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Gute Arbeit in der Fabrik 4.0 Konferenz | 14. April 2015 | Messegelände Hannover | Pavillon 36 und 34

Gute Arbeit in der Fabrik 4 - files.messe.defiles.messe.de/299/media/02informationenfuerbesucher/robotation... · 3 vorwort Liebe Leserinnen und Leser, Industrie 4.0, Digitalisierung

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Gute Arbeit in der Fabrik 4.0Konferenz | 14. April 2015 | Messegelände Hannover | Pavillon 36 und 34

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i n h a l t

Inhalt

3 Vorwort Dr. Horst Neumann

4 Vorwort Jörg Hofmann

5 Vorwort Stephan Wolf

6 Moderatoren des Tages

7 Impressionen

8 Gute Arbeit in der Fabrik 4.0 – Der Weg von Volkswagen Dr. Horst Neumann

12 Wandel von Arbeit bei Industrie 4.0 – Technologieschub mit eindeutigen Konsequenzen? Prof. Dr. Hartmut Hirsch-Kreinsen (TU Dortmund)

16 Arbeitsorganisation in der Fabrik 4.0 Prof. Dr.-ing. Wilhelm Bauer (Fraunhofer IAO Stuttgart)

22 Stimmen aus der Podiumsdiskussion

24 Impressionen

26 Ausbildung und Qualifizierung für die Fabrik 4.0 Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser (Präsident Bundesinstitut für Berufsbildung)

28 Qualifikationen und Ausbildungsgestaltung in Industrie 4.0 Prof. Dr. Lars Windelband (Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd)

30 Stimmen aus der Podiumsdiskussion

32 Arbeitssicherheit bei Mensch-Roboter-Kooperationen Dr. Techn. Norbert Elkmann (Fraunhofer IFF Magdeburg)

36 Stimmen aus der Podiumsdiskussion

38 Datensicherheit in der vernetzten Fabrik Prof. Dr.-Ing. Jana Dittmann (Advanced Multimedia und Security, Universität Magdeburg)

42 Stimmen aus der Podiumsdiskussion

43 Beschäftigungseffekte der Digitalisierung Dr. Carl Benedikt Frey (University of Oxford)

44 Impressionen

46 Präsentation der Gewinner des 5. Robotics-Awards Olaf Lies (Minister für Wirtschaft, Arbeit, Verkehr Land Niedersachsen)

48 Leitbilder und Leitplanken für Industrie 4.0 und Digitalisierung Jörg Hofmann (Zweiter Vorsitzender der IG Metall)

50 Impressionen

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v o r w o r t

Liebe Leserinnen und Leser,

Industrie 4.0, Digitalisierung und das Vordringen von In-formations- und Kommuni-kationstechnologien in tradi-tionelle Produktionsprozesse werden die Arbeitswelt in den nächsten Jahren tief-greifend verändern. Hieraus ergeben sich große Gestal-tungschancen für die Ver-wirklichung Guter Arbeit in der Fabrik 4.0.Der Volkswagen Konzern, der Volkswagen Betriebsrat und die IG Metall haben die-se Chancen, aber auch die

Risiken zunehmender Automatisierung und Vernetzung auf ei-ner gemeinsam veranstalteten Expertenkonferenz am 14. April 2015 umfassend diskutiert. Die Konferenz fand in der Hannover-aner Robotation Academy im Rahmen der Hannover Messe statt.Volkswagen seitig war die von rund 200 Experten aus Unterneh-men, Wissenschaft, Politik, Gewerkschaften und Verbänden be-suchte Konferenz Teil der systematischen Bemühungen unseres Unternehmens, einen personalpolitischen Handlungsrahmen für die Herausforderungen des „Zweiten Maschinenzeitalters“ zu entwickeln. Die Konferenz „Gute Arbeit in der Fabrik 4.0“ bildete dabei einen Höhepunkt der Beschäftigung mit den zukünftigen Ausprägungen der Fabrikarbeit: Hochkarätige Experten aus dem In- und Aus-land, darunter der Industriesoziologe Prof. Hartmut Hirsch-Krein-sen von der TU Dortmund, der Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung Prof. Friedrich Esser sowie der Leiter des Fraunho-fer IAO Prof. Wilhelm Bauer und der Oxforder Digitalisierungsfor-scher Dr. Carl Benedikt Frey beleuchteten aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven die Konturen der künftigen Ar-beitswelt. In der Diskussion mit den anwesenden Vertretern von Politik, Gewerkschaften, Verbänden und Unternehmen wurde deutlich: Industrie 4.0 ist nicht durch die technische Entwicklung determiniert, sondern arbeitspolitisch gestaltbar.

Innovative Zukunftskonzepte werden vor allem im Bereich der Ergonomie, bei der entscheidungs- und qualifikationsfördern-den Arbeitsorganisation sowie im Bereich der Qualifizierung ge-braucht. Für alle Bereiche gibt es bereits heute Ansätze, die in Richtung einer menschengerechten Arbeit in der Fabrik 4.0 zei-gen. Einige von ihnen haben wir auf unserer Tagung intensiv beleuchtet. Wir freuen uns, mit diesem Konferenzband die zentralen Ergeb-nisse unserer Konferenz der Öffentlichkeit zu übergeben.

Ihr

Dr. Horst NeumannMitglied des Vorstands der Volkswagen AG,Geschäftsbereich Personal und Organisation

Wolfsburg, im Oktober 2015

Dr. Horst Neumann

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v o r w o r t

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

die IG Metall ist entschlos-sen, die Zukunft der Arbeit auch in Zeiten der Digitali-sierung mitzugestalten. Und sie hat längst damit angefan-gen: Wir schalten uns mit Nachdruck in die gesell-schaftliche, politische und wissenschaftliche Debatte ein, um den Blick der Akteu-re zu weiten: Technologie ist immer eingebunden in Ar-beitsorganisation und die Qualifikation der Beschäftig-ten. Und sie ist gestaltbar. Aus dem ursprünglich rein

technikzentrierten Diskurs um Industrie 4.0 ist so inzwischen eine breite Debatte auch über Arbeit 4.0 entstanden. Die IG Me-tall ist in die Arbeit der Dialogplattformen zu Industrie 4.0 (BMWi/BMBF) und Arbeit 4.0 (BMAS) eingebunden und setzt sich hier u.a. für eine solide Technikfolgenabschätzung und Bil-dungsinitiativen ein. Immer geht es darum, Gestaltungsmöglich-keiten im Interesse der Beschäftigten auszuloten. Wir sind in der politischen Arena aktiv, um Mitbestimmungs- und Schutzrechte in der digitalisierten Arbeitswelt zu stärken. Auf der tarifpoliti-schen Ebene ist es uns mit dem Einstieg in die Bildungsteilzeit gelungen, die Chancen der Beschäftigten zu erhöhen, durch Qualifizierung von der Digitalisierung profitieren zu können.Das alles ist wichtig – aber unser großes Zukunftsprojekt „Gute Arbeit in der Industrie 4.0“ steht und fällt mit den betrieblichen Initiativen. Wir brauchen viele selbstbewusste Beschäftigte, die ihr Fachwissen in der Fabrik und im Büro einbringen, um Tech-nik und Arbeit besser zu machen. Und wir brauchen engagierte Betriebsräte, die dafür ihre Mitbestimmungsrechte nutzen, aber auch Beteiligungsprozesse organisieren und moderieren.

Selbstverständlich brauchen wir auch Unternehmen, die die Umsetzung neuer Ideen zur menschengerechten Gestaltung von Technik und Arbeit als wertvolle Innovation betrachten. Und wir brauchen dafür viele gute Beispiele, von denen wir alle lernen können.Deshalb brauchen wir auch mehr Konferenzen wie „Future Tracks – Gute Arbeit in der Fabrik 4.0“, die von Vorstand und Ge-samtbetriebsrat der Volkswagen AG zusammen mit der IG Metall im Rahmen der Hannover Messe 2015 veranstaltet wurde. Und deshalb war es auch ein richtiger Schritt, hier eine offene Dia-logplattform zu Industrie 4.0 zu gründen, auf der debattiert und gute Beispiele ausgetauscht werden können.

Ihr

Jörg HofmannZweiter Vorsitzender der IG Metall

Jörg Hofmann

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v o r w o r t

Liebe Leserinnen und Leser,

Berufe und Qualifikationen werden durch „Industrie 4.0“ sehr unterschiedlich be-troffen sein.Deshalb ist es notwendig, Tä-tigkeiten und Arbeitsprozesse differenziert zu betrachten und zu analysieren.Bisher werden dabei die Aus-wirkungen auf indirekte Ar-beitsprozesse vom Entwick-ler, über den Planer, bis hin zum Sachbearbeiter in Logis-tik, Vertrieb und Werksteue-rung zu wenig diskutiert. Mit „Industrie 4.0“ kommen

neue Themen auf die arbeitspolitische Tagesordnung. Dazu ge-hört nicht nur die Gestaltung und Anwendung der Technik selbst, sondern auch die Berufsausbildung und Qualifizierung, Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz, sowie Ergonomie und Arbeitszeitgestaltung.

Anforderungen und Belastungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden sich verändern. Alte, vor allem ergonomi-sche Probleme und monotone Arbeit könnten geringer werden. Neue Belastungen werden hinzukommen.Müssen wir unsere Kolleginnen und Kollegen zukünftig mehr vor digitaler Überforderung schützen? Viele offene Fragen sind in diesem Prozess zu beantworten.Wir sehen Potenziale und Chancen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Einsatz neuer Technologien und Systeme.Deshalb wollen wir Arbeit in der „Fabrik 4.0“ offensiv gestalten.

Ihr

Stephan WolfStellvertretender Vorsitzender des Gesamt- und Konzernbetriebsrats der Volkswagen AG

Stephan Wolf

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m o d e r a t o r e n

Moderatoren des Tages

Dr. Alexandra Baum-Ceisig (Leiterin des Instituts für Arbeit und Personalmanagement des Volkswagen Konzerns)Alexandra Baum-Ceisig (Jg. 1968) forschte und lehrte mehrere Jahre am Fachbereich Sozial-wissenschaften der Universität Osnabrück zum Schwerpunkt Europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik an der Universität Osnabrück. 2006 begann sie ihre Tätigkeit bei Volkswagen als Fachreferentin und später Generalsekretärin des Gesamt-/Konzernbetriebsrats, zuständig für Grundsatzfragen und Aufsichtsratsangelegenheiten. Seit 2015 leitet sie das Institut für Arbeit und Personalmanagement des Volkswagen Konzerns und verantwortet hier u.a. die akade-mische Weiterentwicklung zentraler Personalthemen bei Volkswagen wie die Arbeitswelt in der Industrie 4.0.

Dr. Constanze Kurz (Leiterin des Ressorts Zukunft der Arbeit beim Vorstand der IG Metall)Dr. Constanze Kurz, 53, Diplom-Sozialwissenschaftlerin, ist seit 2009 politische Sekretärin beim IG Metall Vorstand und leitet dort das Ressort Zukunft der Arbeit. Sie ist zuständig für die Themen Digitalisierung der Industriearbeit, Industrie 4.0, die Arbeitspolitik sowie Inno-vations- und Forschungspolitik.Zuvor war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) e. V. sowie an der Hochschule Darmstadt als Vertretung für die Professur Techniksoziologie tätig. Ihre Forschungsarbeiten konzentrierten sich auf Prozesse des Wan-dels von Arbeit sowie technologische und organisatorische Innovationen.

Dr. Katrin Goldhorn (Personalleitung Volkswagen Group Academy)Katrin Goldhorn (Jahrgang 1969) ist promovierte Arbeits-, Organisations- und Betriebspsy-chologin und seit 1997 für den Volkswagen Konzern tätig. Nach Ihrer Tätigkeit als Ge-schäftsführerin der Auto 5000 GmbH leitete sie 2008-2012 das Institut für Arbeit und Per-sonalmanagement des Volkwagen Konzerns. Von 2012 bis 2014 verantwortete sie die Leitung des Vorstandsbüros Personal und Organisation. Als Arbeitsorganisationsexpertin ist sie seit 2014 Industrie-4.0-Beauftragte des Vorstandsbereichs Personal und Organisation und leitet die Arbeitsgruppe „Mensch in der Mensch-Roboter-Kooperation“.

Dr. Karl Teille (Leiter des Instituts für Informatik des Volkswagen Konzerns)Herr Dr. Karl Teille studierte und promovierte an der TU Braunschweig. Drei Jahre arbeitete er an der heutigen Helmholtz Gemeinschaft in München in der Forschung bevor er in die IT der Sparkassenorganisation als Projektleiter wechselte. Seine fachlichen Schwerpunkte sind u.a. objektorientierte SW-Entwicklung, Innovationsmanagement und IT-Projektmanage-ment. Über letzteres hält er auch Vorlesungen an der TU Braunschweig.Herr Dr. Teille arbeitete als Projektmanager in der FS AG und verantwortete anschließend in Mexiko als CIO die dortige IT der FS AG.Seit drei Jahren leitet Herr Dr. Teille das Institut für Informatik an der AutoUni in Wolfsburg.

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i m p r e s s i o n e n

Fotoimpressionen vom 14.04.2015

Bei der begleitenden

Fahrzeugpräsentation des Volkswagen

Konzerns sowie der Technikausstellung

konnten sich die Konferenzteilnehmer

über neueste technische Entwicklung im

Fahrzeug und die Zukunft der Produktion

in der Industrie 4.0 informieren.

Die Konferenz fand zeitgleich zur Hannover

Messe 2015 in den Räumlichkeiten der

Robotation Academy und des Pavillons 34 auf

dem Messegelände Hannover statt.

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d r . h o r s t n e u m a n n

Die Arbeitswelt steht vor tiefgreifenden Veränderungen. Treiber ist hier einmal mehr die Technik, doch die Auswirkungen sind keineswegs auf diese beschränkt. Erik Brynjolfsson und Andrew McAffee vom MIT unterscheiden das „First Machine Age“ und das „Second Machine Age“. Erstes Maschinen-zeitalter, das heißt Einzelmaschinen, Fließbänder und elek trische Antriebe. „Second Machine Age“ heißt Digitalisierung und Vernetzung.

Die Mikroelektronik als Basistechnik hat den Siegeszug der Computer, der Telekommunikation, des Internets möglich ge-macht. Die Grundlage für diese rasche Entwicklung der Compu-ter und der Telekommunikation ist das sogenannte ‚Mooresche Gesetz‘. Es ist in Wirklichkeit kein Gesetz, sondern Empirie, eine Beobachtung, dass sich seit den 1970er-Jahren die Compu-terleistung alle 18 Monate verdoppelt. Die rasante Ausweitung von Speicherkapazität, Rechenleistung und Übertragungsgeschwindigkeit verändert seit einigen Jahren massiv die industrielle Produktion. Im Zentrum der Fabrik der Zukunft steht eine drastisch gestiegene Vernetzung der Maschi-nen und Anlagen untereinander – machine to machine oder In-dustrie 4.0 genannt. Die Grenzen zwischen realer und virtueller Welt verschwimmen seitdem auch auf dem Shop floor. Cy-ber-physikalische Systeme (CPS) kreieren mehr und mehr aug-mented realities: neben den unmittelbar stofflichen Vorgängen der Produktion finden vielfältige Formen des virtuellen Daten-austauschs statt. Auch die Überwachung von Maschinen ist nicht mehr auf die physische Kontrolle der Anlage beschränkt: Tablets und Datenbrillen liefern parallel digitale Informationen, so dass auf dem Shopfloor eine Dualität real beobachtbarer und virtuel-ler Informationen besteht. Diese Veränderungen können nicht ohne Auswirkungen auf die Arbeit bleiben. Die Entwicklung verläuft hier bereits seit einigen Jahrzehnten von der energetischen zur informatorischen Arbeit, also von Muskelarbeit über reaktive Arbeit bis hin zu kreativer Tätigkeit, oder – vereinfacht gesagt – von der Handarbeit zur Kopfarbeit.Die große Frage ist, welche Folgen diese Veränderungen für das Verhältnis von Mensch und Technik und damit für die Ausprä-gung der Arbeit in der Fabrik der Zukunft haben werden? Un-ser im Rahmen der Volkwagen Initiative „Future Tracks“ entwi-ckeltes Konzept „Gute Arbeit in der Fabrik 4.0“ verfolgt das Ziel, die wirtschaftlichen Potenziale des aktuellen Technolo-gieschubs bestmöglich auszunutzen und gleichzeitig einen spürbaren Beitrag zur Verbesserung der Arbeit, zu „Guter Ar-beit 4.0“ zu leisten.

Gute Arbeit in der Fabrik 4.0Die Zeit für einen solchen Ansatz ist so günstig wie nie, denn wir stehen in der industriellen Produktion unmittelbar vor

einem weiteren Automatisierungsschub. In den Fabriken der Zukunft wird schon bald eine neue Robotergeneration tätig sein. Die Leichtbauweise und die verbesserte Fähigkeit zur in-telligenten Orientierung im Raum verändern die Einsatzmög-lichkeiten von Robotern fundamental: Sie verlassen ihre Käfige und mischen sich auf dem Hallenboden unter die Menschen. Einstmals eingezäunt und mit mehrfachen Schutzvorrichtun-gen versehen, bewegen sie sich nun souverän durch die Fabrik. Neue Formen der Zusammenarbeit von Mensch und Roboter sind die Folge: Wo es einst eine klare Trennung von Mensch und Maschine gab, kommt es nun immer öfter zur Kooperati-on: Der Roboter reicht die Schraube, der Mensch zieht sie fest – oder umgekehrt. Und es gibt auch Arbeitsplätze, wo der Robi komplett vom Menschen übernimmt.Für viele nach wie vor schwere und belastende Tätigkeiten in der Fabrik ergibt sich daraus eine große Chance: Es besteht künftig die Möglichkeit, schwere, taktgebundene, repetetive Tätigkeiten durch Roboter zu ersetzen. Dies ist der Dreh- und Angelpunkt un-seres Konzepts für „Gute Arbeit in der Fabrik 4.0“.

Die Abbildung auf Seite 9 zeigt das Gesamtmodell des Konzeptes, welches wir bei Volkswagen für die Zukunft der Fabrik entwickelt haben. Hintergrund dieses Modells ist die Erkenntnis, dass durch den verstärkten Einzug der Robotertechnik in die Fabri-ken die große Chance besteht, vier Ziele gemeinsam voranzubringen:I. Werden schwere, taktgebundene, repetetive Tätigkeiten

durch Roboter substituiert und entfallen damit „rote“ und „gelbe“ Arbeitsplätze in der Fertigung, wäre dies zum einen ein großer Schritt zur Verbesserung der Ergonomie in der Fertigung.

II. Zum anderen könnten die Mitarbeiter die gewonnene Ar-beitszeit für qualifiziertere Arbeit nutzen.

III. Durch den vermehrten Einsatz von Roboterlösungen besteht die Chance für eine neue, wettbewerbsfähige „Mischkalkula-tion“ der Arbeitskosten zwischen Mitarbeitern und Robotern.

IV. Der gezielte Einsatz von Robotern zur Entlastung der Mit-arbeiter und als Substitut für ergonomisch kritische Tätig-keiten kann dabei helfen, dass alle Mitarbeiter gesund bis zur Erreichung des Rentenalters in der Fertigung arbeiten können. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass der

Gute Arbeit in der Fabrik 4.0 – Der Weg von Volkswagen

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verstärkte Einsatz von Robotern in der Fertigung eine Ant-wort auf den möglicherweise anstehenden Fachkräfteman-gel sein kann (Demografie).

Die Zusammenhänge des Gesamtmodelles werden im Nachfol-genden weiter ausgeführt.

a) Ergonomie – Verbesserung der ArbeitsbedingungenAuch wenn sich in den vergangenen zwanzig Jahren beim The-ma Ergonomie viel getan hat, gibt es – auch in den Fabriken von Volkswagen – immer noch zu viele belastende Arbeitsplätze. So haben wir bis heute in der Golf-Montage in Wolfsburg oder bei den Nutzfahrzeugen in Hannover einen Anteil sogenannter „ro-ter“ Arbeitsplätze von 5 bis 10 Prozent und „gelber“ Arbeitsplät-ze von 20 bis 30 Prozent. Rote und gelbe Arbeitsplätze bedeutet, dass diese Arbeitsplätze eigentlich für eine achtstündige tägliche Arbeit nicht in Ordnung sind. Die roten müssten eigentlich alle abgeschafft und die gelben umgestaltet werden. Ein klassisches Beispiel hierfür sind Arbeiten im Innenraum mit Kriechen in die Karosse, Verdrehungen des Bewegungsapparats und Ausführung von Montagearbeiten an unzugänglichen Stel-len. Es ist harte Arbeit und den Schweiß der Ingenieure wert, diese Arbeit zu automatisieren, obwohl sie zugegebenermaßen sicher der schwierigste Teil des Robotereinsatzes ist. Gerade des-halb legen wir bei Volkswagen großen Wert darauf, dass diese Ar-beitsplätze von den Industrial Engineers und Fabrikplanern beim Robotereinsatz zuerst berücksichtigt werden.

b) Qualifizierte Arbeit – Zukunft der Facharbeit Der zweite große Bereich, mit dem wir uns im Rahmen unseres Konzepts beschäftigen: Wie sieht Arbeit in der Fabrik der Zu-kunft aus? Welche Qualifikationen bleiben und welche neuen brauchen wir, wenn über die nächsten Jahrzehnte der Großteil der taktgebundenen Arbeit verschwinden kann?

