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2019. 123 S., mit 7 Abbildungen ISBN 978-3-406-73397-0 Weitere Informationen finden Sie hier: https://www.chbeck.de/27190232 Unverkäufliche Leseprobe © Verlag C.H.Beck oHG, München Hans-Ulrich Thamer Die Französische Revolution

Hans-Ulrich Thamer Die Französische Revolution · 2019. 2. 23. · Hans-Ulrich Thamer ist Professor emeritus für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Die

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  • 2019. 123 S., mit 7 Abbildungen ISBN 978-3-406-73397-0 Weitere Informationen finden Sie hier: https://www.chbeck.de/27190232

    Unverkäufliche Leseprobe

    © Verlag C.H.Beck oHG, München

    Hans-Ulrich Thamer Die Französische Revolution

    https://www.chbeck.de/27190232

  • Kaum ein Ereignis hat die Geschichte der Moderne so tief ge-prägt wie die Französische Revolution von 1789 bis 1799. Sieeröffnete eine Phase grundstürzender Veränderungen der politi-schen, sozialen und kulturellen Verhältnisse in Frankreich. Alsein epochales Ereignis hat die Französische Revolution weitüber den nationalen Rahmen hinaus tiefe Spuren in der politi-schen und sozialen Entwicklung anderer Länder hinterlassen.Sie wurde zum Motor des Verfassungswandels und der Entste-hung liberaler politischer Kulturen.Hans-Ulrich Thamer lässt in diesem Band noch einmal Ursa-chen, Verlauf und Folgen dieses zentralen Ereignisses der euro-päischen Geschichte Revue passieren, stellt die Hauptakteureund ihre Motive vor und erklärt wichtige Strukturmerkmale derFranzösischen Revolution wie beispielsweise die besondereRolle der Metropole Paris, das Ringen der Revolutionäre umeine Verfassung sowie die blutige Herrschaft der Terreur.

    Hans-Ulrich Thamer ist Professor emeritus für Neuere undNeueste Geschichte an der Universität Münster. Die Französi-sche Revolution sowie in diesem Zusammenhang insbesonderedie Fragen nach Macht und Ritual, symbolischer Herrschaftund politischer Kommunikation bilden Schwerpunkte seinerForschung. Bei C.H.Beck ist ferner von demselben Autor liefer-bar: Die Völkerschlacht bei Leipzig (2013) und Adolf Hitler,Biographie eines Diktators (2018).

  • Hans-Ulrich Thamer

    DIE FRANZÖSISCHEREVOLUTION

    C.H.Beck

  • Für Jutta

    Mit 7 Abbildungen

    1. Auflage. 20042., durchgesehene Auflage. 2006

    3. Auflage. 20094., durchgesehene Auflage. 2013

    5., durchgesehene Auflage. 2019

    Originalausgabe© Verlag C.H.Beck oHG, München 2004

    Satz: C.H.Beck.Media.Solutions, NördlingenDruck und Bindung: Druckerei C.H.Beck, Nördlingen

    Reihengestaltung Umschlag: Uwe Göbel (Original 1995, mit Logo),Marion Blomeyer (Überarbeitung 2018)

    Umschlagmotiv: Plakat mit republikanischen Emblemenaus der Zeit der Französischen Revolution, 1789,

    Musée Carnavalet, Paris. Photo: akg-images, BerlinPrinted in Germany

    isbn 978 3 406 73397 0

    www.chbeck.de

  • Inhalt

    1. Die Französische Revolution – ein Gründungsereignis 7

    2. Die Krise des Ancien Régime 12

    3. Drei Ereignisse – eine Revolution: Der Sommer 1789 29

    4. Die Rekonstruktion Frankreichs 1789–1791 40

    5. Die Zweite Revolution 1792 53

    6. Die Revolution in der Schwebe 1793 61

    7. Die Terreur: Revolutionäre Verteidigungoder Herrschaft der Ideologie? 76

    8. Die politische Kultur der Revolution 89

    9. Die Revolution wird beendet 1795–1799 103

    Zeittafel 111Auswahlbibliographie 116Abbildungsnachweis 119Personenregister 120Sachregister 122

  • 1. Die Französische Revolution –ein Gründungsereignis

    Kaum ein Ereignis hat die Geschichte der Moderne so tief ge-prägt wie die Französische Revolution von 1789 bis 1799. Sieeröffnete eine Phase grundstürzender Veränderungen der politi-schen, sozialen und kulturellen Verhältnisse in Frankreich. Alsein epochales Ereignis hat die Französische Revolution weitüber den nationalen französischen Rahmen hinaus tiefe Spurenin der politischen und sozialen Entwicklung anderer Länderhinterlassen. Sie wurde zum Motor des Verfassungswandelsund der Entstehung liberaler politischer Kulturen. Sie wurdezum Laboratorium der Moderne, indem sie in der kurzenSpanne eines Jahrzehnts die unterschiedlichsten Verfassungsfor-men entwickelte, die für das 19. und 20. Jahrhundert wirkungs-mächtig werden sollten, von der konstitutionellen Monarchieüber die Republik bis zur bonapartistischen Diktatur; indem siedie Grundlagen einer bürgerlich-individualistischen Eigentums-und Gesellschaftsverfassung schuf; indem sie zum ersten Maleine demokratische politische Kultur entfaltete und damit denDurchbruch zur politischen Freiheit erkämpfte; indem sie einenfundamentalen Prozess der Politisierung der Gesellschaft undder Ideologisierung der politischen Sprache auslöste und dabeizugleich die Selbstgefährdung demokratischer Ordnung de-monstrierte. Ihre historisch-politische Bedeutung reicht darumbis in die Gegenwart.

    In historischer Perspektive lässt sich die Französische Revo-lution zugleich als ein herausragendes Ereignis in einer langenPhase des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichenWandels vom alteuropäischen Ancien Régime in die Modernedeuten, in dem die allgemeinen strukturellen Veränderungenanderen Zeitrhythmen folgen als dramatische politische Ereig-nisse. Kurzfristige Revolutionsereignisse werden dabei in lang-

  • 1. Die Französische Revolution – ein Gründungsereignis8

    fristig ablaufende Prozesse sozialen Wandels eingebettet und diepolitischen Prozesse des Revolutionsjahrzehnts zum strukturel-len Wandel in Beziehung gesetzt. Dadurch werden neben denPhänomenen der historischen Zäsur und des Neubeginns auchElemente der Kontinuität stärker in den Blick genommen, diebereits im 18. Jahrhundert entwickelt waren und sich in der Re-volution fortgesetzt oder vollendet haben und die in den Dis-kursen und in der Gesetzgebung zwar vorbereitet, aber erst imLaufe des 19. Jahrhunderts umgesetzt wurden. Dies gilt vor al-lem für den Strukturwandel von Wirtschaft und Gesellschaft,der den Gesetzen der langen Dauer und damit anderen Hand-lungsbedingungen unterliegt als die Politik. Dies gilt beispiels-weise für die Fortsetzung politisch-administrativer Zentralisie-rung, die mit dem Ausbau absolutistischer Staatlichkeit begannund mit der Jakobinerherrschaft und ihren Kommissaren einenweiteren, nun freilich mit dem Prinzip der Volkssouveränitätlegitimierten Kulminationspunkt erreichte. Die Revolution be-deutet darum auch Rhetorik und Ankündigung, hinter der dieWirklichkeit zurückblieb. So vollzog sich 1789 nicht die «Ge-burt der bürgerlichen Gesellschaft», sondern die Organisationeines neuen Frankreich bedeutete allenfalls einen wichtigen, vorallem rechtlichen Schritt in diesem Prozess, der in seiner ökono-mischen und sozialen Dynamik bereits vor 1789 begonnen undsich weit in das 19. Jahrhundert erstreckt hat. Beim Aufstieg derindustriellen Welt spielte die Französische Revolution allenfallseine Nebenrolle, manche Historiker halten die Revolution fürdie industrielle Modernisierung sogar für abträglich; sie habeEngland bei der Durchsetzung der industriellen Revolution ei-nen entscheidenden Vorsprung verschafft, den es vor 1789 nichtgegeben habe.

