin schaffen wollte, durfte auf Erden aller-dings nicht zu viel schuften. Denn werReichtümer anhäufte oder sich keine Zeit zurinneren Einkehr ließ, galt als ungläubig: Erzeigte sich fern von Gott.Erste Ansätze, Arbeit spirituell aufzuwerten,gab es im Mittelalter. „Ora et labora“, hießder Leitspruch des 529 gegründeten Bene-diktinerordens. In den Klöstern lebten dieMönche und Nonnen – als Knechte Gottes– in einer strikt durchorganisierten Ordnungaus geistigen Pflichten und weltlicher Arbeit.Durch die einsetzende Geldwirtschaft und dassich entwickelnde Staatswesen wurde die Er-werbstätigkeit seit dem 13. Jahrhundert auchzu einem immer wichtigeren gesellschaftli-chen Faktor.Staatliche Moralwächter bemüh-ten sich deshalb darum,Arbeit als besonderstugendhaft darzustellen. An der allgemeinenMentalität änderte dies allerdings zunächstnur wenig.Die meisten Menschen arbeitetennur so viel, wie sie zum Leben brauchten.

Und die Eliten sahen in der Arbeit nach wievor den Feind des freien Geistes.Ihre entscheidende Aufwertung erfuhr Arbeitdurch die Reformation und den Protes-tan-tismus calvinistischer Prägung im 16. Jahr-hundert. Nach der Lehre des in Genf wir-kenden Reformators Johannes Calvin (1509–1564) gibt es zwei Gruppen von Menschen:die von Gott Auserwählten und diejenigen,die dazu verdammt sind, die Ewigkeit in derHölle zu verbringen. Ein Mensch gehört zuden Auserwählten wenn er bereit ist, hart zuarbeiten und Verzicht zu üben.Fleiß,Disziplinund Askese gelten den Calvinisten als höch-ste Tugenden. Maximale Profite zu erzielenwar fortan nicht nur geduldet, sondern Pflichteines Gläubigen, irdischer Erfolg war Belegfür die Gnade Gottes.Nach Meinung des Ökonomen und Sozio-logen Max Weber (1864–1920) schuf die aufdieser Sicht fußende „protestantische Ethik“die Basis für den modernen Kapitalismus undführte letztlich zur Industrialisierung. Derneue,strenge Wertekatalog ermöglichte es denManufaktur- und Fabrikbesitzern, die Men-schen zu disziplinieren und in das industrielleSystem zu fügen.Bis zum 19.Jahrhundert hat-te das kapitalistische System die protestanti-sche Ethik zu seinen Zwecken säkularisiertund in ein wirkungsvolles Arbeitsethos ge-

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gossen: Erwerbstätigkeit wurde zur sozialenPflicht,zu einer gesellschaftlichen Norm,zumSelbstzweck. Immer mehr Menschen ström-ten vom Land in die Stadt und in die Fabri-

ken. Der Arbeitsplatz wurde zum Lebens-mittelpunkt,die durchschnittliche Arbeitszeitbetrug in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun-derts um die 15 Stunden täglich. Die Ar-beitszeit wurde später auf ein menschenver-trägliches Maß gekürzt, aber die von der In-dustrialisierung eingeleitete Entwicklung warunumkehrbar: Aus der Gesellschaft, in derMenschen arbeiteten, um zu leben, war dieArbeitsgesellschaft geworden.Heute geht dieser Arbeitsgesellschaft immermehr die Arbeit aus.Menschen,die auf Arbeitprogrammiert sind, empfinden eine solcheSituation als schwere Krise – das von ihnenwie von den arbeitenden Mitmenschen ver-innerlichte Arbeitsethos erweist sich als Pro-blem. Denn unsere Gesellschaft neigt dazu,Arbeitslose unter Generalverdacht zu stellen:

Sind das nicht Faulenzer,die sich in der Hän-gematte des Sozialstaats ausruhen wollen?Durch diese Haltung werden die Betroffenendoppelt bestraft: Sie müssen mit den finanzi-ellen Folgen der Erwerbslosigkeit kämpfenund werden sozial ausgegrenzt. Eine Gesell-schaft, die für immer weniger Menschen be-zahlte Arbeit hat,Arbeit aber weiterhin zumhöchsten Gut erhebt, wird auf Dauer immermehr unglückliche Bürger produzieren.In jüngster Zeit gibt es deshalb verstärkt Stim-men, die ein Umdenken fordern. Unter ih-nen sind der amerikanische Philosophiepro-fessor Frithjof Bergmann und der deutscheHistoriker und ehemalige FAZ- und Welt-Redakteur Eberhard Straub.Bergmann wirbtfür ein neues Verständnis von Arbeit.Er meint,unsere Gesellschaft würde besser funktionie-ren, wenn die Menschen weniger arbeitenwürden und mehr Zeit hätten, sich selbst zuverwirklichen und Dinge für den eigenenBedarf zu produzieren. Zu Straubs Forde-rungen gehört, sich von der Idee der Voll-beschäftigung zu verabschieden und die Er-werbslosigkeit als neue, weit verbreitete Le-bensform zu akzeptieren (siehe Interview).„Wir müssen den Menschen,die keine Arbeitfinden, das Gefühl geben, dass sie Teil dieserGesellschaft sind“, sagt Straub. „Sonst drohtdiese Gesellschaft auseinander zu brechen.“

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VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG

Arbeitslose sind doppelt

bestraft.

NEUE SOLIDARITÄT?Der Historiker Eberhard Straub über die Auf-gaben der Politik und die Kraft der Muße.

Herr Straub, Sie sagen, die Politikmuss angesichts der anhaltenden Mas-senarbeitslosigkeit umdenken.Wie?Die Menschen werden heute nur für dieberufliche Praxis gedrillt.Wenn sie arbeits-los werden, stehen sie mit leeren Händenda.Der Staat muss seine Bürger wieder imaltmodischen Sinne zu Menschen bilden.Dazu gehört eine literarische,musikalischeund ästhetische Erziehung.Die Menschenmüssen wieder ihre Sinne entwickeln, nurdann werden sie in der Lage sein, Zeit mitsich selbst zu verbringen.Arbeitslosen wird es nicht besser gehen,weil sie Schillers Glocke kennen.Natürlich nicht.Der Arbeitslose hat ja nichtnur das Problem,dass er nichts mit sich an-zufangen weiß. Er wird auch aus der Ge-meinschaft ausgeschlossen. Das muss auf-hören.Wir müssen den Menschen,die kei-ne Arbeit finden,das Gefühl geben,dass sieTeil dieser Gesellschaft sind. Sonst drohtdiese Gesellschaft auseinander zu brechen.Was können wir dagegen tun? Die Politiker, aber auch soziale und kirch-liche Einrichtungen müssen die Menschendaran erinnern, dass sie ihre Würde nichtvon der Arbeit allein ableiten.Wir müssenlernen, die Muße wieder als etwas Positi-ves zu betrachten, die uns die Möglichkeitgibt, uns zu entwickeln und zu entfalten.Wir vergessen das gern, aber der Menschist zur Freiheit berufen, nicht zur Arbeit.Viele Menschen hätten wohl nichtsgegen Muße – ihnen fehlt das Geld.Darum sollte die Politik darüber nachden-ken, ein Bürgergehalt einzuführen: JederBürger, erwerbstätig oder nicht, bekommtein Grundgehalt , das ihm ein würdevollesLeben ermöglicht. Der Betrag sollte überdem derzeitigen Arbeitslosengeld II liegen,um die 1400 Euro. Das gesellschaftlicheKlima würde sich deutlich verbessern.Und wie soll man das finanzieren?So wie unser jetziges System auch: durchSteuern.Es spricht viel für die Einführungeines Bürgergehalts:Der soziale Druck aufArbeitslose würde entfallen.Wer keine Ar-beit hat und doch finanziell abgesichert ist,könnte seine Zeit nutzen, anderen zu hel-fen, in der Gartenarbeit, beim Babysitten,überall, wo Menschen aufeinander ange-wiesen sind.Es könnte sich eine ganz neueSolidarität entwickeln.

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LEBENSLAUF

Ich wollte nur sagen: Es tut mir Leid. Deshalb bin ich eine Wochenach dem Eingriff auf einen Friedhof gegangen. Ich bin nicht reli-giös.Trotzdem wollte ich mich innerlich von dem Kind verabschie-den,dessen Leben ich verhindert habe und von dem ich mir seitdemimmer wieder vorgestellt habe, wie es ausgesehen hätte. Die Ent-scheidung für eine Abtreibung damals war richtig. Mir war immerklar,dass ich kein Kind ohne den dazu gehörenden Vater großziehenmöchte. Und als ich mit dem positiven Schwangerschaftstest vormeinem damaligen Freund stand, hat der mir sehr deutlich gesagt,dass er zu diesem Zeitpunkt kein Kind will. Er hat studiert, ich warmitten in meiner Ausbildung zur Werbekauffrau.Wir hatten beidekein Geld und einen Alltag,der hauptsächlich durch die Partys struk-turiert wurde, die wir auf jeden Fall mitnehmen wollten. Ich wusste,dass ich das mit dem Kind ohne meinen Freund nicht gepackt hätteund keine gute Mutter gewesen wäre.Man muss da an das Kind den-ken und darf nichts verkorksen. Meine Kindheit hat mich sehr ge-prägt: Ich bin ohne Vater aufgewachsen, mit einer überforderten,schlecht gelaunten Mutter. Das wollte ich meinem Kind nicht an-tun. Außerdem war ich noch viel zu sehr mit mir beschäftigt, ichmusste meine Essstörung in den Griff kriegen und wollte unbedingtnoch das Abitur nachmachen.Trotzdem fiel mir die Entscheidungnicht leicht. Mein Körper hat sich schon in den ersten Schwanger-schaftswochen sehr verändert, da konnte ich nicht einfach ignorie-ren, dass in mir etwas wuchs. Einen Schwangerschaftsabbruch mitMord gleichzusetzen halte ich für Quatsch, aber ein Fötus ist auchmehr als nur ein Haufen Zellen.

Der Beratungstermin bei Pro Familia hat keine zehn Minuten ge-dauert. Ich bin da hingegangen,als mein Entschluss feststand,und dortversuchten sie gar nicht erst mich umzustimmen. Meinem Freundhabe ich erst mal nicht gesagt, dass ich mich gegen das Kind ent-schieden habe. Seine Reaktion hatte mich zu sehr verletzt und ichhabe mir nur gedacht:Scheißmänner, ihr macht es euch auch ein biss-chen einfach!Ich bin allein zum Arzt gegangen.Der Eingriff war ambulant,mit lo-kaler Betäubung.Der Fötus wird mit einer Maschine abgesaugt.DasGeräusch ist mir heute noch manchmal in den Ohren.Der Arzt warRaucher, es stank in der Praxis und die Schmerzen hinterher warenso stark,dass ich dann doch meinen Freund angerufen habe.Er kam,um mich abzuholen, und war ziemlich aufgelöst.Zwei Dinge haben mir geholfen,die Abtreibung zu verarbeiten.Zumeinen waren da die stillen zehn Minuten auf dem Friedhof.Und ichhabe mir Leslie gekauft.Einen zehn Monate alten Jagdhund.Da warein kleines Wesen, um das ich mich kümmern konnte und mit demich Spaß hatte. Das hat mir gut getan.Vier Jahre später wurde ich zum zweiten Mal schwanger.Aber dies-mal vom richtigen Partner.Es war keine Frage,dass wir das Kind be-kommen. Sophie ist inzwischen 17 Monate alt – klein, blond, laut,manchmal anstrengend,aber immer wundervoll. Im Verlauf der zwei-ten Schwangerschaft habe ich wohl erst richtig begriffen, was eineAbtreibung bedeutet – bei jedem Blick auf ein neues Ultraschallbild.Ich würde es nie wieder tun.Trotzdem war es die richtige Ent-scheidung – damals.

Johanna war 21 Jahre alt, als sie ungewollt schwanger wurde.Wegen einerBlasenentzündung nahm sie Antibiotika – das vertrug sich nicht mit der

Pille. Sollte sie das Kind bekommen?Protokoll: Franziska Storz

EINSAME ENTSCHEIDUNG

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BUCHWESEN

Märchen sind nicht nur eine Einschlafshilfe, wir sollen auch was fürs Leben lernen: die „Moral vonder Geschicht’“.Allerdings stammen die Märchender Gebrüder Grimm und von Hans Christian Andersen aus einer anderen Epoche. Höchste Zeitzu überprüfen, ob die Moral der alten Geschichten heute noch anwendbar ist.Text:Tobias Moorstedt, Heinrich Geiselberger Illustrationen: Frank Weichselgartner

Das tapfere Schneiderlein

Eine typische Vom-Tellerwäscher-zum-Mil-lionär-Geschichte, Hollywood-Material ausdem 19. Jahrhundert. Beim Frühstück er-schlägt ein armer Schneider sieben Mückenund setzt sich selbst mit einem besticktenGürtel ein Denkmal. „Sieben auf einenStreich“. Ein guter Slogan. Damit zieht er indie Welt. Bald trifft er einen Riesen, der sehrbeeindruckt ist, weil er denkt, er habe es miteinem siebenfachen Mörder zu tun.Trotz-dem schlägt er einen Wettkampf vor. DenSteineweitwurf gewinnt der körperlich un-terlegene Schneider, indem er einen Vogelwirft,der scheinbar gar nicht mehr zu Bodenkommt. Kreativität und sein positives Imageals unbesiegbarer Kämpfer sind die großenStärken des Schneiders.Am Ende sitzt er garauf dem Thron.Wir lernen: Frechheit siegt.Und man bekommt nie eine zweite Chance,um einen guten ersten Eindruck zu machen.Wer es am Anfang des Semesters schafft, denProfessor zu beeindrucken,kann sich zurück-lehnen:Noch die letzten Banalitäten werdeneinem als Geistesblitze angerechnet.

Die Bremer Stadtmusikanten

Was tun, wenn man an seinem Arbeitsplatznicht mehr gebraucht wird? Die Hauptfigu-ren der „Bremer Stadtmusikanten“, Esel,Hund,Katze und Hahn sind alt, schwach undkönnen keine Leistung mehr bringen. IhreBesitzer wollen die treuen Tiere deshalb„schlachten“, „totschlagen“ und „ersäufen“.Die Tiere fliehen gemeinsam nach Bremenum dort Musikanten zu werden.Auf der Rei-se dorthin entdecken sie ein Haus, das voneiner Räuberbande bewohnt wird.Mit einerList verjagen sie die Gangster und besetzendas Haus: Indem sich die Tiere aufeinanderstellen, bilden sie einen Furcht erregendenSuper-Körper. Die Räuber haben Angst vordem Zusammenhalt der Tiere und denken,siehätten es mit Monstern zu tun. Die Lehrelautet also: Solidarität macht stark, allein istman nicht klein. Die Tiere haben sich nichtmit ihrem Schicksal abgefunden. Und weilsie ihre unterschiedlichen Fähigkeiten für dasgemeinsame Wohl einsetzen, erkämpfen sichdie Tier-Rentner den Traum aller Arbeit-nehmer: ein Häuschen im Grünen.

Die Sterntaler

Erst sterben die Eltern, dann wird das kleineMädchen obdachlos und steht mitten imWinter allein auf der Straße.Dort trifft es ar-me Leute,denen es sein letztes Stück Brot,dieMütze und auch sein letztes Hemd schenkt.„Und wie es so stand und gar nichts mehrhatte, fielen auf einmal die Sterne vom Him-mel und waren lauter blanke Taler.“ Gesetztden Fall, die Gebrüder Grimm schildernnicht die Halluzinationen eines erfrierendenMädchens, ist die Geschichte wunderschön:Wer möchte nicht in einer Gesellschaft le-ben, in der Armut und Kälte von warmenHerzen weggeschmolzen werden – und dasnoch belohnt wird? Natürlich können sichauch im echten Leben gute Taten lohnen:Man schlägt sich Abende um die Ohren, umeinem Freund bei der Abschlussarbeit zu hel-fen, später verschafft er einem einen gutenJob.Wer aber garantiert,dass das so läuft? Dassman nicht an diesen Abenden seine Traum-frau kennen gelernt hätte,wäre man nicht amSchreibtisch gesessen? Und wenn es so wäre:Gleichen das dann auch die Sterne aus?

Es war einmal?

