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Finnland Info 1287 16.9.17 Der Kampf mit den Buchstaben Manuela Curtins ist einer der 800 000 Menschen in der Schweiz, die Mühe mit Lesen und Schreiben haben. In der Schule sagte man, sie sei «blöd» Daniel J. Schüz (Text) und Stefano Schröter (Foto) : Fühlte sich von Tieren besser verstanden: Manuela Curtins auf dem väterlichen Hof mit Kuh Lotti Finnland-Info 1287Angeklagt:Volksschule, Urteil: Schadenersatz in Mio.Höhe www.hansjoss.ch

Hans Joss · Web viewFinnland Info 1287 16.9.17 Der Kampf mit den Buchstaben Manuela Curtins ist einer der 800 000 Menschen in der Schweiz, die Mühe mit Lesen und Schreiben haben

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Finnland Info 1287

16.9.17

Der Kampf mit den Buchstaben

Manuela Curtins ist einer der 800 000 Menschen in der Schweiz, die Mühe mit Lesen und Schreiben haben. In der Schule sagte man, sie sei «blöd»

Daniel J. Schüz (Text) und Stefano Schröter (Foto): Fühlte sich von Tieren besser verstanden: Manuela Curtins auf dem väterlichen Hof mit Kuh Lotti

Aus: Sonntagszeitung, 10. Sept. 2017, S. 23

Lange vor ihrem ersten Schultag hatte sie gelernt, wie man aus Buchstaben Begriffe bilden kann: Immer, wenn die Mutter eine Buchstabensuppe auftischte, fischte sie sieben winzige, unterschiedlich geformte Nudeln aus der Bouillon und arrangierte sie auf dem Tellerrand zum Wort: M A N U E L A - ihren Namen hat sie immer korrekt schreiben können.

Zwanzig Jahre später sitzt Manuela Curtins in der Labor-Bar, dem TV-Studio im Zürcher Kreis 5, in dem Talkshow-Moderator Kurt Aeschbacher seine Gäste empfängt. Manuela hat all ihren Mut zusammenreissen müssen, als sie aus den Bündner Bergen in die Stadt gereist ist, um sich zu outen - sie ist Illettristin, einer von rund 800 000 Menschen in der Schweiz, die mit den Buchstaben ihre liebe Mühe haben.

Es ist kaum zu glauben und doch eine ebenso unerschütterliche wie erschütternde Wahrheit: Einer von sechs erwachsenen Menschen in diesem Land verfügt über so bescheidene Lese- und Schreib-Kenntnisse, dass er damit im Alltag kaum bestehen kann. Dem Phänomen des Illetrismus, bislang unter der irreführenden Bezeichnung funktionaler Analphabetismus bekannt, sagt der Dachverband Lesen und Schreiben mit einer landesweiten Aufklärungs- und Weiterbildungskampagne den Kampf an. «Wir wollen die Betroffenen ermuntern und ermutigen», sagt Brigitte Aschwanden, Geschäftsführerin der für die deutschsprachige Schweiz zuständigen Sektion des Verbandes. «Sie sollen zu ihrer Schwäche stehen und sich für Sprachkurse anmelden, die wir gratis in der ganzen Schweiz anbieten.» Die Ursachen des Illettrismus können im privaten wie im gesellschaftlichen Umfeld liegen und beruhen oft, so Aschwanden, «auf der ungünstigen Kombination mehrerer Faktoren.»

Anmerkung H. Joss:Die allgemeine Antwort von Aschwanden trifft zu, hilft jedoch nicht weiter und verschweigt die Tatsache, dass die öffentliche Schule den Auftrag hat, Lesen, Schreiben und Rechnen zu vermitteln. Jedes Kind optimal individuell zu fördern. (Bundesverfassung)

Manuela Curtins weiss, welche Faktoren in ihrem Fall den Ausschlag gegeben haben: «In der Schule hat man mir meinen Traum kaputtgemacht, im Dorf haben sie mich gemobbt, geplagt und ausgegrenzt. Da zog ich mich zurück und stürzte in dieses tiefe dunkle Loch.»

Anmerkung H. Joss:Viele Betroffene können genau sagen, wo und wann für sie eine langjährige Leidenszeit begonnen hat: In der Grundschule, wo Lernende mit Lesen und Schreiben konfrontiert werden.

Abhängig von Lehrpersonen, die den Auftrag haben, Lesen und Schreiben zu vermitteln. Die unter entsprechendem Erwartungsdruck der Eltern stehen. In dieser Situation ist nachvollziehbar, dass fehlende berufliche Kompetenzen dazu führen können, die Verantwortung für individuelle Lernprozesse auf sich zu nehmen, und sich entsprechend vor Angriffen zu schützen, mit Schuldzuweisungen an das Kind. Was umso leichter fällt, als die Mehrheit einer Klasse Lesen und Schreiben in der vorgesehenen Zeit erwirbt.Umso beschämender für diejenigen, die das nicht schaffen und gleichzeitig beweisen, dass die Schuld für die Unfähigkeit bei ihnen liegt. Die Mitlernenden beweisen das. Der von der Bundesverfassung garantierte Schutz wird dem betroffenen Kind nicht gewährt, viel schlimmer: es wird von der Lehrperson an den Pranger gestellt und der Klasse zum Spott freigegeben.