    Was macht dann das Umstürzende, das Innovative und dieWirkungsmacht der Revolution auch in der Perspektive der lon-gue durée aus, wenn ein solcher Bruch, wie ihn die Rhetorik derRevolution beanspruchte, für den Bereich von Wirtschaft undGesellschaft nur bedingt zu erkennen ist? Die moderne For-schung der vergangenen zwanzig Jahre findet die Antwort dar-auf im Politischen, in der Entwicklung von Verfassungen und

  • 1. Die Französische Revolution – ein Gründungsereignis 9

    neuen Formen der Legitimation von Herrschaft, in der Prokla-mation von Menschen- und Bürgerrechten und in der Funktionder Revolution als Gründungsereignis für eine demokratischepolitische Kultur, in der Entfaltung neuer Formen der politi-schen Repräsentation und Integration. Dazu gehört auch dieEntwicklung von neuen Formen der politischen Rituale undKommunikation, mit denen das Prinzip der Volkssouveränitätvon seiner abstrakten Ebene in die politische Praxis übersetztund sichtbar gemacht werden sollte, mit denen die politischenFraktionskämpfe ausgeformt und ausgetragen wurden. DiesePerspektiven und Ergebnisse einer neuen Politik- und Kultur-geschichte, die Varianten ihrer Deutungs- und Erinnerungsge-schichte entlang einer Erzählung der Ereigniskette FranzösischeRevolution vorzustellen, sind Leitfaden und Thema der vorlie-genden Darstellung.

    Die Erfindung neuer politischer Ausdrucksformen und einermodernen politischen Begriffswelt gehört zu den schöpferischenLeistungen der Revolution und zu ihrem Erbe an unsere Ge-genwart. Mit der Französischen Revolution entsteht ein neuerBegriff von Revolution. Revolution war nicht mehr das, wasdas 18. Jahrhundert darunter verstanden hatte: eine allgemeinestaatliche Veränderung, ein geistiger Fortschritt, eine Verände-rung im Denken. Nun verband sich mit dem Begriff «Revolu-tion» die Erfahrung eines dramatischen, von Gewalt begleitetenumfassenden Wandels in Politik und Gesellschaft mit dem An-spruch, eine neue gerechte Ordnung zu schaffen und damit dengeschichtlichen Fortschritt zu gestalten.

    Die Dynamik des Umbruchs war schon den Zeitgenossen be-wusst. «Wir haben in drei Tagen den Raum von drei Jahrhun-derten durchquert», hieß es bald nach dem 14. Juli 1789. Zu-gleich verdichtete sich das historische Ereignis des Sturmes aufdie Bastille zum politischen Symbol eines historischen Um-bruchs. Dass dieser gedrängte politische Wandel mit Gewalt-akten des Volkes verbunden war, führte zu einer tiefen Polarisie-rung in Wahrnehmung und Deutung der Revolution. Bei denVerteidigern der alten monarchischen Ordnung rief die gewalt-tätige Revolution Angst und Empörung hervor. Für die Patrio-

  • 1. Die Französische Revolution – ein Gründungsereignis10

    ten, die Anhänger der Revolution, waren die Gewaltakte zu-nächst unerwünschte Begleiterscheinungen, die nichts mit dererhofften Erneuerung Frankreichs zu tun hätten und durchdiese in naher Zukunft überflüssig würden. Bald sollten jedochzum Begriff der Revolution nicht nur die Erfahrung extremerBeschleunigung, sondern auch Radikalisierung und der Einsatzvon Gewalt als Instrument der Veränderung gehören. Die Revo-lution zeigte ihre Janusgestalt und ihre polarisierende Wirkung.

    Die Ursachen und die Funktion von Gewalt in der Revolutiongehören zu den Fragen, die noch immer heftig diskutiert werdenund aus einem Ereignis der Vergangenheit einen kontroversenBezugspunkt für die politische Orientierung und Traditionsbil-dungen der Gegenwart machen. An der revolutionären Dikta-tur und Gewalt schieden und scheiden sich die Geister, wie dieDebatten aus Anlass der Zweihundertjahrfeier der Revolutionbis hin zum versöhnenden «Sowohl-als-auch» des französischenStaatspräsidenten Mitterrand 1989 deutlich gemacht haben.Historische Deutungen und Kontroversen über die Revolutiongehörten seit den ersten Versuchen, die Revolution zu beendenund die Erinnerung an sie zu begründen, zur Selbstdeutungder politischen Kultur Frankreichs und teilweise auch Europas.Die politische Orientierung oder Lagerzugehörigkeit eines ge-schichtsbewussten politischen Bürgers konnte man auch daranerkennen, auf welche Phase der konfliktreichen Geschichte derRevolution er sich in seiner Erinnerungspraxis oder Selbstiden-tifizierung bezog oder ob er die Revolution völlig ablehnte. Dashat sicherlich die Erinnerung an die Revolution wachgehalten,nach Meinung mancher Kritiker aber auch zu einer Selbstblocka-de der Revolutionshistoriographie geführt, die zwar unendlichviel an Quellenforschung und Quellenedition geleistet, an scharf-sinnigen Analysen und großen Deutungen hervorgebracht hat,die Revolution aber nicht konsequent genug aus ihren histo-rischen Bedingungen und selbstreferentiellen Entwicklungsab-läufen interpretiert, sondern sie vor allem zum Objekt einergeschichtspolitischen Selbstdeutung und Legitimation für die je-weilige Gegenwart gemacht hat.

    So war und ist die Geschichte der Französischen Revolution

  • 1. Die Französische Revolution – ein Gründungsereignis 11

    auch immer ein Lehrbeispiel für die Verschränkung von Ge-schichtsschreibung und Politik, bei der jede Generation ihreGegenwartsdeutung in die Vergangenheit der Revolution gelegthat, die dadurch selbst ein Stück der jeweiligen Gegenwart wur-de. Es spricht vieles dafür, dass sich dieser Mechanismus vonGegenwartsverständnis und Geschichtsdeutung abgeschwächthat, dass auch der Prozess der Historisierung der FranzösischenRevolution vorangeschritten, unser Blick auf die Revolutiondifferenzierter geworden ist und ihre Widersprüche deutlicherbenannt werden, ohne ihre Bedeutung als Gründungsereignisder politischen Kultur der Moderne dadurch herabzusetzen.Diese Deutungs- und Wirkungsgeschichte der Revolution kannin dem vorliegenden Überblick nicht behandelt und auch diegroßen wissenschaftlichen Kontroversen können nur ansatz-weise angesprochen werden. Sie können aber erwähnt werden,um den Leser darauf aufmerksam zu machen, dass er sich stel-lenweise auf schwieriges Terrain begibt. Zu den nach wie vorumstrittenen Fragen gehört jene nach dem Verhältnis der Ur-sachen der Revolution zu ihrem weiteren Verlauf. Ergibt sichaus einer Analyse des komplexen Ursachenbündels ein Hinweisauf die sich später entwickelnde Dynamik und auf die Richtungder Revolution, oder folgt auf den politischen Zusammenbruchdes Ancien Régime eine politische Veränderungs- und Rekons-truktionsphase mit einer eigenen Dynamik und Handlungslo-gik? War in den Ideen von 1789 das Abgleiten der Revolutionin politische Gewalt und in eine systematische Politik der Ter-reur (Schreckensherrschaft) bereits angelegt? Wenn Entstehungund Verlauf der Revolution nicht das Ergebnis von Klassen-kämpfen zwischen Adel und Bourgeoisie waren, wie das diemarxistische Interpretation lange angenommen hat, was warendann die Antriebskräfte für die revolutionäre Dynamik, diedazu führte, dass auch nach der Beobachtung der Zeitgenosseninnerhalb von wenigen Tagen sich Dinge veränderten, neue For-men entwickelten, für deren Entfaltung und Durchsetzung manin «normalen» Zeiten Jahrzehnte benötigte? Wie wirkten sichdie neuen Politik- und Verfassungsformen, die Rhetorik und dieKonflikte, die Maßnahmen und Mobilisierungskampagnen der