Schon heute haben wir die Tendenz, dass einfache Arbeiten in unseren Fabriken abnehmen. Von 262.000 Mitarbeitern des Konzerns im direkten Bereich arbeitet nur noch die Hälfte takt-gebunden. Dieselbe Relation gilt für die 107.000 deutschen Be-schäftigten im direkten Bereich. Der größere und wachsende Teil der Arbeit sind qualifizierte Tätigkeiten: Maschinenüberwa-chung und Störungsbeseitigung, Reparatur und Instandhaltung, Auf-, Um- und Abbau von Anlagen, Programmierung und Anlauf-steuerung, Planung, Kommunikation und Führung.Diese Entwicklung bedeutet Fluch und Segen zugleich: • Auf der einen Seite „frisst“ die Automatisierung Arbeitsplätze.• Auf der anderen sind es – bei richtiger Gestaltung – vor allem

die monotonen und belastenden Arbeitsplätze, die von der Automatisierung betroffen sind.

Wir haben also die Chance, durch Robotereinsatz unqualifi-zierte Arbeit zu reduzieren und die Mitarbeiter in der gewon-nenen Zeit auf qualifizierten Arbeitsplätzen einzusetzen. Wie sieht diese qualifizierte Arbeit in den zukünftigen Fabriken je-doch aus? Hierzu bedarf es nur eines Blickes in den Karosse-riebau. Die Karosseriebauten im Volkswagen Konzern gehören zu den Gewerken des Fahrzeugbaues mit dem höchsten Auto-matisierungsgrad. Mit den Automatisierungsschüben seit den frühen 1970er Jahren zogen immer mehr und immer unter-schiedlichere Typen von Robotern in den Karosseriebau Golf in Wolfsburg ein. Mit der Zunahme der Roboter erhöhte sich über die Golf-Gene-rationen der Automatisierungsgrad. Er liegt heute im Karosse-riebau Golf in Wolfsburg bei ca. 91 Prozent. Das hatte zunächst einmal Auswirkungen auf die Quantität des Arbeitsplatzangebo-tes: Die Anzahl der Mitarbeiter sank von 4.800 im Jahr 1974 auf 2.400 im Jahr 2015. Parallel dazu stieg die Anzahl der Roboter von 68 im Jahr 1974 auf 2.265 zum heutigen Zeitpunkt.

Abb 1: volkswagen konzern: gute arbeit in der fabrik 4.0

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Die Roboter übernahmen also in den vergangenen 40 Jahren die schweren Tätigkeiten der Menschen (z.B. manuelles Punkt-schweißen, schwere Einlegetätigkeiten). Die Mitarbeiter über-nahmen zunehmend qualifizierte Arbeit. Qualifizierte Arbeit heißt: das Planen, Programmieren, in Betrieb nehmen, Überwa-chen, Warten und Instandhalten von Anlagen. Zudem beinhaltet es einen hohen Anteil kommunikativer und produkt- bzw. pro-zessverbessernder Arbeiten. Was pars pro toto für den Karosseriebau gilt, trifft in der Tendenz auf die ganze Fabrik zu: Schon heute ist ein Großteil der Fabrik-arbeit qualifizierte Arbeit: Maschinenüberwachung, schnelle Störungseingriffe. Der Facharbeiter muss wissen, welches Ge-räusch welche Aktion erfordert. Es geht um Qualitätskontrollen, Instandhaltung, Reparatur, Aufbau, Anläufe, Programmierung, Planung, KVP. Zusammengefasst lässt sich sagen: • Qualifikationsfördernde Arbeitsorganisation zielt ähnlich wie

die Ergonomie auf die Abschaffung stupider, von Routine ge-prägter oder kognitiv wenig fordernder Arbeitsplätze.

• Entscheidungsfördernde Technik ist so ausgelegt, dass sie den einzelnen Beschäftigten nicht mit unverständlichen Signalen und Mitteilungen zum hilflosen Opfer professioneller (=in-standhaltender) Hilfe macht, sondern ihn dazu befähigt, Al-ternativen anhand der vorhandenen Informationen zu prüfen und dann auch selbstständig Entscheidungen zu treffen.

• Einfachere Technik scheint zudem ein ganz wesentlicher Punkt: zunehmende technische Komplexität muss sich nicht in schwieriger Bedienbarkeit niederschlagen – und manch-mal ist die einfachere Anlage ohnehin die bessere.

c) Arbeitskosten Das dritte Handlungsfeld unseres Konzepts sind die Arbeitskos-ten. Bekanntlich ist gerade Deutschland ein Hochlohnland und dort wiederum steht die Automobilindustrie an der Spitze. Wenn man sich dann fragt: „Was kostet denn der Roboter, der den Menschen ersetzt?“, kommt man zu sehr erstaunlichen Zahlen. Unterstellt man eine Laufzeit der Roboter von sieben Jahren (tendenziell ist sie eher länger), eine Betriebszeit von 35.000 Stunden über die Laufzeit, einen Stromverbrauch zwischen 1 und 13 kW/h sowie Instandhaltungskosten von 5 Prozent und rechnet man für die Anschaffungskosten eines Roboters 112.000 bis 217.000 Euro, ist man bei Roboterstundenkosten von 3 bis 6 Euro. Diese rund 5 Euro muss man in Relation setzen zu den 30 bis 50 Euro, die der Mann oder die Frau in Deutschland kosten.

Selbst die 10 Euro Stundenlohn in China sind noch doppelt so viel, wie der Roboter kostet.Da wir damit rechnen müssen (und auch politisch nichts anderes wollen!), dass diese Lohnkosten in etwa bestehen bleiben, ist Au-tomatisierung mit Augenmaß ein geeigneter Weg, um die hohen Lohnkosten gerade in Deutschland zu dämpfen und zu einer neuen „Mischkalkulation“ bei den Arbeitskosten zu kommen.

d) BeschäftigungDie Frage ist nun natürlich: Was geschieht, wenn wir in den kom-menden Jahren vermehrt Arbeitsplätze durch Roboter ersetzen? Wird dann die Anzahl der Arbeitslosen wieder steigen – bedingt durch noch mehr Automatisierung? Die Antwort lautet: Nein.Bundesweit arbeiten derzeit mehr als fünf Millionen Menschen in der Industrie, bei Volkswagen in Deutschland sind 120.000 in der Produktion beschäftigt. Was uns in den nächsten 20 Jahren helfen wird, ist eine demografische Besonderheit, vorwiegend in Deutschland, schwächer ausgeprägt in anderen westeuropäi-schen Ländern: Wirtschaftswunder und Babyboom (1955 bis 1975) haben 20 Jahrgänge außergewöhnlich stark besetzt. Diese „Wirtschaftswunderkinder“ gehen in den nächsten Jahren auf die 60 zu – und dann in Rente.Im Zusammenfallen des neuen Automatisierungsschubs durch Industrie 4.0 und des Renteneintritts der köpfemäßig größten Jahrgänge der deutschen Geschichte ergeben sich enorme Chancen für eine beschäftigungspolitisch verträgliche Gestal-tung der Automatisierung. Zwischen 2015 und 2030 werden außergewöhnlich viele Be-schäftigte die Unternehmen altersbedingt verlassen – im Volks-wagen-Konzern etwa 23.000 mehr als im langjährigen Durch-schnitt. Deshalb haben wir die Möglichkeit, Menschen durch Ro-boter zu ersetzen und trotzdem in bisherigem Umfang Nach-wuchskräfte einzustellen. Umgekehrt könnten wir diesen Rentnerabgang auch gar nicht durch junge Mitarbeiter ersetzen.Beschäftigungspolitisch wäre ein Automatisierungsschub also verträglich – aber warum sollten wir ihn begrüßen oder gar vor-antreiben? Hier kommen wieder die Faktoren von Ergonomie und qualifizierter Arbeit ins Spiel: Wir haben ein starkes Interes-se an guter, qualifizierter Arbeit für alle. Obwohl es in den ver-gangenen Jahren gelungen ist, einen großen Teil der Industrie-arbeitsplätze zu optimieren, gibt es Routinearbeiten, die noch immer nicht ergonomisch sind. Sieben Stunden lang im Minu-tentakt eine Nockenwelle mit exakt sechsmal acht Tropfen Öl zu versorgen, dies erfordert Präzision, Aufmerksamkeit und ist gleichzeitig monoton und anstrengend – kurz: harte Arbeit. Man muss diesen Tätigkeiten nicht nachweinen, wenn es bessere Al-ternativen gibt.Im Gesamtbild heißt das: Ergonomie und qualifizierte Arbeit bil-den die zwei Hauptfaktoren einer „Guten Arbeit 4.0“. Wir kön-nen und müssen dabei auch das Thema altersgerechte Arbeit an-gehen. Wir haben die Chance, unsere Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, und zwar mit höherer Qualifikation und gleichzeitig in der Summe niedrigeren Arbeitskosten, und können das im Einklang mit der Beschäftigungssicherheit tun.Unsere Gestaltungsspielräume sind dabei erheblich. Denn klar ist: Das zweite Maschinenzeitalter kommt nicht über uns, son-dern wird von Menschen gestaltet. Die Ausprägung der Technik kann durch steuernde Eingriffe, durch arbeitspolitische

Abb 2: gestaltungsoptionen

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Entscheidungen und normative Vorgaben gestaltet werden – zum Guten wie zum Schlechten. Denn im künftigen Verhältnis der menschlichen Arbeit zu den Ma-schinen sind verschiedene Aus-prägungen denkbar. Hier seien nur drei genannt: • Arbeits-zentriert – das ist die

alte Welt der Manufakturen, des Handwerks. Die weltweit erfolgreiche Makers-Bewegung knüpft hieran gerade an.

• Technik-zentriert – das ist z.B. der Fordismus, aber auch die tayloristische Arbeitsorganisa-tion, welche die Menschen nur zwischen den Maschinen einpasst.

• Ausgewogen im Verhältnis von Mensch und Technik – das ist die Welt von morgen, die trotz oder gerade wegen der Hoch-automatisierung menschlichen Bedürfnissen bei der Arbeit Rechnung trägt. Voraussetzung hierfür: Wir sorgen dafür, dass der Mensch nach wie vor Maßstab der Arbeitsorganisati-on ist. Andernfalls droht die Dominanz der Maschinen, ein Entwicklung zu Taylorismus Total (T2) oder – wenn die Men-schen nicht mehr mitmachen – die Regression in die ver-meintlich gute alte Zeit: eine Neuauflage des Manufakturwesen.

Wir in Deutschland sind mit einem ausgewogenen Verhältnis von menschlichem Können und maschineller Kraft und Präzision immer gut gefahren. Die Stärke unserer Volkswirtschaft beruht ganz maßgeblich auf einer Industrie, die stets auf einen Aus-gleich zwischen Mensch und Technik bedacht war. Mit „Guter Arbeit 4.0“ bei Volkswagen wollen wir dafür sorgen, dass dies auch im zweiten Maschinenzeitalter so bleibt.

Abb 3: altersstruktur stammbelegschaft volkswagen konzern deutschland 2014

Abb 4: fabrik der zukunft: 3 entwicklungspfade

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p r o f. d r . h a r t m u t h i r s c h - k r e i n s e n ( t u d o r t m u n d )

Hartmut Hirsch-Kreinsen, Dr. rer.pol., Dipl.Wirtsch.Ing., ist seit 1997 Profes-sor für Wirtschafts- und Industriesoziologie an der TU Dortmund, Lehrstuhl Wirtschafts- und Industriesoziologie; Promotion und Habilitation an der TU Darmstadt. Arbeitsschwerpunkte sind: wirtschaftlicher Strukturwandel, in-dustrielle Innovationsprozesse sowie Entwicklungstendenzen von Produkti-onsarbeit insbesondere unter den Bedingungen der Digitalisierung. Seit 2013 ist er sozialwissenschaftliches Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Plattform Industrie 4.0 bei acatech.

Im Mainstream der aktuellen Diskussion über die Entwicklungs- und Anwendungsmöglichkeiten der Informationstechnologie wird davon ausgegangen, dass gegenwärtig ein ausgesprochener technologischer Entwicklungsschub stattfinde. Er öffne bislang völlig neue und unbekannte technologische Nutzungspotentiale mit geradezu disruptiven sozialen und ökonomischen Folgen (Avant 2014). In Hinblick auf die industrielle Produktion wird danach ein neues Zeitalter erkennbar, das im deutschen Sprach-raum als „4. Industrielle Revolution“ bzw. „Industrie 4.0“ (For-schungsunion/acatech 2013) bezeichnet wird.

Insbesondere im Kontext der weit über die Grenzen der Fachöf-fentlichkeit hinausreichenden Industrie 4.0-Debatte wird uniso-no davon ausgegangen, dass im Fall einer breiten Diffusion die-ser neuen Technologien sich die bisherige Landschaft der Arbeit in der industriellen Produktion nachhaltig verändern wird. Ob-gleich zu dieser Frage derzeit kaum valide Forschungsergebnisse vorliegen, legt eine Vielzahl von Studien die Auffassung nahe, dass sich mit den neuen Technologien absehbar ein generelles „Upgrading“ von Tätigkeiten und Qualifikationen verbinden wird (z.B. Spath et al. 2013; Bauernhansel 2014; Kagermann

Wandel von Arbeit bei Industrie 4.0 – Technologieschub mit eindeutigen Konsequenzen?

Abb. 1: industrie 4.0 als sozio-technisches system Quelle: eigene Darstellung

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p r o f. d r . h a r t m u t h i r s c h - k r e i n s e n ( t u d o r t m u n d )

2014; Plattform Industrie 4.0 2014). Als die zentrale Ursache hierfür gilt, dass di-gitale Technologien einfache Tätigkeiten weitgehend automatisieren und daher substituieren. Als eine weitere Ursache hierfür wird der Umstand angesehen, dass der Einsatz digitaler Technologien ganz generell zu einer steigenden Verfüg-barkeit einer großen Vielfalt von Infor-mationen über laufende Prozesse führt. Deren Komplexität und Nutzung ziehe neue und erhöhte Anforderungen an Tä-tigkeiten und Qualifikationen nach sich. So betont beispielsweise Henning Kager-mann, einer der Protagonisten der Vision von Industrie 4.0, dass Mitarbeiter in Zu-kunft weniger als „Maschinenbediener“ eingesetzt werden, „sondern mehr in der Rolle des Erfahrungsträgers, Entscheiders und Koordinators…die Vielzahl der Arbeitsinhalte für den einzelnen Mitarbeiter nimmt zu“ (Kagermann 2014 : 608).Demgegenüber verfügt sozialwissenschaftliche Arbeitsforschung über einen breiten Fundus konzeptioneller und empirischer For-schungsergebnisse, die instruktiv zeigen, dass die Entwicklung, die Implementation neuer Technologien, also auch die von In-dustrie 4.0-Systemen, alles andere als bruchlos und wider-spruchsfrei verlaufen und vor allem die sozialen Effekte kaum eindeutig ableitbar sind. Spätestens seit der kritischen Debatte um den „Technikdeterminismus“ in den 1970er und 1980er Jahren wird davon ausgegangen, dass zwischen technischen Sys-teme und ihren Konsequenzen für Arbeit eine von vielen nicht-technischen und sozialen Faktoren beeinflusste Beziehung besteht. Keineswegs darf eine durch Technikauslegung eindeuti-ge und festliegende Beziehung zwischen beiden Dimensionen angenommen werden (Lutz 1987; zusammenfassend Pfeiffer 2013). Die Analyse des Zusammenspiels der neuen Technologie und der dadurch induzierten personellen und organisatorischen Verän-derungen erfordert vielmehr den Blick auf das Gesamtsystem der Produktion und die hier wirksamen Zusammenhänge. Die neuen Produktionssysteme sind daher, einer lange zurückrei-chenden arbeitssoziologischen Debatte folgend, als sozio-tech-nische Systeme zu verstehen (Trist/Bamforth 1951). Allein in dieser analytischen Perspektive sind hinreichend begründete Aussagen über die Entwicklungsperspektiven und Gestaltungs-möglichkeiten für Arbeit möglich (vgl. Abb. 1).Daher muss auch von einem weiten Verständnis von Produkti-onsarbeit ausgegangen werden. Denn betroffen von den abseh-baren Wandlungstendenzen sind alle direkt und indirekt wert-schöpfenden Tätigkeiten in Industriebetrieben; das heißt, be - troffen sind die operative Ebene des Fertigungspersonals, wie aber auch die Bereiche des unteren und mittleren Manage-ments von Produktionsprozessen sowie die Gruppe der techni-schen Experten. Folgt man diesen kategorialen Bestimmungen, so erweisen sich Wandlungstendenzen und Gestaltungserfor-dernisse von Produktionsarbeit in den folgenden Dimensionen als relevant.1

Vieldimensionaler Wandel von ProduktionsarbeitAusgangspunkt der Analyse ist die Dimension der unmittelbaren Mensch-Maschine Interaktion. Aus arbeitssoziologischer Sicht erweist sich hier als zentrales Problem, inwieweit die Beschäf-tigten unmittelbar am System überhaupt in der Lage sind, dieses zu kontrollieren und damit die Verantwortung über den System-betrieb zu übernehmen. Denn es kann davon ausgegangen wer-den, dass die überwachenden Personen bei technologisch kom-plexen und automatisierten Systemen nicht in jedem Fall in der Lage sind, diesen Funktionen nachzugehen, da die funktionale und informationelle Distanz zum Systemablauf zu groß ist. Die Folge ist, dass das Bedienungspersonal die Anlagenzustände nicht mehr zutreffend einschätzen kann und unter Umständen falsche Entscheidungen in Hinblick auf Eingriffe in den automa-tischen Prozess trifft. Die Automationsforschung spricht in die-sem Zusammenhang von den „ironies of automation“ (Bainbrid-ge 1983), wonach automatisierte Prozesse auf Grund ihres ho-hen Routinecharakters bei Störungen nur schwer zu bewältigen-de Arbeitssituationen erzeugen. Eine an solchen Herausforderungen orientierte Gestaltung der Mensch-Maschi-ne-Schnittstelle muss nun sicherstellen, dass hinreichend quali-fizierte Arbeitskräfte in der Lage sind, ihren Überwachungsauf-gaben effektiv nachzukommen.Eine weitere zentrale Dimension und Herausforderung ist die Gestaltung der Aufgaben und Tätigkeitsstrukturen auf der opera-tiven Ebene des Shopfloors im Kontext der smarten Produktions-systeme. Folgt man den verfügbaren Evidenzen, so lassen sich die absehbaren Entwicklungstendenzen wie folgt skizzieren: • Zum Einen ist davon auszugehen, dass Arbeitsplätze mit nied-

rigen Qualifikationsanforderungen und einfachen, repetitiven Tätigkeiten durch intelligente Systeme in hohem Maße substi-tuiert werden. Als Beispiele hierfür sind einfache Tätigkeiten in der Logistik, bei der Maschinenbedienung und bei der bis-her manuellen Datenerfassung und -eingabe zu nennen. In welchem Umfang Substitutionsprozesse aber eintreten wer-den ist derzeit kaum abschätzbar.

• Zum Zweiten kann für die früher qualifizierte Facharbeitere-bene eine Tendenz zur Dequalifizierung von Tätigkeiten be-fürchtet werden. Zu nennen sind hier Aufgaben wie

1 Vgl. hierzu und zum Folgenden ausführlich: Hirsch-Kreinsen (2014) sowie Hirsch-Kreinsen et al. (2015).

Prof. Hirsch-Kreinsen beantwortet Diskussionsfragen zum Wandel der Arbeit in der Industrie 4.0.

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Maschinenbedienung sowie verschiedene Kontroll- und Über-wachungsfunktionen, die automatisiert werden. Auch Dispo-sitionsentscheidungen in der Produktionslogistik könnten mithilfe der neuen Systeme teilweise automatisiert werden. Sie greifen folglich nur noch in seltenen Ausnahmefällen in die Produktionsabläufe ein. In der Forschung wird daher von einer verbleibenden „Residualkategorie“ von qualifizierter Produktionsarbeit gesprochen.