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Des Kaisers neue Kleider

Ein eitler König bekommt eines Tages Besuch von zwei freischaffenden Stilbe-ratern, die ihm ein Wunderwams versprechen. Das Kleidungsstück soll einemagische Fähigkeit besitzen:Für inkompetente Mitarbeiter ist es unsichtbar.DieModeschöpfer weben gar keinen Stoff,weil aber keine der Hofschranzen als Idi-ot dastehen will, traut sich niemand,die Wahrheit zu sagen.Nur ein kleines Kind,

das die Regeln des Spiels noch nicht kennt, sagt, was alle sehen: „Erhat ja gar nichts an.“ Der König ist blamiert, tut aber so, als habe

er nichts gehört, und bleibt so an der Macht.Einen jeden plagenmanchmal Zweifel an der gesellschaftlichen Ordnung: IstMichael Ballack wirklich nicht zu ersetzen? Leben wir in

der besten aller Welten? Dann sagt man sich: „Wirdschon was dran sein, wenn alle das sagen.“ Aber mansollte solche Zweifel ernst nehmen. Es haben schon

ganze Länder an die absurdesten Dinge geglaubt.Ob sich aber etwas ändert, wenn man es an- und

ausspricht – das ist eine andere Geschichte.

„Von dem Fischer un syner Frau“

Im Märchen „Von dem Fischer un syner Fru“ fängt einarmer Fischer eines Tages einen großen Fisch,der ihm alsGegenleistung für seine Freiheit verspricht,alle Wünschezu erfüllen.Auf Druck seiner Frau wünscht sich der Fi-scher vom „Buttje in der See“ ein schönes Haus, späterein Schloss. Die Frau aber ist immer noch nicht zufrie-den, sie möchte Königin, am Ende gar Gott werden. Imnächsten Moment sitzen die beiden wieder in ihrer al-ten schäbigen Hütte. Das Märchen kritisiert nicht denReichtum an sich, sondern die Habgier, die durch die-sen erzeugt wird.Wer immer mehr will, verliert irgend-wann alles. Die Geschichte vom „Fischer un syner Fru“ist aber auch die ideale Erzählung für die unterprivile-gierte Klasse, um sich ihrer moralischen Überlegenheitzu versichern:Wer reich ist, ist unzufrieden und damit imGrunde genommen arm.

Buch: Wilhelm Solms: Die Moral von Grimms Märchen. Darmstadt 2002.

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RESPEKTSPERSON

Zuerst war Alexandras Tochter eigentlich zu schwach, um auf die Welt zu kommen.Dann angeblich zu krank zum Überleben. Jetzt lebt sie einfach.Text: Bastian Obermayer Foto: Stefanie Füssenich

Was willst du Kleine denn hier? Duhast doch gar keine Chance“,dachte sich Alexandra Mayereder,

als sie ihre Tochter zum ersten Mal sah.Vorihr,auf der Säuglingsstation des Ulmer Kran-kenhauses, lagen 1700 Gramm Mensch, vielzu wenig eigentlich,und hörten einfach nichtauf zu leben.Alexandras Baby hatte eine Le-benserwartung von null Jahren, null Mona-ten und null Tagen. Die Diagnose: Hydro-encephalitis.Daraus resultiert,was der Volks-mund Wasserkopf nennt. Ein Blutpropfenhatte die Entwicklung des Großhirns ver-hindert. Im sechsten Schwangerschaftsmonathatten Augsburger Ärzte Alexandra gesagt,dass ihr Mädchen höchstwahrscheinlichaußerhalb des Mutterleibes nicht lebensfähigsein werde, dass der Geburtstag des Kindesauch sein Todestag werden würde. Sie rietenzu einem Schwangerschaftsabbruch undschlugen vor, das Ungeborene mit einer Ka-liumspritze durch die Nabelschnur zu töten.Kalium lähmt die Muskeln,auch die des Her-zens. Alexandra war verwirrt:Wieso töten,wenn ihr Kleines doch sowieso sterben wür-de? Und was hieß eigentlich wahrscheinlich?Nein, sagte sie sich, so nicht, und den Ärztensagte sie, dass ihre Tochter selbst entscheidensolle, ob sie leben will.Das winzige Mädchen kam also auf die Welt– und atmete.Die Ärzte sagten, ihr Herz wer-de höchstens noch ein paar Tage schlagen.Ein Arzt riet,das Kind erfrieren zu lassen,dassei der leichtere Tod.Alexandra hörte ihnennicht mehr zu. Sie hatte ihre Entscheidunglängst getroffen. Sie nannte ihr MädchenQuirina: die Kriegerische, die Kämpferin.Dann nahm sie Rinchen mit nach Hause.„Wir beide haben nicht aufgegeben, gell?“,sagt Alexandra mit leiser Stimme und küsstihre Tochter auf die Stirn.Die zierliche,heu-te 24-jährige Mutter sitzt in einem Zimmerder „Wiege“, eines Heims für behinderteKinder in Odelzhausen bei München. Dortwerden sie am 17.Dezember Rinchens zwei-

ten Geburtstag feiern. Das Mädchen istschwerstbehindert, ein nicht sichtbarerSchlauch transportiert Wasser aus ihrem Kopfin den Bauch. Ein anderer Schlauch führtdurch die Nase in den Magen,weil Rinchennicht genügend trinken kann. Der Schlauchist mit einem Pflaster in Herzform an derBacke festgeklebt.„Manchmal ist es ein Wol-kenpflaster,das sieht auch süß aus“, sagt Alex-

andra, sie lächelt dabei, während Rinchenskleine Hände nach ihren Daumen greifen.Rinchen wird nie sitzen, stehen, reden oderbewusst handeln können.Aber sie freut sich,wenn sie gestreichelt wird, sie lacht, wennman sie kitzelt,und sie schreit,wenn sie Hun-ger hat. Rinchen lebt, das ist die Leistung.„Die Kleine hat jetzt schon mehr geschafft alsich“, sagt Alexandra.Dann wischt sie sich dieFinger an der Hose trocken. Sie hat das Was-ser verschüttet, das für Rinchen bestimmtwar. „Guck, war die Mama wieder unge-schickt“, flüstert sie ihr ins Ohr.Anfangs hatte Alexandra ihr Kind bei sich.Sie packte es warm ein,weil es seine Tempe-ratur nicht halten konnte. Sie fütterte es jedeStunde,weil Rinchen nur vier bis fünf Milli-liter auf einmal schaffte. Sie stritt mit derKrankenkasse um Therapieleistungen für dasBaby, sie brachte es zu Ärzten, in Tagesstätten,zur Physiotherapie oder ins Krankenhaus,wenn es wieder operiert werden musste.

Alexandra war völlig überfordert. „Aber ichhabe jeden Tag gesehen, wie meine Kleinekämpft, das hat mir Kraft gegeben.“ DieKraft,die all die anderen ihr nicht geben woll-ten: der Vater, der die Vaterschaft bestritt undseiner Tochter, die er nur einmal sah, derzeitrund 3000 Euro Alimente schuldet,und Alex-andras Eltern, die ihr erstes Enkelkind, dasdoch sowieso bald tot sein würde, zunächstnicht lieb haben konnten.Trotzdem war klar,dass die junge Mutter die-se Anstrengungen irgendwann nicht mehrbewältigen könnte. Nicht allein und nicht,ohne ihre eigene Zukunft vollkommen zuopfern. Die Alternative war die „Wiege“.Dort bekommt Rinchen Ergo- und Physio-therapie gegen ihre Spastiken,dort sind rundum die Uhr Krankenschwestern vor Ort unddort kommt jede Woche ein Arzt zur Visitevorbei. Anfangs wollte Alexandra ihr Mäd-chen nur für kurze Zeit in die „Wiege“ ge-ben,aber als sie sah,dass es Rinchen dort bes-ser ging und die Spastiken weniger wurden,entschied sie, dass die „Wiege“ ein guter Ortsei, um den Kampf fortzusetzen: „Für uns istes kein Heim, sondern ein Zuhause.“Seither hat Alexandra auch Zeit für anderes,für sich, für ihre Ausbildung zur Fremdspra-chenkorrespondentin und für ihren Freund,mit dem sie seit einem Jahr zusammen ist.Den hätte Alexandra fast wieder wegge-schickt,weil sie dachte, neben Rinchen habeniemand mehr Platz in ihrem Herzen.So ein-geschworen war das Kämpferpaar schon.Alexandra hat sich einen Tunnelblick antrai-niert, mit dem sie durchs Leben geht. Sieignoriert alle Prognosen und Diagnosen undall die Menschen,die sie nicht verstehen wol-len. „Eine Mutter gibt ihr Kind nicht insHeim“,hörte sie von einer Sozialpädagogin;„das ist lebensunwertes Leben“,kürzlich voneiner Ärztin.„Bei solchen Sprüchen höre ichweg“, sagt Alexandra und lächelt. Sie ver-schleudert ihre Kraft nicht sinnlos.Sie brauchtjedes bisschen davon.

Alexandra ignoriert allePrognosen und Diagnosenund all die Menschen, diesie nicht verstehen wollen.„Das ist lebensunwertes Leben“, hörte sie kürzlichvon einer Ärztin.

Das Wunschkind

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GRUNDEINSTELLUNG

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„MORAL KANN MAN LERNEN“

Der Tübinger Philosophieprofessor Otfried Höffe weiß auch, wie das geht.Interview: Julia Decker

Herr Höffe, wir hätten von Ihnen gerneinen Schnellkurs „Moral für Nicht-Philosophen“.Was ist Moral? Ein Fremdwort. Es kommt von dem lateini-schen Wort „mores“ und heißt übersetzt „Sit-ten“ und „Gebräuche“. Die Moral beschäf-tigt sich mit Grundannahmen im Verhaltender Menschen zu Mitmenschen und zur Na-tur und ist keinesfalls auf Fragen der Sexua-lität beschränkt. In dem so genannten kriti-schen Sinn beschreibt der Begriff Moral,wieetwas vernünftigerweise gilt oder gelten soll.Der positive Begriff Moral dagegen be-schreibt,welche Sitten ein einzelner Menschoder eine Gesellschaft befolgt.Erleichtert die Moral das Leben?In vielen Fällen schon.Der antike Moralphi-losoph Platon hat im Gespräch mit seinemFreund Sokrates gesagt:Dem Gerechten – al-so dem rechtschaffenen oder, wie wir heutesagen: dem moralischen Menschen – geht esviel besser als dem Ungerechten.Weil er vonden Menschen geachtet wird, an denen ihmetwas liegt, eben weil er sich selber achtenkann.Kann man Moral lernen?Sicherlich. Und zwar jeder Mensch. ZumBeispiel kann man Rechtschaffenheit oderRücksichtnahme lernen. Aristoteles, nebenKant einer der größten Moralphilosophen,legt sehr viel Wert darauf,dass man Moral ler-nen kann und lernen muss.Und wie genau lernt man Moral?Durch Einüben, Gewöhnung. Indem man

für die Dinge,die man richtig tut,gelobt undfür die falschen getadelt wird.Und vielleichtempfindet man sogar Reue für die falschen.Aristoteles sagt:Gerecht wird man durch ge-rechtes Handeln, tapfer durch tapferes Han-deln. Das heißt: Eine moralische Einstellungbekommt man durchs Einüben.Der Mensch ist also nicht von Geburt anmoralisch?Kinder sind ziemlich früh und ziemlich sichermoralisch.In der Pubertät beginnen sie dann,manche Moral in Frage zu stellen. Und alsErwachsene denken sich die Menschenschließlich Entschuldigungen aus, warum sie unter den gegebenen Umständen einmalnicht moralisch handeln.Aber angeboren istdie Moral nicht.Moral hat etwas mit Intelli-genz zu tun.Schließt Dummheit dann moralischesHandeln aus?Dummheit ist vieldeutig. Jemand kanngrundehrlich sein und manchmal wird mansagen: Das war aber dumm, wie ehrlich derwar.Wenn man aber mit Dummheit meint,dass jemandem jede Art von kognitiven Fä-higkeiten abgeht,also wenn jemand intellek-tuell schwerstbehindert ist, dann wird esschwierig, von Moral zu sprechen.Hat Moral mit Bildung zu tun?Wenn Bildung heißt, historische Daten undnaturwissenschaftliche Gesetze zu kennen,dann nicht.Wenn Bildung aber heißt, sich inder Welt zurechtzufinden und Beurteilungs-gesichtspunkte für ein gutes Leben zu haben,

dann schon. Bildung schließt die Möglich-keit ein, sich selbst zu ändern. Das ist einegute Voraussetzung,um moralisch zu handeln.Das klingt, als ob Lebenserfahrung mo-ralischer macht?Ja und nein. Lebenserfahrung verleitet dazu,dass man glaubt, gute Gründe zu haben, umsein unmoralisches Handeln zu entschuldi-gen. Die Lebenserfahrung kann aber auchzeigen,dass es sich mit einem schlechten Ge-wissen und der Missachtung der Mitmen-schen nicht gut lebt.Gleichzeitig erfährt manim Laufe des Lebens,dass man selbst – genauwie jeder andere Mensch auch – schwacheMomente hat.Deshalb wird man ein bisschennachsichtiger, mit anderen und sich selbst.Wird man weniger streng mit sich?Einerseits weniger streng, andererseits nochstrenger. Man schwächt nicht die Forderun-gen ab, die man an sich stellt, denn Morallässt sich nicht abschwächen.Aber man weißmit der Zeit, dass man fehlbar und verführ-bar ist. Darüber sollte man Scham empfin-den, einen neuen Anlauf unternehmen undsagen: Das nächste Mal mache ich es besser.Wer ist in einer Gesellschaft für die Mo-ral zuständig?In unserer demokratischen Gesellschaft: je-der mündige Bürger.Es gibt niemanden,derein Privileg hat, für die Moral zuständig zusein. Natürlich gibt es Institutionen wie dieKirche,die öfters nach der Moral gefragt wer-den, weil sie durch ihre Tradition eine ge-wisse Kompetenz mitbringen. Auch vonFo

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Schulen und Eltern erwartet man,dass sie fürdie Moral zuständig sind. Die Eltern müssengar nicht besonders viel von Moral verste-hen, ohnehin sind sie genauso gut, schlechtund fehlbar wie andere auch.Aber wer Men-schen in die Welt setzt, hilfsbedürftige undzunächst völlig unsichere Wesen, trägt dafürVerantwortung, dass diese Kinder nach undnach das lernen,was ein Mensch lernen soll.Und das wäre?Sein Leben eigenverantwortlich zu führen.Muss man auf Grund von gesellschaft-lichen Entwicklungen alle paar Jahr-zehnte neu über Moral reden?Man muss dauernd über Moral reden.Weil sich ständig etwas ändert, oder?Einen Grund habe ich schon genannt: DerMensch findet immer wieder Ausflüchte,nicht moralisch zu handeln. Daran ist auchdie Intelligenz schuld. Den Grundgedankenvon Moral kann man vereinfacht als goldeneRegel formulieren:Was du nicht willst, dassman dir tu, das füg auch keinem anderen zu.Diesen Gedanken finden wir in allen Kultu-ren seit vielen Jahrtausenden. Man brauchtkeine neue Moral, nur weil sich die Anwen-dungsbedingungen ändern.Welches Problem für die Moral bringtdie Globalisierung mit sich?Da fallen einem erst einmal wirtschaftlicheFragen ein. Aber wirtschaftliche Fragen hatman sich schon immer gestellt. Es kann zumBeispiel sein, dass mein Nachbar bettelarmist und ich weiß das. Seine Mutter liegt imSterben, die Kinder haben nichts zum An-ziehen und bekommen keine gute Schulaus-bildung. Durch die Globalisierung stellt sichgenau dieses Problem dar, nur in einer ganzanderen Größenordnung.Es klingt zwar ganzgut zu sagen, im Zeitalter der Globalisierungbrauchen wir eine neue Moral.Aber ich alsPhilosoph erlaube mir zu sagen:Wir brau-chen die gleiche alte Moral in ihrer ganzenStrenge und Anerkennung.Und wie sieht das konkret aus?Der Philosoph tut sich da leicht: Er beruftsich nur auf die allgemeine menschliche Ver-nunft,nicht auf eine besondere Tradition oderReligion.Wenn man heute im Zusammen-hang mit Globalisierung über Moral spricht,braucht man Werte, die von allen Menschenaller Kulturen anerkannt werden.Keine Kul-tur darf sich einbilden, sie wisse etwas besserals die anderen und müsse die anderen Kul-turen belehren.Erlaubt Armut unmoralisches Handeln?Ein Kölner Kardinal hat den hungerndenMenschen nach dem Krieg erlaubt, Kohle,