  • 2. Die Krise des Ancien Régime12

    politischen Akteure von der Bildung politischer Klubs bis zurTeilnahme an Wahlen, vom neuen Kalender bis zur Einführungder Zivilehe, von politischen Festen bis zur Massenaushebungfür den Krieg auf die Wahrnehmung und das Verhalten derMenschen in der Revolution aus?

    2. Die Krise des Ancien Régime

    Keiner dachte an eine Revolution, als der Premierminister desKönigs, Loménie de Brienne, am 5. Juli 1787 die Einberufungvon Generalständen ankündigte und eine öffentliche Diskussionüber deren Form und Ziele eröffnete. Die Generalstände warenim vorrevolutionären Frankreich die Versammlung der Vertre-ter aller Provinzen, die sich aus Abgeordneten der Geistlichkeit,des Adels und des Dritten Standes zusammensetzte. Seit 1614waren sie nicht mehr zusammengetreten, und nun sollte ausge-rechnet eine uralte Institution in der öffentlichen Diskussionzum Kristallisationspunkt unbestimmter und widersprüchlicherHoffnungen auf Reform werden. Anzeichen dafür, dass die Mo-narchie angesichts einer wachsenden Staatsverschuldung aufeine Finanz- und Staatskrise zutreiben könnte, gab es schon seitgut einem Jahrzehnt, und sie verdichteten sich zunehmend.Auch der innenpolitische Dauerkonflikt der Krone mit den Ver-tretungs- und Kontrollansprüchen der Parlamente, der altenObergerichte, die die Rolle der institutionell nicht vorgesehenenOpposition einnahmen, hatte sich zugespitzt. Schließlich hattesich die materielle Situation durch wachsende Spannungslagenzwischen Bevölkerungswachstum und zunehmender Knappheitan Erwerbsstellen, zwischen steigenden Preisen und stagnieren-den Löhnen allmählich verschlechtert und wurde durch krisen-hafte Entwicklungen im Textilgewerbe und in einer Serie vonschlechten Ernten auf dem Lande verschärft. Die Krisenherdedes Ancien Régime bündelten sich und stellten das politischeSystem der absoluten Monarchie vor eine Herausforderung, der

  • 2.1. Struktur und Wandel des Ancien Régime 13

    dieses nicht mehr gewachsen war, weil es sich zunehmend alsreformunfähig erwiesen hatte. Darum wurden langfristige wirt-schaftliche, soziale und politische Strukturprobleme zu einerzusätzlichen Belastung, als sie sich mit mittel- und kurzfristigenökonomischen und finanziellen Krisen, dem erbitterten Wider-stand der privilegierten Stände und der mangelnden Anpas-sungs- und Ausgleichsfähigkeit der Krone verschränkten und –was fast noch wichtiger war – in dem Mobilisierungsprozessder vorrevolutionären Ständekämpfe politisiert wurden.

    Hinweise auf eine zunehmende soziale Unzufriedenheit undUnbotmäßigkeit hatte es in den 1780er Jahren immer wiedergegeben, aber auch schon im Jahrzehnt davor sprach man inder sozialkritischen Publizistik angesichts konjunktureller undstruktureller Probleme von Revolten und einer möglichen Revo-lution. Aber sie war ausgeblieben. Dass eine dieser Revolten ineinen offenen Aufstand übergehen würde, hielt Louis SébastienMercier, mittelloser Schriftsteller und Publizist, der in seinem«Tableau de Paris» ein waches Auge für die sozialen Verhältnissebewiesen hatte, angesichts des absolutistischen Überwachungs-apparates und angesichts der zahlreichen Verknüpfungen bür-gerlicher Interessen mit denen des Hofes für unwahrscheinlich.

    2.1. Struktur und Wandel des Ancien Régime

    Einer der häufigen Kritikpunkte in der vorrevolutionären Publi-zistik und auch in den Beschwerdeheften des Frühjahrs 1789war die «Feudalität». Was die Wortführer der antiständischenKritik damit meinten, war nicht das mittelalterliche herrschaft-liche Rechtssystem, das Verhältnis von Lehnsherr und Vasall,sondern ein sozioökonomisches System; ein System der Grund-herrschaft, bei dem die Grundherren, die meist auch Gerichts-herren waren, die grundabhängigen Bauern zu Abgaben inNaturalien oder in Geld bzw. zu Mehrarbeit im Sinne von Her-rendiensten verpflichteten. Es ging um feudale, genauer formu-liert, um seigneuriale (Herren-)Rechte wie Abgaben, Fron-dienste und Reste von Leibeigenschaft. Was als belastend emp-funden wurde, waren weniger die regelmäßigen Abgaben als die

  • 2. Die Krise des Ancien Régime14

    Sonderabgaben und die zusätzlichen Rechtstitel des Grundher-ren wie Frondienste, gerichtsherrliche Abgaben, das Jagdrechtdes Grundherrn, zusätzliche Abgaben für die Nutzung dergrundherrlichen Mühlen oder Keltern und Eingriffe in die Ge-meinderechte. Die zunehmende Kritik an diesen Einrichtungendeutet darauf hin, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun-derts viele Grundherren, zu denen nicht nur Adlige, sondernauch Bürgerliche gehörten, diese teilweise in Vergessenheit gera-tenen Rechte wieder in Anspruch nahmen. Viele dieser Rechts-titel wurden an kapitalkräftige Pächter vergeben, die ihrerseitsmoderne landwirtschaftliche Anbaumethoden praktizierten.Was wie eine Refeudalisierung aussah, war ein Stück Kommer-zialisierung und Modernisierung der Landwirtschaft, an demadlige Grundherren und bürgerliche Pächter gleichermaßen An-teil hatten. Adel und Bürgertum hatten auf dem Lande durch-aus gleiche Interessen, nämlich den agrarischen Grundbesitzdurch eine Rationalisierung in der Bewirtschaftung und dieNutzung des grundherrlichen Eigentums und der damit ver-bundenen Rechte optimal auszunutzen. Dazu dienten die Ver-größerung und verbesserte Kultivierung des Bodens wie dieUsurpation von Allmenderechten – eigentlich den Rechten allerDorfgenossen am Gemeindeeigentum – an Weide- und Waldflä-chen. Gefährdet wurden dadurch die traditionellen dörflichenGemeinschaftsrechte. Der Agrarkapitalismus bediente sich deralten Eigentumsverfassung, der bäuerliche Protest richtete sichgegen die Intensivierung der grundherrlichen Abgaben. Aller-dings waren es bis dahin eher passive Formen des Widerstandes:Man verweigerte die Zahlung der grundherrlichen Abgaben;man führte Prozesse gegen Grundherren und neue Agrarunter-nehmer; man zerstörte Hecken und Gräben, die die neu einge-hegten Felder voneinander trennten. Es waren die Dorfgemein-den, die die antiständische Kritik auf ihre Weise betrieben unddamit den Weg in die Bauernrevolution von 1789 eröffneten.Diese sollte eine ebenso bewahrende, antimodernistische Stoß-richtung haben wie die passiven Verweigerungsformen vor derRevolution.