• Zum Dritten kann aber auch eine Qualifikationsaufwertung und Tätigkeitsanreicherung erwartet werden. Als Grund hier-für können die erhöhte Komplexität der Fertigung und die in-formationstechnologische Dezentralisierung von Entschei-dungs-, Kontroll- und Koordinationsfunktionen angesehen werden. Daher werden die betroffenen Beschäftigten auf der operativen Ebene gefordert sein, zunehmend eigenständig zu planen und Abläufe abzustimmen. Erforderlich wird bei-spielsweise ein breiteres Verständnis über das Zusammenwir-ken des gesamten Produktionsprozesses, der Logistikanfor-derungen sowie der Lieferbedingungen.

Neben den angesprochenen Aufgaben- und Qualifikationsanfor-derungen muss bei der Arbeitsgestaltung auf der operativen Ar-beitsebene auch das mögliche hohe Kontrollpotential der neuen Systemtechniken in Rechnung gestellt werden. Die Frage, wel-che Möglichkeiten sich hiermit verbinden und wie sie faktisch in Unternehmen genutzt werden, lässt sich derzeit kaum beant-worten. In jedem Fall aber wird die Furcht vor dem durch die neuen technologischen Systeme möglichen „gläsernen Mitar-beiter“ ein wichtiger Einflussfaktor auf die Akzeptanz der neuen Technologien bei Beschäftigten und Arbeitnehmerinteressen-vertretungen sein. Fragt man, wie sich Produktionsarbeit in der hierarchischen Di-mension verändert, so finden sich bislang nur wenig eindeutige Forschungsergebnisse. Höhere hierarchische Ebenen der Pla-nungs- und Managementbereiche sind entweder indirekt von ei-ner Systemeinführung auf der Shopfloor Ebene betroffen oder

neue Planungs- und Steuerungssysteme finden unmittelbar in diesen Bereichen Einsatz. Zusammenfassend können wider-sprüchliche Konsequenzen für die indirekten Bereiche ange-nommen werden: • Zum Einen deuten Evidenzen darauf hin, dass auf Grund der

dezentralen Selbstorganisation der Systeme und einer ent-sprechend flexiblen Arbeitsorganisation auf der operativen Ebene ein Teil von bisher auf der Leitungsebene von techni-schen Experten und vom Produktionsmanagement ausgeführ-ten Planungs- und Steuerungsfunktionen „nach unten“ abge-geben werden. Das heißt, mit Industrie 4.0-Systemen ver-bindet sich ein Dezentralisierungsschub und Hierarchieab-bau innerhalb oft ohnehin schon relativ „flach“ strukturierter Fabrikorganisationen.

• Zum Zweiten ist davon auszugehen, dass eine ganze Reihe von Aufgaben in indirekten Bereichen automatisiert und damit ver-einfacht oder gar substituiert werden können. Je nach Syste-mauslegung kann es sich dabei um Planungs- und Steuerungs-aufgaben, Tätigkeiten der Instandhaltung und des Service wie aber auch qualitätssichernde Aufgaben handeln.

• Zum Dritten dürften komplexitätsbedingt erweiterte und neue Planungsaufgaben auf diese Bereiche zukommen. Einige Hin-weise deuten darauf hin, dass angesichts der Systemkomple-xität Aufgaben des „troubleshooting“ deutlich an Bedeutung gewinnen. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass auf der Planungs- und Managementebene früher getrennte Auf-gaben und Kompetenzen, beispielsweise IT- und Produktions-kompetenzen, verschmelzen.

• Obgleich sie bislang wenig eindeutig sind, lassen diese Hin-weise den Schluss zu, dass die Planungs- und Managementbe-reiche in Folge der Einführung von Industrie 4.0-Systemen längerfristig ebenso nachhaltig betroffen sein werden wie die operative Ebene. Mehr noch, es ist davon auszugehen, dass der Wandel und eine entsprechende Gestaltung auch der Lei-tungsebenen unverzichtbare Voraussetzung für die Beherr-schung der neuen Technologien ist.

Quelle: eigene Darstellung Quelle: eigene Darstellung

Abb. 2: polarisierte organisation Abb. 3: schwarm-organisation

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Gestaltungsalternativen existierenResümiert man die vorliegenden Befunde über den Wandel von Tätigkeits- und Qualifikationsstrukturen, so wird zunächst deut-lich, dass die Perspektive einer vollständigen Automatisierung und der menschenleeren Fabrik aus technologischen und öko-nomischen Gründen keine realistische Perspektive darstellen kann. Zugleich ist aber auch kein „one-best-way“ der Entwick-lung von Arbeit an smarten Produktionssystemen erkennbar. Auszugehen ist vielmehr von einem breiten Spektrum divergie-render Muster der Arbeitsorganisation: Das eine Muster entspricht einem Gestaltungsansatz, der auf den skizzierten Tendenzen der innerbetrieblichen Heterogeni-sierung von Aufgaben, Qualifikationen und Personaleinsatz be-ruht. Es finden sich in den Produktionssystemen einerseits eine vermutlich nur noch geringe Zahl einfacher Tätigkeiten mit ge-ringem oder keinem Handlungsspielraum, die laufende standar-disierte Überwachungs- und Kontrollaufgaben ausführen. Ande-rerseits ist eine ausgeweitete oder auch neu entstandene Gruppe hoch qualifizierter Experten und technischer Spezialisten anzu-treffen, deren Qualifikationsniveau deutlich über dem bisheri-gen Facharbeiterniveau liegt. Diesen Beschäftigten obliegen nicht nur dispositive Aufgaben etwa der Störungsbewältigung, sondern sie übernehmen verschiedentlich auch Aufgaben des Produktionsmanagements. Verkürzt kann dieses arbeitsorgani-satorische Muster als Polarisierte Organisation bezeichnet wer-den (vgl. Abb. 2).Das andere Muster des Spektrums wird von einem arbeitsor-ganisatorischen Gestaltungsansatz gebildet, der metapho-risch als Schwarm-Organisation bezeichnet werden kann. Diese Form der Arbeitsorganisation ist durch eine lockere Vernetzung sehr qualifizierter und gleichberechtigt agieren-der Beschäftigter gekennzeichnet. Einfache und niedrig qua-lifizierte Tätigkeiten sind hier nicht anzutreffen, denn sie sind weitgehend durch die Automatisierung substituiert wor-den. Zentrales Merkmal dieses Organisationsmusters ist, dass es keine definierten Aufgaben für einzelne Beschäftigte gibt, vielmehr handelt das Arbeitskollektiv selbst organisiert, hoch flexibel und situationsbestimmt je nach zu lösenden Proble-men im und am technologischen System. Anders formuliert, dieses Muster der Arbeitsorganisation zielt auf die explizite Nutzung informeller sozialer Prozesse der Kommunikation und Kooperation und der damit verbundenen extrafunktiona-len Kompetenzen und des akkumulierten spezifischen Pro-zesswissens der Beschäftigten (vgl. Abb. 3).Insgesamt bezeichnen diese beiden arbeitsorganisatorischen Muster grundlegend unterschiedliche Perspektiven von Produk-tionsarbeit. Vermutlich werden sich auf Dauer Mischformen und Zwischenlösungen einspielen. Diese beiden Muster verweisen jedoch darauf, dass Unternehmen bei der Einführung von Indus-trie 4.0-Systemen nicht nur organisatorische und personalpoliti-sche Wahlmöglichkeiten haben, sondern sich damit auch je nach der konkreten betrieblichen Situation auch sehr verschie-dene soziale und ökonomische Effekte verbinden können. Wel-cher Art diese sind und welche Einflussgrößen die konkrete Ar-beitsgestaltung bei der Einführung von Industrie 4.0-Systemen bestimmen, muss Gegenstand intensiver Forschungs- und Ent-wicklungsanstrengungen sein.

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LITERATUR

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Professor Dr.-Ing. Wilhelm Bauer ist Leiter des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO sowie des Instituts für Arbeitswissenschaft und Technologie-management IAT der Universität Stuttgart. Er verantwortet mit über 500 Mitarbeite-rinnen und Mitarbeitern Forschungs- und Umsetzungsprojekte in den Bereichen Innovationsforschung, Technologiemanagement, Leben und Arbeiten in der Zukunft, Smarter Cities. 2012 vom Land Baden-Württemberg als „Übermorgenmacher“ geehrt, leitet er die Fraunhofer-Initiative „Morgenstadt“ und ist Mitglied in der „Nationalen Plattform Zukunftsstadt“ der Bundesregierung.

Wir befinden uns nach der Erfindung der Dampfmaschine, der Industrialisierung und dem Start des Computerzeitalters, mit dem »Internet der Dinge und Dienste« am Beginn der nächsten industriellen Revolution. Die Digitalisierung eröffnet eine Viel-zahl neuer Möglichkeiten, die das Leben der Menschen einfa-cher machen und neue Chancen für gesellschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklungen bieten.

Bedürfnisse und Verhalten von Menschen im WandelVeränderungen im Bereich »Mensch und Gesellschaft« liegen in erster Linie im demografischen Wandel und einer zunehmenden Diversity der Gesellschaft begründet. Im Einklang mit der Gesam-tentwicklung der Demografie in Deutschland wird das Durch-schnittsalter der Belegschaften in vielen Bereichen über die nächsten Jahre anwachsen. Für die Arbeit bedingt diese

Entwicklung die zunehmende Ausrichtung auf Aspekte der ge-sundheits- und alternsgerechten Arbeitsgestaltung. Zudem wer-den in den nächsten zehn bis 15 Jahren in vielen Bereichen über-proportional viele Mitarbeiter aus dem aktiven Berufsleben aus-scheiden, da die starken »Baby-Boomer«-Jahrgänge dann in Ren-te gehen.Parallel zu dieser Entwicklung wachsen die Unterschiede zwi-schen den Lebenswelten der Generationen, die in der betriebli-chen Realität in einer höheren Individualisierung der Einzelin-teressen zum Ausdruck kommen. Der Unterschiedlichkeit der favorisierten Arbeitsweise sowie den individuellen Ansprüchen auf höhere zeitliche Flexibilität und räumliche Mobilität der Mit-arbeiter durch kollektive Regelungen gerecht zu werden, gestal-tet sich zunehmend schwierig. Insbesondere mit Blick auf die vielzitierten »Generation Y« und »Generation Z« werden die

Arbeitsorganisation in der Fabrik 4.0

Abb. 1: treiber der transformation

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Unterschiede der Altersgruppen und der Wandel der zugrunde-liegenden Erwartungen sichtbar. Die diese Generationen cha-rakterisierenden Erwartungshaltungen und Vorstellungen einer flexiblen und selbstbestimmten Lebens- und Arbeitsweise sind schon heute in großen Teilen durch einen nativen Umgang mit Mobilgeräten und Vernetzung geprägt.

Die Unterschiedlichkeit der Interessen nimmt auch durch einen steigenden Anteil von Frauen an der Arbeitsbevölkerung sowie die durch die Globalisierung und die grenzüberschreitende Mo-bilität ausgelöste Internationalität der Belegschaften und das da-mit verbundene Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Lebensanschauungen zu. Familien, in denen

Abb. 3: smarter working als folge größerer diversität

Abb. 2: individuelle und unternehmerische interessen

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beide Elternteile berufstätig sind, haben hohe Ansprüche an die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Beschäftigte mit Angehöri-gen, die Zuwendung oder Pflege benötigen, generieren Anforde-rungen an zeitliche und räumliche Flexibilität in der Arbeit. Das Bedürfnisprofil variiert in Abhängigkeit der jeweiligen Le-bensphase und -situation zunehmend. Das Thema der Work-Life-Integration rückt mehr und mehr in den Fokus der Diskussionen zur Gestaltung von Arbeit – Geben und Nehmen wird zur Maxime der Arbeitsorganisation. Als eine Folge ist erkennbar, dass die Arbeit sich in den Dimensionen Struktur, Ort und Zeit weiter differenziert. Nicht mehr die Men-schen kommen zur Arbeit, sondern die Arbeit kommt zu den Menschen!

Technologische Entwicklungen und technische Innovation im Kontext neuer Geschäftsmodelle und Wertschöpfungssysteme Im Bereich »Technologie und Technik« sind drei wesentliche Entwicklungsebenen sichtbar, die die Umbrüche hin zu einer di-gital vernetzten und zunehmend autonomen datenbasierenden Welt verdeutlichen. Dabei sind den Ambitionen von Technikern scheinbar keine Grenzen gesetzt:Verschmelzen von realer und virtueller Welt: Arbeitsprozesse werden sich zukünftig in unterschiedlichen Umgebungen (z. B. individuell am Arbeitsplatz, unterwegs mittels Smartphonenut-zung, kollaborativ innerhalb virtueller Netzwerke) und neuen Kontexten abspielen (»Computing everywhere«). Die virtuelle und reale Welt werden integriert, die Realität durch

Informationsoverlays erweitert. Im Internet der Dinge kommu-nizieren intelligente vernetzte Objekte miteinander und mit den Menschen und ermöglichen z. B. die autonome Steuerung von Materialflüssen und Logistik. Mittels generativer Verfahren (3D-Druck) können Alltagsgegenstände, aber auch industrielle Bauteile in »Stückzahl 1« zu vergleichbaren Kosten einer Mas-senproduktion hergestellt werden – eine personalisierte Pro-duktentstehung wird möglich.Intelligence everywhere: Die Menschen erhalten technische Unterstützung und Verstärkung, die ihnen beinahe übernatürli-che Kräfte geben und allumfassendes Wissen bereitstellen wird. Beschäftigte können hiervon entsprechend des jeweiligen Kom-petenzprofils profitieren, z. B. durch Analysealgorithmen, die die effiziente Filterung von Datenströmen und die Bereitstellung der erforderlichen Informationen an den jeweiligen Nutzer zur richtigen Zeit gewährleisten. Kontextbasierte Systeme reagieren zudem auf ihre Umwelt und stellen proaktiv passgenaue Hand-lungsempfehlungen zur Verfügung, um Geschäftsprozesse digi-tal gestützt zu optimieren. Autonome Systeme unterstützen den Menschen und nehmen ihm zunehmend auch Entscheidungen ab. Die Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) und Robotik führen zu intelligenteren Maschinen und leisten ei-nen wesentlichen Beitrag für die zukünftige Arbeitsteilung und neue Wertschöpfungskooperationen durch multimodale Mensch-Roboter-Kollaboration (MRK). Auch Dienstleistungsbe-reiche werden durch die Präsenz von Robotern und autonomen Systemen weitergehend automatisiert und entwickeln sich zu di-gitalen Entitäten.

Abb. 4: strategische technologietrends 2015

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Aufkommen einer neuen IT-Realität: Cloud Computing ermög-licht die durchgängige Synchronisation von Dokumenten und den orts- wie auch zeitunabhängigen Zugriff auf diese durch mobile Endgeräte. Flexible und dynamische Anwendungen und skalierbare Infrastrukturmodelle sind der Garant für neue di-gitale Geschäftsmodelle und Wertschöpfungssysteme (»Smart Business«) und den weiteren Ausbau des Internets als Busi-ness-Plattform. Diese ist geprägt durch Kundeninteraktion und Anwendervielfalt und bedeutet die Abkehr von klassischen Pro-dukten und Services hin zu individualisierten Leistungsbündeln (Produkt-Service-Innovationen). Schutz- und Sicherheitsmaß-nahmen dienen der Absicherung vor der sogenannten Cyberkriminalität.

Die Fabrik 4.0 im Internet of ThingsIn der aktuellen Diskussion prägt momentan vor allem der Be-griff »Industrie 4.0« die öffentliche Diskussion. Internet und Mobiltechnologien haben über die letzten zehn Jahre unser Le-ben und Arbeiten grundlegend verändert. Die Vernetzung von physischer und virtueller Welt durchdringt immer weitere Be-reiche – gerade die Arbeit im Büro hat sich fundamental verän-dert. Zusammen mit einer neuen Stufe der Automatisierung und der Diffusion des Konzepts des Internet der Dinge und Dienste vollzieht sich momentan die Übertragung in die industrielle Produktion.Industrie 4.0 bezeichnet vor diesem Hintergrund die echtzeitfä-hige, intelligente Vernetzung von Menschen, Maschinen und Objekten zum Management von Systemen. Über IP-Adressen vernetzte Objekte, die mit eingebetteter Hard- und Software (»Cyber-Physical Systems«) ausgestattet sind, interagieren mit ihrer Umwelt. Die sich selbst organisierende Smart Factory bil-det dabei Vision und Gegenstandsbereich – ähnlich wie Smart Mobility, Smart Logistics, Smart Grid, Smart Building oder Smart Health. Nach Mechanisierung, Industrialisierung und Automatisierung wird der intelligenten Vernetzung der Indust-rie das Potenzial einer vierten industriellen Revolution zuge-traut. Aufgesetzt als industrie-politisches Programm zur Steige-rung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft um-fasst Industrie 4.0 ein ganzes Bündel an Technologien, Lösun-gen und Anwendungen, deren Kern auf die Übertragung des Konzepts des »Internet der Dinge« auf die industrielle Wert-schöpfung und die Produktion abzielt. Bezogen auf die voraus-sichtlichen Anwendungsbereiche werden signifikante Produkti-vitätsgewinne erwartet.Neben der Entwicklung im Bereich Industrie 4.0 wird vielfach eine nächste Welle der Automatisierung durch Robotersysteme erwartet. Diese begründet sich im rapiden Preisverfall, vor allem im Bereich der industriell einsetzbaren Leichtbaurobotik. Ähn-lich wie bei Industrie 4.0 existiert allerdings auch beim Thema Robotik momentan noch eine große Diskrepanz zwischen Er-wartungshaltung und betrieblicher Realität. So sind zwar heute noch sehr wenige Leichtbauroboter im industriellen Einsatz, für die nächsten Jahre wird hingegen mit einem massiven Aufbau neuer Anwendungen gerechnet. Die skizzierten Entwicklungen der Automatisierung und Digitalisierung hängen zumindest in-direkt zusammen. Die zunehmende Automatisierung direkter – vor allem taktgebundener Tätigkeiten in Fertigung, Montage und Logistik – intensiviert Koordinations- und Kooperationsprozesse

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LITERATUR

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zwischen Menschen und Maschinen, die wiederum Ansatzpunkt und Gegenstand für Digitalisierung sind.Aspekte der Arbeitsorganisation in der Fabrik 4.0Arbeitsorganisation in der industriellen Produktion wird immer noch stark von den großen Entwicklungen der Produktions- und Arbeitsgestaltung der vergangenen Jahrzehnte geprägt: Humani-sierung der Arbeit, CIM (Computer-integrated Manufacturing), Lean Management und Wandlungsfähigkeit. Der heute mit In-dustrie 4.0 durch die Digitalisierung und Automatisierung von Wertschöpfungssystemen und -prozessen erwartete Entwick-lungssprung beruht einerseits auf den neuen Möglichkeiten, die sich durch die Weiterentwicklung der IT ergeben; gleichzeitig sind Effizienzsteigerungen zu erzielen, um Übertreibungen, wie sie im Zuge vieler CIM-Projekte stattgefunden haben, zu vermei-den. Industrie 4.0 wie auch die Weiterentwicklung des Lean Ma-nagements stellen die engere Verzahnung von Produktentwick-lung, Produktionsplanung und Produktion in den Vordergrund. Bedingt durch die Trends der immer stärker ausgeprägten Indi-vidualisierung von Produkten, sinkender Produktlebenszyklen und der Verkürzung der Lieferzeiten gewinnt die schnelle Reak-tion auf Kundenanfragen und -änderungen immer mehr an Be-deutung. Dies schlägt sich neben der stärkeren Verzahnung der Bereiche auch in einer weiteren Übernahme von indirekten Tä-tigkeiten durch Produktionsmitarbeiter nieder. Bezogen auf die indirekten Bereiche der Industriearbeit lassen sich heute unter-schiedliche Durchdringungsgrade beobachten. Während die