Kartoffeln und Wasser zu nehmen,auch wennes ihnen nicht gehört.Das ist eine extreme Si-tuation.Kurz vor dem Verhungern sein – dasist nicht das,was wir heute in den westlichenLändern unter Armut verstehen.Armut be-deutet hier, dass jemand beträchtlich weni-ger als der Durchschnitt hat.Dieses Weniger-Haben reicht als Argument nicht aus,um un-moralisches Handeln zu erlauben. Die Mo-ral verlangt vielmehr,dass sich diejenigen umdiese Armen kümmern,denen es besser geht.Kann man aus Mitleid moralisch han-deln?Ohne Zweifel.Mitleid ist eine der wichtigs-ten Antriebskräfte, moralisch zu handeln.Denken Sie an die Geschichte vom barm-herzigen Samariter: Der Samariter trifft aufeinen Menschen, dem es, von Räubern aus-geplündert, schlecht geht. Der Samariterdenkt: Das ist auch ein Mensch, dem muss

ich helfen. Er bringt ihn in die nächste Her-berge und gibt dem Wirt Geld, damit er sichum den Kranken kümmert. Interessant ist da-bei, dass er nicht all seine Geschäfte unter-bricht und Krankenpfleger wird. Er hat dieHilfe auf den Weg gebracht und das ist dasWichtigste.Welche Antriebskräfte für moralischesHandeln gibt es noch?Zu den stärksten gehört sicher die Nächs-tenliebe.Lassen Sie mich kurz etwas erklären:Es gibt zwei Gebiete der Moral. Einmal dieRechtsmoral. Dazu gehört: dass man nichtstiehlt, dass man niemanden umbringt, dassman davon ausgeht,dass alle Menschen gleichsind. Und dass man unvoreingenommen aufden anderen zugeht. Das zweite Gebiet derMoral geht über das Geschuldete hinaus. Sieheißt Tugendmoral oder verdienstliche Mo-ral.Mitleid gehört zur verdienstlichen Moral.Der Unterschied wird klar, wenn man sichüber die Folgen eines Verstoßes Gedanken

macht:Verstößt jemand gegen die verdienst-liche Moral, ist man enttäuscht, verstößt je-mand gegen die Rechtsmoral, ist manempört.Handle ich moralisch, wenn ich nurmeine eigenen Interessen verfolge?Die Moral verlangt, seine Interessen nicht mitallen Mitteln und Wegen zu verfolgen, oderdie eigenen Interessen rücksichtslos durch-zusetzen. Jeder darf versuchen, Karriere zumachen oder reich zu werden, aber ebennicht mit unmoralischen Mitteln. Nur dassagt erst mal die Moral.Aber wenn man siegenauer betrachtet, ist es natürlich noch einbisschen schwieriger: Platon und Aristoteleshaben das glückliche Leben als Ziel desmenschlichen Handelns bezeichnet.Sie mei-nen damit ein gelungenes Leben.Das schließtzum Beispiel Freigebigkeit ein.Oder Beson-nenheit. Oder Zivilcourage. Und vor allemGerechtigkeit.Schließen sich Individualität und Mo-ral dann aus?Keineswegs. Empirische Untersuchungenzeigen,dass viele Menschen,die in einem ho-hen Maß Wert auf Eigenheiten und Indivi-dualität legen,besonders moralisch und hilfs-bereit sind. Ein gutes Beispiel sind Gründervon kulturellen und sozialen Stiftungen.Viel-leicht leben sie nach dem Sprichwort: „Werreich stirbt, stirbt unehrenhaft.“ Jedenfallshaben sie oft durch das Verfolgen eigenerZiele viel Geld verdient, stiften es dann aberdem Gemeinwohl.Ist Moral tolerant?Toleranz gehört zu den wichtigsten Forde-rungen der Moral. Einerseits. Andererseits:Wenn die Moral als Moral gefordert ist undzum Beispiel sagt: Man darf nicht töten,undtrotzdem getötet wird, darf sie nicht tolerantsein.Der amerikanische Präsident George W.Bush sieht sich selber auf der guten Seite undmeint, gegen das Böse kämpfen zu müssen.Er betont, moralisch zu handeln. Politikerverwenden gern die Worte Moral und Ge-rechtigkeit, weil es Worte sind, in deren Na-men man Leidenschaften anstacheln und Zu-stimmung erheischen kann. Politiker solltensich vor der Gefahr der Selbstgerechtigkeithüten.Amerika wurde wegen der Religions-freiheit und im Namen der damals herr-schenden Aufklärung gegründet. Dazu ge-hörte ein gut geschultes Rechtsbewusstsein.Unter das Niveau von damals sollte man nichtzurückfallen.Wenn man sich auf die Moral beruftund Handlungen unterlässt, nur um janicht unmoralisch zu handeln – kann

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GRUNDEINSTELLUNG

„Jeder darf versuchen,

Karriere zu machenoder reich zu werden.Aber eben nicht mit

unmoralischenMitteln.“

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man es sich gemütlich machen undtrotzdem moralisch sein?Moral und Gemütlichkeit im Sinne von ei-nem Glas Rotwein und einem guten Fern-sehprogramm passen nicht zusammen. ZurMoral gehören Gebote und Verbote.Weg-schauen zum Beispiel ist unmoralisch undentlastet nicht.Trotzdem muss man nicht ein-schreiten, wenn man beobachtet, wie einealte Dame von einem Dutzend Jugendlicherverprügelt wird,weil es sein könnte,dass manselber verprügelt wird – auch wenn man da-mit rechnen muss, dass der Dame nicht ge-holfen wird. Sinnvoller ist es, nachzudenkenund gegebenenfalls angemessene Hilfe zuholen. Dort, wo man durch ein hohes Maßan Rechtschaffenheit zu Recht ein moralischgutes Gewissen hat, trifft das Sprichwort zu:Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekis-sen. Zu diesem Zweck muss man aber vielan sich arbeiten.Ist man ohne Moral, wenn man unmo-ralisch denkt?Wir sind alle verführbar, deshalb lässt es sichgar nicht ausschließen, dass wir auf falscheGedanken kommen.Wer aber unmoralischeGedanken mit Fleiß hegt und pflegt, fängtan,unmoralisch zu werden.Wer aber einfach

mal voller Wut denkt:„Ich will den am liebs-ten umbringen, so ungerecht fühle ich michbehandelt“,der ist von tatsächlichem unmo-ralischem Handeln noch meilenweit entfernt.Moral hilft also auf dem Weg zu einemzufriedenen und guten Leben. WelcheFrage nach dem richtigen Leben kanndie Moral nicht beantworten?Als Philosoph kann ich über Begriffe undGrundsätze reden. Was heißt ein richtigesoder gutes Leben? Was heißt Sinn des Le-bens? Auch:Nach welchen Grundsätzen führtman ein gutes oder sinnvolles Leben? Für einindividuelles Leben muss sich aber jederMensch selber entscheiden – und es auch sel-ber führen. Ein Gespräch mit guten Freun-den kann bei der Suche nach dem richtigenLeben helfen - ein Philosoph kann einem dieEntscheidung für das eine oder das anderenicht abnehmen.Was wird sich in Jahrzehnten als mora-lisch erweisen, was heute noch als un-moralisch empfunden wird?Ich kann nur meine Hoffnung aussprechen,dass vor allem in altorientalisch geprägtenKulturen die Gleichberechtigung von Mannund Frau eingeführt wird, ferner eine To-leranz gegenüber anderen Kulturen und die

Anerkennung anders denkender Menschen– selbst wenn man meint,deren Lebensweisemache nicht so glücklich wie die eigene.Macht moralisches Handeln glücklich?Es kommt darauf an, wie wir Glück verste-hen. Moral macht weder reicher noch ge-sünder. Sie schafft vielleicht manchmal An-erkennung bei anderen,muss es aber nicht. Inder Regel sorgt sie für Anerkennung vor sichselbst. Insofern ist die Moral für ein glück-liches Leben notwendig – aber nur fast.Dennes gibt auch Schufte und Bösewichte, dieglücklich sind.Ist das die gleiche Qualität von Glück?Wenn man unter Glück nicht nur das Sich-wohl-Fühlen versteht, sondern auch die Ach-tung durch andere, kann man sagen: DieseQualität von Glück erreicht der Schuft nicht.Aber vielleicht stört ihn das nicht.

Otfried Höffe, 62, ist Professor für Philoso-phie an der Universität Tübingen.Zum Wei-terlesen empfiehlt er seine Bücher Lexikonder Ethik und Lesebuch zur Ethik.

☞Auf www.fluter.de: Können wir Moral ler-nen,Teil 2. Professor Georg Lind im Interview.

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REGELKUNDE

ALLES GOTT ODER WAS?

Lügen und entscheiden, töten und verraten –ein bisschen Moralphilosophie.

Text: Susanne Klingner

Was ist ein gutes Leben? Wie schafft man es,ein gutes Leben zu führen? In der Antike be-gannen Philosophen darüber nachzudenken,wie das Leben in einer Gemeinschaft mehrsein könnte als nur ein funktionierendesMiteinander.Sie fragten sich,ob es dazu mo-ralische Regeln geben müsse und, wenn ja,wer diese Regeln aufstellen sollte.Bereits im4. Jahrhundert vor Christus entwickelten siezwei verschiedene Vorstellungen: Moral istobjektiv, also für alle Menschen und alleUmstände gültig – oder Moral ist subjektiv,sie gilt nur in einigen Kulturen und Situa-tionen. Beide Ansätze fanden im Laufe derJahrhunderte Anhänger, sie stehen sich in derMoralphilosophie noch heute gegenüber.

Objektive Moral

Sokrates, Platon und Aristoteles, die zwischen469 und 322 v.Chr. lebten – Aristoteles warPlatons Schüler, dessen Lehrer wiederum

Sokrates war –, vertraten die Position, denUnterschied zwischen Gut und Böse könn-ten nicht die Menschen festlegen. Um dasWahre erkennen zu können, sollten sie ihrenVerstand benutzen, der durch Wissen ge-schärft wird – für Sokrates ist Wissen derSchlüssel zum moralisch guten Leben. Ersagte: „Der Mensch handelt schlecht, wenner das Gute nicht weiß.“

Auch die Stoiker waren der Auffassung, esmüsse eine universale Wahrheit und so eineobjektive Moral geben, also eine Regel wie„Du sollst nicht lügen“,die uneingeschränktgilt.Aufgabe des menschlichen Verstandes seies, das Gute und Richtige zu erkennen. Einim stoischen Sinne moralisch guter Menschist,wer sein Schicksal akzeptiert und erträgt.Einer der wichtigsten Vertreter der spätenStoa war Epiktet (50-138 n. Chr.). SeineSchrift „Handbüchlein der Moral“, in demer über Sittlichkeit und Religiosität als mo-ralische Tugenden schreibt,hatte großen Ein-fluss auf das spätere Christentum.

Vor allem im Mittelalter wurde Moral alsetwas durch Gott Bestimmtes gesehen,Mo-ralvorstellungen wurden in erster Liniedurch die Religion vermittelt. Thomas vonAquin (1225-1274),Anhänger der aristote-lischen Philosophie,verfocht dessen Theorie,ein Mensch verhalte sich dann moralisch gut,wenn er eine Vernunftordnung einhält.Die-se Vernunftordnung ist durch einen göttli-chen Willen bestimmt, der einfach existiertund nicht ausgehandelt werden kann.

Diese Unverhandelbarkeit vertritt im 18.Jahrhundert auch Immanuel Kant (1724–1804), der bekannteste Moralphilosoph derModerne. Er vertrat eine radikale Vernunft-ethik und formulierte den kategorischenImperativ,der vereinfacht lautet:Handle im-mer so,wie du willst, dass es ein allgemeinesGesetz wird. Kant erklärt diese Forderungam Beispiel der Lüge, die er grundsätzlichablehnt. In seinem Beispiel versteckt sich je-mand bei einem Freund, auf der Flucht vorseinem Mörder. Wenn der Mörder den

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ARISTOTELES

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Freund fragt,ob er wisse,wo der Gejagte sei,muss der Freund die Wahrheit sagen.Kant be-gründet diese drastische Handlung damit,dass es keine Ausnahme von der Moral gebendürfe. Denn: Fängt einer an zu lügen, kannsich bald niemand mehr darauf verlassen,dassirgendjemand die Wahrheit sagt. Das müsseder vernunftbegabte Mensch erkennen.

Subjektive Moral

Im Gegensatz zu den Stoikern vertrat in derAntike Epikur (341-270 v.Chr.) die Position,es sei moralisch, lustbetont zu leben. Damitmeinte er ein Leben im Einklang mit sichund der Natur – für ihn die höchste Le-bensform. Da jeder selbst entdecken muss,wie er mit sich in Einklang kommt, ist Mo-ral seiner Meinung nach subjektiv.

Auch die Sophisten, zum Beispiel Protagoras(490-411 v.Chr.),betrachteten Moral als in-dividuell gestaltbar. Für sie ist eine Hand-lung gut,wenn man sie gut begründen kann.Die Sophisten waren im alten GriechenlandLehrer, die gegen Geld Rhetorik, Denkenund Auftreten lehrten. Philosophen wiePlaton,die nicht akzeptieren wollten,dass eingutes Leben lehrbar, also nicht von Gott ge-geben sein sollte, beschimpften die Sophis-ten als Relativisten und Wahrheitsverbieger.Die Idee einer subjektiven Moral wurde imLauf der Jahrhunderte von vielen Philoso-phen aufgegriffen und weiterentwickelt.

Während die Erkenntnistheoretiker Moralauf eine höhere Instanz zurückführen, su-chen die Subjektivisten nach Begründun-gen, warum sich Menschen moralische Regeln auferlegen sollten. Thomas Hobbes(1588–1679) begründete das Entstehen von Moralstandards mit dem Wunsch der Men-schen, in einer Gemeinschaft glücklich zu-sammenzuleben. Im Naturzustand, in dem„der Mensch dem Menschen ein Wolf“ sei,gebe es keinerlei Moral. Damit nicht jederjeden beraubt und mordet, schließen sichMenschen zu Staaten zusammen und schaf-fen moralische Regeln, die für alle Bürgerdieses Staates gelten. Diese Idee nennt dieMoralphilosophie Kontraktualismus. EinKontrakt kann ein tatsächlicher Vertrag sein– für alle Bürger gilt: Du darfst nicht lügen,sonst wirst du bestraft. Es kann aber auch ein „Vertrag“ im Sinne des „common sense“sein – man ist sich einig, dass man nicht lü-gen sollte.

Mitleidsethiker wie Arthur Schopenhauer(1788-1860) und Adam Smith (1723-1790)sehen im Mitleid den Ursprung für morali-sches Verhalten. Adam Smith glaubte, weildie Menschen Empathie empfinden kön-nen, würden sie zum Beispiel nicht stehlen.Sie wären sich bewusst, wie schrecklich derDiebstahl für den Bestohlenen sein kann.Das Problem einer Mitleidsethik ist aller-dings, dass die Menschen den Willen habenmüssen, sich in andere hineinzuversetzen.

Die Utilitaristen gingen noch einen Schrittweiter: Für sie ist eine Handlung moralisch gut,deren Folgen am meisten Gutes und am wenigsten Schlechtes bewirkt.Jeremy Bentham(1748-1832) brachte die Idee einer morali-schen Kosten-Nutzen-Rechnung auf, derÖkonom John Stuart Mill (1806–1873) ent-wickelte sie weiter. Bei solch einer Rech-

nung gewinnen die Umstände einer Situa-tion an Gewicht – daher beziehen sie zuKants Lügen-Beispiel ganz klar die Position,dass eine Lüge gerechtfertigt sei, weil derGejagte ansonsten sterben würde.

Daran knüpfen auch die Pragmatisten seitEnde des 19. Jahrhunderts an. Für sie sindMoralvorstellungen immer durch den„common sense“ geprägt, der je nach Kul-tur ganz unterschiedlich sein kann und auchnur so lange gilt, bis sich eine Gemeinschaftauf neue, bessere moralische Standards ei-nigt. Der amerikanische Philosoph RichardRorty (*1931), wichtigster Vertreter des Neo-Pragmatismus der Gegenwart, ergänztImmanuel Kant im Sinne des Pragmatismusdaher so:„Handle stets so,dass die Maximendeines Handelns ein allgemeines Gesetz wer-den können, aber finde dich ohne Groll da-mit ab, wenn daraus nichts wird.“

IMMANUEL KANT

THOMAS HOBBES RICHARD RORTY

ARTHUR SCHOPENHAUER

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EINZELZELLE

Damit Boris Greber seiner Arbeit nachgehen kann,müssen wenige Tage alte Embryos getötet werden.

