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HARLAN COBEN - weltbild.de · 9 marken, ohne beim Militär zu sein, und wirklich große, weiße Armbanduhren erhoben. Sonnenbrille grinste und prostete Kat und Stacy zu. »Er mag

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H A R L A N C O B E N

I C H V E R M I S S E D I C H

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H A R L A N C O B E N

I C H V E R M I S S E D I C H

T H R I L L E R

D E U T S C H V O N G U N N A R K W I S I N S K I

PAGE & TURNER

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Die Originalausgabe erschien 2014unter dem Titel »Missing you« bei Dutton, a member of

Penguin Group USA (Inc.), New York.

Words and music to the song »Demon Lover« composed by Michael Peter Smith, Bird Avenue Publishing-ASCAP,

© 1986, used with permission. All rights reserved.

Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich.

Verlagsgruppe Random House FSC ® N001967Das FSC ®-zertifizierte Papier Super Snowbright für dieses Buch

liefert Hellefoss AS, Hokksund, Norwegen.

Page & Turner Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Verlagsgruppe

Random House GmbH.

1. AuflageCopyright © der Originalausgabe 2014 by Harlan Coben

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015by Page & Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbHRedaktion: Anja Lademacher

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: © Rodney Harvey/Trevillion Images;

© Andy & Michelle Kerry/Trevillion Images; Fine Pic ®, MünchenSatz: Uhl + Massopust, Aalen

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany

ISBN: 978-3-442-20440-3www.pageundturner-verlag.de

Besuchen Sie den Page & Turner Verlag im Netz

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Für Ray und Maureen Clarke

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E I N S

K at Donovan drehte sich auf dem Hocker, auf dem schon ihr Vater gesessen hatte, von der Theke weg, um aufzu-

stehen und den Pub zu verlassen, als Stacy sagte: »Was ich getan habe, wird dir nicht gefallen.«

Ihr Tonfall stoppte Kat mitten in der Bewegung. »Was hast du getan?«

Das O’Malley’s war früher eine Polizistenkneipe vom alten Schlag gewesen. Schon Kats Großvater hatte hier rum-gehangen. Später auch ihr Vater und seine Kollegen vom NYPD. Inzwischen hatte es sich in einen Yuppie-Schuppen voller Preppies, Masters-of-the-Universe, Poser und Arsch-löcher verwandelt, lauter Typen in gestärkten und gebügel-ten weißen Hemden unter schwarzen Anzügen, mit Dreitage-bart, die gerade so viel hatten enthaaren lassen, dass sie noch machohaft und unrasiert wirkten. Sie grinsten viel, diese sof-ten Männer, mit ihren Extrem-Gel-Frisuren, und bestellten Ketel One statt Grey Goose, weil die Werbung ihnen erzählt hatte, dass das der Wodka für echte Männer wäre.

Stacys Blick streifte durch die Bar. Ein Ablenkungsmanö-ver. Kat gefiel das ganz und gar nicht.

»Was hast du getan?«, wiederholte Kat.»Vorsicht«, sagte Stacy.»Maulheld bei fünf Uhr.«Kat drehte sich nach rechts um.»Siehst du ihn?«, fragte Stacy.

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»Klar.«Die Einrichtung des O’Malley’s hatte sich im Lauf der

Jahre kaum verändert. Der alte Röhrenfernseher war zwar durch eine Unzahl Flachbildschirme ersetzt worden, auf denen zu viele unterschiedliche Sportereignisse gleichzeitig liefen – wen interessierten schon die Spiele der Edmonton Oilers? Abgesehen davon war das Cop-Kneipen-Feeling im O’Malley’s jedoch noch erhalten. Und genau das zog diese Poser an, die Pseudo-Authentizität, die dadurch entstanden war, dass sie den Schuppen übernommen und alles vertrie-ben hatten, was den Laden früher ausgemacht hatte, sodass der Pub zu einer Disney-Version seines früheren Selbst ge-worden war.

Kat war die einzige Polizistin, die noch herkam. Die ande-ren gingen nach der Schicht entweder nach Hause oder zu einem Meeting der Anonymen Alkoholiker. Kat kam immer noch und versuchte, in aller Ruhe gemeinsam mit den Geis-tern der Vergangenheit auf dem alten Hocker ihres Vaters zu sitzen – ganz besonders an diesem Abend, wo die Gedanken an die Ermordung ihres Vaters ihr wieder einmal schwer zu schaffen machten. Sie wollte einfach nur hier sein, die Ge-genwart ihres Vaters spüren, um – so kitschig das auch klin-gen mochte – daraus Kraft zu schöpfen.

