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DISKUSSION Wann hört der Spaß auf? Bist du Mutter genug? Die Frage sollte provozieren. Und das dazugehörige Titelfoto auf dem Time Magazine, das eine attraktive Frau zeigt, die ihren fast vierjährigen Sohn stillt, ebenfalls. Es ist gelungen. Die Empörung ist groß, die Diskussion über langzeitstillende Mütter voll im Gang. Dabei wird in Deutschland wie in fast allen westlichen Industrienationen nicht zu lang, sondern zu selten und zu kurz gestillt. Ein Perspektivwechsel. VON JULIA PENNIGSDORF

Hannoversche Allgemeine: Langzeitstillen

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Wann hört der Spaß auf?Bist du Mutter genug? Die Frage sollte provozieren. Und das dazugehörige Titelfoto auf dem Time Magazine,das eine attraktive Frau zeigt, die ihren fast vierjährigen Sohn stillt, ebenfalls. Es ist gelungen. Die Empörung ist groß,die Diskussion über langzeitstillende Mütter voll im Gang. Dabei wird in Deutschland wie in fast allen westlichenIndustrienationen nicht zu lang, sondern zu selten und zu kurz gestillt. Ein Perspektivwechsel.VON JULIA PENNIGSDORF

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Wann hört der Spaß auf?Bist du Mutter genug? Die Frage sollte provozieren. Und das dazugehörige Titelfoto auf dem Time Magazine, das eine attraktive Frau zeigt, die ihren fast vierjährigen Sohn stillt, ebenfalls. Es ist gelungen. Die Empörung ist groß, die Diskussion über langzeitstillende Mütter voll im Gang. Dabei wird in Deutschland wie in fast allen westlichen Industrienationen nicht zu lang, sondern zu selten und zu kurz gestillt. Ein Perspektivwechsel.

VON JULIA PENNIGSDORF

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Es sind zwei Bilder, die sich ähneln und doch grund-verschieden sind. Auf dem einen ist eine Mutter zu sehen, die ihr Baby stillt. Sanft hält sie den Kopf des

Säuglings, vom Kind sind nur die Stupsnase und die wa-chen, blauen Augen zu sehen, die das Gesicht der Mutter fixieren. Es ist ein Bild, das berührt, das Zufriedenheit aus-strahlt, Liebe, Schutz, Geborgenheit symbolisiert. Auf dem anderen Bild ist ebenfalls eine Mutter zu sehen. Eine attrak-tive, moderne Frau, die blonden Haare sind locker zu einem Zopf geschlungen, die 26-Jährige trägt enge Röhrenjeans, flache Ballerinas und ein ärmelloses, tief ausgeschnittenes

T-Shirt. Sie steht aufrecht, vor ihr steht ihr Sohn, fast vier Jahre alt. Groß sieht er aus in seiner Camouflagehose, viel-leicht auch wegen des selbstbewussten, trotzigen Blicks. Er steht auf einem kleinen Stuhl und trinkt ebenfalls ganz selbstverständlich Milch aus der Brust seiner Mutter.

Die Reaktionen auf die beiden Bilder könnten unterschied-licher nicht sein. Der Frau, die ihren Säugling stillt, dürften die gesellschaftlichen Sympathien sicher sein – zumindest so lange sie ihrem Kind dezent und möglichst nicht öffent-lich die Brust gibt. Jamie Lynee Grumet, so heißt die Frau aus Los Angeles, die sich für das aktuelle amerikanische Time-Magazine mit ihrem dreijährigen Sohn Aram hat fo-tografieren lassen, hat sich jedoch ins gesellschaftliche Aus gestellt.

Es hagelt Proteste, die Emotionen kochen hoch. Widerlich sei das, so die Meinung vieler, ekelig und abstoßend. Die Mutter handle egoistisch, sogar von Kindesmissbrauch ist die Rede. Supermarktketten weigern sich, das Magazin auszulegen, Psychologen sorgen sich um das Kindeswohl, Mütter diskutieren erregt über das Langzeitstillen. Wie

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lange sollte man stillen? Sind Frauen, die gar nicht stillen, Rabenmütter? Werden aus ungestillten Kindern bindungs-unfähige Erwachsene? Die Verunsicherung ist groß.