Für Boris ist das kein Problem.Texte: Meredith Haaf Fotos: Chrisian Lesemann

REINE NERVENSACHE

Boris Greber zu überzeugen ist nichteinfach. „Das kann mir keiner er-zählen“, ist einer seiner Lieblingssät-

ze. „Bisher hat niemand geschafft, mir das zuerklären“, ein anderer.Argumente ohne Be-weise lässt der 29-Jährige nicht gelten. Borisarbeitet am Max-Planck-Institut für mole-kulare Genetik in Berlin. Der britische Mo-lekularbiologe James Adjaye ist sein Chef undleitet das Team Molekulare Embryologie,einevon nur 13 Gruppen in Deutschland,die mitembryonalen Stammzellen (ES-Zellen) vonMenschen arbeiten dürfen.Die geringe Anzahl hängt mit der Gesetzes-lage in Deutschland zusammen.Zur Herstel-lung von ES-Zellen müssen Embryonen imFrühstadium getötet werden. Nach Ansichtdes Gesetzgebers verletzt das die Würde desMenschen, ist somit verfassungswidrig undverboten.ES-Zellen enthalten voll entwick-lungsfähiges Erbgut, das macht sie für medi-zinische Erkenntnisse auf dem Gebiet vonErb- und Gewebekrankheiten wichtig. Umderartige Forschung in Deutschand nichtganz unmöglich zu machen, ist der ES-Zel-len-Import unter strengen Auflagen erlaubt.Die Zellen, die Boris seit ein paar Wochensorgsam kultiviert, kommen aus den USA.„Ich versuche herauszufinden,unter welchenBedingungen es ihnen am besten geht“,erklärt er und sein sonst eher lakonischer Ton-fall wird fast zärtlich.Was für den ungeübtenBetrachter selbst unter dem Mikroskop nachhellbraunen Flecken in Flüssigkeit aussieht,dazu hat Boris einen persönlichen Bezug.„Da steckt schon viel Gefühl mit drin“,meinter. Über dieses Gefühl ist er zu seinem Jobgekommen,als er an seiner Doktorarbeit mitES-Zellen von Mäusen arbeitete. „Wenn duviele Stunden damit verbringst, solche Em-bryonen unter dem Mikroskop zu beobach-te, packt es dich irgendwann einfach.“ Aller-dings bleibe eine Zelle eine Zelle. „Ob die

von einer Pflanze, einer Maus oder einemMenschen kommt, ist mir völlig egal. Ich binda eher leidenschaftslos“, sagt Boris.Ganz im Gegensatz zu den Menschen,die dasablehnen, was er macht. In seinem persönli-chen Umfeld habe ihn zwar noch niemandkritisiert. „Meine Mutter war anfangs nichtgerade erfreut darüber, dass ich Mäuse getö-tet habe. Ansonsten reagieren die Leutegrundsätzlich positiv auf das,was ich mache.“Andererseits bekommt sein Team immer wie-der vorwurfsvolle Post von Gegnern der em-bryonalen Stammzellenforschung.Boris kannderen Haltung nicht nachvollziehen. „Vieledieser Urteile basieren auf Unwissenheit.Wenn ich den Leuten mal so eine Blastozy-ste zeigen könnte, also einen etwa fünf Tagealten Embryo, kann mir keiner erzählen, erglaube immer noch,das sei schon ein Menschmit einer Seele.“Diese Frage steht im Zentrum der Debatte,die seit Jahren den Bundestag, den Nationa-len Ethikrat, Forscher und Feuilletonistenbeschäftigt. Für die katholische Kirche lautetdie Antwort: Das Leben und damit derMensch beginnt mit der Befruchtung. Borissagt: „Das hat sich doch jemand einfach aus-gedacht.“ Für ihn und den Großteil seinerKollegen ist die Antwort:Ein Embryo gilt fürsie als Mensch ab dem Zeitpunkt,an dem sichdie befruchtete Eizelle in die Gebärmuttereinnistet, ab dann entwickelt der Fötus Ner-venzellen.„Das sind menschliche Merkmale,darüber muss man nicht diskutieren. Keinerkann mir erklären, dass eine befruchtete Ei-zelle ein vollwertiger Mensch sei.“Das eine ist für Boris eben ein Beweis, dasandere eine Interpretation. Die Diskussionwerde in Deutschland einerseits von religiö-sen Dogmen und andererseits zu stark vonden Alten dominiert, darin sieht er ein Pro-blem für seine Wissenschaft und den Fort-schritt im Allgemeinen.„Der Nationale Ethi-

krat ist fast ausschließlich mit Menschen überfünfzig Jahren besetzt und hat eine Theolo-genquote – warum gibt es keine Quote jungerMenschen? Das sind doch diejenigen, derenZukunft dort entschieden wird.“ Für ihn sindes die Möglichkeiten, die seiner Generationals Wissenschaftler und als Menschen versagtwerden, die ihn ärgern. So schwankt er zwi-schen Frustration und Begeisterung,wenn ervon einem Forschungsaufenthalt am Roslin-Institut bei Edinburgh erzählt, Heimat desberühmten Klonschafs Dolly. „Da sind esDutzende, die mit ES-Zellen forschen“, er-zählt er. „Mehrere Gruppen an einem Insti-tut,mit denen man permanent zusammenar-beiten und sich austauschen kann. Hier sindwir am gesamten Institut zu dritt.“ Mit hu-manen ES-Zellen arbeiten in Deutschlandetwa hundert Wissenschaftler. Die könnenmit der Regelung meist besser leben als Bo-ris.Stammzellen-Koryphäe Hans Schöler vonder Uni Münster betont immer wieder, dasssich mit dem rechtlichen Rahmen gut arbei-ten lasse. Einzig die so genannte Stichtagsre-gelung, nach der importierte Stammzellenvon Embryonen abstammen müssen, die vordem 1. Januar 2002 gezeugt wurden, stehternsthaft in der Kritik.Boris reicht das nicht. „Diese ganzen Be-schränkungen sind doch Wahnsinn.Die müs-sen weg.“ Wenn die Gesetze nicht gehen,wird er es tun. „Ich hätte kein Problem da-mit, in ein hippes Labor in Großbritannien,Skandinavien oder den USA zu gehen.“ Sowie es immer mehr seiner Kollegen machen.In anderen Ländern werde weniger herum-geredet. „Ich finde es in Ordnung, dass überdiese Dinge diskutiert wird.So ein Gesprächist ja immer interessant.Aber sobald so eineDebatte den Fortschritt und die Forschungbehindert, ist sie meiner Meinung nach über-flüssig.“ Wer Boris vom Gegenteil überzeu-gen will, wird es ihm beweisen müssen.

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Links: Boris Greber bei der Entnahme von eingefrorenen Zellen aus einem Flüssigstickstofftank. Rechts: Roboter aus der Hochdurchsatzabteilung.

Stammzellen sind die Vorläufer aller Körperzellen. Zwei Fähigkeiten

machen sie für die Forschung wichtig: Sie bilden durch Teilung spe-

zialisierte Zellen, das heißt, aus ihnen lässt sich organisches Gewebe

züchten. Sie erneuern sich – im Gegensatz zu normalen Körperzellen –

immer wieder selbst. Forscher hoffen, aus ihnen Ersatzzellen für Men-

schen mit Krankheiten wie Parkinson, Diabetes oder Herzschwäche

gewinnen zu können. Jeder Körper enthält Stammzellen, für die For-

schung besonders attraktiv sind allerdings die embryonalen Stamm-

zellen (ES-Zellen). Sie lassen sich auch in vitro, also in der Kulturscha-

le, vielfältiger und unbegrenzt weiter vermehren. 1981 wurden erst-

mals ES-Zellen schottischer Mäuse isoliert. Die ersten menschlichen

ES-Zellen gewann James Thomson 1998 an der Universität Wisconsin.

Das Verfahren dafür ist höchst umstritten, da der Embryo nach fünf bis

sechs Tagen zerstört und anschließend entkernt wird, um an die ES-Zel-

len zu gelangen.

Rechtslage in DeutschlandSeit 1991 gilt das Embryonenschutzgesetz (EschG).Ein Embryo darfin Deutschland ausschließlich zum Zweck einer Schwangerschaft ge-zeugt und eingesetzt werden.Auch die Manipulation des menschli-

chen Erbguts ist verboten, genau wie das Klonen von Menschen zureproduktiven oder therapeutischen Zwecken. Das Stammzellgesetz(StZG) von 2002 versucht den Schutz des Embryos mit der For-schungsfreiheit zu vereinen.Es erlaubt den Import menschlicher ES-Zellen, sofern diese vor dem 1. Januar 2002 gewonnen wurden.Ver-wendet werden dürfen sie nur für „hochrangige Forschungsziele“ inder Grundlagenforschung und der Medizin, die Herkunft der Zel-len unterliegt strengen Auflagen. Deutsche Forscher benötigen eineGenehmigung vom Robert-Koch-Institut,um mit ES-Zellen arbei-ten zu dürfen.Die Zentrale Ethik-Kommission für Stammzellenfor-schung überprüft alle Anträge und spricht daraufhin eine Empfeh-lung aus. Derzeit dürfen 13 Gruppen in Deutschland mit embryo-nalen Stammzellen arbeiten. Sowohl Befürworter als auch Gegnerder Forschung mit ES-Zellen halten das StZG für einen ungenü-genden Kompromiss. Im Zentrum ihrer Debatte steht die Frage nachder Schutzwürdigkeit des Embryos. Setzt man den Zeitpunkt derMenschwerdung mit der Befruchtung gleich, ist die Erzeugung undvorsätzliche Tötung eines Embryos zu Forschungszwecken moralischunzulässig, da man ihn seines Rechts auf freie Entwicklung beraubt.Für Befürworter der Stammzellenforschung setzt die Schutzwürdig-

STAMMZELLEN – STAND DER DINGE

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keit des Embryos als Mensch frühestens ab dem 12.Tag nach der Be-fruchtung ein. Sie halten Stammzellenforschung für geboten – umMenschen zu heilen oder am Leben zu erhalten. Sollte die Geset-zeslage dies nicht ermöglichen, geht die Zentrale Ethik-Kommissi-on in ihrem letzten Bericht davon aus, dass „erneuter wissenschaft-licher und ethisch-rechtlicher Diskussionsbedarf“ entstehen und ei-ne Gesetzesänderung unter Umständen notwendig werden könnte.

Rechtslage internationalEs gibt kein international verbindliches Regelwerk zur Forschungan embryonalen Stammzellen.Die Generalkonferenz der UNESCOveröffentlichte 1997 die „Allgemeine Erklärung über das menschli-che Genom und die Menschenrechte“.Diese befasst sich mit Eigen-schaften und Schutz des menschlichen Genmaterials. Ausdrücklichverboten wird nur das reproduktive Klonen von Menschen. JederStaat hat die Aufgabe, „Rahmenbedingungen für die freie Ausübungder Forschung am menschlichen Genom“ zu schaffen und zu kon-trollieren,dass dabei ethische und rechtliche Grundsätze eingehaltenwerden.Auch im ersten„Übereinkommen über Menschenrechte undBiomedizin“ des Europarats von 1997 werden keine Regeln für dieStammzellforschung festgeschrieben. Nur die Erzeugung menschli-cher Embryonen zu reinen Forschungszwecken ist verboten. In derEuropäischen Union wird derzeit vor allem diskutiert, ob verbrau-

chende Embryonenforschung mit öffentlichen Mitteln gefördert wer-den soll. Einige Mitgliedsstaaten, darunter Deutschland, lehnen diesab, da die Forschung nicht im gesamten EU-Gebiet erlaubt ist.

Was woanders passiertTiermediziner Woo Suk Hwang aus Südkorea klonte 2004 als Erstereinen menschlichen Embryo, um daraus Stammzellen zu gewinnen.Vor kurzem gelang es ihm,ES-Zellen zu produzieren,denen das Erb-gut von schwerkranken Patienten eingesetzt worden war. Im Okto-ber 2005 eröffnete er die erste Stammzellenbank der Welt,die „WorldStem Cell Foundation“. Deutsche Forscher dürfen deren Angebotenicht nutzen. Ende November musste er von allen öffentlichen Äm-tern zurücktreten,weil er zugeben musste,Eizellenspenden von Mit-arbeiterinnen angenommen zu haben. In England haben es Wissen-schaftler 2005 geschafft,unreife Spermien aus ES-Zellen zu züchten.Sie hoffen, bald auch künstliche Eizellen herstellen zu können. Sokönnte es in zehn Jahren möglich werden, dass beispielsweise zweiMänner ein gemeinsames Kind bekommen,ohne dass die Eizelle ei-ner Spenderin benötigt wird. Im belgischen ReproduktionszentrumBrüssel sind 2005 durch künstliche Befruchtung erstmals Babys mitausgewähltem Genmaterial zur Welt gekommen.

☞Auf www.fluter.de:Wann beginnt das Leben? Ist Sterbehilfe richtig?Der Nationale Ethikrat versucht,Antworten zu finden.

Links: Kultur mit embryonalen Stammzellen, hundert-fach vergrößert. Die großen Objekte sind Kolonien derembryonalen Stammzellen, jede Kolonie besteht ausmehreren Hundert Zellen. Rechts: Kulturschale mit embryonalen Stammzellen

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HAUSAUFGABEN:WAHRHEIT UND EHRE

An einer amerikanischen Highschool können ganz andere Regeln geltenals an einer deutschen Schule. Zumindest unter der Woche.

Text: Lisi Wasmer

Ich verbringe die elfte Klasse in der Portsmouth AbbeySchool, Rhode Island, einem katholischen Internat. Hierkann man schön leben – solange man anständig bleibt.Das macht einem die Schulverwaltung schnell klar.Nach-dem ich mich beworben hatte,kam gleich zusammen mitder Zusage das Students’ Handbook mit einer Notiz: Essei sehr wichtig, das zu lesen und den Inhalt auch im Ge-dächtnis zu behalten. Der Inhalt: Schulregeln. Zuerst dieKleiderordnung,allgemeine Regeln wie Lernzeiten,dannzehn Seiten über Wahrheit und Ehre.Manche hier hätten das Handbuch vielleicht genauer le-sen sollen.Wie Simon, der acht Strafstunden in der Cafe-teria abzuarbeiten hat,weil er sich beim Rauchen auf demschuleigenen Tennisplatz hat erwischen lassen.Alle seineFreunde werden ihn auslachen oder zumindest einenschlechten Witz reißen, wenn sie ihn sehen. Oder Leah.Sie hat Campusarrest und muss Sozialstunden machen,weil sie einen Pullover gestohlen hat.Natürlich gab es schon Schlimmeres:Vor vierJahren hat jemand zwei Schüler beim Sexunter der Treppe im Schulhaus gefilmt unddas Video ins Internet gestellt.Schulverweis,klar.Die Lehrer sagen, es war skandalös.DieSchüler finden es lächerlich.Schüler,die ge-gen Schulregeln verstoßen, sind allerdingsnicht gerade beliebt.Als ich einmal Är-ger mit der Schulverwaltung hatte,weil ichmeine Matheklasse geschwänzt hatte, habe ichvon meinen Mitschülern manch bösen Blickzugeworfen bekommen. Ganz schlimm er-wischt es diejenigen, die abschreiben. Nichtnur, dass auf jedem Test eine kleine Zeile fürdie Ehrenunterschrift steht,mit der man ver-spricht, den Test ganz allein und ohne jeg-liche Form von Betrug bestritten zu haben;wer abschreibt, wird verpetzt und meis-

tens von der Schule geworfen. Für solche Fälle hat dieSchule ihren hauseigenen Zerberus, der über die Schul-ordnung und deren Einhaltung wacht: ein Riese,Trainerder Männer-Basketballauswahlmannschaft.Man kann nurhoffen, dass man nicht eines Tages in sein Büro gebetenwird.Von außen wirkt die Abbey wie das Musterbeispiel einerakademischen Einrichtung, besucht von jungen, aufstre-benden, frommen, keuschen Schülern. In der Tat zahleneinige Eltern viel Geld, um ihre ungehorsamen Kinder,bisweilen gegen deren Willen, für ein Jahr oder längerhierher zu schicken,weil sie glauben,dass ihnen hier Dis-ziplin und Respekt vermitteln werden. Meine Zimmer-nachbarin ist hier,weil sie zweimal von zu Hause wegge-laufen ist. Und im Footballteam ist ein Junge, der Proble-me mit Drogen hatte. Die einzige Regel, die sich dieSchüler selbst gesetzt haben, lautet:Nicht erwischen lassen.

Außerdem weiß jeder,dass die Wochenenden die bes-te Möglichkeit für Zigaretten,Alkohol und Sex

bieten.Wer will, kann sich also nach Lustund Laune vom braven Alltag erholen, umeinen Tag später wieder den artigen Schüler

zu mimen, respektvoll, diszipliniert, denKopf ständig in den Büchern – undin Gedanken vielleicht schon wiederbeim nächsten Wochenende.

Vielleicht ist es aber gar nicht soschlecht,dass ich hier zum Anstand „ge-zwungen“ werde, dann hätte mich dieSchule doch tatsächlich was für das Le-ben gelehrt.Aber die Lehrer in meinerSchule in Deutschland muss ich in ei-nem enttäuschen:Wenn mich jemandin einer Klausur um Rat fragen wirdoder ich jemanden spicken sehe, werdeich ihn sicher nicht verpetzen.