    Lässt sich dieses in den 1770er und 1780er Jahren aktuelle

  • 2.1. Struktur und Wandel des Ancien Régime 15

    Phänomen der sog. feudalen Reaktion kaum als Ausdruck desKlassengegensatzes von Feudalaristokratie und Bourgeoisie er-klären, so gilt dies auch für die klassische und in ihren Perspek-tiven sehr viel universalere sozialökonomische Erklärung, diedie Revolution als eine Folge des Wachstums kapitalistischerWirtschaftsformen und damit bürgerlicher Interessen verstehenwollte, die sich gegen Adel und Klerus auflehnten, weil dieseverhinderten, dass kapitalistische Marktverhältnisse zur beherr-schenden Produktionsweise würden. Die Revolution habe dem-nach ihre eigentlichen Ursachen in einem Klassengegensatz zwi-schen feudalaristokratischen und bürgerlichen Interessen undsei Ausdruck eines Klassenbewusstseins selbstbewusster bürger-licher Schichten. Auch wenn ähnliche Thesen schon von Zeitge-nossen und Akteuren der Revolution, wie von Antoine Barnave,einem der führenden Köpfe der Nationalversammlung undschließlich entschiedenen Verteidiger der konstitutionellen Mo-narchie, vorgetragen wurden, lässt sich diese Erklärung längstnicht mehr halten. Einzelne Adlige spielten sehr wohl eine ak-tive Rolle in der Modernisierung der Landwirtschaft (wie inder Montanwirtschaft, dem Bergbau), und sie unterschiedensich in dieser Zielsetzung kaum von bürgerlichen Grundeigen-tümern und Rentenbeziehern. Auch in ihren sozialen Zielen gabes kaum Differenzen, denn die bürgerlichen Eliten strebten nachdenselben Rängen und Rechten, die der grundbesitzende Adelschon besaß. Adel und Bürgerliche strebten nach denselbenEigentumsformen, nämlich einem festen, gesicherten Besitz inForm von Grundbesitz oder einem rentenartigen Einkommenaus seigneurialen Rechten oder schließlich aus Ämtern, die mankaufen und deren Ertrag man nutzen konnte. Ähnlich wie beidieser Gruppe von «nichtkapitalistischen» Besitzern von Eigen-tumstiteln gab es auch beim Handels- und Industriekapitalis-mus keine scharfen Trennlinien zwischen Adel und Bürgerli-chen. Freilich entstanden dadurch neue Konkurrenzverhältnisse,und für den traditionsbewussten Adel bedeutete dieser bürger-liche Aufstiegswille eine Unterhöhlung des überkommenen ad-ligen Status, wie umgekehrt die Wertschätzung aufgeklärter Le-bens- und Denkformen in Akademien und Freimaurerlogen die

  • 2. Die Krise des Ancien Régime16

    Exklusivität des Adels unterminierte. Schließlich war es kei-neswegs so, dass durch die vermeintlichen ständisch-feudalenSchranken und Widerstände die französische Wirtschaft inlangfristiger historischer Perspektive gefesselt und zurückge-blieben gewesen wäre, die durch einen bürgerlich-kapitalisti-schen Aufbruch und Umsturz sich von diesen Hemmnissen hättebefreien müssen. Sicherlich stand die französische Wirtschaft imVergleich zur englischen nicht an der Spitze der Entwicklung;aber sie war auch nicht als rückständig zu charakterisieren, unddie Revolution war keine Revolution des langfristigen wirt-schaftlichen Niedergangs und der Armut.

    Wirtschaft und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahr-hunderts waren vielmehr in Bewegung geraten und entsprachenimmer weniger dem traditionellen Ständeschema und dem da-mit verbundenen Standesethos. Der Kapitalismus drang überalldurch die Ritzen der alten Ordnung und bediente sich ihrerMöglichkeiten. Die ökonomischen Grenzen verliefen vertikal,durch Adel und Bürgertum, nur in rechtlicher Hinsicht bestandnach wie vor eine horizontale Trennung. Die wirtschaftlichenSpannungen nahmen innerhalb der Stände stärker zu, auch wennes nach wie vor zwischen den Angehörigen von Adel und Kleruseinerseits und der Masse des Dritten Standes in Gestalt der Bau-ern große materielle und rechtliche Formen der Ungleichheitgab. Die scharfe antiständische Frontstellung zwischen den bei-den privilegierten Ständen und dem Dritten Stand nach Aus-bruch der Ständekämpfe 1788/89 lässt sich sicherlich nicht auswirtschaftsgeschichtlichen Ursachen erklären, und zwar wederaus Widersprüchen in der Art und Weise des Wirtschaftens nochaus der langfristigen konjunkturellen Entwicklung.

    Entscheidender waren Spannungen im soziokulturellen Be-reich, die nach 1750 zunahmen und die ihre Ursachen in derAushöhlung der Grundlagen der politisch-sozialen Herrschafts-ordnung hatten. Ausgelöst wurde dieser Transformationsvor-gangdurchmiteinanderverbundenewirtschaftliche,gesellschaft-liche und kulturelle Veränderungen, die zu einer Differenzierungund auch zu Spaltungen wie zu einem Werte- und Verhaltens-wandel innerhalb der Stände führten. Der Adel, der noch immer

  • 2.1. Struktur und Wandel des Ancien Régime 17

    durch Ansehen, Reichtum und Macht in Gesellschaft und Ver-waltung dominierte und am Vorabend der Revolution nach vor-sichtigen Schätzungen zwischen 1 und 4% der Gesamtbevölke-rung ausmachte, konnte zwar seine Privilegien behaupten undnach außen durch die eigene Einschätzung und Lebensführungals geschlossene Gemeinschaft auftreten, tatsächlich aber hat-ten sich die Gegensätze zwischen Schwertadel (dem alten, aufdie Ritterzeit zurückgehenden Adel) und Amtsadel (der vomKönig an hohe Beamte verliehen wurde) nicht nur perpetuiert,sondern mit der Zunahme des politischen und materiellen Ge-wichts des Amtsadels wuchsen die Tendenzen des Hofadels –des seit 1652 am Hof des Königs konzentrierten Hochadels –,sich nicht nur gegen das Bürgertum, sondern auch gegen dieAdelsgruppen abzuschließen, die ihrerseits engere Beziehungenzum höheren Bürgertum pflegten. Die sog. aristokratische Re-aktion war darum weniger eine Abschließung gegen das Bür-gertum als eine gegenüber Neuadligen. Das verdeutlicht diespektakulärste Maßnahme der Abschottung, das Edikt desKriegsministers Ségur von 1781, nach dem Armeeoffiziere seitmindestens vier Generationen adlig sein sollten. Die Vielfalt desAdels wurde dadurch noch erweitert, dass der aufgeklärte Adeldie Nähe zu den Meinungsführern und Kommunikationsortender Aufklärung suchte und deren Werte teilte. Lässt sich darineine Annäherung der Wertewelt innerhalb der aufgeklärtenEliten erkennen, die von den Traditionalisten als «Verbürger-lichung» empfunden wurde, so zeichnete sich innerhalb desBürgertums, dessen Zahl von etwa 700000 um 1700 auf 2,3 Mil-lionen in den 1780er Jahren angestiegen war, ein stärkeresSelbstbewusstsein in Abgrenzung von der Lebenswelt des Adelsab. Einfachheit im Verhalten und im Wohnen wurden geprie-sen, die Sorge um Hygiene und Gesundheit wurden zu sozialenTugenden erklärt. Der Höfling mit Perücke und Parfum wardem Bürger ebenso unerwünscht wie der Gestank der Unter-schichten in Stadt und Land.