Dass das Thema Extremstillen kontrovers diskutiert wird, ist nicht neu. Immer mal wieder machen Frauen auf sich aufmerksam, die ihre Kinder, die bereits vier, fünf Jahre alt sind oder schon in die Schule ge-hen, noch stillen. Die Argumente sind bei Gegnern wie Befürwortern die im-mer gleichen: Die Gegner argumentie-ren, dass die Mütter aus egoistischen Gründen und aufgrund persönlicher Defizite handeln, dass sie ihr Kind ab-hängig machen und möglichst lange an sich binden wollen. Sie fragen danach, wie eine sexuelle Beziehung zwischen den Eltern funktionieren solle, wenn ein Kind jahrelang ge-stillt werde. Sie finden, dass es ein Zeichen von Normalität und nicht zuletzt auch Emanzipation sei, dass eine Frau ihren Körper irgendwann auch wieder für sich haben wolle.

Die Befürworter, etwa die hannoversche Hebamme, Stillbe-

raterin und Ernährungsexpertin Aleyd von Gartzen, führen neben den positiven Aspekten für die emotionale Bindung die gesundheitlichen Vorteile des längeren Stillens an. Und zwar für Mutter wie Kind. „Stillen wirkt bei den Kindern prä-ventiv gegen Allergien, Übergewicht und viele andere akute wie chronische Erkrankungen“, sagt von Gartzen, „und die Mütter schützt es beispielsweise vor Brust- und Eierstock-

krebs.“ Von Gartzen ist keine Verfech-terin des extremen Langzeitstillens. Sie sagte aber: „Jeder Monat zählt. Je länger desto besser, zumindest aus gesundheitlichen Gründen.“ Und sie sagt: „Auch wenn das heute gesell-schaftlich nicht toleriert wird, rein bio-

logisch gesehen liegt das natürliche Abstillalter zwischen zwei und sieben Jahren.“ So gesehen liegen Grumet und die meisten anderen langzeitstillenden Mütter also durchaus innerhalb der Norm.

Von Gartzen ärgert an der erneuten Diskussion vor allem, dass es zur Verunsicherung bei jungen Müttern führt. „Vie-le wissen gar nicht genau, ob sie nun stillen sollen oder

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Stillen wirkt bei den Kindern präventiv gegen Allergien, Übergewicht und viele andere akute wie chronische Erkrankungen.Aleyd von Gartzen

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nicht und wenn ja wie lange. Wenn sie die abwerten-den Reaktionen ihres Umfelds mitbekommen, dann lassen sie es gleich ganz“, befürchtet die Hebamme. Dabei hat Deutschland keine gute Stillquote. Sechs Monate, so die offizielle Empfehlung der Weltgesund-heitsorganisation und der Kinderärzte, sollen Frauen ihre Kinder mindestens voll stillen, also ihnen nichts weiter geben außer der Muttermilch. Das aber schaf-fen nicht einmal 20 Prozent. „Der Aufschrei müsste genau in die andere Richtung gehen. Nicht, weil Frau-en zu lange stillen, sondern weil viel zu selten und zu kurz gestillt wird“, findet von Gartzen.

Ihre Kollegin, Brigitte Salisch, zweite Vorsitzende des Deutschen Hebammenverbandes Niedersachsen, teilt diese Ansicht. „Stillen ist das Natürlichste der Welt. Keine andere Kultur macht so ein Tamtam daraus“, sagt sie und fügt lächelnd an: „Es sind nie Mutter und Kind, die sich so viel Gedanken machen, sondern es ist immer die Außenwelt.“ Salisch plädiert für mehr Ge-lassenheit und Toleranz. „Wir gehen in Deutschland sehr verkopft an die Sache heran“, kritisiert sie, „stän-

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... mit MARTIN SCHOELLER, Fotograf, sorgt aktuell mit dem Titelfoto des Time-Magazines, für hitzige Diskussionen.