Digitalisierung im Engineering und in der Planung kaum mehr wegzudenken ist, sind Steuerung, Disposition und indirekte Tä-tigkeiten auf dem betrieblichen Hallenboden heute vorwiegend von manuellen Prozessen geprägt.Aufgrund der noch offenen Entwicklung der Industrie 4.0 kön-nen noch keine eindeutigen Einschätzungen über Arbeitsorgani-sations- und damit verbundene Kompetenzentwicklungspfade getroffen werden. Deshalb werden im Folgenden Einschätzun-gen in Verbindung mit zwei auf Windelband und Spöttl (2011) zurückgehende Extremszenarien bzw. polar entgegengesetzte Entwicklungsrichtungen angeführt. Bei der ersten Richtung, dem »Automatisierungsszenario«, wird ein immer größer wer-dender Teil der Entscheidungen durch die Technik getroffen. Dies würde den Raum für autonome menschliche Entscheidun-gen und Handlungsalternativen immer weiter einschränken und wäre mit der Entstehung einer Kompetenzlücke verbunden: In einem zunehmend automatisierten System muss der Mensch nur noch in Störfällen eingreifen, aber zumindest die Mitarbei-ter der unteren wie auch mittleren Qualifikationsebene könnten die dazu notwendigen Kompetenzen nicht mehr erlangen. Bei der zweiten Entwicklungsrichtung, die hier als »Spezialisie-rungsszenario« bezeichnet wird, dient die Technik zur Unter-stützung menschlicher Entscheidungen und somit von Problem-lösungen. Im Unterschied zum Automatisierungsszenario bleibt hier auch den Produktionsmitarbeitern zumindest der mittleren Qualifikationsebene ein wesentlich größerer Anteil der

Abb. 5: arbeitsorganisation in der fabrik 4.0 – ganzheitliche gestaltung guter arbeit

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Entscheidungen überlassen, womit Prozessoptimierungen, Ein-griffe bei Störungen und Problemlösungen, und damit vielfälti-gere, wenn nicht höhere Anforderungen verbunden sind. Im Au-tomatisierungsszenario sollen die Aufgaben von den technischen Teilen des sozio-technischen Systems übernommen werden, in die nur Hochqualifizierte eingreifen können. Im Spezialisierungsszenario sind die Mensch-Technik-Schnitt-stellen so gestaltet, dass neben den Hochqualifizierten zumin-dest Fachkräfte der mittleren Qualifikationsebene mit der Tech-nik interagieren können.Eine Übersicht über zentrale Bereiche zur ganzheitlichen Ge-staltung guter Arbeit in der Fabrik 4.0 veranschaulicht die Abbil-dung 5.Wichtig ist es zu betonen, dass sich die Arbeit in der Fabrik 4.0 weiterhin an den Grundpfeilern der Arbeitsgestaltung orientiert, die die klassischen Elemente von »TOP« (Technik, Organisation und Personal) als ganzheitliches Gestaltungsfeld ansehen und die Wirkungsdimensionen Humanität und Produktivität in ei-nem balancierten Gestaltungsraum adressieren. Wenn durch physische Assistenz nicht ergonomische Arbeit verbessert oder ersetzt wird, ist dies gut so. Wenn alternsge-rechte Arbeitsgestaltung dazu beiträgt, Menschen länger im Ar-beitssystem zu halten und damit einen Beitrag zum Fachkräfte-mangel zu leisten und zugleich Menschen die Möglichkeiten eröffnet, länger arbeiten zu können, ist dies bestens. Wenn lo-kationsbasierte und kontextsensitive Systeme helfen, dass

technische Anlagen im Sinne von »Predictive Maintenance« eine höhere Verfügbarkeit gewährleisten und gleichzeitig bei den Anlagenführern zu weniger Stress bei Anlagenstillstand führen, dann ist das gute Arbeit. Wenn durch ein vollständiges digitales Produktionsbild (»Digitale Fabrik«) Simulationen der Prozesse und Abläufe in Echtzeit erfolgen können und die Pro-duktionsmitarbeiter sofort Aussagen über Ursachen und mögli-che Lösungsszenarien bei Produktionsstörungen erhalten, dann verringert dies Stress bei der Arbeit. Wenn eine Produkti-onssteuerung unter Einbindung von mit mobilen Apps ausge-statteten Beschäftigten möglich wird, führt das zu mehr Work-Life-Balance bei den Beschäftigten und zu einer optima-len Produktionssteuerung. Wenn arbeitsprozessintegriertes Lernen durch zeitgemäße mobile und personalisierte Lernmo-dule unterstützt wird und Motivation fördert, führt dies zu mehr Produktivität des Systems und zur Sicherung der Beschäf-tigungsfähigkeit der Belegschaft. Wenn durch multimodale Mensch-Technik-Interaktion vernetztes und kollaboratives Ar-beiten (z. B. in der Mensch-Roboter-Kollaboration) gefördert wird, schafft dies neue und interessante zukünftige Jobs.Umfragen zeigen es deutlich: die Anforderungen an die Qualifi-kation der in der Fabrik 4.0 Beschäftigten verändern sich erheb-lich. Informationstechnische und soziale Kompetenzen werden immer wichtiger. Dies bedeutet nicht die Abkehr von anderen, z. B. mechatronischen Kompetenzanforderungen, zeigt aber die Richtung der Veränderungen auf.

Abb. 6: arbeit in der industrie 4.0 – neue qualifikationsanforderungen

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s ta t e m e n t s

Stimmen aus der Podiumsdiskussion

Prof. Dr.-Ing. Wilhelm Bauer, Fraunhofer IAO Stuttgart

„Unsere Gesellschaft und Wirtschaft – und mit ihr auch viele andere auf der Welt – stehen aufgrund von weitreichenden Veränderungen in

den Bedürfnisstrukturen und im sozialen Verhalten von Mensch und Gesellschaft sowie aufgrund der dyna-mischen technologischen Entwicklungen und disruptiven Innovationen bei Geschäftsmodellen und Wertschöp-fungssystemen vor großen Herausforderungen. Arbeits- und Lebenswelten befinden sich in einer gewaltigen Transformation: Das Internet und digitale Technologien, allen voran auch die mobile Nutzung von Daten und de-ren Interpretation, gestalten nicht nur unseren Alltag neu, sondern führen auch zu einem tiefgreifenden Wan-del von Wirtschaft und Arbeitswelt insgesamt.“

Dr. Jozef Nanasi, Leiter Industrial Engineering, Volkswagen Konzern

„Das Industrial Enginee-ring wird sich durch Indus-

trie 4.0 deutlich verändern. Zusätzlich zu den bestehenden Aufgaben muss der Betrach-tungs- und Optimierungsumfang auf Mensch-Roboter-Kooperationen ausgeweitet werden. In Bezug auf die Optimierung von Pro-duktivität und Ergonomie brauchen wir neue Analyse und Simulationstools. Gleichzeitig brauchen wir neue Methoden, um komplexe und/oder verdeckte Wirkungszusammenhänge begreifbar zu machen, zum Beispiel durch Da-tamining. Nur so können wir Prozesse ganz-heitlich optimieren.Die genannten Entwicklungen bleiben nicht ohne Folgen für die Teamarbeit. Neue Techno-logien, Analyse- und Optimierungswerkzeuge machen Prozesse besser beherrschbar und be-fähigen Teams zu einem effizienteren Prob-lemlösungsverhalten. Allerdings prognostizie-ren wir steigende Anforderungen an die Flexibilität der Teams, um sich auf ein stetig veränderndes Arbeitsumfeld einstellen zu kön-nen. Dadurch entstehen zusätzliche Ausbil-dungs- und Schulungsbedarfe für die Team-mitglieder. “

23

s ta t e m e n t s

Frank Iwer, IG Metall

„Industrie 4.0 wird nicht automatisch eine spezifische neue Form der Arbeitsorganisation herbeiführen, aber sie schafft neue Spielräume für die Gestaltung der Arbeit. Dabei geht es aus unserer Sicht darum, den Stellenwert von Produktionsarbeit als langfristige Basis für Wertschöpfung und Wohlstand zu erhalten und gleichzeitig die Interessenlagen der Men-schen einzubringen.

Die Veränderungen werden nicht abrupt eintreten, sondern sich über einen längeren Zeitraum und in unterschiedli-chen Geschwindigkeiten vollziehen. Für Betriebsräte und Gewerkschaften ist so ein komplexer Prozess schwierig, deshalb braucht es mittelfristig tragfähige Leitbilder. Wir identifizieren hierfür drei zentrale Themenfelder:Die (1) Flexibilisierung von Arbeitszeitregelungen und Einsatzorten birgt die Chance, Arbeitseinsätze viel feinkör-niger zu gestalten und dabei zugleich Zeitbedürfnisse der Beschäftigten zu berücksichtigen. Sie birgt allerdings auch das Risiko, Unwägbarkeiten der Produktion den Beschäftigten aufzubürden. Aus technischer Sicht besteht die Herausforderung darin, komplexe Fragen der (2) Regelung von Datenspeicherung, -nutzung und -auswertung zu lösen. Neue Möglichkeiten der (3) Arbeitsorganisation bergen zudem die Gefahr, dass die Spreizung zwischen ganzheitlichen (komplexen) und kleinteiligen (einfachen) Tätigkeiten deutlich zunimmt.“

Michael Riffel, Gesamtbetriebsrat Volkswagen

„Mit Industrie 4.0 werden sich Arbeitsorganisation und Arbeitsbedin-gungen erheblich verändern. Weder die Geschwindigkeit des Wandels darf dabei unterschätzt werden, noch darf sich der Blick einseitig auf den di-rekten Bereich der Produktion beschränken. Gerade auch auf den soge-

nannten indirekten Bereich (Entwicklung, Konstruktion, Planung und Steuerung u.a.) kommen weitreichende Veränderungen zu.Gleichzeitig differenzieren sich die Ansprüche und Erwartungen der Beschäftigten an die Ar-beitswelt immer weiter aus. Das hat zuletzt die Befragung des Betriebsrates „Gute Arbeit im Büro“ bestätigt. So wünschen sich etwa die Hälfte aller Mitarbeiter mehr Freiräume bei der Ar-beitszeit und beim Arbeitsort. Technische Innovationen bieten Chancen, neue Spielräume für die Beschäftigten zu schaffen. Dabei müssen wir allerdings sicherstellen, dass neue Flexibilität nicht einseitig zu Lasten der Beschäftigten geht. Gestaltung von Arbeitsorganisation steht für die Interessenvertretung schon immer im Mittel-punkt. Mit dem Volkswagen-Weg haben wir bei Volkswagen ein bewährtes Instrument. Damit kann es auch in Zukunft gelingen, den Veränderungsprozess sowohl im Interesse des Unterneh-mens (z.B. kontinuierliche Produktivitätsfortschritte) als auch im Interesse von Beschäftigten (z.B. mehr Beteiligung durch Teamarbeit und Shop-Floor-Management) zu gestalten.“Auch bei der Arbeit der Zukunft wird es darum gehen, den Spagat zwischen den individuellen und kollektiven Schutz- und Gestaltungsinteressen hin zu bekommen.“

2524

i m p r e s s i o n e n i m p r e s s i o n e n

Neben Dr. Neumann und Stefan Wolf begrüßte

Dr. Josef Baumert als Vorstand für Produktion

und Logistik der Volkswagen Nutzfahrzeuge die

Konferenzteilnehmer und betonte die

Wichtigkeit der konsequenten Einführung von

Industrie-4.0-Technologien für die

Wettbewerbsfähigkeit der industriellen

Produktion.

Dr. Alexandra Baum-Ceisig führte

durch die Veranstaltung, an der rund

200 Experten aus Unternehmen,

Wissenschaft, Politik, Gewerkschaften

und Verbänden teilnahmen.

Im Anschluss an die Vorträge beteiligten sich

zahlreiche Konferenzbesucher an der regen

Diskussion und stellten so den Transfer des

Gehörten in andere Unternehmensbereiche sicher.

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p r o f. d r . f r i e d r i c h h u b e r t e s s e r ( p r ä s i d e n t b u n d e s i n s t i t u t f ü r b e r u f s b i l d u n g )

Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser. Jahrgang 1959. Ausbildung im Bäckerhandwerk. Abitur über den „Zweiten Bildungsweg“. Studium der Wirtschaftswissenschaf-ten an der TU Braunschweig sowie der Betriebswirtschaftslehre und Wirt-schaftspädagogik an der Universität zu Köln. Langjährige wissenschaftliche Tätigkeit am FBH/Uni Köln sowie von 2004 bis 2011 Leiter der Abteilung „Beruf-liche Bildung“ beim ZDH. Seit Mai 2011 Präsident des Bundesinstituts für Be-rufsbildung (BIBB) in Bonn.

Berufliche Handlungsfähigkeit sichert langfristige Beschäftigungsfähigkeit Laut Berufsbildungsgesetz hat die Berufsausbildung die für die Ausübung einer qualifizierten Tätigkeit in einer sich wandeln-den Arbeitswelt notwendigen beruflichen Fertigkeiten, Kennt-nisse und Fähigkeiten (berufliche Handlungsfähigkeit) in einem geordneten Ausbildungsberuf zu vermitteln. Das bedeutet: Be-rufsausbildung in Deutschland ist kein On-the-Job-Training, das kurzfristig „Skills“ zum Ausüben einzelner Tätigkeiten vermit-telt. Vielmehr geht es darum, auf Grundlage breit angelegter Kompetenzen (junge) Menschen zu befähigen, komplexe Aufga-benstellungen zu meistern – und dies selbständig, im Team, in veränderten Kontexten und auch durch permanentes Weiterlernen. Klar ist: Die Arbeit in der Fabrik 4.0 wird anspruchsvoll und mehr soziale sowie personale Kompetenzen verlangen. Wer ver-antwortungsvolle und autonome Tätigkeiten übertragen will, muss freilich darauf achten, dass das Personal sehr gut in der Lage ist, abstrakt zu denken, sich selbst zu organisieren und da-mit selbständig zu handeln. Die Rahmen(lehr)pläne für Ausbil-dungsbetriebe und Berufsschulen eröffnen Spielräume bei der Ausbildungsgestaltung. Diese Spielräume sind aus meiner Sicht für die Förderung der in der Fabrik 4.0 benötigten Kompetenzen noch besser zu nutzen. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass wir bei der Novellierung von Ausbil-dungsberufen durch offen formulierte Kompetenzbeschreibun-gen über mindestens eine Dekade die Möglichkeit der Nutzung dieser Spielräume durch Betriebe und Berufsschulen sichern.

Die Digitalisierung ist eine Herausforderung für das duale Berufsbildungssystem, an der sich seine Zukunftsfähigkeit bemisst Das Duale System der Berufsausbildung steht insbesondere mit Blick auf die demographische Entwicklung sowie angesichts der wachsenden Studierneigung der Schulabgänger vor großen He-rausforderungen. Über die möglichst zügige Aufnahme von für die Fabrik 4.0 benötigten Qualifikationsanforderungen in ganz-heitliche Berufslaufbahnkonzepte, vom Aufbau von Prozess- und Systemwissen über die Beherrschung von Programmier-sprachen bis hin zu berufsspezifischen Details wie dem Umgang mit Software in fahrzeugtechnischen Systemen, können die Be-rufe des Dualen Systems zukunftsfest und damit auch attraktiver gegenüber Studienangeboten gemacht werden. Denn für Unternehmen und Mitarbeiter sind berufsbegleitende Aufstiege vorteilhaft – wegen der Kosten, des Verbleibs im Unter-nehmen sowie als Brücke zwischen Arbeiten und Lernen. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass dual Ausgebildete im Wettbewerb mit Absolventen akademischer Ausbildungen auch im Zeitalter von Wirtschaft 4.0 bestehen müssen.

Die Betriebe und die Berufsschulen müssen ihr Ausbildungsverhalten ändern, um sich an neue Qualifikationsbedarfe anzupassenDie mit der Weiterentwicklung von Betrieben zur Fabrik 4.0 einhergehenden Veränderungen der betrieblichen Anforde-rungen verlangen Flexibilität und Veränderungsbereitschaft bei Unternehmern und Mitarbeitern. Die Unternehmen sollten

Ausbildung und Qualifizierung für die Fabrik 4.0 – die Sicht des Bundesinstituts für Berufsbildung

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p r o f. d r . f r i e d r i c h h u b e r t e s s e r ( p r ä s i d e n t b u n d e s i n s t i t u t f ü r b e r u f s b i l d u n g )

bei ihrer Ausbildungsplanung nicht nur ihren quantitativen, sondern auch ihren qualitativen Fachkräftebedarf prüfen – und zwar mit Blick auf die möglichen künftigen Arbeitsplätze und auf die Tätigkeitsprofile der Facharbeiter. Für schnellere be-darfsbezogene Anpassungen eignen sich vor allem Zusatzquali-fikationen. Zugleich ist gerade für kleine und mittlere Betriebe evident: Die Verbundausbildung muss noch stärker genutzt werden, vor allem im Dienstleistungssektor und im Handwerk. Berufsschulen sollten sich noch mehr als Dienstleister verste-hen und ihr Profil hinsichtlich möglicher beruflicher Einsatz-gebiete der Absolventinnen und Absolventen schärfen. Sinnvoll können unter anderem Schwerpunktschulen bzw. –Klassen sein, zum Bespiel für Windenergieanlagen, für Gebäudetech-nik und für Aufzugs- und Fahrtreppenbau. Dies wird jedoch noch genauer zu prüfen sein.Last but not least müssen Betriebe und Berufsschulen noch mehr in die Qualifizierung ihres Ausbildungspersonals investie-ren; denn sowohl Ausbildern wie auch Berufsschullehrern kommt eine Schlüsselfunktion bei der Qualifizierung für die Wirtschaft und Gesellschaft 4.0 zu. Von ihren Kompetenzen hängt es letztlich ab, wie schnell und wie gründlich die neuen Qualifikationsanforderungen mit entsprechend effektiven Lehr- und Lernarrangements zum Standard in Betrieben und berufs-bildenden Schulen werden. Von Bedeutung ist dabei auch die Vernetzung – zwischen Ausbildern und Berufsschullehrern in der Region sowie mit den Prüfungsausschüssen in den Kammern und Innungen.

Die vorhandenen Ausbildungsberufe sind zukunftsorientiert und offen für sich verändernde Qualifikationsanforderungen Es ist wichtig, dass die Inhaber von Ausbildungsberufen über Jahrzehnte ihres Arbeitslebens in der Lage sind, veränderte Auf-gaben zu meistern. Ausbildungsberufe müssen gleichwohl

angesichts der Digitalisierung künftig noch mehr als Basisberufe verstanden werden, die kontinuierliche Fortentwicklung ermög-lichen. Dem dürfen auch Unternehmen, Prüfungsausschüsse und Sozialparteien nicht entgegenstehen. Die Digitalisierung betrifft die meisten Ausbildungsberufe, unter anderem in den Bereichen Gesundheit und Pflege (hier wäre etwa der Pflegeroboter zu nennen), öffentliche Verwaltung, Bauindustrie und Bauhandwerk, Verkehr und Logistik. Bei-spielsweise möchte der Online-Versandhändler „Amazon“ bis 2017 kleine Pakete mit Drohnen ausliefern; eingeschränkte Tests dürfen schon jetzt stattfinden. Im Kontext von Industrie 4.0 bzw. Wirtschaft 4.0 oder bei der Digitalisierung könnten neue Berufsprofile entstehen: in der Instandhaltung (an der Schnitt-stelle zwischen virtuellem und realem System, Diagnostik und Prozess-Sicherheit) oder bei der Systemführung – dabei geht es um hochanspruchsvolle Routinetätigkeiten als Systemführer, zum Beispiel in der Automobilindustrie.Besonders bedeutsam für den zu erreichenden Ausbildungser-folg ist die allgemeine Bildung. Ergebnisse aus der Qualifikati-onsforschung zeigen, dass sich die Komplexitäts-, Problemlö-sungs-, Lern- und vor allem auch Flexibilitätsanforderungen in den Berufen erhöhen werden. Gerade bei den gewerblich-technischen Berufen ist eine hohe Diagnose-kompetenz bei Wartung, Service und Reparatur zu erwarten. Um in der Berufsausbildung das geforderte Prozesswissen auf-bauen zu können, bedarf es einer angemessenen Ausbildungsreife.Ein regelmäßiges Screening, insbesondere der von der Digitali-sierung betroffenen Ausbildungsberufe, wird erforderlich sein und in enger Kooperation zwischen Wissenschaft, Politik und Praxis erfolgen. Das BIBB wird in bewährter Qualität dazu beitra-gen, dass die mit Wirtschaft 4.0 einhergehenden Tätigkeitsprofile möglichst schnell und valide identifiziert werden, um die Berufe fundiert und evidenzbasiert weiterzuentwickeln.

In der anschließenden Podiumsdiskussion erläutert Prof. Esser seine Thesen zu den notwendigen Veränderungen im deutschen Berufsbildungssystem bezüglich der Anforderungen der Industrie 4.0.

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p r o f. d r . l a r s w i n d e l b a n d ( pä d a g o g i s c h e h o c h s c h u l e s c h w ä b i s c h g m ü n d )

Prof. Dr. Lars Windelband, Professor für Technik und ihre Didaktik und Prodekan an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd sowie Institutsleiter des Instituts Bildung, Beruf und Technik. Arbeitsschwerpunkte: Veränderungen in der Mensch-Maschine-Schnittstelle, Digitalisierung der Arbeitswelt, Früherkennungs- und Berufsbildungsforschung.