Lisi Wasmer, 17,derzeit in den USA

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REINIGUNGSKRAFT

„DERWESTEN

IST NICHT

DAS ZIEL“

New York, Bali, Djerba, London – westliche Ziele oder Touristen sind häufiges Ziel islamistisch

motivierter Terroranschläge.Warum eigentlich? Ian Buruma,Historiker und Kulturanalytiker,

hat ein paar Antworten.

Interview: Dirk Schönlebe Fotos: Christian Lesemann

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Herr Buruma, islamische Terroristenrechtfertigen Anschläge gegen westlicheZiele auch damit, dass der Westen un-moralisch und verkommen sei.Was wer-fen sie dem Westen konkret vor?Für die Terroristen ist der Westen ein Hortder Sünde, gottlos, seelenlos, materialistisch,sexuell zügellos.Warum? Weil wir im Westennicht ein Leben reinen Glaubens leben.Wirleben deren Ansicht nach für materielle Din-ge,wie Maschinen.Wir sind korrupt,wir sindBarbaren.Wir leben,um reich zu werden,umein angenehmes Leben zu haben.Ein angenehmes Leben führen zu wol-len ist also ein moralisches Problem?Für jemanden, der für den Glauben lebt, fürdie Unterwerfung unter Allah und für die An-betung von Allah, ist das ein Problem. DerHauptvorwurf islamischer Extremisten ist un-sere religiöse Ignoranz. Sie nennen das Jahi-liyya. Jahiliyya bezeichnete ursprünglich dieZeit in der arabischen Welt vor der Ankunftdes Propheten Mohammed,als die Menschennoch verschiedene Götter und Götzen an-beteten. Sie lebten in Unwissenheit,weil derProphet noch nicht geboren war.Heute wirdes noch schärfer gebraucht, denn es gibt jakeine Entschuldigung für Ignoranz mehr,derProphet wurde ja schon vor Jahrhunderten

geboren.Menschen die heute nicht nach dempuren Islam leben, sind also nicht nur igno-rant, sie sind barbarisch.Wir haben in denAugen der Extremisten keine Seele.Wäre es in Ordnung, wir würden striktnach christlich-religiösen Grundsätzenleben, zum Beispiel nach der katholi-schen Morallehre?Nein.Wir haben es mit einer revolutionärenBewegung zu tun, die ein Ziel hat: reine is-lamische Staaten,vor allem im Nahen Osten.Es ist also ziemlich irrelevant, ob die Men-schen im Westen wieder zu gläubigen Chris-ten werden. Solange die Extremisten nichtihre rein islamischen Staaten haben,wird dieRevolution weitergehen.Und wie lange?Das erste Ziel sind rein islamische Staaten imNahen Osten.Am Ende vielleicht der Islamauf der ganzen Welt.Aber es ist wichtig, ei-nes zu verstehen: Der Westen ist eigentlichgar nicht das Ziel dieser Moralkritik.Sondern?Die Vorwürfe der Extremisten richten sichgegen die säkularen Regime des NahenOstens. Sie halten den Westen vor allem des-halb für barbarisch, weil der Westen die kor-rupten säkularen Regime des Nahen Ostensunterstützt, die korrupten Eliten dort. Der

Hauptkonflikt spielt sich im Inneren der is-lamischen Welt ab. Zwischen denen, die denIslam mit mehr oder weniger säkularen de-mokratischen Institutionen vereinen möch-ten, und denen, die einfach einen rein isla-mischen Staat wollen.Die Anschläge vom 11. September 2001in New York richteten sich gar nicht ge-gen den Westen?Noch mal: Wir haben es mit einer revolu-tionären Bewegung zu tun.Wie jede revolu-tionäre Bewegung braucht auch diese Pro-paganda,um Anhänger zu gewinnen.Die An-schläge waren Propaganda. Grausam, abergroßartig für ihre Zwecke. Es waren symbo-lische Ziele,wie der Westen symbolisches Zielund Stellvertreter in einem Kampf ist,der imInneren des Islam stattfindet.Warum ist der Moralvorwurf an denWesten so populär?Die meisten Regierungen in arabischen Län-dern sind keine islamischen Regierungen, essind säkulare Regierungen; Monarchien,Polizeistaaten – unterstützt vom Westen. Jun-ge Leute,die sich in diesen Polizeistaaten un-terdrückt fühlen, haben keine Möglichkeit,ihre Frustration politisch zum Ausdruck zubringen.Also suchen sie sich ein anderes Feldzur Rebellion – die Religion.Besonders gut

„Wir haben in den Augen der Terroristen keine Seele.“

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wirkt die Propaganda seit der amerikanischenInvasion des Irak. Denn jetzt sieht es für vie-le Menschen in der islamischen Welt so aus,als ob der Westen sich im Krieg mit dem Islam befindet. Und das ist genau das, was Al-Qaida will, dass die Menschen glauben.Aber gerade die jungen Leute benutzendoch westliche Technologien, bewun-dern westliche Filmstars.Ja, natürlich.Aber es ist eine religiöse Rebel-lion und diejenigen, die rebellieren, verdam-men all das. Zum Teil gespeist aus politischerUnterdrückung,zum Teil aus Frustration:Siehätten gern mehr von diesen Dingen.Aber eshat etwas von einer Doppelmoral.In was für einer Gesellschaft wollen dieExtremisten leben?In einer liberalen Demokratie ist die Idee vonGesellschaft:Wir leben in einem Staat zu-sammen,der Staat besteht aus Individuen, je-der hat Rechte, jeder kann hart arbeiten fürsein eigenes Fortkommen, es ist einfach eineGesellschaft von Individuen. Da gibt es im-mer Interessenkonflikte, die friedlich ausge-fochten und dann geregelt werden,durch po-litische Debatten zum Beispiel.Die Extremis-ten haben eine andere Vorstellung von Ge-sellschaft, die näher an der klassischen deut-schen romantischen Idee einer Gemeinschaft

ist – Gemeinschaft statt Gesellschaft.Dort gibtes einen gemeinsamen Willen, alle glaubenan das Gleiche,es herrscht Harmonie,weil esja keinen Konflikt gibt,wenn alle an die glei-che Idee glauben, alle sind vereint in der Ver-ehrung eines Gottes oder eines Führers.Woher kommt diese Vorstellung?Es ist ein Phänomen der menschlichen Ge-schichte,dass man Gemeinschaften hat,Men-schen, die an Reinheit glauben, und Men-schen,die vermeintlich unrein sind,korrupt,seelenlos. Die Reinheit kann Reinheit desGlaubens sein, Reinheit der Rasse, was auchimmer. Das gab es schon bei den Griechen:Die hielten jeden, der außerhalb ihrer grie-chischen Welt lebte, für einen Barbaren.Die Vorstellung ist also nicht exklusivim Islam angelegt?Nein,das ist in keiner Kultur speziell angelegt.Wie kann der Westen sein unmoralischesImage verbessern?Der Westen sollte sich deutlicher von den sä-kularen Diktaturen des Nahen Ostens dis-tanzieren und nicht einfach fortfahren, mitihnen Geschäfte zu machen.Denn genau dashinterlässt im Nahen Osten den Eindruck,der Westen habe eine Doppelmoral: Einer-seits reden wir über Demokratie und Frei-heit, andererseits machen wir Geschäfte mit

Diktatoren. Das Problem ist, dass es da inWahrheit nicht sehr viel Spielraum gibt fürden Westen,weil der Westen zugleich nicht zusehr in die Politik dieser Länder eingreifensollte.Das andere:Eine Hauptrekrutierungs-quelle des Extremismus ist in den westlichenLändern selbst zu finden – die schlechte Si-tuation der zweiten und dritten Einwande-rergeneration. Da kann vor allem in Europanoch viel getan werden, um zum BeispielKindern von Immigranten zu verstehen zugeben,dass sie als vollwertige Bürger angese-hen werden, und man ihnen nicht das Ge-fühl gibt, sie seien Außenseiter.Das würde esweniger wahrscheinlich machen, dass sichdiese Leute dem radikalen Islam anschließen.Wer wird den Konflikt innerhalb des Is-lam für sich entscheiden können?Auf lange Sicht wohl die Säkularen. Es istschwer vorstellbar, dass eine Mehrheit derMuslime nach den Standards der reinen Leh-re leben möchte.Die Idee einer Gesellschaft,die auf dem reinen Islam basiert, ist eine Uto-pie.Auf kurze Sicht können die Extremistenaber eine Menge Schaden anrichten.

Buch: Ian Buruma,Avishai Margalit: Okziden-talismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde.München, 2005.

„Die Idee einer Gesellschaft, die auf dem reinen Islam basiert, ist eine Utopie.“

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HOCHZEITSGESCHENK

Wer jemanden wegen einer Aufenthaltsgenehmigung heiratet, macht sich strafbar. So wie Bernd.Textcollage: Max Scharnigg Foto: Christian Lesemann

Ich habe Fatima über ihren Bruder ken-nen gelernt. Mit ihren Verwandten warich schon länger in Kontakt; die wussten

auch,dass ich prinzipiell zur Schutzheirat be-reit bin.Wir haben dann länger darüber ge-sprochen und die Vorteile lagen auf der Hand:Fatima war noch im Asylverfahren, in ersterInstanz abgelehnt, mit der vagen Möglich-keit, vor Gericht noch einen Status zu be-kommen.Das war aber sehr unsicher, es hätteewig dauern können.Fatima war zu der Zeitpsychisch sehr angeschlagen,musste in einemziemlich beschissenen Wohnheim wohnen,durfte erst gar nicht arbeiten und dann nurnach der so genannten „Bevorrechtigungs-regelung“, wo man allenfalls die beschis-sensten Jobs bekommt.Die Heirat war für sieder einzige Lichtblick.Ich beschäftige mich seit einigen Jahren mitAntirassismus und bekomme auch immerwieder mit,wie Leute abgeschoben oder aus-gewiesen werden. Schutzheirat war deshalbimmer eine notwendige und berechtigte Op-tion für mich. Ich sehe darin auch eine Mög-lichkeit, Privilegien, die ich mit meinemdeutschen Pass habe, weiterzugeben bezie-hungsweise sinnvoll zu nutzen.Weil wir unsüber ihren Bruder kannten, hatte sie Ver-trauen, dass ich mich fair verhalte.Abhängigwar sie natürlich,aber die Situation war dochsehr geklärt und irgendwie auch kontrolliert,auch weil wir mit verschiedenen Freundenund Freundinnen darüber geredet haben.DieFrage der Abhängigkeit ist damit aber nichtganz beantwortet. Eindeutig ist die Personmit deutschem Pass immer in der Lage,durch einen Scheidungsantrag den Aufenthalt unddamit oft ja die ganze Existenz der/des an-deren platzen zu lassen.Wir hatten uns auf die Heirat gut vorberei-tet, eine Menge Informationen gesammeltund mit Leuten gesprochen, die schon Er-

fahrungen hatten. So wussten wir, dass wirzunächst den Anfangsverdacht zerstreuenmüssen, indem wir immer zusammen undmöglichst selbstbewusst im Standesamt undbei der Ausländerbehörde auftreten, ganzselbstverständlich als verliebtes Paar.Finanzi-ell gab’s auch keine großen Schwierigkeiten.Ich hatte eine feste Arbeit und es war so ver-abredet,dass „meine Frau“ auch sofort Arbeitsuchen musste.Denn entweder arbeiten bei-de oder beide leben von Sozialhilfe, die ge-genseitige Unterhaltspflicht macht ansonstenProbleme.Wir haben auch gleich einen Ehe-

vertrag abgeschlossen, um Fragen wegen Gütertrennung und Rentenansprüchen soabzuklären,dass keinerlei Verpflichtungen für-einander bestehen. Alle zusätzlich anfallen-den Kosten, das war auch verabredet, mussteFatima tragen – ich konnte mir finanzielleNachteile durch die Heirat nicht leisten.Für die Hochzeit hatten wir Ringe ausgelie-hen,ein paar Freunde und Freundinnen ein-geladen und eben ein bisschen Theater ge-spielt.Das hat sogar Spaß gemacht.Als Zwei-tes war wesentlich,eine gemeinsame Melde-adresse anzugeben.Getrennte Wohnsitze ma-chen die Ausländerbehörde misstrauisch.Daswar bei uns kein Problem, meine Wohnungwar gerade noch groß genug und der Ver-mieter hat keine dummen Fragen gestellt.Wir haben auch bezüglich der Nachbarn dar-

auf geachtet, dass sie uns ab und an als Ehe-paar mitbekommen. Eine Liebesbeziehungwar bei uns aber nie ein Thema, wir hattensogar darüber geredet, dass das eher vonNachteil wäre, wenn es dann mit der Bezie-hung schief geht und Eifersucht ins Spielkommt.Das klingt theoretisch, aber wir hat-ten wirklich keine näheren Gefühle fürein-ander. Fatima ist regelmäßig zu Besuch ge-kommen, gewohnt hat sie bei einer Freundin,natürlich ohne Registrierung. Sie hat öftersamstags die Flurtreppe geputzt,um im Hausaufzufallen.Einmal war jemand von der Aus-länderbehörde da und hat eine Nachbarin be-fragt,was die uns später auch erzählt hat.Daswar aber alles, wir hatten die ganzen Jahre,bis Fatima einen eigenen unbefristeten Auf-enthaltsstatus bekommen hat,keine Probleme.Wir sind mit zwei weiteren „Ehepaaren“ be-freundet und haben uns mit denen oft aus-getauscht. Bei dem einen Paar, wo die Frauden deutschen Pass hatte und der Mannaußerdem jünger war, lief es gleich viel schär-fer, da ließ sich der Generalverdacht nichtausräumen. Die hatten mehrfach Hausbesu-che, zuerst unangekündigt. Da war die Frauallein zu Hause und hat abgelehnt,den Behör-denmensch hereinzulassen. Die wollen dannja nachsehen, ob Kleider des Ehepartners dasind, die berühmte Zahnbürste, ob eben eingemeinsamer Haushalt geführt wird.Effizientfinde ich Schutzheiraten auf jeden Fall, dennes wird ja jedes Mal das konkrete Bleiberechtfür einen Menschen durchgesetzt.Es sind be-stimmt nicht wenige,die damit Erfolg haben.

Das Protokoll ist mit Material aus „SCHUTZ-EHE – ein Interview mit einem so genannten‘Scheinehepaar’“ erstellt, das unter www.schutze-he.de zu finden ist. Die Identität der Gespräch-spartnerInnen sind der Herausgeberin vonwww.schutzehe.de nicht bekannt.

DEUTSCH FÜR AUSLÄNDER

EINE LIEBESBEZIEHUNG WAR NIEMALS EIN

THEMA.

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Eine Scheinehe ist eine formal gültige Ehe,die nur geschlossen wird, um einem oder bei-den Partnern einen Vorteil zu verschaffen, deroft in Verbindung mit dem deutschen Aus-länderrecht steht. Heiratet ein Partner ohnedeutschen Pass eine/n Deutsche/n, hat erzunächst das Recht auf eine Aufenthaltser-laubnis. Besteht die Ehe zwei Jahre und gerät

der eingewanderte Partner nicht mit dem Ge-setz in Konflikt, erhält er ein eigenständigesAufenthaltsrecht. Nach drei Jahren Ehe kanneine unbefristete Aufenthaltserlaubnis bean-tragt werden – das Ziel vieler Scheinehen. Wer eine Scheinehe eingeht, verstößt gegengeltende Gesetzte. Er macht sich des „Ein-schleusens von Ausländern“ schuldig – auch,wenn für die Vermittlung des Scheinehepart-ners kein Geld gezahlt wurde. Laut Strafge-

setzbuch kann das mit bis zu drei Jahren Haftoder einer Geldstrafe geahndet werden. Meistkommt es mindestens zu einer Verurteilungwegen „Falschbeurkundung“ oder „falscheruneidlicher Aussage“. Beim deutschen Part-ner kann die Staatsanwaltschaft zudem „Un-terstützung illegalen Aufenthalts“ beklagen.2003 wurden in Deutschland 2965 Scheinehenstrafrechtlich erfasst, knapp fünf Prozent derbinationalen Ehen mit deutschen Partnern.