Aber diese Weicheier ließen sie einfach nicht in Ruhe.Und dieser spezielle Maulheld – Stacys und ihr Kosename

für all die wahren Helden, die einen aufs Maul verdient hat-ten – beging eine typische Maulhelden-Sünde. Er trug eine Sonnenbrille. Abends um elf. In einer schlecht beleuchteten Kneipe. Andere Anklagen wegen Maulheldentums wurden für angekettete Brieftaschen, im Nacken gebundene Kopftü-cher, offene Seidenhemden, übermäßig viele Tattoos (straf-verschärfend: Tribals), das Tragen von Militär-Erkennungs-

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marken, ohne beim Militär zu sein, und wirklich große, weiße Armbanduhren erhoben.

Sonnenbrille grinste und prostete Kat und Stacy zu.»Er mag uns«, sagte Stacy.»Lenk nicht ab. Was wird mir nicht gefallen?«Als Stacy sich wieder zu ihr umdrehte, sah Kat über ihre

Schulter hinweg die Enttäuschung in Sonnenbrilles Gesicht, das vor überteuerter Lotion glänzte. Sie hatte diesen Blick schon unzählige Male gesehen. Männer mochten Stacy. Und das war noch stark untertrieben. Stacy war furchteinflößend, umwerfend, zähne-, knochen- und metallerweichend heiß. In Stacys Gegenwart bekamen Männer weiche Knie und be-nahmen sich albern. Ziemlich albern. Extrem albern.

Vielleicht war es ein Fehler, mit so einer Frau in die Kneipe zu gehen, denn viele Männer kamen zu dem Schluss, dass sie bei dieser Frau nicht landen konnten. Sie erschien ihnen unerreichbar.

Ganz anders als Kat.Und so nahm Sonnenbrille denn auch Kat ins Visier und

machte sich auf den Weg, wobei er eher auf seinem eigenen Schleim dahinzugleiten schien als zu gehen.

Stacy unterdrückte ein Kichern. »Das wird spaßig.«In der Hoffnung, ihn abzuschrecken, musterte Kat ihn mit

leerem Blick und missbilligendem Stirnrunzeln. Doch Son-nenbrille war nicht zu bremsen. Er tänzelte im Rhythmus eines Soundtracks heran, der nur in seinem Kopf spielte.

»Hey, Babe«, sagte Sonnenbrille. »Heißt du zufällig Wi-Fi?«

Kat wartete.»Ich spüre da nämlich so eine Verbindung.«Stacy prustete los.Kat starrte ihn nur an. Er fuhr fort.

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»Ich mag euch kleine Bräute, weißt du? Ihr seid einfach entzückend. Weißt du, was gut auf mir aussehen würde? Du.«

»Jemals Erfolg mit den Sprüchen gehabt?«, fragte Kat.»Ich bin noch nicht fertig.« Sonnenbrille hustete sich in

die Hand, zog sein iPhone heraus und streckte es Kat entge-gen. »Hey, Babe, Glückwunsch, du stehst ganz oben auf mei-ner To-do-Liste.«

Stacy war begeistert.Kat fragte: »Wie heißen Sie?«Er zog eine Augenbraue hoch. »Wie immer du willst, Baby.«»Wie wäre es mit Dummschwätzer?« Kat öffnete die

Jacke und zeigte ihm ihre Pistole am Gürtel. »Ich werde jetzt zu meiner Waffe greifen, Dummschwätzer.«

»Verdammt, Mädel, du bist wohl mein neuer Chef?« Er deutete auf seinen Schritt. » Weil du mir gerade was erhöht hast. Wenn auch nicht meinen Lohn.«

»Verschwinden Sie.«»Meine Liebe für dich ist wie Durchfall«, sagte Sonnen-

brille. »Ich kann sie einfach nicht in mir halten.«Kat starrte ihn entgeistert an.»War das zu viel?«, fragte er.»Oh Mann, das ist einfach widerlich.«»Mag sein, aber ich wette, den Spruch hast du noch nie

gehört.«Die Wette hätte er gewonnen. »Verschwinden Sie. Sofort.«»Ehrlich?«Stacy konnte sich vor Lachen kaum auf den Beinen halten.Sonnenbrille wollte sich abwenden. »Moment. Das ist

ein Test, oder? Nennst du mich Dummschwätzer, um mich scharf zu machen?«

»Verschwinden Sie.«

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Er zuckte die Achseln, drehte sich um, sah Stacy an und dachte, was soll’s? Er musterte ihren langen Körper von oben bis unten und sagte dann: »Das Wort des Tages ist Beine. Vielleicht sollten wir beide mal in uns gehen und die Un tiefen dazwischen ausloten.«