In Rueun, einem kleinen Dorf ob Ilanz GR in der Surselva, hat die Tochter einer Bauernfamilie ausschliesslich romanisch gesprochen, bis zum Tag, als sie eingeschult wurde und sich mit Ausdrücken konfrontiert sah, die ihr nichts sagten: Fremdsprache Deutsch - komische Buchstaben, seltsame Worte.

Anders als viele Klassenkameraden hatte Manuela schon früh klare Vorstellungen über die Zukunft, und als die Lehrerin sie nach ihrem Berufswunsch fragte, zögerte sie keine Sekunde: «Chinderkrankeschwöschter - da wott i werde!» Und dann hörte sie die Worte, die ihren grossen Traum platzen liessen: Das könne sie gleich vergessen, erwiderte die Lehrerin. Dazu sei sie zu blöd.

An jenem Tag begannen die «Jahre des Horrors». Der Weg zur Schule kostete Manuela jeden Morgen Überwindung, der Weg nach Hause wurde zum Spiessrutenlauf; im Sommer wurde sie von den Mitschülern in den Dorfbrunnen geworfen, im Winter flogen Eismocken in ihr Gesicht und das ganze Jahr über Worte, die sie als «doofi Sprüch» bezeichnet. Was für Sprüche? Manuela senkt verschämt den Blick, murmelt kaum verständlich: «Wörter wie: Du blödi fetti Sau!»

Sie war gefangen in einem Teufelskreis. Gegen Worte, die wehtun, versuchte sie sich mit einem Panzer zu schützen, den sie rund um die verletzte Seele wachsen liess. «Ich stopfte alles in mich hinein, was der Kühlschrank hergab.» Bis die Anzeige auf der Waage die 110-Kilo-Marke erreichte.

Immer mehr zog sich Manuela von den Menschen zurück. Und wendete sich den Tieren zu.

Unter den rund zwei Dutzend Milchkühen, die auf dem elterlichen Hof weiden, hat sie Freundinnen gewonnen, «die immer da sind, wenn ich sie brauche, die immer zuhören».

Ihr Tagebuch ist gut versteckt, nur sie kann den Text entziffern

Das andere Ding, bei dem sie Trost und Zuflucht fand, ist für eine Frau, die mit den Buchstaben auf Kriegsfuss steht, höchst bemerkenswert: Ihrem Tagebuch hat Manuela alle Wünsche, Sorgen und gelegentlich auch mal eine Freude anvertraut. «Ich habe jahrelang täglich geschrieben», sagt sie. Und fügt mit einem Schmunzeln an: «Nur ich weiss, wo es ist - und wenn es doch mal jemand in die Finger bekäme, würde es ihm nichts nützen. Ich bin nämlich auch die Einzige, die entziffern kann, was da drin steht.»

Könnte es sein, dass es um die Sehnsucht nach Zuwendung geht, um das Bedürfnis, geliebt zu werden? Manuela nickt: «Da steht: I hed so gere das öber kunt und mi aifach nur in Arm nimt.»

Es ist tatsächlich einer gekommen, Markus, ein Jahr älter als sie. Äusserlich ist der gertenschlanke Bursche so ziemlich ihr Gegenpol, doch ein gemeinsames Schicksal verbindet die beiden: «Auch ich bin fertiggemacht worden», sagt Markus, «weil ich ein bisschen länger brauche, um etwas zu begreifen.»

Die beiden haben ein Kind zusammen, Dominic Albert, mittlerweile drei Jahre alt, ein gewitztes Kerlchen, das am liebsten mit dem Papi im Garten tschuttet.

Manuela Curtins hat zehn Kilo abgenommen, sie arbeitet als Köchin in einem Heim für Senioren, die ihre Capuns zu schätzen wissen, eine Bündner Spezialität, deren Rezeptur sie problemlos entziffert hat.

Jeweils am Dienstagabend fährt Manuela nach Chur in den Sprachkurs, wo sie versucht, den Unterschied zwischen Grammatik und Orthografie zu erkennen, dabei zur Kenntnis nimmt, dass man Sonne mit zwei n schreibt, weil der Vokal o in diesem Fall kurz ausgesprochen wird. Und sie versucht gar nicht erst, zu verstehen, warum das logisch sein soll.

Neuerdings kann man ihr auch in den Strassen von Chur begegnen, wo sie am Informationsstand den Passanten Merkzettel verteilt; rein statistisch ist jeder Sechste ein Illettrist, der verschämt und einsam unter seinem Defizit leidet. Sollte die Leseschwäche ihn daran hindern, einen Sinn hinter den Zahlen und Buchstaben zu erkennen, dann wird ihm die junge Frau gern erklären, dass ihm auf der Homepage www.besser-jetzt.ch geholfen werden kann.