    Auch innerhalb des Bürgertums, d.h. der Gruppe des DrittenStandes, deren Eigentum nicht auf Handarbeit beruhte, zeich-neten sich stärkere Differenzierungen und Verschiebungen im

  • 2. Die Krise des Ancien Régime18

    sozialen Gewicht ab, so dass man kaum von einem bürgerlichenKlassenbewusstsein sprechen kann. Neben den Rentiers, die miteinem Vermögen an Geld- und Eigentumswerten ausgestattetwaren und die darauf setzten, durch Ämterkauf oder Grunder-werb in die Nähe des Adels zu kommen, die Juristen und Hof-beamten, die Freiberufler in Medizin, Wissenschaft und Kunstund schließlich die Vertreter des Finanz-, Handels- und Unter-nehmenskapitals. Letztere Gruppe nahm zahlenmäßig deutlichzu und stieg vor allem im Überseehandel auf, stellte aber kaumdie Akteure der Revolution. Die kamen aus der Gruppe der Ad-vokaten, Wissenschaftler und Beamten. Wenn sich die sozialenSpannungen gegen Ende des Ancien Régime noch verschärften,so hatte dies auch mit einer zunehmenden Übersetzung des Ar-beitsmarktes für bürgerlich-intellektuelle Berufe zu tun. Die ge-scheiterten Hoffnungen einer jüngeren Generation, die keinenPlatz mehr in den Akademien, an den Gerichten und in denAmtsstuben fand und sich als Publizisten und Gelegenheits-schriftsteller durchschlagen musste, mündeten in eine scharfeAdels- und Parlamentskritik, die damit eigentlich allen Privile-gierten und Etablierten galt.

    2.2. Die kulturellen Ursprünge der Revolution

    Das führt zu der Frage nach dem Beitrag der Aufklärung zumAusbruch der Revolution – einem Thema, das schon die Zeitge-nossen der Revolution leidenschaftlich diskutierten. In der Re-gel sahen sie in der intellektuellen Herausforderung aller über-kommenen Formen des Denkens, Glaubens und Handelns, diewir vereinfacht als «Aufklärung» bezeichnen, eine entschei-dende Voraussetzung der Revolution und verstanden die Revo-lution als Verwirklichung der Aufklärung. Das gilt – negativ ge-wendet – auch für die Gegner der Revolution, die in ihr einWerk der Verschwörung durch Aufklärer und Freigeister sahen.Wie so oft sind auch in diesem Falle die Zusammenhänge sehrviel komplexer. Eine direkte, persönliche Einflussnahme durchdie großen Geister der Aufklärung hat es nicht gegeben, da siealle lange vor 1789 gestorben waren; und es führt auch keine

  • 2.2. Die kulturellen Ursprünge der Revolution 19

    direkte organisatorische Linie von Aufklärungsgesellschaftenzum Jakobinerklub, wie das die Verschwörungstheoretiker be-haupteten. Auch haben die Revolutionäre ihre Handlungsanwei-sungen nicht unmittelbar aus den politischen Schriften des auf-klärerischen Philosophen Rousseau (1712–1778) und andererMeisterdenker bekommen, sondern allenfalls aus populärenVerschnitten, die von einigen weniger bedeutenden Autoren wieetwa dem Abbé Raynal zusammengestellt und in Büchern undZeitschriften verbreitet wurden. Meist verdichtete sich die Re-zeption erst mit der Notwendigkeit, in den Ausschüssen der Na-tionalversammlung oder in den politischen Klubs Konzepte undBegründungen für die politische Praxis zu bekommen. Bis dahinwar die Botschaft der in sich ohnehin sehr heterogenen Aufklä-rung eher in einem Denkstil, in spezifischen Kommunikations-formen und in ein paar Grundbotschaften vermittelt worden,die traditionelle Werte und Autoritäten in Frage stellten. So warseit den 1770er Jahren immer häufiger zu beobachten, dass andie Stelle von Monarchie, ständischer Ordnung und Religionals oberste Referenzwerte Nation, Freiheit und Volkssouveräni-tät, Natur und Vernunft traten. Auch die Lesestoffe verändertensich: Religiöse und staatsrechtlich-historische, auf jeden Fallloyale Literatur trat deutlich zurück hinter einer explosivenMischung von politischer, systemkritischer Literatur aus der Fe-der philosophierender Schriftsteller und pornographischer Lite-ratur, gelegentlich aus Geldnot von denselben Autoren verfasstund immer in ihrer Wirkung subversiv und autoritätskritisch.Hinzu kamen aufgeklärte Sozietäten von den Akademien überdie Salons, die Freimaurerlogen und Lesekabinette, in denendas neue Denken propagiert, diskutiert und teilweise auch prak-tiziert wurde. Die Aufklärung, so wird man zusammenfassendsagen können, war Katalysator und Symptom einer zunehmen-den Autoritätskrise; ihre Bedeutung lag darin, dass sie einenneuen und kritischen politischen Diskurs begründete und aus-weitete, indem sie mit ihren Organisations- und Kommunikati-onsformen eine öffentliche Sphäre des kritischen Raisonnementsmit der Tendenz zur unbeschränkten Dynamisierung und Radi-kalisierung des Denkens schuf.

  • 2. Die Krise des Ancien Régime20

    2.3. Die Reformunfähigkeit der Monarchie

    Seine systemsprengende Kraft entfaltete dieses Denken in demAugenblick, als Reformunfähigkeit und Systemkrise des AncienRégime erkennbar wurden. Denn weder die zunehmenden so-zialen Spannungen innerhalb der Stände noch die Partizipations-ansprüche bürgerlicher Gruppen und auch nicht die Verbreitungeines auf Freiheit und bürgerliche Gleichheit gerichteten Den-kens haben zum Zusammenbruch des Ancien Régime geführt,sondern dessen Funktions- und Reformunfähigkeit im Augen-blick einer wachsenden Finanz- und Wirtschaftskrise. Dabeiwaren die strukturellen Probleme nicht neu. Sie waren immerwieder aufgebrochen, wenn die Monarchie ihre Macht zu be-kräftigen und ihre Finanzen zu verbessern suchte. Doch trotz al-ler äußeren Prachtentfaltung war es keinem der Könige seit Lud-wig XIV. (1643–1715) gelungen, den Verwaltungsaufbau unddas Steuerwesen zu reformieren, da sie immer von den ständi-schen Zwischengewalten daran gehindert wurden. Doch diese –nämlich die Parlamente wie die Provinzialversammlungen, derKlerus und die Hofaristokratie – waren nicht geschlossen genug,um Alternativen zu entwickeln, wohl aber einflussreich genug,um immer wieder zu blockieren. Denn auch wenn die Krone mitihrem höfischen Glanz den Eindruck einer zentralistischenMacht erweckte, der auch die Disziplinierung des selbstbewuss-ten Adels gelungen sei, blieb die absolute Monarchie unvollen-det und weiterhin von den Zwischengewalten abhängig.