Sind Sie erstaunt, dass das Titelfoto für so viel Furore sorgt?Ja, das hätte ich nie erwartet. Man hat mir bei Time ge-sagt, es sei der am meisten diskutierte Titel in der Ge-schichte des Magazins. Ich weiß zwar nicht, wie man das messen will, weil es vor 50 Jahren kein Internet gab. Aber es ist ein Riesenerfolg für die Printmedien insge-samt.

Das Foto wirkt in jeder Hinsicht verstörend. Ein stehen-der, voll bekleideter, drei Jahre alter Junge, der an der Brust einer sehr hübschen Mutter saugt. Warum haben Sie dieses Arrangement gewählt?Ich dachte, die beste Art und Weise zu zeigen, wie groß der Junge ist, wäre es, ihn stehen zu lassen. Also habe ich einen Stuhl von meinem Sohn mitgebracht, der auch drei Jahre alt ist, und habe ihn draufgestellt.

Der Junge trägt Armeehosen, das macht den Kontrast noch krasser.Das war nicht meine Idee, die hatte er schon an. Sein Vater ist Polizist, deshalb trägt er wohl so etwas. Als ich die Hosen gesehen habe, habe ich allerdings gedacht – das ist perfekt. Ich wollte ihn so alt wie möglich ausse-hen lassen.

Haben Sie die Mutter ausgesucht, oder war sie von Time vorgegeben?Die Geschichte im Heft dreht sich um den Pädagogen Dr. Sears, der die Philosophie vertritt, Eltern sollten ih-rem Instinkt folgen und die Kinder so lange wie möglich körperlich eng an sich binden. ,Attachment Parenting‘ heißt das in den USA. Die Redakteure hatten mir vier Anhängerinnen dieser Philosophie ausgesucht, und ich habe sie alle vier fotografiert. Das, was schließlich ge-druckt wurde, war allerdings mein Lieblingsbild. Mir ge-fällt es vor allem, weil beide sehr passiv und teilnahms-los sind, zugleich aber stolz und trotzig wirken. Das Bild sollte aussagen, hier sind wir, und das machen wir, und wir lassen uns das von niemandem verbieten.

Wie haben die Mutter und das Kind denn persönlich auf Sie gewirkt?Die Frau war sehr intelligent, konnte sich sehr gut aus-drücken, das war überhaupt keine esoterische Spinne-rin. Sie war eine sehr vernünftige, sympathische Frau. Für den Jungen war die Situation total normal, er war es gewohnt, so gefüttert zu werden. Er hat keinerlei Scham oder Verlegenheit empfunden. Er wollte eigent-lich gar nicht mehr aufhören. Zum Glück. Ich hatte sogar meinen eigenen Jungen dabei, und die beiden haben zusammen gespielt.

Wie fand Ihr Sohn das, dass der andere gestillt wird?Er hat gesagt: ,Guck mal Papa, der Junge isst seine Mami auf.‘ Ich habe ihm das dann erklärt, und da hat er sich dann dunkel erinnert, dass er das auch mal ge-macht hat.

Wie lange hat Ihre Frau gestillt?Knapp acht Monate lang.

Hatten Sie vorher schon einmal etwas von „Attach-ment Parenting“ gehört?Nein, noch nie.

Woher kam denn Ihrer Meinung nach diese Aufregung?Die Amerikaner haben anscheinend immer noch ein Pro-blem damit, eine nackte Brust zu zeigen. Das war min-destens die Hälfte der Aufregung. Es gab noch nie eine Frauenbrust auf dem Time-Cover.