Stand der Umsetzung „Industrie 4.0“ Das Ziel von „Industrie 4.0“ besteht darin, eine höhere Form der Automatisierung durch eine Verknüpfung des gesamten Produk-tionsumfeldes zu einer intelligenten Umgebung zu erreichen. Das „Internet der Dinge“ (IdD) spielt dabei eine entscheidende Rolle. Durch das Zusammenwirken mit dem „Internet der Diens-te“ können Unternehmen mit ihrem gesamten Umfeld kommu-nizieren. Die Basis bilden dabei Cyber-Physical Systems (CPS), die die Maschinen, Lagersysteme, Betriebsmittel etc. digital mit-einander vernetzen. Ergebnis ist die Auflösung der klassischen Produktionshierarchie von der zentralen Steuerung hin zu einer dezentralen Selbstorganisation der Produkte. Das Produkt lenkt im Zeitalter „Industrie 4.0“ den Produktionsprozess eigenstän-dig. Ergebnis wäre eine grundlegende neue Form der Steuerung und der Organisation von Produktionsprozessen. Damit wäre ein neues Automatisierungsniveau erreicht (Hirsch-Kreinsen 2014, S. 6), da die Selbstoptimierung intelligenter, dezentraler System-komponenten und ihre autonome Anpassungsfähigkeit an sich wandelnde Rahmenbedingungen in Echtzeit erfolgen soll. Doch wie weit sind die Unternehmen auf dem Weg hin zu „Indust-rie 4.0“? Das aktuelle IHK-Unternehmensbarometer zur Digitali-sierung (DIHK 2015) befragte 1.849 Unternehmen zum Stand der eigenen Umsetzung der Digitalisierung und deren Beeinflussung der Geschäfts- und Arbeitsprozesse. 94 Prozent der Unternehmen sahen eine Beeinflussung der Geschäfts- und Arbeitsprozesse durch eine vermehrte Digitalisierung. Auf die Frage „Wie schätzen Sie den Stand der Digitalisierung in Ihrem Unternehmen insge-samt ein?“, antworten 27 Prozent aller Befragten mit „voll“ oder „nahezu voll“ entwickelt. Dabei kann die Frage der Digitalisierung nicht mit der Entwicklung von „Industrie 4.0“ gleichgesetzt wer-den. In „Industrie 4.0“ sollen Automatisierung und Digitalisie-rung zugunsten effizienterer Fertigungsmethoden verschmelzen. Hier sehen sich vor allem die großen Mittelständler und Großun-ternehmen (ab 500 Mitarbeiter) mit ca. 37 Prozent gut aufgestellt, wohingegen die kleineren Unternehmen noch Nachholbedarf (26 Prozent sehen sich gut aufgestellt) haben (DIHK 2015, S. 7). Anwendungsfelder und Kompetenzen in der „Industrie 4.0“ Für die Fragen der weiteren Kompetenzanforderungen an die Beschäftigten im Umgang mit jenen Industrie

4.0-Anwendungen bleibt zu klären, welche Funktionen im kon-kreten Anwendungsfall tatsächlich von CPS übernommen wer-den und welche beim Menschen verbleiben. Vom Grad und Um-fang der Aufgabenübernahme durch CPS im Rahmen der jewei-ligen Industrie 4.0-Anwendungen lassen sich erste Konsequen-zen hinsichtlich zukünftig benötigter Kompetenzen von Beschäftigten ableiten.Zurzeit werden unterschiedliche Anwendungsszenarien der Mensch-Maschinen-Schnittstelle für den Einsatz von CPS in der Produktion diskutiert (vgl. Gorecky et al. 2014):• Instandhaltung (d.h. Wartung, Inspektion, Instandsetzung

und Optimierung) von Produktionsanalagen durch Bereitstel-len von interaktiven, virtuellen Handlungsanweisungen,

• Überwachung von Produktionsprozessen sowie Qualitätskont-rolle durch das kontextsensitive Abrufen und Bereitstellen von Informationen, z.B. bezüglich des Status eines CPS,

• Planung und Simulation von Produktionsprozessen, indem z.B. das Verhalten von CPS vorgezeichnet wird,

• Einsatz von Leichtbaurobotern (sensitive Robotik) bei Auto-mobilherstellern und -zulieferern in enger Zusammenarbeit mit den Beschäftigten.

Unternehmen wählen beispielsweise aufgrund unterschiedli-cher Markt- und Produktionsanforderungen verschiedene Kom-binationen aus Technologieeinsatzvarianten und Organisations-optionen. Allerdings zeigen die vorhergehenden Ausführungen, dass sich Industrie 4.0 schon rein technologisch noch in der Ent-wicklung befindet. Somit können Aussagen über Technologie-, Arbeitsorganisations- und damit verbundene Kompetenzent-wicklungspfade noch nicht hinreichend eindeutig getroffen wer-den und werden in den einzelnen Branchen und Unternehmen unterschiedlich aussehen. Dabei zeichnen sich zwei Entwick-lungsrichtungen ab: 1. Die Technologien mit einem offenen Informationssystem wer-

den so entwickelt und konfiguriert, dass auf dieser Basis der Mensch die Entscheidungen trifft oder

2. eine restriktive, kontrollierende Technologie wird umgesetzt, die auf der Basis von automatisch generierten Informationen eigenständig, selbständig Entscheidungen trifft.

Qualifikationen und Ausbildungsgestaltung in Industrie 4.0

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p r o f. d r . l a r s w i n d e l b a n d ( pä d a g o g i s c h e h o c h s c h u l e s c h w ä b i s c h g m ü n d )

Diese beiden Entwicklungsrichtungen sollen die Chancen und Gefahren einer Entwicklung zu Industrie 4.0 symbolisieren. Windelband/Spöttl (2012, S. 217) sprechen von einer Entwick-lungsrichtung hin zum Assistenzszenario und/oder hin zum Automatisierungsszenario. Bei einer Entwicklung in Richtung Assistenzszenario würde der Mensch eine Mitgestaltungsmög-lich behalten und Industrie 4.0 würde ein „Assistenzsystem“ zur Unterstützung der Fachkraft sein. Die Fachkompetenz der Fachkräfte wird dabei bei jedem Auftrag benötigt. Die Kompe-tenzanforderungen setzen voraus, dass die notwendigen Infor-mationen zur Beherrschung der Arbeitsprozesse bereitgestellt werden und für die Kompetenzentwicklung passende Qualifi-zierungsansätze zur Verfügung stehen. Fachkraft (oftmals Fach-arbeiterniveau) und Technologie würden sich hier gegenseitig kontrollieren und beeinflussen, jedoch würde der Mensch im-mer noch die Entscheidungsgewalt behalten. Bei der zweiten Richtung, dem „Automatisierungsszenario“, wird ein immer größer werdender Teil der Entscheidungen durch die Technik getroffen. Dies würde den Raum für autonome menschliche Entscheidungen und Handlungsalternativen immer weiter ein-schränken und wäre mit der Entstehung einer Kompetenzlücke verbunden: In einem zunehmend automatisierten System muss der Mensch nur noch in schwerwiegenden und nicht vorher-sehbaren Störfällen eingreifen.

Schlussfolgerungen für die Ausbildung Welche genauen Informationen benötigt die Fachkraft z.B. in-nerhalb des Instandhaltungsprozesses für das Produktionssys-tem? Wie können die Daten so aufbereitet werden, dass die Fachkraft diese direkt für den Arbeitsprozess nutzen kann? Diese Herausforderung kann nur gemeistert werden, wenn die Fachkräfte bei der Entwicklung und Implementierung der CPS-Technologien für die Instandhaltung direkt beteiligt wer-den. Diese Entwicklung führt zu einer Veränderung des Aufga-benspektrums für die Fachkräfte, die mit höheren Komplexi-täts-, Abstraktions- und Problemlösungsanforderungen ver-bunden sind. Mit Bezug auf fachliche Anforderungen wird die zukünftige Instandhaltung mehr vertieftes und kombiniertes Wissen über IT sowie elektronische und mechanische Systeme verlangen, um bei Störungen schnell reagieren und handeln zu können. In diesem Kontext wird ein größerer Bedarf nach Kom-petenzen zur Parametrisierung sowie Programmierung und Anwendung von spezieller Software entstehen. Weiterhin wer-den zumindest Basiskompetenzen bezüglich Netzwerk-, Funk- und Übertragungstechnik verlangt, um Ursachen von Störun-gen identifizieren sowie mit den IT-Experten kooperieren zu können. Kontroll- und Instandhaltungsaufgaben verlangen fortgeschrittene Kenntnisse dieser Art. Fachkräfte benötigen vertieftes Prozesswissen. Instandhaltungspersonal steht höhe-ren Anforderungen bei der Interpretation von Informationen gegenüber. Gleichzeitig verlangen ein steigender Anteil von Planungsaufgaben sowie die zunehmende Maschinenkommu-nikation vertiefte Systemkenntnisse. In diesem Zusammen-hang sind Analysefähigkeiten und Methodenkompetenzen not-wendig, um mit abstrakten Informationen umgehen zu können und einen schnellen Überblick über den Produktionsprozess zu gewinnen (FreQueNz 2011).

Durch die Verschiebungen der Kompetenzen sollte man neben einer Neuordnung von verschiedenen Berufen (u.a. IT-Berufen und/oder dem Mechatroniker/in) auch über eine grundlegende Neustrukturierung der Berufe nachdenken. Eine Zusammenfas-sung von ähnlichen, berufsübergreifenden Handlungen, Ar-beitsprozessen und Kompetenzen zu einem Kernberuf wäre eine Möglichkeit auf die gestiegenen Anforderungen mit einer hohen Prozesskompetenz zu reagieren. Dazu müssen jedoch erst ein-mal die Veränderungen in der Arbeitswelt innerhalb von Indust-rie 4.0 genau untersucht werden.

Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK) (Hg.) 2015: Wirtschaft 4.0: Große Chancen, viel zu tun. Das IHK-Unternehmensbarometer zur Digitalisierung. Berlin. http://www.dihk.de/pres-se/meldungen/2015-02-05-unternehmensbaro-meter-digitalisierung [zuletzt aufgesucht am 23.02.2015]FreQueNz (Hg.) 2011: Zukünftige Qualifikations-erfordernisse durch das Internet der Dinge in der industriellen Produktion. Zusammenfassung der Studienergebnisse. http://www.frequenz.net/uploads/tx_freqprojerg/Summary_indProd_fi-nal.pdf [zuletzt aufgesucht am 23.02.2015]Gorecky, D./Schmitt, M./Loskyll, M. 2014: Mensch-Maschine-Interaktion im Industrie 4.0-Zeitalter. In: Bauernhansl, T./ten Hompel, M./Vogel-Heuser, B. (Hg.): Industrie 4.0 in Produktion, Automatisierung und Logistik. Wiesbaden, S. 525-542. Grote, G. 2005: Menschliche Kontrolle über tech-nische Systeme – Ein irreführendes Postulat. In: Karrer, K./Gauss, B./Steffens, C. (Hg.): Beiträge der Forschung zur Mensch-Maschine-Systemtechnik aus Forschung und Praxis. Düsseldorf, S. 65-78. Hirsch-Kreinsen, H. 2014: Wandel von Produkti-onsarbeit – „Industrie 4.0“, Soziologisches Ar-beitspapier Nr. 38, Dortmund. http://www.wiso.tu-dortmund.de/wiso/is/de/forschung/soz_ar-beitspapiere/Arbeitspapier_Industrie_4_0.pdf [zuletzt aufgesucht am 10.02.2015]Windelband, L.; Spöttl, G. 2012: Diffusion von Technologien in die Facharbeit und deren Konse-quenzen für die Qualifizierung am Beispiel des „Internet der Dinge“. In: Faßhauer, U. (Hrsg.): Be-rufs- und wirtschaftspädagogische Analysen. Bar-bara Budrich. Opladen & Farmington Hills, S. 205-219.

LITERATUR

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s ta t e m e n t s

Prof. Dr. Sabine Pfeiffer, Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung München

„Das System der Dualen Ausbildung ist innovativer als sein Ruf und rea-giert vorausschauend auf neue Be-

darfe. Das sieht man etwa am Aus- und Weiterbildungs-system für die IT-Berufe oder am Berufsbild des Produktionstechnologen. Auch bestehende gewerb-lich-technische Ausbildungsberufe werden ein „Upgra-ding“ in Richtung IT- und Systemwissen benötigen. Für die Veränderung der Ausbildung wie für nötige Weiter-bildungsschritte durch Industrie 4.0 gilt: Mehr IT- und Systemwissen dort einzubauen, wo bereits fundiertes Fach- und Erfahrungswissen vorhanden ist.Neben der Weiterentwicklung von Aus- und Weiterbildung lautet aber die wichtigste Frage: Wie nutzen wir das be-reits vorhandene Fach- und Erfahrungswissen unserer Dual Ausgebildeten für die Gestaltung von Industrie 4.0 heute? Dafür fehlt uns eine Kultur für agile und partizipative Inno-vationsprozesse auf dem Hallenboden. Deutschland hat durch die Duale Ausbildung eine weltweit fast einmalige Qualifikationsstruktur. Gelingt es, dieses Fach- und Erfah-rungswissen für die Gestaltung von Industrie 4.0 zu nut-zen, werden technische Lösungen entstehen, die nicht leicht kopierbar sind und die genau dadurch einen nachhal-tigen Wettbewerbsvorteil sichern. Zudem sind partizipa-tive, innovationshaltige Arbeitsplätze auch zukünftig für junge Menschen attraktiv.“

Stimmen aus der Podiumsdiskussion

Gerardo Scarpino, Vorsitzen-der GBA Bildungsausschuss, Volkswagen

„Die Beschäftigten von morgen müssen ganz andere Aufgaben bewältigen, als sie es heute tun.

Das bedeutet, dass unsere Kolleginnen und Kollegen gezielt neue Kompetenzen aufbauen müssen.Die Qualifizierung zu Themen, die sich aus der Evo-lution hin zur Industrie 4.0 ergeben, ist aus unserer Sicht kein Modethema. Sie ist vielmehr ein Schlüs-sel für den Weg in die „Fabrik 4.0“. Als GBR Bil-dungsausschuss unterstützen wir betriebliche und überbetriebliche Initiativen zur Weiterentwicklung von Aus- und Weiterbildungskonzepten, insbeson-dere wenn sie zukünftig dazu beitragen Fertig-keiten und Kenntnisse der Kolleginnen und Kolle-gen zur Digitalisierung von Arbeit und Gesellschaft auf- und auszubauen. Um das erfolgreich zu gestal-ten, braucht es eine technische Grundausstattung im Unternehmen und das Wissen und die Kompe-tenz über Zugang und Nutzen von digitalen Medien und Lerninhalten.Dabei ist uns besonders wichtig, dass neue Konzepte nicht zu einer „2-Klassen-Belegschaft“ führen, in der einige wenige Berufe gefördert und weiterentwi-ckelt werden, während andere außen vor gelassen werden.Wir fordern eine Gesamtstrategie des Unterneh-mens für eine kontinuierliche Modernisierung des gesamten Aus- und Weiterbildungsangebotes. Wir sollten uns dabei auch stets unserer bisherigen Stärken in der Aus- und Weiterbildung und in der Qualifizierung besinnen.Und noch etwas: Lernen braucht Zeit und funktionie-rende Prozesse – diese Zeit zum Lernen muss recht-zeitig eingeplant werden und Prozesse müssen früh-zeitig entwickelt und eingerichtet werden.“

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s ta t e m e n t s

Ralph Linde, Leiter Volkswagen Group Academy

„Die Qualifizierung muss alle Mitarbeiter, vom Auszubildenden bis zum Manager, erreichen. Jede Generation hat dabei eine unterschiedliche Tech-niksozialisierung. Um sich in Aus-und Weiterbildung auf das Thema einzu-stellen, müssen Lerninhalte, -orte und -arten angepasst werden. In der Ausbildung wird die Entwicklung der Kompetenzanforderungen die

Ausbildungsberufe verändern. Einige Grundfertigkeiten bleiben gleich. Andere Inhalte werden durch die Digitalisierung leichter, z.B. durch nutzerfreundliche Bedienoberflächen oder die Vi-sualisierungen. Das Beherrschen vernetzter Systeme und Anlagen, Kompetenzen wie Program-mieren und Parametrisieren kommen neu hinzu. Zur Weiterentwicklung der Ausbildungsbe-rufe hat VW gemeinsam mit dem Bildungs- und Wirtschaftsministerium eine Initiative gestartet, die die bundesweite Entwicklung der Ausbildungsberufe zum Ziel hat.Um die Ausbildung bei Volkswagen noch näher am Beruf auszurichten, werden Ausbildungs-stationen näher an die Berufsfamilien gebracht. Gemeinsam mit den Experten werden Ausbil-dungsinhalte regelmäßig erfasst und weiterentwickelt. Veränderte Anforderungen an die Kompetenzen der Fachkräfte können schnell erkannt, in die Ausbildung integriert und somit umgesetzt werden, z.B. bereits heute im Hinblick auf die zunehmende Digitalisierung.“

In der Podiumsdiskussion erörtern Ralph Linde, Prof. Friedrich Hubert Esser, Dr. Konstanze Kurz, Prof. Lars Windelband, Prof. Sabine Pfeiffer und Gerardo Scarpino (v.l.n.r.) die Stärken und Potenziale der deutschen Berufsausbildung vor den Herausforderungen der Industrie 4.0.

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d r . t e c h n . n o r b e r t e l k m a n n ( f r a u n h o f e r i f f m a g d e b u r g )

Dr. techn. Norbert Elkmann schloss 1993 sein Studium als Dipl.-Ing. für Maschi-nenbau an der Universität Bochum ab und promovierte 1999 an der Technischen Universität in Wien. Seit 1998 leitet er das Geschäftsfeld Robotersysteme am Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF in Magdeburg. Sein Forschungsinteresse gilt Assistenzobotern, Inspektionsrobotern und der si-cheren Mensch-Roboter-Kollaboration. Er hat mehr als 80 Publikationen veröf-fentlicht und ist Mitautor des Springer Handbook of Automation.

Herausforderungen und MotivationDie produzierende Industrie in Deutschland steht vor großen Herausforderungen. Um die weltweit führende Position z.B. im Maschinen- und Automobilbau zu halten bzw. auszubauen, müs-sen Herausforderungen wie dem demografischen Wandel und der Verbesserung der Wirtschaftlichkeit durch erhöhte Flexibili-tät und Effizienz begegnet werden. Ein wesentlicher Ansatz zur Bewältigung der Herausforderungen und Erreichung der vorge-nannten Ziele besteht in der Mensch-Roboter-Kooperation (MRK): durch das Zusammenführen der Stärken der Roboter-technik wie Präzision, hohen Handhabungslasten und ununter-brochenem Einsatz mit den motorischen, sensorischen sowie perzeptiven und kognitiven Fähigkeiten des Menschen besteht ein immenses Verbesserungspotential für zukünftige Produk-tions- und Montagesysteme. Dies setzt eine konsequente Aufhe-bung der räumlichen Trennung von Mensch und Roboter vor-aus: Mensch und Roboter teilen sich den Arbeitsraum oder ar-beiten direkt Hand in Hand zusammen. Die bisherige Absiche-rung der Roboterzellen durch trennende Schutzeinrichtungen ist somit hinfällig. Durch den Wegfall der trennenden Schutzein-richtungen müssen neue Maßnahmen ergriffen werden, damit keine Gefahren für anwesende Personen bestehen.