Stacy war immer noch begeistert. »Nimm mich, Dumm-schwätzer, sofort. Auf der Stelle.«

»Wirklich?«»Nein.«Dummschwätzer drehte sich zu Kat um. Kat legte die

Hand auf den Pistolengriff. Er hob die Hände und ging.Kat sagte: »Stacy?«»Hm.«»Warum glauben diese Typen eigentlich immer wieder,

sie hätten eine Chance bei mir?«»Weil du hübsch und keck aussiehst.«»Ich bin nicht keck.«»Nein, aber du siehst keck aus.«»Jetzt mal ehrlich, seh ich wirklich wie eine totale Ver-

sagerin aus?«»Du siehst beschädigt aus«, sagte Stacy. »Ich sag das nicht

gerne. Aber der Schaden … du strahlst es aus wie ein Phero-mon, dem diese Weicheier nicht widerstehen können.«

Beide tranken einen Schluck.»Also, was wird mir nicht gefallen?«, fragte Kat.Stacy sah dem Dummschwätzer hinterher. »Jetzt tut er

mir leid. Vielleicht sollte ich ihm einen Quickie gönnen.«»Fang nicht wieder damit an.«»Wieso?« Stacy schlug die angeberisch langen Beine

übereinander und lächelte Dummschwätzer zu. Er zog ein Gesicht, das Kat an einen Hund erinnerte, den man zu lange im Auto gelassen hatte. »Findest du diesen Rock zu kurz?«

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»Rock?«, sagte Kat. »Ich dachte, es wäre ein Gürtel.«Stacy gefiel das. Sie genoss es, im Mittelpunkt zu stehen.

Sie riss gerne Männer auf, weil sie glaubte, eine Nacht mit ihr wäre für die Typen eine Erfahrung, die ihr Leben ver-ändern würde. Außerdem war es Teil ihres Jobs. Zusammen mit zwei anderen hinreißenden Frauen besaß Stacy eine Pri-vatdetektei. Ihre Spezialität? Männer, die fremdgingen, zu überführen (oder sagen wir besser, zu verführen).

»Stacy?«»Hmm.«»Was wird mir nicht gefallen?«»Das hier.«Während sie weiter mit Dummschwätzer kokettierte,

reichte sie Kat einen Zettel. Kat sah den Zettel an und run-zelte die Stirn.

KD8115

HottestSexEvah

»Was ist das?«»KD8115 ist dein Benutzername.«Ihre Initialen und die Nummer ihrer Polizeimarke.»HottestSexEvah ist dein Passwort. Oh, achte auf die

Groß- und Kleinschreibung.«»Und wofür sind die?«»Eine Internetseite. YouAreJustMyType.com.«»Was?«»Eine Online-Partnerbörse.«Kat verzog das Gesicht. »Bitte sag mir, dass das ein Scherz

ist.«»Ist was Seriöses.«»Das sagt man auch über manche Striptease-Clubs.«

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»Ich habe dich da angemeldet und für ein Jahr bezahlt.«»Das soll ein Witz sein, oder?«»Ich mache keine Witze. Ich arbeite gelegentlich für

die Firma. Die ist gut. Und machen wir uns nichts vor, du brauchst jemanden. Du willst jemanden. Und hier wirst du ihn nicht finden.«

Kat seufzte, stand auf und nickte dem Barkeeper zu, einem Mann namens Pete, der aussah wie ein Charakterdarsteller, der immer die Rolle des irischen Barkeepers in einem Pub bekam, was er in diesem Fall tatsächlich war. Pete erwiderte das Nicken und schrieb Kats Drinks auf ihren Deckel.