Scheinehe

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WASCHSALON

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AN DEN WEISSENKRAGEN

Es ist eine der wenigen Wachstumsbranchen des Landes – und Wolfgang Schaupensteiner geht dagegen vor. Ein Besuch bei

Deutschlands erfolgreichstem Korruptionsfahnder.Text: Johannes Nitschmann Fotos: Christian Lesemann

Der Oberstaatsanwalt überfällt denBesucher gleich mit einem Überra-schungsangriff.„Haben Sie noch nie

jemanden bestochen?“, fragt Wolfgang Schau-pensteiner.Deutschlands gefürchtetster Kor-ruptionsjäger kennt die Versuchungen. Ausdem Fenster seines Büros in einer Neben-straße der geschäftigen Frankfurter „Zeil“guckt der 57-jährige Oberstaatsanwalt bei-nahe täglich in die Kochtöpfe der Luxus-köche eines noblen Vier-Sterne-Hotels. „Sieladen mich zum Essen ein und ich erzähleihnen ein bisschen mehr, als ich dies sonsttäte“, lockt Schaupensteiner den Journalisten.Eine pure Provokation.Der drahtige Fahnder mit der schlohweißenFöhnfrisur ist ganz und gar unbestechlich.Erjagt Beamte und Banker, Professoren undProminente, bei denen eine Hand die ande-re wäscht.Vor wenigen Wochen verhafteteSchaupensteiner den ARD-SportjournalistenJürgen Emig. Unter dem Tisch soll Emigdafür kassiert haben, dass er Sportveran-staltungen und deren Sponsoren ins Fernse-hen brachte. Ein typischer Fall von Korrup-tion.Seit 1987 ist Schaupensteiner mit einemvierköpfigen Spezialtrupp Korruptionsfällenauf der Spur, sein Menschenbild hat durchdie Fahndungsarbeit gelitten.„Der Mensch istgeldgierig und rachsüchtig.“ Als Beleg zitierter eine Forsa-Umfrage: 65 Prozent der Bun-desdeutschen würden bestechen, wenn esihrem eigenen Vorteil diente. „Jeder hat sei-nen Preis“, sagt Schaupensteiner. „Wo inves-tiert wird,wird geschmiert,wo viel investiertwird, wird viel geschmiert.“

Im Laufe der Jahre hat Schaupensteiner vie-les erlebt. Da war der als tüchtig geschätzteLeiter des städtischen Frankfurter Gartenam-tes,den sie wegen seiner herrischen Art „DonAlfonso“ nannten.Systematisch hatte der Be-amte über 22 Jahre seine Stellung als Amts-träger missbraucht und bei Handwerksfir-men,die mit der Stadt ins Geschäft kommenwollten, kräftig abkassiert. „Don Alfonso“nahm nicht nur Bares.Von den um städtischeAufträge buhlenden Handwerkern ließ er sichden Zaun seiner privaten Ranch errichtenund regelmäßig die Heuernte einfahren.Auch reinrassige schottische Hochlandrinderwurden ihm spendiert. Sogar ein 2796 Markteures Blumenarrangement zur Beerdigungseiner Mutter lief bei „Don Alfonso“ überdas Bakschischkonto.„Korruption hat was mit Macht und Macht-missbrauch zu tun“, lautet SchaupensteinersDiagnose des „Homo corruptus“.Bei seinenErmittlungen sei er immer wieder auf Un-ternehmer gestoßen, die sich für irgend-welche Amtsträger „zum Lakaien gemachthaben“. Ein Firmenboss habe sich sogar aufden Partys eines Stadtbeamten als Kellner an-gedient. „Die Realität übertrifft alles“, zischtder Oberstaatsanwalt mit leisem Ekel in derStimme.Über die skurrilsten Anekdoten sei-ner Ermittlungsarbeit hat Schaupensteinerjüngst ein Buch geschrieben. Vieles darinklingt nach Abu Dhabi oder Sizilien.Aber aufden 227 Seiten geht es um weit verzweigteBeziehungsgeflechte in deutschen Amts-stuben,die über Jahrzehnte gewachsen sind –unbemerkt von Justiz und Öffentlichkeit.

„Korruption ist effektiv, attraktiv und lukra-tiv“, provoziert Schaupensteiner. Die Ge-schäfte in dieser „Wachstumsbranche“ liefenheimlich, still und leise. In mindestens 95 von100 Fällen, schätzt er, bleiben Bestechenderund Bestochener unentdeckt.Der volkswirt-schaftliche Schaden der Korruption beläuftsich bundesweit auf etwa sechs Milliarden Eu-ro. Dennoch ist der Frankfurter Oberstaats-anwalt von der Wirkung seiner Sisyphusarbeitüberzeugt. „Wir haben ein tolles Gesell-schaftssystem, es gibt nur zu viele, die es ge-fährden.“Mit Verve kämpft Schaupensteiner gegen die„ethisch-moralische Verschlampung“ unsererGesellschaft. In Rathäusern und Banktürmen,in feinen Villen und vornehmen VIP-Etagen.Weniger luxuriös residiert Schaupensteinerin seinem Büro, das zwischen einem Möbel-haus und einem Musikverlag in der Frank-furter Innenstadt liegt. Die hellbraun fur-nierten Aktenschränke stammen aus der Ge-fängnisschreinerei. Die Bilder und Grafiken,die an den Wänden hängen,sind eigene Hand-arbeit.Schaupensteiner ist kein Asket.Er gehtgern gut essen und fährt einen flotten AlfaSpider.Aber er hat Prinzipien. „Zuverlässig-keit,Loyalität,Ehrlichkeit“,das habe ihm seinpreußisches Elternhaus anerzogen.Wenn der begeisterte Hobbymaler ein Sitten-gemälde dieser Republik entwirft,greift er zudüsteren Farben.Er klagt über „den Rückzugins Private,verbunden mit der Verweigerung,Verantwortung zu übernehmen“.Er konsta-tiert „eine zunehmende soziale Skrupellosig-keit“. Er bedauert „die Flucht, insbesondere

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FAIR PLAY

Herr Gächter, wenn der Mensch nachFairness strebt, fehlt dann vielen Mana-gern ein Fairness-Gen?Ich glaube nicht, dass man es an den Genenfestmachen kann.Wie haben Sie nachgewiesen, dass derMensch nicht allein von Eigeninteres-sen gelenkt wird? Wir entwerfen „Spiele“, bei denen klar ist,was Eigeninteresse wäre und welches Ver-halten Fairness bedeuten würde. Beim„Diktator-Spiel“ bekommt man zehn Euround muss entscheiden, ob man das Geldkomplett für sich behält oder ob ein anony-mer anderer etwas abbekommt.Wer eigen-nützig orientiert ist,würde ganz einfach sa-gen: Super, ich bekomme zehn Euro! – undnach Hause gehen.Aber wer bereit ist zu tei-len, wird sagen: Okay, ich hab jetzt Glückgehabt. Ich gebe was ab.Und es gibt Leute, die etwas abgeben? Mehr als die Hälfte gibt etwas ab.Meist dreibis vier Euro. Frauen etwas mehr als Män-ner. Warum, wissen wir nicht. Fest steht:Wenn man das Geld behält, ist das eigen-nützig motiviert.Wenn man etwas abgibt,heißt das: Ich bin bereit zu teilen.Das zeigt:Das menschliche Verhalten kann nicht nureigennützig motiviert sein.Müssen wir unsere Schulbücher um-schreiben? Von Thomas Hobbes bisAdam Smith steht doch der Egoismusim Vordergrund.Inzwischen wissen wir:Dass Menschen im-mer egoistisch sind, ist zum Glück eine fal-sche Annahme. Es gibt Fairnessvorstellun-

gen und auf das Wohl der anderen wirdRücksicht genommen.Wie können Sie die Bereitschaft zu Kor-ruption und Steuerhinterziehung er-klären?Ein Spiel, bei dem die Teilnehmer Geld ineinen gemeinsamen Topf legen können, lässtRückschlüsse auf die Steuermoral zu. DieLeute sind bereit einzuzahlen,wenn sie glau-ben, dass auch die anderen mitmachen. Jemehr sie glauben,die anderen tun was in denTopf,desto stärker sind sie bereit, selbst etwasin den Topf zu legen. Das bedeutet, wenndie anderen Steuern hinterziehen, korruptsind oder den Sozialstaat ausnutzen,führt dasdazu, dass viele Leute denken: Ja, wenn diedas tun,mache ich das auch – ich bin ja nichtder Dumme.Diese Art von Psychologie kannman mit dem Spiel studieren und feststellen,dass Fairness eine wichtige Motivation ist.Trotzdem hat man den Eindruck, dassjemand,der Ellbogen einsetzt, im Lebenweiter kommt als jemand,der nach mo-ralischen Maßstäben entscheidet.Das glaube ich nicht.Wenn sich heute je-mand zu offen als Ellbogenmensch darstellt,versuchen die Leute, nichts mit ihm zu tunzu haben. Das ist auch der Grund, warumsich die Leute über Ackermann und Esseraufregen. Es gibt eine Vorstellung von Fair-ness, und wenn Leute das Gefühl haben, an-dere kassieren ab,während sie selbst von Ent-lassung bedroht sind,finden das die Leute ex-trem unfair. Ich glaube nicht, dass der Ellbo-genmensch auf lange Sicht einen Vorteil hat.

Interview: Marco von Eisenack

Wirtschaftspsychologen wie der mehrfach ausgezeichnete Österreicher Simon Gächter,Professor für „Psychologyof Economic Decision Making“ an der Universität Nottingham,haben in den vergangenen Jahren Experimenteentwickelt,um menschliche Entscheidungen im Wirtschaftsleben zu erforschen.Gächter behauptet,der Menschstrebe nicht nach Eigennutz, sondern nach Fairness.

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der Jugend, in eine oberflächliche Zerstreu-ungskultur und Spaßgesellschaft“.Dieser mo-ralische Werteverfall begünstige einen „egois-tischen Materialismus“ – den Resonanzbo-den für die Korruption.Bisweilen mutiert derFahnder zum Moralapostel. „Zehn Geboteder Korruptionsbekämpfung“ hat Schau-pensteiner aufgestellt, um „gesellschaftlicheFehlentwicklungen“ zu korrigieren. Kor-rupte Firmen sollen künftig auf schwarze Lis-ten („Korruptionsregister“) kommen undmindestens fünf Jahre von allen öffentlichenAufträgen ausgeschlossen werden. „Ich will,dass es fair zugeht“, sagt Schaupensteiner.„Mit jedem Korruptionsfall werden dochehrliche Anbieter verdrängt.“Langsam zeigt die Arbeit der Korruptions-aufklärer Wirkung. Fast jede größere deut-sche Staatsanwaltschaft beschäftigt inzwischenSpezialfahnder wie Schaupensteiner. Im in-ternationalen Antikorruptionsindex istDeutschland zuletzt um zwei Plätze auf Rang15 nach oben gerutscht, liegt aber immernoch deutlich hinter Ländern wie Neusee-land und Singapur.Die Ausbreitung der Kor-ruption könne nur eingedämmt werden,wenn „wieder ethisch-moralische Maßstäbeunser Verhalten bestimmen und nicht dieberechnende Abwägung eines Vorteils durcheine Normverletzung“, doziert Schaupen-steiner an dem quaderförmigen Glastisch inseinem Fahndungsbüro. Im Gegensatz zurStraßenkriminalität trete Korruption nichtoffen zu Tage. Diese Form der Kriminalitätverberge sich hinter den Masken undemo-kratischer Amigoverhältnisse, hinter Seil-schaften,Vetternwirtschaft und Ämterpatro-nage. „Das sind die Türsteher der Korrup-tion“, sagt Schaupensteiner.Korruption ist ein modernes Gesellschafts-spiel. „Vom kleinen Buchhalter bis zum Vor-standsvorsitzenden“ reicht SchaupensteinersTäterklientel.Wirkliches Unrechtsbewusst-sein habe von den Ertappten kaum einer.„Siepraktizieren nur,was üblich ist.“ Dabei kann

Korruption im Einzelfall nach dem Strafge-setzbuch genauso hart sanktioniert werdenwie der Totschlag: mit einer Freiheitsstrafevon bis zu zehn Jahren.Doch in elitären Wirt-schaftskreisen sei die Korruption durchausgesellschaftsfähig, sagt Schaupensteiner. Erzieht einen Zeitungsartikel hervor. Darinbricht der Leitartikler eine Lanze für Bak-schischzahlungen: „Korruption ermöglicht

Investitionen und Innovationen.“ Außerdem,so heißt es in dem Artikel weiter, bringe„speed money“, wie Bestechungsgeld imyuppiehaften Branchenjargon verharmlostwird, „die Bürokraten auf Trab und wirkt oftwie eine leistungsgerechte Entlohnung“.Fürden Oberstaatsanwalt ist das einfach „mora-lischer Werteverfall“.Schaupensteiners Fahndungspraktiken sindnicht unumstritten. Meist rücke der Frank-furter bei seinen Hausdurchsuchungen gleichmit einem Haftbefehl an, um von den Be-schuldigten mit der Drohung der Gefängnis-zelle ein Geständnis „abzupressen“, kritisie-ren Strafverteidiger. Einflussreiche Wirt-schaftsfunktionäre beklagen, Korruptions-fahnder durchsuchten mit Vorliebe die Schlaf-zimmer von Bankenvorständen, statt sich umdie Fahrraddiebe und Dealer im Bahnhofs-viertel der Mainmetropole zu kümmern.ObSchaupensteiner nicht zu viel wolle,„wenn erdas Strafrecht als Therapie zur moralischenGesundung von Gesellschaft und Bürgern an-wendet“, sorgte sich kürzlich die Zeit.Der couragierte Korruptionsfahnder ist keinUtopist. „Die moralische Ausstattung derGesellschaft zu fördern kann nicht einfachpar ordre de mufti angeordnet werden.“ Aber

Schaupensteiner ist ein Verfechter der Volks-pädagogik. Er ist Jäger und Heger zugleich.An den Frankfurter Korruptionsaffären willer die sozial schädlichen Praktiken der Schat-tenwirtschaft exemplarisch ans Licht der Öf-fentlichkeit zerren, um ein Bewusstein fürdieses „flächendeckende Kriminalitätsphä-nomen“ zu schaffen, „das die Grundfestenstaatlicher Autorität und das Prinzip des frei-en Wettbewerbs erschüttert“.Im Sommer 2001 hatte Schaupensteiner über200 Beschuldigte im Frankfurter Hochbau-amt in seinem Visier. Er stellte ihnen öffent-lich ein Ultimatum.Wer sich selbst offenbare,dürfe mit Strafrabatt rechnen, kündigte erüber die Medien an. Lediglich 18 bestoche-ne Amtsträger meldeten sich.Von den 65 ver-dächtigten Firmen ging kein einziger Mitar-beiter freiwillig zur Staatsanwaltschaft. NachAblauf der Frist trat Schaupensteiner vor diePresse und verkündete den ersten Haftbefehlgegen einen prominenten Unternehmer.„Wer zu spät kommt,den bestraft die Justiz.“Frankfurter Rechtsanwälte empörten sichüber „diese Wildwestmethoden“.Schaupensteiner lässt solche Kritik kalt.Gernwürde er noch energischer ermitteln,um denKorruptionssumpf in und um Frankfurttrockenzulegen. Doch es fehlt an Fahndernund es mangelt den Ermittlungsbehörden anmoderner Bürotechnik, um zumindest Waf-fengleichheit mit den Kriminellen im weißenKragen herzustellen. Schaupensteiner hebtseine rechte Hand.„Fünf Finger können kräf-tig zupacken“, sagt er. Aber in ihrer Perso-nalnot müsse die Staatsanwaltschaft bei Wirt-schaftskriminellen häufig „mit zwei Fingern“zulangen. Für Schaupensteiner steckt dahin-ter System.„Alle haben Angst, in die Blase zustechen, weil sie nicht wissen, wie groß derEiter ist, der herauskommen wird.“

Buch:Britta Bannenberg,Wolfgang Schaupenstei-ner: Korruption in Deutschland.München 2004.

„WER ZU SPÄT KOMMT,DEN BESTRAFT DIE

JUSTIZ.“

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Herr Wollersheim, Sie haben in einem Interview gesagt, Sieseien mit Ehrlichkeit durch die Unterwelt gekommen. Kannsich ein Bordellbesitzer Moral leisten?Ich habe mich den Gesetzen des Rotlichtmilieus widersetzt: Ichhabe mich nie an Menschenhandel beteiligt, ich habe niemals eineFrau zum Sex gezwungen, ich war nicht so brutal wie andere. Daswar nicht einfach,aber ich fühle mich dadurch eher stark als schwach.Was war schwierig daran?Wenn es ein Problem gibt, ist es in der Branche üblich,dass man sichan die Männer wendet.Mit „Männern“ meinen Sie Zuhälter.Ja, und die habe ich irgendwann außen vor gelassen.Wenn die Män-

ner am Ende der Woche das Geld für die Frauen abholen wollten,habe ich gesagt: „Ich arbeite mit der Frau und nicht mit dir.“Das hat immer funktioniert?Manche Männer sind weggeblieben. Da ist mir ein Geschäft durchdie Lappen gegangen.Aber das ist nicht so schlimm.Ich lebe gut vonmeinem Beruf.Sie waren einmal im Gefängnis,wegen erpresserischen Men-schenraubs.Im Knast hatte ich viel Zeit zum Nachdenken, für mich war das eineZeit der Läuterung. Ich habe danach keine Mädchen mehr für micharbeiten lassen, als Zuhälter, wie Sie sagen.Zuhälter, Bordellbetreiber – macht das einen Unterschied?