Sicherheitskonzepte gemäß Normung EN ISO 10218 und TS 15066Für die Produktionsplanung und die Robotik ergeben sich daraus eine Vielzahl von neuen Forschungsfeldern und Fragestellungen. Bisher waren Roboter strikt vom Arbeitsraum des Menschen durch trennende Schutzeinrichtungen abgeschirmt. Bei Wegfall dieser Schutzeinrichtungen muss dennoch ausgeschlossen sein, dass Roboter den Menschen verletzen können. Die Sicherheits-thematik ist von grundlegender Bedeutung, da die Erfüllung der Sicherheitsanforderungen über die Möglichkeiten und insbeson-dere auch die Grenzen der Mensch-Roboter- Kooperation maß-geblich entscheidend sein wird. Die relevanten Normen DIN EN ISO 10218-1 „Industrieroboter – Sicherheitsanforderungen Teil 1: Roboter“) und DIN EN ISO 10218-2 „Industrieroboter – Sicherheitsanforderungen Teil 2: Robotersysteme und Integration“ (DIN EN ISO 10218-2 2011)

wurden 2011 in überarbeiteter Form veröffentlicht und be-schreiben auch die Anforderungen an die Mensch-Roboter-Ko-operation. Sie werden durch die ISO/TS 15066 „Robots and Ro-botic Devices – Safety Requirements for industrial robots – Collabo rative operation“, die sich gegenwärtig in der Bearbei-tung befindet und Ende 2015 veröffentlicht wird, ergänzt. Die bisherigen Grenzwerte aus der DIN EN ISO 10218 aus dem Jahr 2006, die u.a. eine maximale Kontaktkraft ohne Angabe einer Kontaktfläche von 150N und eine nicht näher definierte Leis-tungsbegrenzung von 80W festlegte, sind nicht länger gültig. In der ISO/TS 15066 werden Vorgaben für die Risikobeurteilung und Gefahrenidentifikation, die Anforderungen an eine Ge-schwindigkeits- und Abstandsüberwachung sowie biomechani-sche Grenzwerte für den Kollisionsfall zwischen Mensch und Ro-boter enthalten sein. Die biomechanischen Grenzwerte definie-ren erstmals maximal zulässige Kraftwerte und Flächenpressun-gen für unterschiedliche Bereiche des menschlichen Körpers. In den Normen werden vier grundsätzliche Sicherheitsansätze für die Mensch-Roboter-Kooperation aufgeführt:• Handführung: Manuelles Führen des Roboters z.B. durch Joy-

stick oder Kraft-/ Momentensensor • Sicherheitsbewerteter überwachter Halt: Roboter muss si-

cher anhalten bei Personenzutritt in Kollaborationsraum • Geschwindigkeits- und Abstandsüberwachung: Sichere Robo-

tergeschwindigkeit und festgelegter Mindestabstand zu Per-sonen sowie Geschwindigkeitsreduzierung bei Annäherung einer Person und Sicherheitshalt bei Verletzung des Mindestabstands

• Leistungs- und Kraftbegrenzung: Sensorische, mechanische und/oder elektronische Begrenzung von Kraft bzw. Druck bei Kollision zwischen Mensch und Roboter

Gemäß der Normung wird für jede Anwendung eine spezifische Risikoanalyse verlangt, die neben dem Roboter und der einge-setzten Sicherheitssensorik auch das Werkzeug, den Greifer, den Prozess und das Werkstück betrachtet sowie das Kooperati-onsszenario mit dem Menschen. Daraus leiten sich die Maßnah-men wie z.B. maximale Robotergeschwindigkeit und die notwen-digen Sicherheitstechnologien ab, um die Anlage sicher

Arbeitssicherheit bei Mensch-Roboter-Kooperationen

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betreiben zu können. Grundvoraussetzung für kooperierende Roboter sind sichere Steuerungen für Roboter als auch sicher-heitszertifizierte Sensorik. Eine sichere Robotersteuerung, die heute von nahezu allen Roboterherstellern angeboten wird, überwacht die Geschwindigkeit und Position der Roboterbewe-gung und stoppt den Roboter im Falle einer Abweichung von der Sollposition bzw. -geschwindigkeit sofort. Je nach Einsatzfall können Einzelsicherheitsmaßnahmen aus-reichen oder aber auch die Kombination verschiedener Techno-logien notwendig werden. Die Kombination einer Arbeitsrau-müberwachung zur Detektion des Betretens des Warnfeldes durch Menschen mittels optischer Arbeitsraumüberwachung oder mittels ortsaufgelöstem Fußboden kann die gemäß Risiko-analyse erforderliche Reduzierung der Robotergeschwindigkeit sicherstellen. Der Roboter kann zudem z.B. mit interner Mo-mentensensorik oder mit taktiler Sensorik ausgestattet sein und somit Kollisionen zuverlässig detektieren und den Roboter im Kollisionsfall sofort stoppen. Auf diese Weise kann eine hohe Ef-fizienz der Roboterzelle bei gleichzeitiger Sicherheit für den Menschen gewährleistet werden.Um alle Möglichkeiten der Mensch-Roboter-Kooperation unter Berücksichtigung der Sicherheit nutzen zu können sind vielfältige neue Technologien und Sensorsysteme notwendig. Je nach An-wendungsszenario und dem Kooperationsgrad zwischen Mensch und Roboter (Koexisitenz oder Kollaboration im gemeinsamen Ar-beitsraum) müssen die erforderlichen Roboter- und Sensorsyste-me ausgewählt werden und als Komplettsystem betrachtet wer-den. Die bereits heute vorhandenen Technologien ermöglichen schon eine Vielzahl an Anwendungen. Für die Zukunft sind aber weitere Roboter- und Sensorsysteme erforderlich, um auf Basis ei-nes Sicherheitstechnologiebaukastens die notwendige Absiche-rung und Effizenz der Roboterzelle umzusetzen.

Das Fraunhofer IFF arbeitet intensiv an der Entwicklung neuer Technologien für die sichere Mensch-Roboter-Kooperation. Nachfolgend werden neue Entwicklungen und Projekte für die Sicherheitsansätze „Geschwindigkeits- und Abstandsüberwa-chung“ und „Leistungs- und Kraftbegrenzung“ näher beschrieben.

Neue Entwicklungen: MRK-Ansatz „Geschwindigkeits- und Abstandsüberwachung“Der MRK-Ansatz „Geschwindigkeits- und Abstandsüberwa-chung“ unterscheidet sich von dem Ansatz „Sicherheitsbewer-teter überwachter Halt“ dadurch, dass der Roboter nicht beim Betreten des Roboterarbeitsraums durch den Menschen ge-stoppt werden muss. Vielmehr muss ein sicherer Abstand zwi-schen dem Menschen und dem Roboter gemäß Norm ISO 13855 sichergestellt werden. Hierbei werden die Roboter- so-wie die Annäherungsgeschwindigkeit des Menschen, die Reak-tionszeit der Robotersteuerung und der Roboterbremsweg so-wie die Auflösung des Sensorsystems (Detektion des Körpers oder des Arm oder der Hand des Menschen) berücksichtigt. Beim Unterschreiten des minimal zulässigen Abstandes muss der Roboter gestoppt werden, damit sichergestellt ist, dass sich der Roboter im Falle einer Berührung mit dem Menschen nicht mehr bewegt. Aktuell existiert kein zertifiziertes Sensorsystem, dass diese Anforderungen in optimaler Weise umsetzt. Verfüg-bare Sensorsysteme wie Laserscanner oder das optische Ar-beitsraumüberwachungssystem der Firma Pilz (Safety-Eye) er-kennen zuverlässig die Position des Menschen im Arbeitsraum des Roboters. Die notwendigen Minimalabstände zum Roboter gemäß der Norm ISO 13855 betragen aber in der Regel 2 m und mehr, da die aktuelle Roboterposition nicht berücksichtigt wird und die Sensorauflösung den Körper des Menschen, aber

nicht der Hand oder des Fin-gers zuverlässig detektiert. Um eine minimale Annähe-rung des Menschen neben dem Roboter zu gewährleis-ten und den MRK- Ansatz „Geschwindigkeits- und Ab-standsüberwachung“ optimal zu erfüllen sind zwei zentrale Anforderungen umzusetzen: • Sichere Detektion von Hand

bzw. Finger und nicht nur des menschlichen Körpers (Rumpf oder Beine), da-durch Reduzierung des er-forderlichen Abstandes ge-mäß Norm zwischen Mensch und Roboter um 0,85m

• Dynamische Schutzraumge-nerierung, online- Berech-nung des Minimalabstandes zwischen Mensch und Robo-ter gemäß der aktuellen Ro-boterbewegung (Kopplung mit Robotersteuerung)© Fraunhofer IFF, Magdeburg 2015 Dr. Norbert Elkmann

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Das Fraunhofer IFF hat ein neuartiges optisches Arbeitsrau-müberwachungssystem auf Basis von Projektor- und Kamera-technik entwickelt, das erstmalig beide vorab aufgeführten An-forderungen erfüllt und den MRK-Ansatz „Geschwindigkeits- und Abstandsüberwachung“ umsetzt. Das patentierte System dient dazu, eine Annäherung von Menschen an den Roboter ro-bust und sicher zu detektieren und darauf durch z.B. eine Ge-schwindigkeitsreduzierung bzw. Stopp des Roboters zu reagie-ren. Dazu werden Sicherheitsbereiche (Warn- und/oder Schutz-felder) in Form von Linien, Muster oder Flächen direkt in die Umgebung wie z.B. den Fußboden oder Arbeitsplatz projiziert. Verletzungen dieser Sicherheitsbereiche durch eine Unterbre-chung der Projektionsstrahlen bzw. -fläche durch den Menschen werden von den umgebenden Kameras zuverlässig detektiert. Für den Bediener sind zudem jederzeit sowohl aktive Warn- und Schutzfelder sichtbar. Neben dem Aspekt der zertifizierbaren Sicherheitssensorik er-füllt das System auch Anforderungen hinsichtlich der Ergonomie und Akzeptanz. Aufgrund der Sichtbarkeit der Warn- und Schutzfelder ist dem Menschen jederzeit bekannt, wo sich die Si-cherheitsbereiche befinden und er kann eine Verletzung derer aktiv vermeiden. Durch zusätzliche Einblendungen wie z.B. ak-tuelle Roboterzustände oder die bevorstehende Roboterbewe-gung kann die Transparenz für den Menschen weiter erheblich erhöht werden. Durch die Kombination mehrerer Projektoren und Kameras kann die Größe des möglichen Überwachungsbe-reichs an die anwendungsspezifischen Anforderungen adaptiert werden. Durch die Kopplung des Arbeitsraumüberwachungssys-tems mit der Robotersteuerung wird eine dynamische Anpassung der Sicherheitsbereiche bezüglich Form, Größe und Lage auf Ba-sis aktueller Gelenkstellungen und -geschwindigkeiten des

Roboters möglich. Somit können Sicherheitsbereiche generiert werden, die den Roboter minimal umschließen und damit einen maximalen Umgebungsraum für den Menschen freigeben.

Neue Entwicklungen: MRK-Ansatz „Kraftbegrenzung“Der MRK-Ansatz „Kraftbegrenzung“ beschreibt die Anforderun-gen für den Fall, dass eine Kollision zwischen einem Menschen und einem in Bewegung befindlichen Roboter stattfindet. In dem Fall ist eine Kollisionserkennung sowie eine sensorische, mecha-nische und/oder elektronische Begrenzung von Kraft bzw. Druck bei der Kollision zwischen Mensch und Roboter notwendig.Aktuell entwickeln nahezu alle Roboterhersteller Kleinroboter, die mittels interner Sensorik Kollisionen erkennen und den Roboter im Berührungsfall stoppen. Ein Beispiel ist z.B. der auf dem Markt verfügbare KUKA Leichtbauroboter iiwa, der auf Ba-sis der Momentenmessung in allen Robotergelenken Kollisio-nen erkennt. Das Fraunhofer IFF hat eine Sensorik entwickelt, die an jedem Roboter (auch Schwerlastroboter) anwendbar ist und Kollisio-nen zwischen dem Mensch und dem Roboter zuverlässig er-kennt. Das patentierte taktile Sensorsystem lässt sich an jede be-liebige Roboterform anpassen und gewährleistet eine lückenlose Umhüllung des Roboters. Die Basis des taktilen Sensorsystems bildet ein leitfähiges Elastomer, das unter Druckbelastung seine Leitfähigkeit ändert. Eine wesentliche Besonderheit des taktilen Sensorsystems ist die Möglichkeit der Integration energieabsor-bierender Dämpfungsschichten. Gemäß der gültigen Normen darf es bei einer Kollision zwischen Mensch und Roboter zu keinem Schmerz und bei Fehlverhalten des Menschen oder Fehlfunktion der Technik zu keiner bleiben-den Verletzung kommen. Im Zusammenhang mit der ISO TS

15066 wurde begonnen, ei-nen umfassenden Körperat-las zu erstellen, der die ma-ximalen mechanischen Be-anspruchungen für alle Körperstellen für den qua-si-statischen Kollisionsfall zusammenfasst. Mit Hilfe des Körperatlas können Ar-beitsplätze mit Mensch-Ro-boter-Kooperation prozes-soptimal eingerichtet und den Sicherheitsvorgaben gerecht werden.Am Fraunhofer IFF werden aktuell erstmalig die physi-kalischen und biomechani-schen Eigenschaften von dynamischen Mensch-Ro-boter-Kollisionen auf Basis von Versuchen mit Proban-den ermittelt. Das Ziel der Studien liegt in der Ermitt-lung der biomechanischen Belastungsgrenzen für den dynamischen Schmerz- und © Fraunhofer IFF, Magdeburg 2015 Dr. Norbert Elkmann

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Verletzungseintritt. Hierzu hat das Fraunhofer IFF eine neuartige Mess-vorrichtung entwickelt, mit der Pro-bandenversuche durchgeführt wer-den können. Die Messvorrichtung besteht aus einem gekoppelten Stoßpendel. Über die Auslenkung des Pendels wird die Kollisionsgeschwin-digkeit sicher und reproduzierbar eingestellt. Zusätzlich kann die Pen-delmasse variiert werden. Die Varia-tion von Pendelgeschwindigkeit und -masse ermöglicht die exakte Einstel-lung unterschiedlich hoher Impulse und Stoßkräfte. Bei einem Kollisions-versuch werden die Stoßkraft, die Flächenpressung und die Kollisions-geschwindigkeit erfasst. Die Studien werden von medizini-scher Seite von der Klinik für Un-fallchirurgie, der Klinik für Dermato-logie und Venerologie, dem Institut für Rechtsmedizin und dem Institut für Neuroradiologie der Uni-versitätsklinik der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg be-gleitet. Die zuständige Ethikkommission der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg hat den Studien zur Ermittlung der bio-mechanischen Belastungsgrenzen auf Basis der Kollisionsversu-che mit Probanden zugestimmt.

AusblickDie Mensch-Roboter-Kooperation wird sich sehr schnell im in-dustriellen Umfeld etablieren, es bestehen bereits seitens der verfügbaren Technologien und der Normung weitreichende

Vorarbeiten und einsetzbare Systeme. Um alle Möglichkeiten der Mensch-Roboter-Kooperation vor dem Hintergrund der Sicher-heitsanforderungen ausschöpfen zu können sind aber noch viel-fältige Forschungs- und Entwicklungarbeiten notwendig sowie weitere grundsätzliche Untersuchungen wie die Ermittlung der biomechanischen Belastungsgrenzen bei Kollisionen zwischen Mensch und Roboter.Wichtig sind zunächst zahlreiche Referenzanwendungen im industriellen Umfeld, die den Sicherheitsanforderungen genü-gen. Weiterhin wird die Entwicklung MRK-optimierter Robo-ter, Sensorik, Greifer, Montagewerkzeuge und Kommunikati-

onsschnittstellen unter Be-rücksichtigung der Sicher-heitsanforderungen/Zertifizierung im Vorder-grund stehen müssen. Ein weiterer wichtiger For-schungsschwerpunkt werden Technologien für die intuitive Interaktion zwischen Men-schen und Roboter sein, um die Akzeptanz der Menschen zu fördern und den Umgang mit dem Roboter zu erleich-tern. Weiterhin sind digitale Planungswerkzeuge für die Auslegung von MRK-Zellen notwendig. Zudem ist es wich-tig, dass bei der Neuplanung von Produktionsstätten (z.B. Vor- und Endmontage) die MRK-Anforderungen und die verfügbaren Technologien mit in die Planung einbezogen und umgesetzt werden.

© Fraunhofer IFF, Magdeburg 2015 Dr. Norbert Elkmann

© Fraunhofer IFF, Magdeburg 2015 Dr. Norbert Elkmann

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s ta t e m e n t s

Dr. Mathias Umbreit, Berufsgenossenschaft Holz und Metall

„Die Berufsgenossenschaft Holz und Metall ist als Versicherer nicht nur tätig wenn es um Entschädigungs-

zahlungen in der Folge von Unfällen kommt, sondern kümmert sich vor allem auch um eine effektive Präventi-on solcher Unfälle. Über die uns zugeordneten Gemein-schaftsaufgaben der Deutschen Gesetzlichen Unfallver-sicherung beteiligen wir uns aktiv an den internationalen Normungsverfahren. Dort werden aktuelle Forschungs-ergebnisse zum Beispiel zu biomechanischen Gren-zwerten im Falle von Kollisionen mit eingearbeitet. Zudem werden im Rahmen von Projekten praktische Handlungsanleitungen für die Betriebe entwickelt. Dazu gehören auch umfangreiche Beratungstätigkeiten bei OEMs. Die individuelle Betreuung von Unternehmen stößt allerdings schnell an Kapazitätsgrenzen. Daher ver-folgt die Berufsgenossenschaft Holz und Metall die Stra-tegie, Hersteller und Anwender durch Beratungen, Semi-nare und Zertifizierungen soweit zu unterstützen, dass sie selbst in der Lage sind, sichere kollaborierende Ro-botersysteme bereitzustellen.MRK ist sind aus Sicht der Berufsgenossenschaft kein Selbstzweck. Wir erhoffen uns von kollaborierenden Ro-botern positive Auswirkungen auf die Ergonomie, eine Reduktion monotoner Tätigkeiten und die Möglichkeit, Handarbeitsplätze für Beschäftigte angenehmer zu ge-stalten. Zudem besteht die Chance, die durch die demo-grafische Entwicklung entstehende Beschäftigtenlücke, und den dadurch absehbaren Mangel an Fachkräften, auszugleichen. Hierzu werden allerdings sowohl alle For-men der MRK als auch weiter fortschreitende „klas-sische“ Automatisierung nötig sein.“

Jörg Nothdurft, Leiter Arbeitsschutz, Volkswagen

„Die Arbeitssicherheit ist in die Prozesse zur Gestaltung von Ar-beitsplätzen fest eingebunden. Wir haben dies bei Volkswagen durch

eine Regelung des Vorstandes (Organisationsanwei-sungen) fixiert, die sicherstellt, dass alle Fachabtei-lungen in den Gestaltungs- bzw. Beschaffungsprozess eingebunden werden. Hierdurch wissen alle Betroffenen rechtzeitig, was gep-lant ist und können ihre Fachkenntnisse einbringen. Zu-sätzlich wird ein Sperranhänger an der neuen Anlage angebracht, der nur von der Arbeitssicherheit entfernt werden darf. So ist sichergestellt, dass unsere Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter erst an diesem Arbeitsplatz tätig werden, wenn alle sicherheitstechnischen Anfor-derungen erfüllt sind.Bei der Entscheidung für neue Technologien sind wir sehr sensibel und verlassen uns nicht nur auf die Anga-ben der Hersteller, sondern fordern auch die Überprü-fung durch unabhängige Dritte (z.B. TÜV). Nur wenn wir sicher sind, dass unsere Mitarbeiter ungefährdet ar-beiten können, geben wir den Arbeitsplatz frei.Wir müssen bei der jetzigen Entwicklung der neuen si-cheren Steuerungen für MRK-Anwendungen bedenken, dass die Industrie erst am Anfang einer neuen Genera-tion Roboter steht. Heute reden wir noch über die ma-ximalen Kräfte, die im Falle einer Kollision auf den Menschen einwirken dürfen. Aber die Zukunft liegt in Systemen, die eine Kollision sicher verhindern.“

Stimmen aus der Podiumsdiskussion

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s ta t e m e n t s

Dr. Constanze Kurz, IG Metall

„Der menschengerechten Gestaltung von MRK-Lösungen kommt eine zen-trale Rolle zu, um ihr Potenzial sowohl in ergonomischer als auch qualifikato-rischer Hinsicht im Interesse der Be-

schäftigten auszuschöpfen. Dem Arbeits- und Gesundheits-schutz fällt in diesem Zusammenhang die Aufgabe zu, neue Gefährdungen des Arbeitsvermögens durch kollaborieren-de Leichtbauroboter zu analysieren sowie Sicherheits- und Schutzkonzepte zu entwickeln, welche die Risiken – die heute noch vorhanden sind – zu minimieren. Zugleich muss das Handlungs- und Regelungsfeld des Arbeits- und Ge-sundheitsschutzes stärker als bislang Bestandteil der Orga-nisations- und Qualifizierungsgestaltung werden. Das The-ma Ergonomie muss gezielt in arbeitspolitische Gestaltungsansätze eingebettet werden, die auf eine Anrei-cherung der Tätigkeiten sowohl in fachlich-technischer Hin-sicht als auch mit Blick auf soziale oder organisatorische Kompetenzen zielen. „Ganzheitlich gedacht“ können Auf-wertungs- und Requalifi zierungs strategien besser greifen. Der Weg dahin: Weg vom Spezialistenkonzept (Beauftragte für Arbeitssicherheit) hin zu einer durchgängigen Aufgabe für alle Beschäftigten. In jedem Fall muss die Ausgestaltung und Weiterent-wicklung und Anwendung von MRK verstärkt auf Im-pulsen beruhen, die von den Beschäftigten kommen. Beteiligung sollte bereits in der Phase der Technikent-wicklung beginnen und dazu beitragen, eine Entfaltung des Arbeitsvermögens mit der Umsetzung guter Arbeit gerade auch in MRK zu verwirklichen.“