Verfolgen Sie selbst irgendeine spezielle Erziehungs-philosophie?Liebe. So viel Liebe wie möglich.

sonntag interview

»Sie war keine esoterische Spinnerin«

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dig streiten wir herum, fragen, wie lange stillen, wann ab-stillen, wann mit der Beikost beginnen? Man sollte der Sa-che einfach mal seinen Lauf lassen. Kinder und Mütter sind verschieden. Vieles ergibt sich. Irgendwann werden Kinder neugierig, wollen das Essen, das auf dem Tisch steht und das alle essen, probieren. Irgendwann merken Mütter, dass sie nicht mehr stillen wollen. Es könnte so entspannt sein, ohne dauernde Einmischung von außen.“

In der Tat gibt es kaum etwas, das so intim und privat ist, wie die Frage, ob eine Frau ihr Baby stillt und wie lange sie es tut. Trotzdem reden eine Menge Leute mit. Und das nicht behutsam und differenziert, sondern von beiden Sei-ten mit der vollen Argumentationswucht von Menschen, die sich sicher sind, sie stünden auf der richtigen Seite.

Dabei ist es nicht so, dass Stillen in Deutschland uner-wünscht ist. Im Gegenteil. Es gibt sogar eine beim Bundes-ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz angesiedelte Nationale Stillkommission, die sich die Förderung des Stillens auf die Fahnen geschrieben hat. Die Kommission wurde 1994 am Robert-Koch-Institut

gegründet. Mit ihrer Gründung hat sich die Bundesregie-rung der sogenannten Innocenti Declaration „zum Schutz, zur Förderung und Unterstützung des Stillens“ angeschlos-sen und eine Forderung der Weltgesundheitsversammlung von 1992 erfüllt. Ziel der Kommission: die Entwicklung ei-ner neuen Stillkultur in Deutschland zu unterstützen und dazu beizutragen, dass Stillen zur normalen Ernährung für Säuglinge wird.

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Bleibt also nur noch die Frage, wie lange Kinder gestillt werden sollen. Es fällt auf, dass alle Empfehlungen dazu bewusst vage gehalten werden. Die Weltgesundheitsorga-nisation schreibt auf ihrer Homepage: „Stillen ist der bes-te Weg der Versorgung von Neugeborenen mit den Nähr-stoffen, die sie benötigen. Die WHO empfiehlt, Säuglinge bis zum Alter von 6 Monaten voll zu stillen und das Stillen unter Hinzunahme von Folgenahrung bis zum Alter von 2 Jahren oder länger fortzuführen.“

Was unter länger zu verstehen ist, wird nicht weiter ausge-führt. Die LaLecheLiga, ein Verein, der weltweit Beratung rund um das Thema Stillen anbietet, erklärt ebenfalls in einer Stellungsnahme zur Frage „Wie lange kann, soll oder darf eine Stillbeziehung dauern“, dass es aufgrund biolo-gischer, kultureller und individueller Aspekte „keine all-gemeingültige Antwort oder Empfehlung hinsichtlich der Stilldauer geben kann.“

Diese Ansicht teilt auch Burkhard Neuhaus, Chefarzt der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie des Kinder- und Jugendkrankenhauses auf der Bult. „Das Ende der Stillzeit

hängt vom Entwicklungsstand des Kindes und der Mutter-Kind-Beziehung ab. Es gibt keine festen Grenzen, wann das geschehen muss“, sagt er, „und das ist auch gut so.“ Dennoch gäbe es natürlich Fälle, die auch er mit Bauch-schmerzen sehe. Spätestens ab dem Schulalter müsse man das Stillen kritisch hinterfragen und sich die individuellen Gründe genauer anschauen, um sicherzustellen, dass kei-ne krankhafte Interaktion vorliegt. „Es ist schwer auf die Frage der Stilldauer eine verbindliche Antwort zu geben“, räumt der Mediziner ein, „vielleicht kann man es so sagen: Man muss schauen, ob das Stillen nach dem Kleinkindal-ter, also über das Alter von drei Jahren hinaus, Sinn für das Kind macht oder ob es mehr der Mutter dient. Es kann aber immer auch Ausnahmen geben, beispielsweise wenn Kin-der minderbegabt, entwicklungsverzögert oder chronisch krank sind.“ N

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so.DiskussionDie Lehren des Dr. Sears