Wenn das Schweizer Fernsehen die Sendung ausstrahlt, wird Manuela Curtins die Geschichte einer Schwäche erzählen, die sie stark gemacht hat: «All die Menschen, die betroffen sind, sollen wissen, dass sie nicht allein sind. Es gibt immer einen Weg - und Blumen, die am Wegrand blühen.»

Gastgeber Kurt Aeschbacher erinnert sich an eine junge Frau, «die ich für den Mut bewundere, mit dem sie über ihr Handicap redet - und dabei über sich selbst hinauswächst».

Anmerkung H. Joss:Wobei in der Sendung verpasst wird, auf Stellenwert und Verantwor-tung der Volksschule hinzuweisen. Eine anwesende Kursleiterin für ‘Lesen und Schreiben für Erwachsene’ meint, die Ursachen für die Schwäche seien sehr komplex und vielfältig. Dabei steht fest, dass die Schule der Ort ist, mit dieser Schwäche gezielt umzugehen und Verbesserungen herbei zu führen. Die Schule kann Lernende während neun Jahen begleiten, stärken und ihr Selbstvertrauen festigen.

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https://epaper.sonntagszeitung.ch/#article/10000/SonntagsZeitung/2017-09-10/23/82114990

Manuela Curtins erinnert sich nicht gerne an ihre Schulzeit. Ein Diktat, ein Aufsatz oder gar in der Klasse vorlesen waren für die Bündnerin der blanke Horror. Gehänselt von den Mitschülern und zu wenig unterstützt von der Lehrerin, entwickelt Manuela ihre eigene Strategie. Sie verdrängt ihre Lese- und Schreibschwäche, bezahlt dafür aber einen hohen Preis.

Anmerkung H. Joss:Man kann auch sagen: für ein Versäumnis der Schule, welche sie besuchen musste, bezahlt sie einen hohen Preis. Finanziell, zeitmässig und schlechter Lebensqualität. Die Frage stellt sich: wo kann die Institution Schule zur Verantwortung gezogen werden für nachweisbares Fehlverhalten von Lehrpersonen im Rahmen der Institution ‘öffentliche Schule’.

Wenn heute Verdingkinder eine finanzielle Entschädigung von Fr. 25'000.00 erhalten, weshalb soll nicht auch eine Schülerin eine finanzielle Entschädigung erhalten für ‘Jahre des Horrors’?

‘Ihre Schuljahre waren die Hölle’, wie Frau Gerber im Finnland-Info 1268 meint.

Seit sieben Jahren besucht die junge Mutter den Kurs «Besser lesen und schreiben». Hier gewinnt sie nicht nur Sicherheit in Wort und Schrift, sondern auch für sich selbst.

Anmerkung H. Joss:Frau G. im Finnland-Info 1268 meint, dank dem Lehrer in der siebten Klasse – nach einem Schulortwechsel - sei für sie die Erlösung gekommen. Wenn sie diesen Lehrer von Anfang an gehabt hätte, wäre alles anders gekommen. Ein Beleg, dass Profeswsionalität der Lehrpersonen im Umgang mit Lernprozessen nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Und dass die Institution Volksschule die Verantwortung trägt für konstruktive Lernprozesse. Dass sie anderseits auch zur Rechenschaft gezogen werden muss, wenn Lernende während Jahren traumatisiert, psychisch und physisch verletzt werden. Mit bleibenden Schädigungen.

«Sie sollen zu ihrer Schwäche stehen und sich für Sprachkurse anmelden, die wir gratis in der ganzen Schweiz anbieten.» Die Ursachen des Illettrismus können im privaten wie im gesellschaftlichen Umfeld liegen und beruhen oft, so Aschwanden, «auf der ungünstigen Kombination mehrerer Faktoren.»

Anmerkung H. Joss:Ebenso wichtig ist, dass auch die Schule zu ihren Schwächen steht und nachträglich angemessene Entschädigungen auszahlt für Jahre des Horrors und der Hölle, welche sie unschuldigen, schutzlosen Kindern zufügte. Versehen mit Traumatisierungen, die sie ihr Leben lang begleiten.

Es reicht. Die Beweislage ist klar. Gefordert ist die Institution Volksschule vom 1. bis zum 9. Schuljahr. Dass die Institution die Verantwortung übernimmt für den Auftrag, den die Verfassung vorgibt. Optimales, individuelles Vermitteln der Grundkompetenzen in Lesen, Schreiben und Rechnen. Mit regelmässigen Standortbestimmungen und anschliessenden Förderungen.

Siehe auch:Finnland-Info 1268:CH:8.5.17:Emotionale Misshandlung: habe mein Urvertrauen verloren

www.boggsen.ch

Finnland-Info 1287Angeklagt:Volksschule, Urteil: Schadenersatz in Mio.Höhewww.hansjoss.ch