„ICH BIN EIN GESCHÄFTSMANN“Bert Wollersheim betreibt drei Bordelle in Düsseldorf, in denen etwa fünfzig Frauen

arbeiten. Seine eigene Tochter möchte er dort allerdings auf keinen Fall sehen.Interview:Tanja Stelzer Foto: Uwe Weber

GEWERBEGEBIET

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Zuhälterei findet in normalen Beziehungen statt, das finde ichschlimm.Es gibt brutale Typen und auch solche,die den Frauen vor-gaukeln, dass sie sie lieben. Das ist heuchlerisch.Als Bordellbetreiberbiete ich nur die Basis dafür, dass die Mädchen arbeiten können,undzwar freiwillig. Die Mädchen geben die Hälfte von dem ab, was sieverdienen. Ich bin ein Geschäftsmann.Was ist für Sie Moral?Ich muss noch dahinterkommen, was exakt damit gemeint ist. Darfich mal im Duden nachgucken? Da steht: Sittlichkeit, Sitte, sittlicheHaltung, sittliche Betrachtung. Ich glaube, das ist Auslegungssache.Ist Prostitution unmoralisch?Gar nicht.Es gibt in der Sexualität Gesetze,an die sich die Menschenhalten müssen:Verletze niemanden, tue niemandem etwas an, das ernicht ertragen kann. Habe Achtung vor dem anderen.Wenn zweiMenschen – ob sie sich nun lieben oder in einem Bordell Sex machen– sich einig sind, können sie tun, was sie wollen.Wie gehen Sie mit Leuten um, die Ihre Branche für unmo-ralisch halten?Ich bin offen zu meinen Kritikern. Meine Schwester zum Beispielgibt mir oft Anregungen, wie ich manches verbessern kann. Es warihre Idee, einen Tag der offenen Tür im Puff zu machen, damit sichdie Ehefrauen unserer Kunden das angucken können.Haben Sie einmal mit einem Pfarrer über Ihren Beruf ge-sprochen?Ich hatte mal bei Bärbel Schäfer eine Diskussion mit einem Priester.Es gab auch gegenseitige Besuche: Die Kirche kam in den Puff undwir sind in die Kirche gefahren, fürs Fernsehen.Hat der Priester versucht, Sie zu bekehren?Gar nicht, ich bekam sogar seinen Segen dafür,wie ich meine Arbeitmache.Für Bärbel Schäfer war es sehr enttäuschend,weil wir uns garnicht gefetzt haben.Die Sängerin Edith Piaf sagte: Moral ist, wenn man so lebt,dass es gar keinen Spaß macht, so zu leben. Hat es einen be-sonderen Reiz,gegen geltende Moralvorstellungen zu verstoßen?Ich erinnere mich an eine seriöse Geschäftsfrau, die mal bei mir inden Club gekommen ist. Die hielt sich eigentlich für eine anständigeFrau. Dann hat sie auf dem Tisch getanzt und es hat ihr Spaß ge-macht. Ein bisschen unmoralisch zu sein ist manchmal wichtig.„Keine Affären mit Angestellten“ – das ist eine Ihrer Regeln.Welche Anstandsregeln gibt es noch im Puff?Ich versuche, den Frauen die Chance zu geben, dass sie das Intimstenicht hergeben. Sie sollen keinen Sex ohne Schutz haben.Auch vonZungenküssen rate ich ab, schon aus hygienischen Gründen.Was ist unanständig an Küssen?Die Frauen sollen doch das Gefühl haben, sie machen einen Job undkeine Sauerei. Zungenküsse sind gefährlich, weil Empfindungen rü-berwachsen können. Es muss klar sein, dass die Hure eine Illusionverkauft, es darf nicht an die Seele gehen. Ich weiß von FKK-Clubs,in denen müssen die Frauen für 15 Euro ohne Schutz arbeiten undZungenküsse geben, da verschlägt es mir die Sprache. Die sollten lieber putzen gehen, da bleiben sie Mensch.Ist Sex mit Minderjährigen unmoralisch?Ja.Ist es unmoralisch, mehrere Partner zu haben?Nicht, wenn man nicht in einer festen Beziehung ist. Das hatte ichauch schon mal.Zurzeit leben Sie allein.Wenn Sie eine Partnerschaft hatten,haben Sie einander Treue geschworen?

Ich bin ein altmodischer Mensch. Ohne Treue brauche ich keinePartnerschaft, geschweige denn eine Ehe.Wofür sonst geht man eineBeziehung ein?Welche Moralvorstellungen gaben Ihnen Ihre Eltern mit?Meine Mutter hat mich Ehrlichkeit gelehrt, Achtung vor den Men-schen und für andere da zu sein.Ihr Sohn ist dreieinhalb, Ihre Tochter 23 Jahre alt. Kinderkönnen schrecklich moralisch sein, vor allem in der Puber-tät. Hat Ihre Tochter Sie für Ihren Beruf kritisiert?Sie hat mich nie verurteilt.Wie haben Sie auf den ersten Freund Ihrer Tochter reagiert?Er musste sich bei mir vorstellen. Da bin ich ein alter Mafioso, ichwill wissen, wo dieser Mensch wohnt.Haben Sie Ihrer Tochter gesagt: Hebe dir deine Jungfräu-lichkeit auf für einen, der dir wirklich wichtig ist?Im Gegenteil. Ich habe mal ein Gespräch zwischen ihr und ihrerFreundin mitbekommen. Die beiden fanden die Vorstellung span-nend, Sex mit zwei Frauen und einem Mann zu haben. Ich habeihnen gesagt: „Wir bestellen einen Berufslover, dann ist das nicht sokompliziert.“ Das wollten sie dann doch nicht. Ich wollte ihnen dieIdee nehmen; es hat geklappt.Was macht Ihre Tochter beruflich?Sie jobbt in der Kinderbetreuung. Sie hat einen Freund und eigent-lich möchte sie nur eins: Frau und Mutter sein.Hätten Sie etwas dagegen,wenn Ihre Tochter als Prostituiertearbeitet?Ich habe ihr von vornherein klar gemacht, dass ich das nicht hin-nehmen würde. Ich habe ihr die Chance gegeben, etwas anderes zumachen.Diese Chance hatten viele Frauen,die bei mir landen,nicht.

In Deutschland arbeiten etwa 400 000 berufsmäßige Prostituierte,die Schätzungen zufolge einen Jahresumsatz von etwa 14 MilliardenEuro erzielen.Die deutsche Prostituierten-Interessenvertretung Hy-dra schätzt, dass darunter 100 000 bis 200 000 Ausländerinnen sind.Ihre Dienste werden täglich bis zu 1,5 Millionen Mal in Anspruchgenommen.Seit dem 1. Januar 2002 ist das „Gesetz zur Regelung derRechtsverhältnisse der Prostituierten“ in Kraft, mit dem die rechtli-che und soziale Situation von Prostituierten verbessert werden soll.Das Gesetz ermöglicht Prostituierten die Absicherung in einer So-zialversicherung. Sie können sich in „wirksame Beschäftigungsver-hältnisse“ mit Bordellbetreibern begeben, das heißt:Arbeitsverträgeabschließen. So können sie in gesetzliche Krankenkassen, in die Ar-beitslosen- und Rentenversicherung aufgenommen werden.Das Ge-setz ermöglicht es Prostituierten, Lohn einzuklagen. Zuvor wurdeProstitution als „sittenwidrige Tätigkeit“ angesehen.Das ermöglich-te es Freiern, sich vor der Bezahlung zu drücken – ein sittenwidrigesRechtsgeschäft gilt als nichtig.Geändert wurde auch Paragraf 180a desStrafgesetzbuches, der jetzt „Ausbeutung von Prostituierten“ unterStrafe stellt, zuvor war es „Förderung“.Als „Ausbeuter“ gilt,wer Frau-en „in persönliche und wirtschaftliche Abhängigkeit“ bringt – für Hy-dra eine zu ungenaue Formulierung. Strafbar ist, unter 18-Jährige ineinem Bordell arbeiten zu lassen oder jemanden zur Prostitution zuüberreden.Verboten ist Prostituierten,Werbung zu betreiben – daherdie „Fotomodell“- und „Massage“-Anzeigen in Zeitungen.

Prostitution in Deutschland

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EHRENWORT

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DANKE, PINOCCHIO!

Plädoyer für eine unterschätzte Gesprächsform.Text: Kristina Maroldt Foto: Stefanie Füssenich

Es ist schon ungerecht:Alle hacken auf ihr rum. Dabei gibt siesich solche Mühe. Zum Beispiel damals, im schlimmsten Lie-beskummer, als ich auf „Wie geht’s?“ einfach „Danke, prima“

murmeln durfte.Oder an so manchem Morgen, als sie mir mit ihrem„Die S-Bahn war schuld!“ den Ärger fürs Zuspätkommen ersparte.Am Wochenende hebt sie durch ein „Schmeckt super, ehrlich!“ dieStimmung am elterlichen Mittagstisch.Abends werde ich durch einbeiläufiges „Letztens beim Weggehen hab ich ja die Sängerin vonMia getroffen…“ doch noch zum Mittelpunkt der Party. Kurz: Ichbin ihr dankbar, der Lüge. Das sollten wir alle sein. Sie leistet ganzeArbeit – als resolute Beschützerin sensibler Seelchen, parkettsichereDiplomatin, loyale Promoterin missachteter Egos. Und wir? Würdi-gen es nicht.Bei Umfragen geben wir in drei von vier Fällen an, dasses uns verletzen würde, wenn wir herausfänden, dass uns jemand an-gelogen hat.Wir erfinden diskriminierende Sprichwörter wie „Lü-gen haben kurze Beine“ oder tragische Figuren wie Pinocchio. Undverdammen, wie Immanuel Kant, die Neigung zum Flunkern gar als„der eigentlich faule Fleck in der menschlichen Natur“.Kurz:Auf dermoralischen Werteskala sitzt die Lüge ganz weit unten.Dabei wäre die Welt ohne sie eine dröge Veranstaltung. Nicht nur,weil wir dann nie über die Listen des Odysseus lachen könnten, unsmit Felix Krull durch die höhere Gesellschaft schummeln oder überdie Geschichten des Barons von Münchhausen lachen könnten.Son-dern auch, weil wir ohne sie als intellektuell eher dumpfe Kreaturenunser Dasein fristen würden. Lügen macht nämlich schlauer – dasglauben zumindest viele Evolutionsbiologen. Schließlich ist es eineanspruchsvolle Aufgabe herauszufinden, was das Gegenüber von ei-nem erwartet, darauf ein sattelfestes Lügengerüst zu errichten undnebenbei verräterische Mimik oder Gestik zu unterdrücken. Dazuwaren nur die intelligentesten Urzeitmenschen fähig und erflunker-ten sich so die beste Nahrung und die attraktivsten Sexualpartner.Heute erkennt man die geistige Höchstleistung beim Lügen am bes-ten daran,dass wir sie noch nicht von Geburt an beherrschen.Erst abacht können Kinder schummeln.Moralisch rechtfertigt das die Lügefreilich noch lange nicht. Doch es kommt auf die Dosierung an.Wer

den anderen bewusst täuscht, um ihm zu schaden, ist einfach einemiese Type und – was für Soziologen fast wichtiger ist – eine Gefahrfür die soziale Gemeinschaft.Natürlich ist es auch strategisch unklug,mit Unwahrheiten inflationär umzugehen – weil einen dann nämlichbald keiner mehr ernst nimmt und man sich all die Lügen selbst auchmerken muss, um sich nicht zu verraten. Doch in vielen Situationenist Lügen einfach die bessere Variante.Und manchmal sogar rechtlichabgesichert.Wie neulich,als ich in einem Bewerbungsgespräch gefragtwurde, ob ich demnächst gern Kinder hätte. „Nein“, habe ich da ge-sagt.Und das ehrlichere „Vielleicht“ nur gedacht.Weil ich wusste,dasses ein Einstellungshindernis sein könnte.Weshalb solche Fragen inVorstellungsgesprächen auch nicht als feine Art und Lügen als erlaubtgelten.Auch meinem Kumpel Olli verschweige ich seit Jahren eisern,dass seine Frisur wie ein angesengter Wischmob aussieht. Es würdeihn schüchterner machen, als er ohnehin schon ist. Und ich werdemich auch an diesem Weihnachtsabend bei meiner Oma mit Küss-chen bedanken – für die Vase, die ich nicht brauchen kann, oder denSchal,der mir nicht gefällt.Weil sie es doch gut meinte und die Wahr-heit ihr nur das Fest verderben würde. Die meisten unserer Alltags-lügen sind überlebenswichtiger Sozialkitt,davon ist der amerikanischePhilosoph David Nyberg überzeugt. Sie entkomplizieren das Mit-einander, schweißen zusammen.Ohne sie wären wir einsam,frustriert,aggressiv. „Mit jemandem, der notorisch die Wahrheit sagt, könnteniemand leben“, hat Mark Twain einmal gesagt. „Aber zum Glückmuss das ja auch keiner.“ Stimmt.Denn wir lügen wie die Weltmeister.Mindestens einmal flun-kern die meisten während eines zehnminütigen Gesprächs, ergab eineStudie der University of Massachusetts Amherst.Frauen vor allem,umnicht zu verletzen.Männer eher, um sich gut darzustellen.Man kannsich also ausrechnen,welcher Berg an Fantastereien sich im Laufe derZeit über uns auftürmt – und jederzeit als solcher entlarvt werdenkönnte. Fast könnte einen das beunruhigen, vielleicht sogar davonabhalten,das Leben weiterhin mit Lug und Trug zu würzen.Doch zumGlück kennen versierte Schummler ein besseres Gegenmittel:Selbst-täuschung. Funktioniert fast immer. Ehrlich.

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STRAFANZEIGE

Die Werbung versucht, moralisch anständiges Verhalten genauso anzupreisen wie neue Autos oder Kleidung.Wir kaufen es ihr aber nicht ab.

Text: Christoph Koch

Die Kinobeleuchtung ist noch nichtganz abgedimmt, ein paar Schattendrängeln sich durch die Reihen,

Gummibärchentüten werden aufgerissen.Aufder Leinwand sieht man einen Breakdance-Battle, Jugendliche stehen um einen Ghetto-blaster herum und beobachten die Tänzer.„Geile Kiste. Cooler Sound.Auch angemel-det?“, fragt plötzlich einer der Breaker denBoombox-Besitzer.„Alter,das Ding ist nochnicht mal gekauft!“, blafft der nur verächt-lich. Der neugierige Frager öffnet daraufhinlässig seine Jacke,darunter kommt eine glän-zende HipHop-Kette zum Vorschein – mitder Aufschrift GEZ. Das ganze Kino stöhntauf.Alles ertappte Schwarzseher, die ihr Ge-wissen zwickt? Nein, wir stöhnen mit, ob-wohl wir seit Jahr und Tag Rundfunkge-bühren bezahlen. Uns also darüber freuenkönnten, wie uns von der Leinwand auf dieSchulter geklopft wird.Trotzdem macht Wer-bung, die unser Moralgefüge anspricht, fastimmer schlechte Laune – warum eigentlich? Das erste Problem ist der Humor.Bei Werbe-spots oder Anzeigen,die zu moralisch korrek-tem Handeln anregen sollen, scheint es eineArt Pointenpflicht zu geben. Ob die Super-marktkassiererin „Rita, wat kosten die Kon-

dome?“ durch den Laden brüllt oder Raub-kopierer sich auf einer Weide unter einemKuhkostüm verstecken und am Ende voneinem Bullen bestiegen werden – Moral istscheinbar, wenn man trotzdem lacht. „Co-mic Relief“ nennen Experten den Moment,in dem die Anspannung einer dramatischenSzene von uns abfällt, die Komödie Einzughält und ein befreiendes Lachen über uns hin-wegrauscht. Das funktioniert in Fernseh-serien und manchmal auch im echten Leben,wenn man eine heikle Situation mit einemScherz entschärfen kann.Wenn aber einer-seits die Ernsthaftigkeit einer Problematik(Aids, Raubkopien etc.) betont werden soll,gleichzeitig jedoch auf den vermeintlichenSchlusslacher nicht verzichtet werden kann,muss sich niemand wundern, wenn die ei-gentliche Botschaft nicht ankommt.Das zweite Problem ist der Ton, in dem dieoft jugendliche Zielgruppe angesprochenwird.Nicht nur ist es eine Unverschämtheit,dass sich beispielsweise der Münchner Ver-kehrsverbund in seiner neuen Kampagne aus-schließlich an junge Schwarzfahrer wendet –gerade so, als würde man mit 25 automatischein integrer Mensch,der stets ein gestempel-tes Ticket bei sich trägt und auch sonst alles

im Leben richtig macht. Auf den Plakatenstehen dann auch noch vermeintlich hippeSlogans wie „Schwarzfahren? – Nein d:-)nke!“,Zopfmädchen strecken frech ihre Zunge her-aus, Jungs mit schräg aufgesetzter Kappe sa-gen mit der Abgeklärtheit der Straße: „Mirwegen so was die Zukunft verbauen? Ich bindoch nicht blöd.“ Als vor sechs Jahren die Wer-bekampagne gegen das Brennen von Musik-CDs unter dem Titel „Copy Kills Music“startete, freute sich der Bundesverband derphonographischen Wirtschaft, wie nah manmit dem „unkonventionellen Slogan“ an den„Kids“ dran sei: „falsches Englisch mit rich-tiger Botschaft: knackig, eingängig und ir-gendwie international“. Feico Derschow, derüber fünfzig Auszeichnungen als Art Direc-tor und Creative Director für Werbeagentu-ren wie Saatchi & Saatchi gewonnen hat undinzwischen als Leiter der „Masterclass Art Di-rection“ junge Werber ausbildet,zweifelt dar-an, dass Werbung überhaupt jemanden vomSchwarzfahren abhalten kann: „MoralischeFragen sind doch eigentlich Fragen der Er-ziehung“, sagt der gebürtige Niederländermit über 35 Jahren Werbeerfahrung. „Dasmuss als gesellschaftliches Verhalten vorgelebtwerden, draußen oder in der Familie. Mo- Ill