DR. WILLIAM SEARS

Die Lehren des Dr. Sears

VON EVA-MARIA TRÄGER

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Skandalöses Titelbild? Für deutsche Leser des amerikanischen Time Magazine ließ sich dieser Tage zumindest am Kiosk nicht nachvoll-ziehen, was in den USA für Furore sorgte. Statt der Mutter mit ei-

nem fast Vierjährigen an der bloßen Brust ziert das Cover der aktuellen europäischen Ausgabe Frankreichs neuen Präsidenten François Hollande. Dennoch wird auch in Deutschland die Erziehungsdebatte, der richtige Umgang mit Kindern, engagiert geführt. Unter den mehr als 18 000 Er-gebnissen, die der Online-Buchversand Amazon in der Kategorie „Eltern und Kind“ auflistet, sind auch Werke jenes Mannes, dessen Geschich-te sich hinter dem umstrittenen Time-Cover verbirgt: William Sears. Vier Bücher sind von dem Kinderarzt neu und auf Deutsch lieferbar. Sei-ne Theorie des „Attachment Parenting“, der „bindungsorientierten El-ternschaft“, ist auch in Europa bekannt. In den USA aber ist „Dr. Sears“, wie er sich nennt, ein Star – ein Guru. Mehr als 1,5 Millionen Exempla-re von Sears’ 1992 veröffentlichter Eltern-Bibel „The Baby Book“ wur-den weltweit verkauft, schreibt Time-Autorin Kate Pickert. Die Chancen stünden gut, dass nahezu jede amerikanische Mutter eines Kindes im schulfähigen Alter oder jünger mit Sears’ Methoden in Berührung ge-kommen sei, und sie – bewusst oder unbewusst – auch angewendet hat. Die Grundthese ist einfach, verlangt den Müttern aber einiges ab: Ziel ist die größtmögliche Nähe zum Kind – laut Sears eine unbedingte Voraus-setzung für eine Bindung, die Basis für ein späteres erfolgreiches Leben. Zu den Grundsätzen, die der mittlerweile 72-Jährige propagiert, gehört das Stillen. „Breast is best“, die Brust ist das Beste und auch bis ins Kleinkind-alter akzeptabel. Für Intimität soll zudem ein Tragetuch sorgen, in dem die Mutter den Nachwuchs direkt am Körper trägt – Kinderwagen sind tabu. Für nachts empfiehlt Sears ein Anstellbettchen für den Säugling oder das direkte Übernachten im Bett der Eltern.

Sears’ Philosophie ist der Gegenentwurf zu jenem von „Tigermut-ter“ Amy Chua, die ihre amerikanischen Landsleute Anfang vo-rigen Jahres in Aufruhr versetzte. Während Chua auf strenge, chinesische Erziehungsmethoden schwört, immer mit dem Ziel, Best-leistungen zu erreichen, stellt ihr Landsmann die kindlichen Bedürfnis-se über alles. Er sieht sich damit vielen Vorwürfen ausgesetzt – unter anderem dem, den Bedürfnissen der Mütter zu wenig Raum zu lassen und ihnen mit seiner Theorie auch das Arbeiten außer Haus auszureden. William Sears will seine Erziehungsmethoden indes nicht missver-standen wissen. Sie seien die ältesten auf der Welt, nicht „extrem“, sondern „sehr natürlich“ und „instinktiv“. Das findet auch Jamie Lyn-ne Grumet, die Frau auf dem Time-Cover, Mutter eines leiblichen und eines adoptierten Sohnes. Die 26-Jährige, die Sears „great“ fin-det, ist allerdings auch „zuerst und vor allem“ Ehefrau und Mut-ter, wie sie in ihrem Blog www.iamnotthebabysitter.com verrät. In Deutschland gibt es keinen „Dr. Sears“. Politik und Gesellschaft sind sich einig, dass Familie und Beruf vereinbar sein müssen, ohne dass dies Müttern ein schlechtes Gewissen bereitet. Es geht derzeit weniger um das Wie der Erziehung als um das Ob des Kinderkriegens. Statt der Frage „Are You Mom Enough?“, die das Time-Magazine mit seinem Titel an die Ame-rikanerinnen richtete, müsste es hierzulande wohl eher „Are You Mom?“ heißen. N