    Der König befand sich in einer Doppelrolle, die ganz den Un-gleichzeitigkeiten und Überschneidungen der Zeit entsprach. Erwar Mann seiner Herkunft, oberster «Lehnsherr» und obersteSpitze einer ständischen Gesellschaft. Zugleich war er Chef ei-ner in Versailles mit zentralistischem Anspruch agierenden Ver-waltung, die sich weder gegen die Zwischengewalten noch nachunten in den Provinzen hinreichend durchsetzen konnte. DieMonarchie war nicht nur Appendix der herrschenden feudalenGruppen, sondern besaß eine eigene Legitimation und eigeneFormen der Intervention gegenüber der ständischen Gesell-schaft. Der König regierte mit seinem Ministerium. Daneben

  • 2.3. Die Reformunfähigkeit der Monarchie 21

    wurde der Generalkontrolleur der Finanzen mit der Zuständig-keit für die innere Verwaltung in dem Maße einflussreicher, jewichtiger die Finanzierung des Staates und seiner Schuldenwurde. Die innere Verwaltung in den 34 Finanz- und Steuer-bezirken lag in den Händen der Intendanten, Agenten derköniglichen Zentralgewalt vor Ort. Doch sie konkurrierten mittraditionellen Verwaltungsorganisationen und -praktiken undständischen Beamten, die ihre Legitimation nicht von der Zent-rale, sondern aus ihrer ständischen Zugehörigkeit und regiona-len Herkunft ableiteten. Letztinstanzliche Entscheidungen in derRegion beanspruchten die Parlamente, die freilich von einemstarken König in einem altertümlichen Verfahren einer Gerichts-sitzung (lit de justice) zum Gehorsam gezwungen werden konn-ten. Hinzu kamen noch kirchliche Verwaltungsgliederungen miteigenen Strukturen und Grenzen, ferner unzählige Sonderrechtefür einzelne Regionen. Daraus entstand ein Wirrwarr von recht-lichen, administrativen und herrschaftlichen Überschneidungenund Kompetenzen, denn in einer vormodernen Herrschaftsord-nung, so kompakt sie sich auch darstellte, wurde nichts von denüberkommenen Schichten, Institutionen und Bräuchen einfachabgeschafft, sondern es blieb neben dem Neuen weiterbestehen.Das sollte sich mit der Revolution und ihrer Grunderfahrungder Machbarkeit und Planbarkeit ändern.

    Die Grenzen der Reform in diesem labilen Gleichgewichtssys-tem, das durch den Wandel der Gesellschaft zusätzlich durchei-nandergebracht wurde, lagen in der Unvereinbarkeit von ständi-schen Wertvorstellungen und den Erfordernissen bürokratischerRationalisierung.

    Das wurde nirgends deutlicher als beim Steuersystem undden hoffnungslosen Versuchen, es zu reformieren, um es gerech-ter und effizienter zu gestalten. Auch hier erweisen sich die stän-dischen Lokal- und Zwischengewalten als Elemente der Behar-rung. Denn Steuern waren in den pays d’état, den Provinzen miteigenen ständischen Versammlungen, nur mit deren Zustim-mung zu erheben, während in den pays d’élections – die in Steu-erfragen unmittelbar vom König abhängig waren – diese vonköniglichen Beamten angeordnet werden konnten. Unter den

  • 2. Die Krise des Ancien Régime22

    Steuerlasten litten vor allem die Bauern; sie mussten neben denköniglichen Steuern noch die Feudalabgaben, den Kirchenzehn-ten und Gerichtsabgaben leisten. Das städtische Bürgertum littdarunter finanziell wenig, und von Steuern gänzlich befreit wa-ren die Angehörigen der beiden ersten Stände. Nicht die Höheder Steuern war, etwa im Vergleich mit England, der eigentlicheGrund zur Empörung, sondern die dramatische Ungleichheit derSteuern in ihrer sozialen Verteilung wie in ihrer regionalen Un-terschiedlichkeit und Vielfalt. Die indirekten Steuern und Zölleempörten die Bauern besonders, obwohl sie weniger am Staats-einkommen ausmachten als die direkten Steuern, die ebenfallsdurch ihre Ungleichheiten Anlass zur Unzufriedenheit boten.

    Da eine Steuererhöhung kaum in Frage kam und auch nichtdurchsetzbar war, hatten seit der Mitte des 18. Jahrhunderts be-reits mehrere Generalkontrolleure der Finanzen den Versuchunternommen, durch Schaffung von Steuergleichheit mehr Steu-ern für den Staat einzutreiben, was jedoch am Widerstand derZwischengewalten gescheitert war. Den Versuch einer Verlänge-rung der Sonderabgabe des sog. Zwanzigsten nutzten die Par-lamente von Paris, Grenoble, Toulouse und Rouen in ihren Re-monstranzen (Weigerungen) sogar zu einer Grundsatzerklärung,indem sie die Verabschiedung aller Gesetze von der Zustimmungder Parlamente abhängig machen wollten. Damit erreichte dieKonfrontation eine neue Dimension, indem die Parlamente sichzu Hütern der Grundrechte des Königreiches erklärten und sichgleichsam Souveränitätsrechte anmaßten. Das wiederum for-derte die Krone heraus, für die Minister Maupeou eine Justizre-form betrieb und die Parlamente abschaffte. Stattdessen setzteer neue Appellationsgerichtshöfe mit ausschließlich juristischenKompetenzen ein. Doch bevor der Widerstand der Juristen ge-brochen war, starb Ludwig XV., und sein Nachfolger Lud-wig XVI., gutwillig und auf Beifall bedacht, holte die Parla-mente zurück. Dies dankten sie ihm schlecht, denn sie pochtenumso mehr auf die Privilegien und lehnten jede Form derSteuergleichheit ab. Bald darauf scheiterte auch der Freund deraufgeklärten Philosophen, der neue Generalkontrolleur der Fi-nanzen, Turgot, als er 1776 durch eine systematische Reform

  • 2.3. Die Reformunfähigkeit der Monarchie 23

    die Vision eines aufgeklärten Absolutismus durchzusetzen ver-suchte. Das war, wie sich bald zeigen sollte, der endgültige Belegfür die Reformunfähigkeit der Monarchie. Turgots Nachfolger,der Schweizer Protestant Necker, ein Außenseiter im französi-schen Ancien Régime, aber als erfolgreicher Bankier kreditwür-dig, versuchte es mit kleinen administrativen Korrekturen undvor allem mit Auslandsanleihen, um die Kosten des amerikani-schen Krieges (1778–1783) zu finanzieren, der mit der Unab-hängigkeit der Vereinigten Staaten und der Demütigung Eng-lands im Frieden von Paris seinen Abschluss fand. Um denKredit des Staates zu erhöhen, veröffentlichte er 1781 erstmalsin der Geschichte der Monarchie ein Staatsbudget, aus denendie empörte Öffentlichkeit nur die hohen Ausgaben des Hofes,vor allem für die Pensionen des Hofadels, herauslas. Auch seinNachfolger Calonne versuchte 1786 durch einige Konzessionenan die Adresse der privilegierten Stände, diese zur Aufhebung ih-rer steuerlichen Privilegien zu bewegen. Der Notabelnversamm-lung, deren Einberufung er dem König empfohlen hatte, schluger im Februar 1787 die Bildung von Provinzialversammlungenvor und erwartete dafür die Zustimmung zu seinem Programmeiner allgemeinen Grundsteuer, einer Reduktion der Salzsteuerund der Aufhebung von Zöllen. Calonne rechnete damit, dassdie Notabeln, die überwiegend aus dem Adel stammten, es sichnicht leisten könnten, angesichts einer extremen Notlage gegeneine starke öffentliche Meinung auf den Privilegien zu beharren.Dass die Notablen, wie andere Zwischengewalten auch, anihrer strikten Ablehnung festhielten, hatte zwei Gründe: Sieempfanden den absolutistischen Staatsbildungsprozess als Ge-fährdung ihrer eigenen politisch-sozialen Autonomie; zweitenssahen sie sich von den Aufstiegserwartungen neuer, wohlhaben-der Schichten und umgekehrt von der zunehmenden antifeuda-len Stimmung unter den Bauern in ihrem Status bedroht. ZurStärkung ihrer Position forderten die Notabeln wieder die Ein-beziehung der Parlamente oder, was noch populärer war, dieEinberufung der Generalstände. Sie galten, auch wenn sichkaum jemand an sie erinnern konnte, als legitime Vertreter dergesamten Nation. Indem man sich auf die Nation und deren Re-