Andreas Heim, Vorsitzender Ausschuss für Arbeitssicherheit, Gesundheit & Umwelt, Volkswagen

„Für uns ist der Einsatz von koope-rierenden Robotern eine Frage von

Chancen und Risiken, die gegeneinander abgewogen werden müssen. Chancen sehen wir überall da, wo wir zurzeit ergonomisch nicht optimale Arbeitsplätze ha-ben, z.B bei Überkopfarbeit oder schweren Teilen. Wenn Roboter dort den belastenden Teil der Arbeit überneh-men entlasten wir die Kolleginnen und Kollegen.Risiken sehen wir im Bereich der Arbeitssicherheit. Wenn wir Roboter ohne Schutzzaun betreiben wollen und sie dichter an den Menschen rücken, müssen wir auch alles dafür tun, dass nichts passieren kann. Die Sicherheitstechnik ist zum Teil noch nicht ausgereift und Kollisionsrisiken sind selbst mit dem aktuellen Stand der Technik nicht auszuschließen.Roboterhersteller, Verbände und Berufsgenossenschaften diskutieren welche Verletzungsschweren denn gerade noch tolerabel sind. Als tolerabel gelten Beanspru-chungen der Haut und der darunter liegenden Gewebe, bei denen es nicht zu tieferem Durchdringen der Haut und des Gewebes mit blutenden Wunden kommen kann. Das mag tolerabel für Ingenieure und Techniker sein, das ist aber nicht akzeptabel für die Arbeitnehmervertretung. Unsere Forderung lautet: Mensch-Roboter-Kooperation darf nicht zur Mensch-Roboter-Kollision führen. Jede Art der Körperverletzung muss ausgeschlossen werden!“

Dr. Holger Heyn (Technologieentwicklung Roboter, Volkswagen)

„Unsere Motivation MRK einzusetzen besteht darin, die Ergonomie zu verbessern, den Mitarbeiter zu entlasten und die Qualität der Tätigkeit zu erhöhen. Zugleich wollen wir mit Hilfe von MRK die Produktivität steigern und die Präzision in der Fertigung weiter erhöhen. Verschiedenste Robotersysteme und Sicherheitskonzepte sind zwar bereits heute verfügbar, befinden sich teilweise allerdings noch in einem frühen Reife-

stadium. Wir arbeiten im Konzern mit allen uns derzeit bekannten Lösungsanbietern für MRK (Roboterher-steller, Lieferanten für Systemkomponenten und Systemintegratoren), mit der Berufsgenossenschaft und mit Forschungsinstituten zusammen, um die Vielfalt der mit MRK verbundenen Fragestellungen beant-worten zu können. Dies sind vielfach technische, aber auch nicht-technische Aspekte.Wir verfolgen dabei das Ziel, optimale und sichere MRK-Lösungen nach aktuellem Stand von Technik Wis-senschaft zu implementieren. Dabei sind ungewollte Kontakte zwischen Mensch und kollaborierendem Roboter durch entsprechende technische Lösungen so weit wie möglich auszuschließen.“

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Prof. Dr. Jana Dittmann studierte Wirtschaftsinformatik an der TU Darmstadt. Sie ist Leiterin des Advanced Multimedia and Security Lab (AMSL) der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg, mit dem Fokus auf multimediaspezifische Sicherheitsaspekte der Technik, IT, Anwenderwahrnehmung, Anwenderinteraktion und rechtlicher Dimensionen.

Die Digitalisierungstrends der Fabrik 4.0 sind eindeutig - Wert-schöpfungsnetzwerke sind mit Sicherheit die Zukunft! Produkti-ve Wertschöpfung bedarf der Vernetzung und auf den Punkt ge-bracht ist Sicherheit der Rahmen für Gute Arbeit in der Fabrik heute und in der Zukunft. Sicherheit kann auch als das grüne Band – als Gürtel, der alles zusammen hält, verstanden werden und ist somit die Basis für unser Handeln. Es liegt an uns allen, Sicherheit kreativ und zielführend in der vernetzten Fabrik zu gestalten, um die existierenden Kernkompetenzen in der Pro-zess-und Systemintegration als Erfolgsfaktor langfristig zu erhal-ten und auszubauen.

MotivationMit den aus der IT-Security bekannten Sicherheitsaspekten Ver-traulichkeit, Authentizität, Integrität, Verfügbarkeit und

Verbindlichkeit kann das prinzipielle Schutzbedürfnis im Detail zum Beispiel pro Information, Nutzer oder pro IT-Komponente formuliert und Datenschutzaspekte einbezogen werden. In der Vergangenheit hat es sich bekanntermaßen gezeigt, dass es eine Vielzahl von Motivationen für einen digitalen Angriff gibt, sie werden von Hackern, Spionen, Terroristen, beauftragten Ange-stellten, professionellen Kriminellen, Vandalen, Voyeuren durch-geführt (siehe zum Beispiel in [1]). Dabei nutzen Angreifer prin-zipiell Schwachstellen als Systemeigenschaft, die Missbrauchs-möglichkeiten bieten. Vor dem Hintergrund von existierenden Schwachstellen im Design, der Implementierung und Konfigura-tion, werden heute fünf bekannte Basisangriffe einzeln oder kombiniert genutzt: Lesen, Verändern, Unterbrechen, Erzeugen/Fälschen und Stehlen/Entfernen (siehe Sicherheitsaspekte Abbil-dung 1). Projiziert man diese Basisangriffe abstrakt auf ein

Datensicherheit in der vernetzten Fabrik

Abb. 1: sicherheitsaspekte

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System, kann eine Abschätzung der aktuellen als auch mittelfris-tigen Bedrohungslage in Funktion und Struktur erfolgen. Aus den Erkenntnissen kann dann der Handlungsbedarf abgeleitet wer-den. Es bietet sich daher an, alle Basisangriffe frühzeitig bei der Konzeption der Fabrik 4.0 einzubeziehen und auch in der Imple-mentierung und Konfiguration sowie in der Aktualisierung (Up-date) gezielt zu berücksichtigen und zu testen. Hier können be-kannte organisatorische und technische IT-Security-Maßnahmen zur Prävention, Detektion und zur Wiederherstellung definiert werden, die zum Beispiel nach [2] zum normalen Schutzbedarf gestaltet und durch eine Risikoanalyse mit darüberhinausgehen-den Maßnahmen ausgestattet werden sollten. Organisatorische Maßnahmen sind zum Beispiel explizite Gesetzgebung, Definiti-on von Sicherheitsrichtlinien und Schutzprofilen, Festlegung von Vorbehalten und/oder Definition von Wahlfreiheit, Zweckbin-dung, Erforderlichkeitsprinzipien, Auskunftspflichten und An-spruch auf Transparenz, Verfahrensrechtliche Sicherungen. Technische Maßnahmen sind zum Beispiel die Nutzung von Kryp-tographie, verdeckte Kommunikation, Isolation und Abschot-tung, Firewall, Virenscanner und IT-Forensikmaßnahmen. Das Zusammenspiel von Security und Safety muss ebenfalls

gezielt einbezogen werden, um Schaden im Bereich Leib und Le-ben auszuschließen.

Vernetzungsaspekte: Lokale und globale Beobachtbarkeit im CyberspaceIm Folgenden soll das Thema Wertschöpfungsnetzwerke und Da-tensicherheit vor dem Hintergrund der Vernetzung der techni-schen Komponenten und der arbeitenden und wirkenden Men-schen betrachtet und die sich ergebenden Implikationen aus ganzheitlicher Sicht der digitalen Beobachtung weltweit ange-sprochen werden. Prinzipiell verbinden und öffnen Wertschöp-fungsnetzwerke der Fabrik 4.0 einzelne Funktionen zwischen den Betrachtungseinheiten (Komponenten und Mensch-Maschi-ne-Interaktion) und bilden neue Strukturen aus. Die neuen Funktionen in neuen Strukturen sind jedoch nicht alleinste-hend, sie sind eingebettet in andere bestehende oder sich auch neu bildende Strukturen und letztendlich Internet-basiert global vernetzt, weltweit (siehe Vernetzung Abbildung 2). Wertschöp-fungsnetzwerke sind somit nicht isoliert vom Internetkontext zu bewerten, zu organisieren und zu sichern, da eine prinzipielle digitale Erreichbarkeit und Offenlegung inhärent erfolgt. Auch

Abb. 2: vernetzung

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sind die Funktionen und Strukturen sowie deren Internet-Kon-text dynamisch ändernd und Wechselwirkungen müssen somit stets im Zusammenhang ganzheitlich betrachtet und fortwäh-rend gestaltet und angepasst werden.Die prinzipielle Vernetzung verbindet und öffnet die digitale Fab-rik 4.0 und ermöglicht eine lokale und globale Beobachtbarkeit im Cyberspace der technischen Komponenten als auch der Men-schen, die in der Fabrik 4.0 arbeiten. Durch die technische Aus-stattung ist die Feststellung und Festlegung von Zeit-Ort-Perso-nen-Service-Maschinen-Eigenschafts-Beziehungen nicht nur durch die Wertschöpfungsketten der Fabrik 4.0 selbst, sondern beispielsweise auch durch social media Dienste, news-Dienste, Suchmaschinennutzung, SmartHealth, Connected Living etc. ge-geben. Schauen wir uns ein Beispiel an:Die Nutzung von Suchmaschinen ist für viele Mitarbeiter eine er-hebliche Erleichterung beim Arbeiten. Begrifflichkeiten, Funkti-onsweisen, Neuigkeiten können schnell nachgeschlagen, Trends können recherchiert, Details nachgeschlagen, Dienstreisen ge-plant, Reiserouten bestimmt und gezielt interessierende Örtlich-keiten angeschaut werden. Doch was sieht die Suchmaschine?Alle Anfragen eines Clients sind sichtbar und können seitens der Suchmaschine analysiert werden, welche Themen aktuell von Interesse sind und die Anfragen können in den Zusammenhang gesetzt werden, was es potentiell ermöglicht, aktuelle Aktivitä-ten, Schwierigkeiten oder Bedarfe auszumachen. Der Client kann durch seine genutzte IP-Adresse, falls diese nicht gezielt anonymisiert wird, auf eine Region, auf Aufenthaltsorte, auf ein Unternehmen etc. durch Nutzung von Metawissen bezogen wer-den. Durch weitere Clienteigenschaften wie Informationen über Betriebssystem und Browserdetails kann über sich ändernde IP-Adressen hinweg sehr einfach eine Individualisierung erfol-gen. Am einfachsten kann man dies sehen, wenn man in einer Suchmaschine nach dem Wetter recherchiert, hier sind meist in der Suchansicht von den weiterführenden Linktreffern bereits ortsbezogene Wetterdetails zu sehen. In Endgeräte integrierte GPS-Module erlauben darüber hinaus eine noch präzisere geo-grafische Ortung. Durch die Nutzung von Internetdiensten in der Fabrik 4.0 – auf Fabrik-eigenen als auch auf privat mitgebrachten Geräten – kön-nen Daten und Informationen von innen nach außen zu Dritten diffundieren, sie werden verfügbar und können gezielt gesam-melt und verarbeitet werden. Die vielfältigen Möglichkeiten zur Individualisierung von Eigenschaften der Endgeräte (Kompo-nenten) und die Verknüpfung mit Metadaten können ggf. eine umfassende Analyse der gesamten Wertschöpfungskette der Fab-rik 4.0 für Dritte ermöglichen. Dies sollte zumindest allen be-wusst sein bzw. sollten gezielt Richtlinien erstellt werden, um die Sichten auf und den potentiellen Erkenntnisgewinn über die Fa-brik 4.0 und ihre Akteure von Dritten zu minimieren. Eine ge-zielte Bestimmung von Diensten, die genutzt werden, sollte ex-plizit erfolgen, um sich selbst ein Bild der Lage zu verschaffen, was von Dritten gesehen werden kann. Des Weiteren sollte

überlegt werden, welche Dienste nicht bzw. welche Alternativen genutzt werden sollten.Durch die lokale als auch globale Beobachtbarkeit eröffnen sich somit neue Sichtweisen auf die Akteure der Wertschöp-fungsnetzwerke durch Dritte, die bisher nicht oder schwer er-folgen konnten, welche als Nutzungsrisiken bezeichnet werden können. Diese werden verstärkt durch die permanente digitale Präsenz und somit „Unlöschbarkeit“ der erzeugten Informatio-nen gegenüber Dritten. Im heutigen Alltag trifft IT jeden und somit trifft auch der häufig vorherrschende Default IT-Alltag die Fabrik 4.0. Beispielsweise müssen neue Effekte der Infor-mationstransparenz durch BYOD, Social Media & Connected Living und der damit einhergehende potentielle Cross System Information Leakage – die Verkettbarkeit aller Informationen in privaten und beruflichen Bereich einbezogen werden. Man sollte davon ausgehen, dass die Mitarbeiteraktivitäten seitens Dritter sehr vollständig protokolliert und in den Kontext der Ar-beit gestellt und langfristig beobachtet und analysiert werden können. Welche Informationen hier bei Dritten im Detail vor-liegen ist für die Fabrik 4.0 weder vollständig nachzuvollziehen noch abzuschätzen.

Wertschöpfungsnetzwerke – ForschungsaspekteDie globale Vernetzung ermöglicht somit einen „Wissensvorrat“ seitens Dritter anzuhäufen und kann neue „Wissen“-Risiken und „Wissen“-Hoheiten eröffnen, die gezielt zu Wirtschafts-Spiona-ge/-Sabotage/-Ausspähung genutzt werden könnten. Auch sind neue weltweite Bedrohungsformen denkbar, wie zum Beispiel „Erfolgsfaktor“- oder „Schwachstellen“-Sniffing, -Targeting (An-gebots- und Preisbildung, digitale Ausgrenzung/Erpressung) oder Human and machine ressource profiling etc.Betrachtet man Wertschöpfungsnetzwerke aus dem Blickwinkel der Schadcodedynamik – Fabrik 4.0, Internet of Things etc. – ist zu erwarten, dass es zu einer Vereinfachung und Automatisie-rung von gezielten Angriffen kommt (siehe Sicherheitsaspekte Abbildung 3 – Folie 3). In verschiedenen Berichten wird bereits darauf verwiesen, dass ein erheblicher Mangel an Authentizität der Endgeräte oder Endnutzer beklagt wird bzw. Schwierigkei-ten in der technischen Umsetzung vorliegen. Existierende „hooks“ im Design – unzureichende Default-Einstellungen – be-reiten ebenfalls Sorgen.Die Fabrik 4.0 sollte deshalb die Chance nutzen, konzeptionell Funktion und Struktur sowie Informationen und Daten ganzheit-lich zu reflektieren und gezielt neu zu sortieren und zu gestalten. Möglichkeiten der Abschottung sind mit bekannten Strategie wie NeedToKnow, Simplicity und OpenSoftware-Ansätzen zu disku-tieren und zu gestalten. Zielkonflikte sollten explizit identifi-ziert, aufgegriffen und kreativ gelöst werden.Die Integration des Fahrzeugs stellt die Fabrik 4.0 vor weitere Herausforderungen. Zum Beispiel die Integration Mensch im Fahrzeug selbst. Hier sollten Lösungen zum Datenschutz auch als Herstellerschutz verstanden werden, um eine gezielte

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Reduktion von „Wissen“-Risiken zu erreichen. Safetyaspekten kann durch gezielte Nutzung und Fortführung der bekannten Asimov Laws (siehe zum Beispiel in [3] und [4]), als De-sign-Richtlinie und Basis für mehr Gesamtsicherheit begegnet werden.

Vielfältigkeit des Zusammenspiels in WertschöpfungsnetzwerkenDie Fabrik 4.0 muss die Security und Safety einzelner Kompo-nenten sowie deren komplexe Strukturwirkung beherrschen und regelmäßig überprüfen. Dies sollte in allen Aspekten erfol-gen – in Design, Produktion, Auslieferung, Konfiguration, Nut-zung, Update, Weiterverkauf, Ausmusterung, Beendigung, Wei-terverwertung, Zerstörung. Es sollte beachtet werden, dass die Gesamtsicherheit die Sicherheit des schwächsten Glieds bedeutet.

Qualifikationen – Lehre – Datensicherheit in der vernetzten FabrikSicherheit muss als fortwährende Aufgabe verstanden werden und somit sind Qualifikationen gefragt, die Menschen in die Lage versetzen, Bedrohungen frühzeitig zu erkennen, Systeman-passungen zu formulieren und Re-Design vorschlagen zu kön-nen. Dazu müssen die Akteure die Faktoren Mensch und Tech-nik, globale Sichten, Zusammenhänge und Wirkungen mit Lang-zeitaspekten unter sich ändernden Bedingungen sowie Unsi-cherheit, Fehler, Verlust, Completeness im Auge haben. Nicht-Wissen und fehlendes Erfahrungsspektrum (not-me-Syn-drom, „Weil-Sucht“) führen oft dazu, dass Chancen global ver-passt werden und Risiken entstehen.Qualifikationen sind gefragt, alle Beteiligten sollten ein Grund-verständnis und eine Sensitivität für die Mächtigkeit von IT besit-zen, da Sicherheit auch mit der Akzeptanz der Mitarbeiter steht und fällt. IT-Fachkräfte sollten über ein Basiswissen zur IT-Secu-rity verfügen, um gezielt und schnell handeln zu können, und zur Gestaltung der Fabrik 4.0 sollten IT-Security-Experts mit so-cial skills und Kreativität ausgestattet sein, um die Herausforde-rungen mit allen Beteiligten zu meistern.

Kernbotschaften:Die Fabrik 4.0 ist als sozio-technisches System zu verstehen, welches sich dem Internet in vielen Facetten öffnet und somit erreichbar und analysierbar wird. Dies eröffnet neue Bedro-hungsformen wie „Wissen“-Risiken und „Wissen“-Hoheiten als Bedrohung der Vertraulichkeit und Geheimhaltung durch Be-obachtbarkeit und Verkettbarkeit oder erlaubt gezielte An-griffsformen wie zum Beispiel Gefährdung von Vertrauen und Funktionssicherheit, der Verfügbarkeit oder Integrität. Gestal-tungsspielräume sollten gezielt im Design, der Konfiguration und Umsetzung diskutiert und genutzt werden, um Risiken zu minimieren und um Zielkonflikte und Nutzungsrisiken in Ein-klang zu bringen.

„Upgrading“ auf Fabrik 4.0 ist kein Automatismus:Eine Abkehr vom „Silodenken“: Zwar ist es notwendig, die Ei-gensicherheit der Komponenten selbst zu erreichen, jedoch ist es auch dringend notwendig, die Gesamtstruktur unter Einbezie-hung aller digitalen Handlungsspielräume der Technik und des Menschen mit den sich daraus ergeben gestalterischen Grenzen zu reflektieren und gezielt eine Umordnung bisheriger Sichtwei-sen auf Informationen und Daten durchzuführen. Die Fabrik 4.0 ist keine Vernetzung von digitalen Inseln, sondern ist digital glo-bal eingebettet mit vielfältigen Wechselwirkungen von anderen digitalen Diensten und Infrastrukturen, die gezielt einbezogen oder ausgeschlossen werden müssen.Die gesamtheitliche Sichtweise muss Einfluss auf die Systemkon-zeption bzw. -schnittstellen haben und erfordert eine ständige Überprüfung und Anpassung an sich ändernde Situationen in der Verknüpfung von realen und digitalen Welten.

[1] John D. Howard and Thomas A. Longstaff: A Common Language for Computer Security Incidents, Sandia Na-tional Labs, 1998 (see in http://prod.san-dia.gov/techlib/access-control.cgi/1998/988667.pdf, website request 26.5.2015

[2] BSI IT-Grundschutz - die Basis für In-formationssicherheit - https://www.bsi.bund.de/DE/Themen/ITGrundschutz/it-grundschutz_node.html, website re-quest 11.3.2015

[3] I. Asimov. 1942. Runaround. Astoun-ding Science Fiction.

[4] D.Weld, O.Etzioni. 1994. The first law of robotics (a call to arms). Proceedings of the twelfth national conference on Artificial intelligence (vol.2), AAAI‘94, ACM, USA, ISBN 0-262-61102-3.