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WER DEN SPOT HAT

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Page 47: GUT ODER BÖSE, RICHTIG ODER FALSCH? - bpb.de Nr. 17.pdf · Nr.17 Dezember 2005 GUT ODER BÖSE, RICHTIG ODER FALSCH? DAS MORAL-HEFT titel-moral 05.12.2005 12:02 Uhr Seite 3

mentan wird moralisches Handeln auf demselbenWeg beworben wie ein Prepaid-Handy – ehrlichgesagt, finde ich das krank.“Das dritte Problem moralischer Werbung ist diestarke Fixierung auf Schuldgefühle – egal ob dieseangebracht sind oder nicht. Derschow spricht voneiner „Vorverurteilung“, der österreichische Me-dienforscher Wolfgang Pauser bringt es noch prä-ziser auf den Punkt: „Wer mit Moral werben will,kommt an der Anschuldigungdes Konsumenten nicht vorbei“,schreibt er in seinem Essay Wiemoralisch ist die Vermarktung derMoral?. Philipp Keller, bei derAgentur „Zum Goldenen Hir-schen“ verantwortlicher Text-Kreativchef für dieprovokante Kampagne „Raubkopierer sind Ver-brecher“, erklärt: „Die Vorgängerkampagne CopyKills Music war auf Verständnis ausgelegt – weil sieerklärte, dass kein Geld mehr für die Förderungkleiner Bands da ist, wenn alle sich die CDs bren-nen.Aber das hat die meisten leider nicht interes-siert.“ Daher, so der 30-jährige Kölner, sei bei derKampagne gegen Filmraubkopien die Strategiegeändert worden. Statt auf Einsicht werde nun aufAbschreckung gesetzt und die Gefängnisstrafe be-tont, die Raubkopierern droht: „Argumente wir-ken leider nur bedingt,die Leute sind mehrheitlich

zu egoistisch.Wenn ab morgen Autodiebstahl straf-frei wäre, würde ja kein Auto mehr stehen bleiben– obwohl alle wissen, dass es falsch ist zu stehlen.“Die Kampagne,die auch mit Gefängniszellen überdeutsche Marktplätze reiste und RAF-artige Fahn-dungsplakate mit (falschen) Raubkopierer-Visagennutzte, sorgte trotzdem dafür,dass sich viele pauschalund zu Unrecht kriminalisiert fühlten.Das vierte Problem ist die Art und Weise,wie Wer-

bung für moralisches Handeln in die Privatsphäre eindringt.Wir wollen uns ja auch nicht viaWerbefilm sagen lassen, wie wirum Verstorbene zu trauern ha-ben oder wie wir mit unserem

Partner Schluss machen sollen. Ebenso unange-nehm berührt es uns,wenn ein Werbespot für Zivil-courage unser Verhalten bei einer U-Bahn-Pöbe-lei hinterfragt oder unsere Entscheidung für odergegen den Besuch eines Wasserzoos plötzlich eineöffentliche Angelegenheit wird.Eine Werbung,die auf intelligente Weise an das Ge-wissen potenzieller Kunden appelliert,wird derzeitin den USA plakatiert: „Wir sollen Ihnen einenschönen Gruß von Ihrem Mitbewohner aus demStudium ausrichten“, steht da, „und Sie daran er-innern,wie glücklich Sie damals waren,als Sie nochkein Geld hatten.“ Es ist die Anzeige einer Bank.

Schwarzfahren?– Nein D:)nke!

IMPRESSUM

fluter – Magazin der Bundeszentrale für

politische Bildung, Ausgabe 17,

Dezember 2005

Herausgegeben von der Bundeszentrale

für politische Bildung (bpb),

Adenauerallee 86, 53113 Bonn,

Tel. 01888 / 515-0

Redaktion:

Thorsten Schilling (verantwortlich),

Bundeszentrale für politische Bildung

([email protected]),

Dirk Schönlebe (Koordination),

Heiko Zwirner (Chef vom Dienst),

Thomas Kartsolis (Art Direction),

Alexandra Rusitschka (Grafik)

Texte und Mitarbeit:

Julia Decker, Lena Dreyer, Marco von

Eisnack, Heinrich Geiselberger, Meredith

Haaf, Anne Haeming, Susanne Klingner,

Christoph Koch, Barbara Lich, Kristina

Maroldt, Tobias Moorstedt, Johannes

Nitschmann, Basti Obermayer, Max

Scharnigg, Dirk Schönlebe, Tanja Stelzer,

Lisi Wasmer, Sebastian Wehlings, Heiko

Zwirner

Fotos und Illustrationen: Katrin Bohlinger,

Stefanie Füssenich, Christian Lesemann,

Frank Weichselgartner

Schlussredaktion: Isolde Durchholz

Redaktionsanschrift / Leserbriefe:

fluter – Magazin der Bundeszentrale für

politische Bildung. sv corporate media

GmbH, Emmy-Noether-Straße 2 /E,

80992 München,

Tel. 089 / 2183-8327;

Fax 089 / 2183-8529;

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Taubesgarten 23

55234 Bechtolsheim

Druck: Bonifatius GmbH

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politische Bildung

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S46-47_moral-werbung 06.12.2005 13:12 Uhr Seite 3

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SACHWERTE

WENN SIE JEMAND IN EINER UNHEILBAREN

KRANKHEIT WISSEN: MACHEN SIE IHM DANN

HOFFNUNGEN, DIE SIE SELBER ALS TRUG

ERKENNEN?

5.

1.

2.

3.

4.

GUTE ANTWORTIn seinem „Fragebogen“ hat der Schweizer Schriftsteller Max Frisch Fragen zu den wichtigsten Themen des Lebens gestellt und unbeantwortet gelassen. Hier ein paar Antworten – die Fragen gibt´s auf Seite 4.

48

DIE LIEBE EINER FRAU ZU

GEWINNEN HEISST FÜR MICH,

IHRE BEREITSCHAFT ZU GE-

WINNEN, MIT MIR DAS LEBEN

IN GUTEN WIE IN SCHWIERI-

GEN TAGEN ZU TEILEN. IST

MIR DAS GLAUBWÜRDIG

GELUNGEN, SO VERDIENT ES

KEINEN (LEICHTFERTIGEN)

ZWEIFEL.

OTFRIED HÖFFE,

INTERVIEW AB SEITE 20

MIR EIN SCHLECHTESGEWISSEN EINHANDELN.

WOLFGANG SCHAUPENSTEINER,PORTRÄT AUF SEITE 38

S48-49_moral-antworten 06.12.2005 13:15 Uhr Seite 2

Page 49: GUT ODER BÖSE, RICHTIG ODER FALSCH? - bpb.de Nr. 17.pdf · Nr.17 Dezember 2005 GUT ODER BÖSE, RICHTIG ODER FALSCH? DAS MORAL-HEFT titel-moral 05.12.2005 12:02 Uhr Seite 3

49

12.

WENN SIE JEMAND DAZU BRINGEN, DASS ER DEN HUMOR VERLIERT

(Z.B. WEIL SIE SEINE SCHAM VERLETZT HABEN), UND WENN SIE

DANN FESTSTELLEN, DER BETROFFENE MENSCH HABE KEINEN

HUMOR: FINDEN SIE, DASS SIE DESWEGEN HUMOR HABEN, WEIL SIE

JETZT ÜBER IHN LACHEN?

WOVOR HABEN SIE MEHR ANGST: DASS SIE AUF

DEM TOTENBETT JEMAND BESCHIMPFEN KÖNN-

TEN, DER ES NICHT VERDIENT, ODER DASS SIE

ALLEN VERZEIHEN, DIE ES NICHT VERDIENEN?

HALTEN SIE’S FÜR HUMOR:

O WENN WIR ÜBER DRITTE LACHEN?

O WENN SIE ÜBER SICH SELBST LACHEN?

O WENN SIE JEMAND DAZU BRINGEN,

DASS ER, OHNE SICH ZU SCHÄMEN, ÜBER

SICH SELBST LACHEN KANN?

GESETZT DEN FALL, SIE SIND BEDÜRFTIG UND HABEN

EINEN REICHEN FREUND, DER IHNEN HELFEN WILL, UND

ER GIBT IHNEN EINE BETRÄCHTLICHE SUMME (ZUM

BEISPIEL DAMIT SIE STUDIEREN KÖNNEN) UND GELE-

GENTLICH AUCH ANZÜGE VON SICH, DIE NOCH SOLID

SIND: WAS NEHMEN SIE UNBEFANGENER AN?

WENN SIE JEMAND LIEBEN:

WARUM MÖCHTEN SIE NICHT

DER ÜBERLEBENDE TEIL SEIN,

SONDERN DAS LEID DEM

ANDEREN ÜBERLASSEN?

8.

13.

HALTEN SIE DIE DAUER EINER

FREUNDSCHAFT FÜR EIN WERTMASS DER

FREUNDSCHAFT?

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ICH HABE MEHR ANGST DAVOR, JEMAN-

DEN AUF DEM TOTENBETT ZU BESCHIMP-

FEN, DER ES VERDIENT, ALS JEMANDEN

ZU BESCHIMPFEN, DER ES NICHT VER-

DIENT. MAN SOLLTE IN DER LAGE SEIN,

ÜBER DIE FEHLER ANDERER HINWEGZU-

SEHEN. ES BIRGT KEINE GEFAHREN FÜR

EINEN MENSCHEN, JEMANDEM ZU VER-

ZEIHEN, IM GEGENTEIL, IST MAN DANN

NICHT EIN BESSERER MENSCH, WENN

MAN VERZEIHT UND VERGISST? IST ES

NICHT AUCH FÜR EINEN SELBST EINE ER-

LEICHTERUNG, DEN GROLL GEGEN EINEN

MITMENSCHEN WEGZU -

Was wir sind, das verdanken wir nicht nur

anderen, wir sind es auch nur geworden,

weil wir ihnen einiges schuldig blieben.

Insofern kann sich keiner für einen immer

gleichen guten Freund halten, weil er dann

nicht mit seinen Launen und Stimmungen,

Unaufmerksamkeiten rechnet, die Ver-

stimmungen oder Verwunderung auslösen

können. Freundschaft ist ein Ziel, das

Nämliche zu wollen und das Nämliche nicht

zu wollen. Dies Ziel immer im Auge zu

behalten, um sich ihm allmählich

anzunähern, ist ja schon Freundschaft.

EBERHARD STRAUB,

INTERVIEW AUF SEITE 14

WEIL ES MICH GLÜCKLICH MACHT.

IN UNSERER FAMILIE SCHENKEN

WIR UNS SCHON SEIT LANGEMNICHTS MEHR ZU WEIHNACHTEN

ODER ZUM GEBURTSTAG. ABER

WENN ICH IRGENDWO ETWASSEHE, WOVON ICH WEISS, DASS ES

EINEM ANDEREN EINE FREUDEBEREITEN WÜRDE UND WENN ICH

DIESE SACHE BEZAHLEN KANN,

DANN KAUFE ICH SIE. BERT WOLLERSHEIM,INTERVIEW AB SEITE 42

WISCHEN, ZU LÄCHELN UND ZU SAGEN :

NA UND? ABER ES LIEGT WAHRSCHEIN-

LICH IN DER MENSCHLICHEN NATUR,

DASS MAN MANCHE DINGE NICHT LOS-

LASSEN KANN UND SOGAR BIS IN DEN

TOD HINEIN HASS, VERACHTUNG UND

WUT SPÜRT. UND DAVOR HABE ICH

PERSÖNLICH MEHR ANGST: NICHT VER-

ZEIHEN ZU KÖNNEN. NICHT GEHEN LAS-

SEN ZU KÖNNEN UND ZU WISSEN, DASS

ICH RECHT HABE, WEIL DIE BESCHIMP-

FUNG GERECHTFERTIGT IST. ALEXANDRA MAYEREDER,SIEHE SEITE 18

S48-49_moral-antworten 06.12.2005 13:15 Uhr Seite 3

Page 50: GUT ODER BÖSE, RICHTIG ODER FALSCH? - bpb.de Nr. 17.pdf · Nr.17 Dezember 2005 GUT ODER BÖSE, RICHTIG ODER FALSCH? DAS MORAL-HEFT titel-moral 05.12.2005 12:02 Uhr Seite 3

Welches Comicpaar verdankt seinen Namen einem Reformatorund einem Philosophen?e) Tim & Struppif) Batman & Robing) Asterix & Obelixh) Calvin & Hobbes

Der Vater von Sócrates BrasileiroSampaio de Souza Vieira de Oliveirahatte ein Faible für alte griechischeNamen.Wie hießen die Brüder desbrasilianischen Mittelfeldspielers?a) Epikuro und Epiktetob) Sóstenes und Sófoclesc) Arestophaneao und Aristotelaod) Demokrites und Diogneses

Womit finanzierte sich ImmanuelKant unter anderem sein Studium?t) Billardr) Darts) Kegelnq) Fechten

Welche Frage gehört nicht zu denvier Fragen der Philosophie lautKant?k) Was kann ich wissen?l) Was soll ich tun?m) Was darf ich hoffen?n) Wie komme ich hier raus?

50

ANTIKENSAMMLUNG

RICHTIG ODER FALSCH?

Das ist auch hier die Frage. Unser Gewinnspiel zur Moralphilosophie.

Notiere die vier Buchstaben der richtigen Antworten.Vier weite-re Fragen gibt es in Teil zwei des Rätsels unter www.fluter.de. Dorterfährst du auch, was es zu gewinnen gibt.Das gesuchte, acht Buchstaben lange Lösungswort hat mit Sündenzu tun und damit, wie sie manche wieder ins Reine bringen.Schicke die Lösung bis zum 31. Januar 2006 an:[email protected] an:Redaktion und AlltagStichwort: fluter-RätselPasteurstraße 8 / 10407 Berlin

S50_moral-gewinnspiel 06.12.2005 12:58 Uhr Seite 2

Page 51: GUT ODER BÖSE, RICHTIG ODER FALSCH? - bpb.de Nr. 17.pdf · Nr.17 Dezember 2005 GUT ODER BÖSE, RICHTIG ODER FALSCH? DAS MORAL-HEFT titel-moral 05.12.2005 12:02 Uhr Seite 3

titel-moral 05.12.2005 11:43 Uhr Seite 5

Page 52: GUT ODER BÖSE, RICHTIG ODER FALSCH? - bpb.de Nr. 17.pdf · Nr.17 Dezember 2005 GUT ODER BÖSE, RICHTIG ODER FALSCH? DAS MORAL-HEFT titel-moral 05.12.2005 12:02 Uhr Seite 3

zum Beispiel über

■ Frankreich (Info 285) ■ die Demokratie (Info 284)■ Entwicklung und Entwicklungs-

politik (Info 286)■ den Weg zur Einheit

(Info 250)

Viermal im Jahr bieten die Informationen zur politischen Bildung das Wichtigste zu einem Thema aus

■ Politik, Wirtschaftund Gesellschaft

■ der deutschen Geschichte■ der europäischen und

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Bescheid wissen –

Für alle, die es wissen wollen

titel-moral 05.12.2005 11:43 Uhr Seite 2