  • 2. Die Krise des Ancien Régime24

    präsentation berief und im Machtkampf zwischen der Kroneund den Ständen auf eine politische Mobilisierung der Öffent-lichkeit setzte, wurden politische Begriffe und Strategien in dieöffentliche Debatte gebracht, die bald eine Eigendynamik entfal-teten und sich am Ende gegen die alte Ordnung wenden sollten.Vor allem die provinzialen Selbstverwaltungskörperschaften,die 1787 ins Leben gerufen wurden, erwiesen sich als Schule derkünftigen Revolution. Etwa 18% der Mitglieder der National-versammlung von 1789 gehörten vorher den provinzialen Stän-deversammlungen an.

    2.4. Die Pré-Révolution

    Zunächst wurde jedoch Calonne Opfer der Machtkämpfe beiHofe. Sein Nachfolger Loménie de Brienne, Erzbischof vonToulouse, stieß auf denselben Widerstand und löste daraufhinim Mai 1787 die Notabelnversammlung auf. Er setzte nun wie-der auf die absolutistische Macht und hoffte, durch den Zwangeines lit de justice neue Steuergesetze durchzusetzen, wogegendas Parlament von Paris seinerseits öffentlichen Protest einlegte.Mit einer neuerlichen publizistischen Kampagne gingen dieselbsternannten Verteidiger der Freiheit gegen den ministeriel-len Despotismus vor. Die Phase der Pré-Révolution begann undbrachte endgültig eine neue Macht ins Spiel – die Öffentlichkeit.

    Das aufsässige Parlament wurde nach Troyes verbannt, dar-aufhin kam es in vielen Provinzen zu Aufständen, Streiks undPlünderungen, bis schließlich die Regierung nachgab und dasParlament zurückkehren ließ. Eine neue Runde im Machtkampfbegann; wieder wurde das Parlament entlassen, wieder kam eszu einem öffentlichen Entrüstungssturm, bei dem die monarchi-sche Regierung eindeutig in die Defensive geriet und die könig-liche Autorität in Flug- und Schmähschriften in Frage gestelltwurde. Als auch die Ständeversammlungen in den Provinzenimmer lauter nach den Generalständen riefen, kam das Ministe-rium Brienne schließlich dem öffentlichen Druck nach und ver-kündete die Einberufung der Generalstände. Sofort erregte eineneue Flut von Reformbroschüren und politischen Pamphleten

  • 2.4. Die Pré-Révolution 25

    das Land, das zugleich unter einer schweren Ernte- und Teue-rungskrise litt.

    Bald sollte in den publizistischen Kämpfen, die trotz des Fort-bestandes der Zensur in einer Atmosphäre der freien Meinungs-äußerung abliefen, die Widersprüchlichkeiten der Erwartungenund Forderungen deutlich werden. Die privilegierten Ständemeinten mit ihrer Kritik am «ministeriellen Despotismus» undder Forderung nach einer Regeneration Frankreichs die Wieder-herstellung bzw. Einhaltung ihrer angestammten, historischenVorrechte und «Freiheiten», während die Wortführer des Drit-ten Standes, die sich bald «Patrioten» nannten, ausgehend vonder Formulierung einzelner Missstände bald die Abkehr von ei-ner ständisch-korporativen Herrschafts- und Gesellschaftsord-nung und vom König die Neuordnung des Gemeinwesens alssouveräner Nation erwarteten. Sprachlich und politisch beson-ders wirksam formulierte im Januar 1789 der Abbé Sièyes, dererste politische Erfahrungen in der Provinzialversammlung desOrléanais gesammelt hatte, was in vielen anderen Broschürenwiederholt werden sollte: die politische Freiheit und Souveräni-tät für die Nation. Die Frage schien einfach, die Antwort warrevolutionär: «Was ist der Dritte Stand? Alles. Was ist er bisherin der staatlichen Ordnung gewesen? Nichts. Was will er? Etwasdarin werden.» Indem er den Dritten Stand zur Nation erklärte,tat er nichts anderes, als die Rechtfertigung traditioneller Herr-schaft, nach der nur eine politisch-soziale Führungsgruppe dieNation bildete, herumzudrehen. Der Dritte Stand besitze alles,was eine Nation zu ihrer Bildung und Erhaltung bedürfe. Wennman den privilegierten Stand wegnähme, wäre die Nation nichtetwas weniger, sondern sogar etwas mehr.Das Gewicht dieser Forderungen nach einer umfassenden Re-form nahm in dem Maße zu, in dem die Traditionalisten an ih-ren ständischen Interessen und Vorrechten festhielten und hin-ter ihrer Rhetorik, nach der sie als Repräsentanten des Volkesagierten, ihre partikularen Interessen hervortraten. Das geschahin aller Deutlichkeit, als die Parlamente am 23. September 1788sich für die alte Form der Zusammensetzung und des Abstim-mungsverfahrens erklärten, nach der Klerus und Adel doppelt

  • 2. Die Krise des Ancien Régime26

    so stark vertreten waren wie der Dritte Stand und jeder Standgetrennt abstimmen sollte. Auf Vorschlag von Brienne, dernicht weiterwusste, rief der König Necker als Premierministerzurück. Auch sein zweiter Anlauf sollte scheitern. Die zweiteNotabelnversammlung, die für Anfang November 1788 einbe-rufen worden war, lehnte seine Reformvorschläge ab. Die Mo-narchie stand vor dem finanziellen Bankrott, niemand wollteihr noch Kredite geben. Die Notabelnversammlung hoffte, dieGeneralstände als Instrument nutzen zu können, um dem Königihre Vorstellungen aufzuzwingen. Necker suchte hingegen diepatriotische Grundstimmung der Öffentlichkeit für die Kronezu mobilisieren und setzte im Kronrat am 27. Dezember 1788gegen den Widerstand der Brüder des Königs, die von jederKonzession eine Gefährdung der monarchischen Herrschaft be-fürchteten, eine Verdoppelung des Dritten Standes durch. Die-ses Zugeständnis wurde jedoch wieder dadurch entwertet, dasseine gemeinsame Abstimmung nach Köpfen vom König nichtakzeptiert wurde. Nach Calonne und Brienne musste nun auchNecker erfahren, dass vom König keine Unterstützung für eineentschiedene Reform zu erwarten war. Dennoch dachte in die-sem Augenblick kaum jemand an eine Revolution, geschweigedenn an einen Sturz der Monarchie.Diese Stimmung fand auch einen massenhaften Niederschlag inden Beschwerdeheften (cahiers de doléances), welche die Wah-len zu den Generalständen in den ersten Monaten des Jahres1789 begleiteten. Was nach einem alten ständischen Brauch dasRecht einer jeden Versammlung bei der Wahl ihrer Deputier-ten war, nämlich in rund 60000 Wahlversammlungen ihre Be-schwerden und Erwartungen zu formulieren, wurde unter denBedingungen der einsetzenden Massenmobilisierung zu einerArt Volksbefragung (und für den Historiker zu einer unschätz-baren Quelle). Die Bauern klagten über die Belastungen durchdie «Feudalität», die Bürger forderten die Gleichheit vor demRecht, Teile des Adels unterstützten die Forderung nach kons-titutionellen Freiheiten. Jedoch dachte niemand daran, die Mo-narchie abzuschaffen. Im Gegenteil, viele Cahiers erwartetenvom König, dass er die ständische Ordnung abschaffen sollte.