LITERATUR

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s ta t e m e n t s

Gunter Wachholz, Betriebsrat Volkswagen

„Der Betriebsrat steht grundsätz-lich positiv zur Einführung von In-dustrie 4.0 in der Fabrik. Der Einsatz fortschrittlicher IT-Techno -

logien kann zur Erleichterung und zur sinnvollen Unter-stützung der Arbeit der Beschäftigten führen. Die darf aber nicht in einer kompletten Automatisierung der Ar-beit münden. Die Beschäftigten in der Fertigung müssen auch zukünftig immer die Hoheit über ihre Tätigkeit und ihre Entscheidungen am Arbeitsplatz haben.Zudem sollte der Einsatz von technischen Hilfsmitteln wie z.B. Datenbrillen, Wearables und Tablet-Technologie nur zur Unterstützung der Arbeit dienen, auf keinen Fall aber zur Leistungs- und Verhaltenskontrolle. Zudem muss die Sicherheit der IT-Systeme in der Fertigung ei-nen extrem hohen Stellenwert haben, um eine Schädi-gung der Beschäftigten auszuschließen. Es müssen min-destens die gleich hohen Anforderungen gelten wie für die IT-Sicherheit im Internet-vernetzten Fahrzeug.Aus Sicht des Betriebsrates ist es zudem unabdingbar, dass die Beschäftigten in der Fabrik nicht nur entspre-chend qualifiziert werden, sondern auch endlich einen umfassenden Zugang zu allen im Unternehmen üb-lichen Informations- und Kommunikationsmöglich-keiten erhalten.“

Frank Rieger, Sprecher des Chaos Computer Clubs, Autor

„Das Thema Industrie 4.0 kommt zu einem relativ ungünstigen Zeitpunkt in der Geschichte der IT-Sicherheit. Wir können uns zwar recht gut gegen bekannte Angriffsszenarien schützen, aber wir haben keine Möglichkeit, uns gegen gezielte Attacken von mit entsprechenden Ressourcen ausgestatteten Akteuren zu schützen. Erste Auditerfahrungen mit vernetzten Robotersystemen waren mit Blick auf die IT-Sicherheit leider nicht sehr ermutigend. In den Werkhallen stoßen wir

zudem häufig auf veraltete IT-Systeme, die nie dafür ausgerichtet waren, ans Netz zu gehen.In der heutigen universitären Ausbildung spielen sichere Programmiertechniken praktisch keine Rolle. Das gilt insbesondere für die Informatikausbildung im Rahmen ingenieurswissenschaftlicher Studiengänge. Wir sollten unverzüglich damit beginnen, die IT-Sicherheit in der universitären Ausbildung zu stärken und anschließend da-ran arbeiten, moderne Sicherheitskonzepte und Prüfsysteme in die Produktion zu bringen.Zudem brauchen wir einen grundlegenden Paradigmenwechsel, was die Haftung für IT-Systeme betrifft. Es muss möglich sein, IT-Anbieter in für Industrieanlagen übliche Haftungszyklen zu nehmen. Wichtig dabei ist, dass entspre-chende Vorschriften nicht dazu führen, dass nur noch Großanbieter Systeme ausliefern können während kleineren Firmen der Marktzugang verwehrt bleibt. Dies könnte z.B. durch Versicherungen geschehen. Großunternehmen wie VW können im Rahmen ihres Umgangs mit Lieferanten und der Politik diese Entwicklung positiv beeinflussen.“

Dr. Martin Hofmann, Leiter Konzern IT und Organisation

„Sichere IT-Systeme sind eine Grundvoraussetzung für die ver-netzte Fabrik“, sagt Konzern IT-

Chef Dr. Martin Hofmann. Sie schützen sowohl die Pro-duktionsanlagen als auch das Produkt selber vor Manipulation und unbefugtem Zugriff. Darüber hinaus spielt die Absicherung der Mensch-Maschine- Interaktion eine zunehmend wichtigere Rolle.Klar ist: Schon heute wachsen IT und Produktion auf dem Shopfloor zusammen. Das stellt IT-Sicherheit vor neue Herausforderungen. Sie entwickelt sich zur Quer-schnittsaufgabe, betrifft und fordert das ganze Unter-nehmen. Dabei gilt es, Sicherheit nicht als festen, ein-mal erreichten Zustand misszuverstehen, sondern vielmehr als stetigen Prozess zu begreifen, der konti-nuierlicher Anstrengung und Arbeit bedarf. Jeden Tag aufs Neue und immer intelligenter.“

Stimmen aus der Podiumsdiskussion

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d r . c a r l b e n e d i k t f r e y ( u n i v e r s i t y o f o x f o r d )

Dr. Carl Benedict Frey ist Co-Direktor des Oxford Martin Programme on Technolo-gy and Employment an der University of Oxford. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit dem Übergang von Industrienationen zur digitalen Wirtschaft, sowie Herausforderungen für wirtschaftliches Wachstum, Arbeitsmärkte und urbane Entwicklung. 2013 erschien sein weltweit beachteter Artikel „The Future of Em-ployment: How susceptible are jobs to computerisation?“ zusammen mit Prof. Michael Osborne (University of Oxford).

The digital revolution has brought undisputable gains, includ-ing the World Wide Web, Google and the iPhone. Nevertheless its impact on the workforce has arguably been more disruptive than technological revolutions of the past. In our widely dis-cussed paper entitled The Future of Employment: How Suscep-tible are Jobs to Computerisation?, my co-author Michael Os-borne and I estimate that 47 percent of the US workforce is now susceptible to automation. Although these estimates cannot be directly transferred to other countries, the type of jobs that will be affected is the same. In particular, similar to the United States, jobs in transportation, logistics, as well as office and ad-ministrative support, are at “high risk” of automation. Further-more, the bulk of service and sales occupations, where the most job growth has occurred over the past decades, are how for the first time at risk.

Digital technologies do however not only destroy jobs, but also create jobs in entirely new occupations and industries. For exam-ple, Video and Audio Streaming industry, Online Auctions, and Web Design constitute new industries that appeared in official classifications for the first time in 2010, following a series of re-cent innovations. Yet, the magnitude of new jobs created from the arrival of new technologies throughout the 2000s has been strik-ingly small: in 2010 only about 0.5 percent of the US workforce was employed in new industries that did not exist a decade earli-er. Workers in these industries are also much better educated than most workers, meaning that although technological pro-gress continues to create new jobs, these have largely been con-fined to skilled labour. Thus, as technology races ahead, workers will need to acquire more sophisticated skills, allowing them to reallocate to new jobs being created.

Beschäftigungseffekte der Digitalisierung

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i m p r e s s i o n e ni m p r e s s i o n e n

Die Konferenzteilnehmer nutzten die Pausen und

Begleitausstellungen um sich auszutauschen, Wirtschaft,

Gewerkschaften, Forschung und Politik zu verbinden und so

das Netzwerk „Gute Arbeit 4.0“ mit Leben zu füllen.

Die interaktive Begleitausstellung der Konferenz

machte unter anderem Virtual Reality-Technologien

live erlebbar, die zukünftig Einzug in viele

Produktionsprozesse halten können.

Die Firma Kuka Robotics präsentierte

Roboterentwicklungen wie den LBR iiwa, mit

denen die Mensch-Roboter-Kooperation

sicher und effizient gestaltet werden kann.

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o l a f l i e s ( m i n i s t e r f ü r w i r t s c h a f t, a r b e i t, v e r k e h r l a n d n i e d e r s a c h s e n )

Den ROBOTICS AWARD für angewandte Roboterlösungen verleihen Deutsche Messe AG, der Industrieanzeiger und die Robotation Academy bereits seit fünf Jahren im Rahmen der HANNOVER MESSE.

Eine unabhängige Jury von Robotik-Experten beurteilt die Ein-reichungen nach verschiedenen Kriterien. Dazu gehören beson-ders der technische Innovationsgrad der Lösung sowie ihr Nut-zen für Industrie, Umwelt und Gesellschaft. Darüber hinaus spielen aber auch der wirtschaftliche Nutzen für die Anwender und das Nachfragepotenzial auf den Absatzmärkten eine Rolle.Überreicht wurde er von Olaf Lies, dem Niedersächsischen Mi-nister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr sowie zugleich auch

Schirmherr des ROBOTICS AWARD. Die incubed IT GmbH über-zeugte mit einer Roboterlösung für Shuttles, die sich intelligent, autonom und flexibel im Raum bewegen. Auf Platz zwei schaffte es die Goldfuß Engineering GmbH aus Balingen mit einem Dual-arm-Roboter, der das Handling von Verpackungen optimiert. Den dritten Platz belegte die MRK-Systeme GmbH aus Augsburg mit einem Roboter, der Werkern in der Automobil-Endmontage-bei Audi Bauteile anreicht.

Präsentation der Gewinner des 5. Robotics-Awards

Olaf Lies überreicht den ROBOTICS AWARD

als Schirmherr der Auszeichnung.

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o l a f l i e s ( m i n i s t e r f ü r w i r t s c h a f t, a r b e i t, v e r k e h r l a n d n i e d e r s a c h s e n )

Die Preisträger der incubed IT GmbH aus Hart bei Graz (Österreich)

Unten: Den Gewinnern gratulierten

(v.l.n.r.): Dr. Horst Neumann, Stefan

Wolf, Jörg Hofmann, Olaf Lies.

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j ö r g h o f m a n n ( z w e i t e r v o r s i t z e n d e r d e r i g m e ta l l )

Wir wissen keineswegs genau, was Industrie 4.0 und Digitalisierung für Arbeit und Beschäftigung bedeutet, wie tief und wie weit der quantitative und qualitative Wandel der Industriearbeit reichen wird. Schon deshalb, weil der Prozess der fortschreitenden Digitalisierung der Arbeit ergebnisoffen ist. Das betrifft den technologischen, wie den sozio-ökonomischen und den organisatorischen Entwicklungspfad. Vieles hängt davon ab, was wir jetzt tun – also wie die Weichen heute gestellt werden, welche Leitbilder und Leitplanken entwickelt werden.

Nehmen wir die Frage der Beschäftigung: Konferenzteilnehmer Carl Frey von der Universität Oxford kündigt aufgrund seiner Stu-die zur Zukunft der Beschäftigung aus dem Jahr 2013 einen er-heblichen Verlust von Arbeitsplätzen und eine tiefgreifende Ver-änderung von Berufsbildern an – betroffen seien insbesondere die traditionellen industriellen Arbeitsfelder. Zu diesem Schluss kommen auch andere wissenschaftliche Studien. In der BCG-Stu-die, die pünktlich zur Hannover-Messe 2015 erschienen ist, wird hingegen prognostiziert, dass sich allein der deutsche Maschinen-bau über 100.000 neue Arbeitsplätze freuen kann, gerade in der Produktion. Anders gesagt: 4.0 soll sowohl als ein „echter Produk-tivitätsbeschleuniger“ wirken als auch Garant für zusätzliches jährliches Wachstum von 30 Milliarden Euro netto sein.Was stimmt nun? Möglicherweise werden in der aktuellen Dis-kussion die kurzfristigen Folgen überschätzt, die langfristigen Folgen indes unterschätzt. Unstrittig ist: Die Digitalisierung wird die Arbeitswelt fundamental verändern – insbesondere was die in Zukunft abverlangten Qualifikationen angeht. Wir brauchen ohne Zweifel eine solide und präventive Abschätzung der Folgen der Technik für Gesellschaft und Arbeit.Was wir aber vor allem brauchen, ist ein klares Bild davon, wie gute Arbeit in einer digitalisierten Welt aussehen soll. Ein Leitbild, • das die Trends der demografischen Entwicklung und der

zunehmenden Individualisierung der Lebens- und Ar-beitswelt aufgreift, das das Interesse der Beschäftigten an mobiler Arbeit, hoher Zeitsouveränität und damit auch an einer besseren Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben berücksichtigt und

• das Interesse der Beschäftigten an einer guten Arbeit auf-greift, die Gesundheit erhält, Handlungsspielräume er-weitert und Qualifikation fördert.

Oder anders: Industrie 4.0 muss ihren gesellschaftlichen Nutzen unter Beweis stellen. Industrie 4.0 als reine Rationalisierungsstrategie ist aus unserer Sicht der grundfalsche Ansatz. Gewerkschaften und Betriebsräte sind hier auch keine Akzeptanzbeschaffer. Sie wollen ihre Ge-staltungsansprüche an Arbeit 4.0 verwirklicht sehen. Es geht da-bei keineswegs um „weiche“ Themen.

Es geht um • Chancengleichheit, Gerechtigkeit und Teilhabe, Grenzver-

schiebungen im Bereich der Mitbestimmung im Betrieb wie in der Gesellschaft,

• die Frage, ob Maschine oder Mensch bestimmen, wie wir künftig arbeiten werden.

Es geht – kurz gesagt – darum, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und für die Digitalisierung einen in sozialer wie in technischer Dimension gleichermaßen innovativen Entwick-lungsweg zu gehen. Ich möchte hierzu einige Anmerkungen machen:1. Technik und Arbeitsgestaltung sind nicht vorherbestimmt,

sondern durchaus beeinflussbar. Die Öffnung der Industrie 4.0-Debatte in Richtung Arbeit, die Abkehr von einem rein in-genieurwissenschaftlichen geprägten Zielbild cyber-physika-lischer Systeme durch die Einbeziehung sozio-ökonomischer Zielbilder war ein erster wichtiger Schritt. Dieses Zielbild ei-ner arbeitszentrierten Technikgestaltung gilt es zu schärfen.

2. Unternehmen, Gewerkschaften, Politik und Wissenschaft müssen die Digitalisierung der Arbeitswelt als gemeinsames Zukunftsprojekt erkennen, das Beiträge zur Lösung zentraler gesellschaftlicher Fragen bietet. Industrie 4.0 wird ohne Ak-zeptanz bei Beschäftigten, Betriebsräten und Gewerkschaften scheitern. Wenn Betriebsräte gemeinsam mit den Unterneh-men den Prozess der Digitalisierung proaktiv angehen, wenn Gestaltungskompetenz und Beteiligungsmöglichkeiten auf breiter Front aktiviert und auf betrieblicher Ebene „in Form gebracht“ und greifbar gemacht werden, dann ergeben sich für den Industriestandort Deutschland neue Chancen, seine Stärken auch in Zukunft auszuspielen und hierdurch Wachs-tum und Beschäftigung zu sichern. Diese Stärken sind: gut qualifizierte und engagierte Belegschaften, Mitbestimmung und Beteiligung sowie hohe Innovationsfähigkeit bei Produk-ten und Prozessen.

3. Die neuen Techniken können den arbeitenden Menschen sinnvoll unterstützen. In einer humanorientierten Industrie 4.0 wird es mehr gut qualifizierte und weniger körperlich be-lastende Arbeit geben. Digitalisierung und Konnektivität

Leitbilder und Leitplanken für Industrie 4.0 und Digitalisierung

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j ö r g h o f m a n n ( z w e i t e r v o r s i t z e n d e r d e r i g m e ta l l )

ermöglichen das Aufbrechen starrer Arbeitsstrukturen und Hierarchien. Damit können nicht nur neue Chancen für qua-lifiziertes, selbstorganisiertes Arbeiten, sondern auch neue Chancen auf eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Leben eröffnet werden. Industrie 4.0. ermöglicht eine bessere Berücksichtigung ei-ner gewachsenen Vielfalt in den Beschäftigtenstrukturen. Junge und Ältere, Einsteiger und Erfahrene – angepasste As-sistenz kann unterstützen, ausgleichen und auch zur Inklusi-on ansonsten Ausgeschlossener beitragen.

4. Zur Realisierung dieser Chancen bedarf es auf dem Weg in die digitalisierte Arbeitswelt einer nachhaltigen Forschungs-, Bildungs- und Industriepolitik, die am Menschen ausgerich-tet ist. Gerade der Erstausbildung und Weiterbildung wird eine zentrale Rolle zukommen. Um die neuen Technologien und Prozesse zu beherrschen und dabei mit dem Tempo der Veränderungen und Entwicklungen Schritt zu halten, muss die berufliche Bildung deutlich dynamischer agieren als heu-te. Die Taktzahl der Digitalisierung ist hoch und beschleunigt sich weiter. Meine These ist: unser System der Erstausbildung und Wei-terbildung ist für diese Geschwindigkeit noch nicht gerüstet. In der Weiterbildung haben wir in der Auseinandersetzung um die tarifliche Bildungsteilzeit nochmals vor Augen geführt bekommen, wie selektiv und unzureichend berufliche Weiter-bildung heute praktiziert wird. Ein erster Schritt ist mit dem Tarifvertrag nun gemacht. In der beruflichen Erstausbildung haben wir mit der Reform der Berufsbilder eine wichtige Voraussetzung geschaffen: Eine breite, fundierte Erstausbildung, auf der berufliche Spe-zialisierung und neue Anforderungen durch Weiterbildung aufbauen können. Die Berufsbilder gilt es nun neu zu justie-ren; viele Unternehmen haben damit bereits angefangen. Dagegen haben wir in der akademischen (Erst-)Ausbildung eine völlig überzogene Kleinteiligkeit und Spezialisierung – ein Hemmschuh für die Anforderungen des Arbeitsmarktes einer Industrie 4.0, der nach Veränderung ruft.

5. Entscheidend ist, dass die Mitbestimmung als Korrektiv in den Unternehmen gestärkt wird. Nur wenn IG Metall, Be-triebsräte und Beschäftigte die Arbeitswelt der Zukunft mit-gestalten, wird die industrielle Wertschöpfung hierzulande human und nachhaltig profitabel statt rein profit- und tech-nikzentriert sein. Beschäftigte, Betriebsräte und die IG Me-tall müssen von Beginn an gezielt auf die Arbeitsorganisati-on und Technikgestaltung Einfluss nehmen. Dies geschieht bereits in ersten Pilotprojekten. Für die Mitbestimmungs-praxis in der digitalen Arbeitswelt müssen die Mitbestim-mungsrechte entsprechend den neuen Herausforderungen und technologischen Möglichkeiten erweitert und ange-passt werden.

6. Eine große Herausforderung, die sich aus der Digitalisierung ergibt, ist der Beschäftigtendatenschutz. Bis heute gibt es in Deutschland kein eigenes Beschäftigtendatenschutzgesetz. Die heutige Rechtslage muss zwingend weiterentwickelt wer-den. Wir kommen mit den klassischen Instrumenten zur Ver-hinderung von Leistungs- und Verhaltens- kontrollen nicht mehr weiter. Datenschutzzäune hochzu-ziehen wird immer schwieriger. Umso mehr braucht es Schutzzäune für Arbeitnehmer: Arbeitnehmerrechte in der digitalen Arbeitswelt müssen gestärkt werden.

Alles in allem: Es geht um viel. Wir wollen den Weg in die Digita-lisierung der Arbeitswelt zu einer Erfolgsstrategie für Unterneh-men und Beschäftigte machen. Wir haben deshalb als IG Metall die Digitalisierung der Arbeitswelt ganz oben auf die Agenda ge-setzt. Uns geht es um die Beantwortung der Fragen, die diese Entwicklung für die Beschäftigten aufwirft.Wir müssen uns vernetzen, um unser am Menschen orientiertes Zielbild einer digitalisierten Arbeitswelt der Zukunft umzuset-zen. Deshalb lade ich ausdrücklich alle Mitstreiterinnen und Mitstreiter für diese Idee dazu ein, sich an der von Management und Betriebsrat der Volkswagen AG gemeinsam mit der IG Metall gegründeten offenen Plattform für gute Industriearbeit zu betei-ligen (www.gutearbeit4punkt0.de).Sie steht Unternehmen, Betriebsräten und Wissenschaftlern gleichermaßen offen. Hier sollen Ideen, Konzepte und Praxis-beispiele für gesunde, qualifikationsfördernde Arbeitsbedingun-gen in der Industrie 4.0 ausgetauscht und damit auf den Weg ge-bracht werden. In diesem Rahmen werden u.a. Tagungen, Work-shops und Expertenforen stattfinden.

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i m p r e s s i o n e ni m p r e s s i o n e n

Dr. Horst Neumann skizziert die Ziele und

nächsten Schritte von Volkswagen auf dem Weg

zur „Guten Arbeit 4.0“ in Deutschland.

In der abschließenden Diskussionsrunde fassen

Dr. Alexandra Baum-Ceisig, Stephan Wolf, Jörg Hofmann,

Dr. Horst Neumann, Prof. Dr. Hartmut Hirsch-Kreinsen,

Dr. Josef Baumert und Dr. Constanze Kurz (v.l.n.r.) ihre

Positionen zusammen und bilanzieren einen

erkenntnisreichen Tag.

© Volkswagen Aktiengesellschaft

Institut für Arbeit und Personalmanagement

des Volkswagen Konzerns

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Stand 10/2015