  • 2.5. Eine Krise des «alten Typs» 27

    Radikalere Forderungen kamen aus Pariser Wahlbezirken; dortkonnte man erst Anfang Mai die Wahlversammlungen abhal-ten, als die politischen Auseinandersetzungen schon ihre eigeneDynamik entfaltet hatten. In den Pariser Cahiers sprach mandarum von einer Verfassung, die man sich geben müsse, von po-litischer Freiheit und einer heraufziehenden Revolution.

    Die Wahlen erfolgten nach einem gestuften, d.h. indirektenVerfahren. Nur die oberen Stände führten in den Bezirksver-sammlungen eine direkte Wahl durch. Beim Klerus waren allePfarrer, aber nicht alle Domherren und Klöster wahlberechtigt.Auch beim Dritten Stand hatte jeder Stimmrecht, der älter als25 Jahre und in die Steuerrolle eingetragen war. Das war für diedamaligen Zeiten relativ demokratisch. Das gestufte Wahlrechtsorgte jedoch für Mäßigung. Gewählt wurde nach Zünften,Stadtvierteln, Dörfern, d.h. nach Pfarrgemeinden. Dort wählteman Wahlmänner, die wiederum aus ihrer Mitte die Deputier-ten für die Generalstände auswählten. Allein das langwierigeWahlverfahren legte es den politisch engagierten Bürgern nahe,in Stadt und Land durch Broschüren und Flugblätter Propa-ganda zu machen, auch um die Abfassung der Beschwerdeheftevorzubereiten.

    2.5. Eine Krise des «alten Typs»

    Neben der Einberufung der Generalstände machte im Frühjahr1789 der dramatische Anstieg des Brotpreises Schlagzeilen. Nunerreichten Unzufriedenheit und Erregung auch diejenigen, dievon der öffentlichen Auseinandersetzung um die Finanzmisereund die Funktionsunfähigkeit des Staates noch nicht unmittel-bar erreicht und mobilisiert worden waren. Die wirtschaftlicheNot, die infolge von Teuerung und Unterproduktion die städti-schen Konsumenten und dann auch Handel und Gewerbe be-traf, brachte die «Massen» auf die politische Bühne. Die Mecha-nik dieser Krise vom alten Typ verlief zunächst nach einembekannten Muster: Eine Missernte von 1788 und ein sehr stren-ger Winter 1788/89 führten zu Ernteausfällen und brachten dieBauern um die Chance, Getreide auf dem Markt zu verkaufen

  • 2. Die Krise des Ancien Régime28

    bzw. genügend Futter für die Viehhaltung zurückzubehalten.Nur die Speicher der weltlichen und geistlichen Grundherrenwaren gefüllt mit Produkten, die durch Abgaben des Zehntenund des Fruchtzinses hereingekommen waren. Sie wurden da-rum zum Objekt der Empörung und der Forderung nach Öff-nung bzw. des Verkaufes zu einem «gerechten Preis». Um demNachdruck zu verleihen, kam es zur Plünderung von Getreide-transporten, zum Protest gegen eine schlechte Verwaltung, derman die Verantwortung für das tägliche Brot zuschrieb. Nochdramatischer waren die Folgen der Preiserhöhungen für diestädtischen Konsumenten, für die Brot als Grund- und Haupt-nahrungsmittel lebenswichtig war. Im Juni/Juli 1789 sollte derBrotpreis mit einer Steigerung von etwa 200% im Vergleich zuden guten Jahren den Höchststand des Jahrhunderts erreichen.Ein städtischer Handwerker musste im Durchschnitt etwa 50%seines Einkommens für die Versorgung mit Brot ausgeben. JedePreissteigerung konnte existenzbedrohend werden und führtevor allem zu einem starken Rückgang der Nachfrage nach allenanderen Gütern des täglichen Bedarfs. Zuletzt war eine ähnlicheSituation mit Teuerungskrise und Brotkrawallen 1775 eingetre-ten, nun aber schlugen die epidemisch auftretenden Brotun-ruhen auf das politische Klima durch. Die heftigsten Unruhenfanden in Paris im April 1789 zum Zeitpunkt der Wahlen zuden Generalständen statt. Als der Tapetenfabrikant Réveillonim Faubourg Saint-Antoine bei einer Wählerversammlung am23. April 1789 darüber klagte, dass er seinen 350 Manufaktur-arbeitern so hohe Löhne zahlen müsse, zog er den Volkszorn aufsich. Obwohl er im Rufe eines guten Arbeitgebers stand, kam esvier Tage später zu Demonstrationen und trotz einer Polizeibe-wachung schließlich auch zum Sturm auf sein Haus wie zu Plün-derungen durch eine aufgebrachte Menge, meist von Gesellen,Kleinhandwerkern und Arbeitern. Bei der Niederschlagung derUnruhen kam es zu Hunderten von Toten. Auch wenn die De-monstranten in Rufe wie «Es lebe der Dritte Stand» oder «Eslebe der König. Es lebe Monsieur Necker» ausbrachen, warendas noch keine Aktionen einer politischen Volksbewegung, son-dern Ausdruck eines uralten Denkens und Handelns, das von

  • 3.1. Die Verfassungsrevolution 29

    der Vorstellung des «gerechten Preises» und der Fürsorgepflichtdes «guten» Königs ausging. Der Réveillon-Aufstand war da-rum nur ein Vorspiel der Revolution.

    3. Drei Ereignisse – eine Revolution:Der Sommer 1789

    Die knapp 1200 Deputierten, die Ende April 1789 nach Ver-sailles kamen, um in einer feierlichen Eröffnungsprozession dasRitual einer scheinbar intakten ständisch-monarchischen Herr-schaft zu erleben, hätten sich kaum vorstellen können, dass siebis zum Herbst 1791 in Versailles bzw. in Paris bleiben und dortdie dramatischen Ereignisse einer Verfassungsrevolution erle-ben bzw. gestalten würden. Bei der letzten Einberufung der Ge-neralstände im Jahre 1614 waren die Deputierten, nachdem sieihre Gravamina dem König vorgetragen hatten, bald wiedernach Hause geschickt worden. Im Mai 1789 stießen die Depu-tierten jedoch auf einen schwachen und unentschiedenen Mon-archen, der voller Halbherzigkeiten der politischen Entwick-lung stets nachlaufen sollte und sich nun sehr bald nach derSelbstproklamation der Nationalversammlung mit einer politi-schen Gegenmacht konfrontiert sah, die schließlich das alleinigeMachtzentrum darstellte und die Delegitimation des Monar-chen betrieb.

    3.1. Von den Generalständen zur Nationalversammlung:Die Verfassungsrevolution

    Schon das Eröffnungszeremoniell hatte den Deputierten desDritten Standes ihre Inferiorität verdeutlicht. Bereits beim Em-pfang für die Mitglieder der einzelnen Stände wurde die zere-moniale Ordnung zur Demütigung des Dritten Standes. Manverwies sie an die Spitze des Zuges, möglichst weit weg vomKönig. Beim Eintreffen in der Ludwigskirche mussten sie sehen,

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