»Wer weiß«, sagte Stacy. »Vielleicht findest du da den Richtigen.«

Kat ging zur Tür. »Wahrscheinlich aber auch wieder nur einen Dummschwätzer.«

Kat rief »YouAreJustMyType.com« auf, gab ihren Benutzer-namen und das peinliche Passwort ein. Sie runzelte die Stirn, als sie die Kurzbeschreibung oben im Profil sah, die Stacy für sie ausgewählt hatte:

Hübsch und keck!

»Immerhin hat sie beschädigt weggelassen«, murmelte Kat.Es war nach Mitternacht, aber Kat schlief nicht sehr viel.

Die Wohnung, in der sie lebte, war eigentlich viel zu exklu-siv für sie – eine Dachwohnung an der West 67th Street in der Nähe vom Central Park. Vor hundert Jahren hatten in diesem Haus und in den Nachbargebäuden, zu denen auch das berühmte Hotel des Artistes gehörte, Schriftsteller, Maler, Intellektuelle und andere Künstler gewohnt. Das geräumige, anheimelnde Apartment ging zur Straße hinaus, die klei-

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neren Künstlerateliers nach hinten zum Hof. Irgendwann waren die alten Ateliers zu Einzimmerwohnungen umge-baut worden. Kats Vater, ein Polizist, der gesehen hatte, wie seine Freunde durch den Kauf von Immobilien reich ge-worden waren, hatte versucht, irgendwie daran teilzuhaben. Ein Mann, dem Dad das Leben gerettet hatte, hatte ihm die Wohnung billig verkauft.

Kat war zu Beginn ihres Studiums an der Columbia Uni-versity hier eingezogen. Die Ausbildung an der Eliteuniver-sität hatte sie mit einem Stipendium der New Yorker Polizei bezahlt. Ihre Lebensplanung hatte ein Jurastudium und den Beitritt in eine führende Anwaltskanzlei in New York City vorgesehen, um dem Polizeidienst, dieser verfluchten Fami-lientradition, zu entkommen.

Leider war es anders gekommen.Neben der Tastatur stand ein Glas Rotwein. Kat trank zu

viel. Sie wusste, dass das ganz dem Klischee entsprach. Poli-zisten, egal ob männlich oder weiblich, tranken zu viel. Aber manchmal sind diese Klischees eben nicht ganz grundlos entstanden. Sie funktionierte. Bei der Arbeit trank sie nicht. Es beeinträchtigte ihr Leben nicht merklich, aber wenn Kat spätnachts zum Telefon griff oder eine Entscheidung traf, war diese oft von einer gewissen, sagen wir, Nachläs-sigkeit gekennzeichnet. Im Lauf der Jahre hatte sie gelernt, das Handy auszuschalten und nach zehn Uhr abends keine E-Mails mehr zu schicken.

Aber jetzt saß sie spätnachts am Schreibtisch und sah sich wahllos Typen auf einer Partnervermittlungs-Webseite an.

Stacy hatte vier Fotos auf Kats Seite hochgeladen. Kats Profilbild, ein Porträt, war ein Ausschnitt aus einem Grup-penbild der Brautjungfern bei einer Hochzeit im letzten Jahr. Kat versuchte, es mit einem objektiven Blick zu betrachten,

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was ihr aber nicht gelang. Sie konnte das Foto nicht aus-stehen. Die Frau darauf sah unsicher aus, lächelte flau und wirkte, als rechnete sie damit, im nächsten Moment eine Ohrfeige zu bekommen oder so etwas. Als sie sich schließlich an das schmerzliche Ritual machte, sich sämtliche Fotos an-zusehen, stellte sie fest, dass es sich bei allen um Ausschnitte aus Gruppenbildern handelte – und dass Kat auf allen etwas verhuscht aussah.

Okay, Schluss mit ihrem eigenen Profil.Bei der Arbeit traf sie nur Polizisten. Sie wollte keinen

Cop. Cops waren gute Menschen, aber furchtbare Ehemän-ner. Das wusste sie nur zu gut. Als Oma unheilbar krank wurde, war Opa, der nicht damit zurechtkam, abgehauen und erst wieder aufgetaucht, als es … tja … zu spät war. Opa hatte sich das nie verziehen. Das war jedenfalls Kats Theo-rie. Er war einsam, und obgleich er für viele ein Held war, hatte er gekniffen, als es am wichtigsten gewesen wäre. Er hatte damit nicht leben können – und sein Dienstrevolver war immer zur Hand, dort auf dem obersten Regal in der Küche, wo er immer lag. Und irgendwann hatte Kats Groß-vater dort hineingegriffen, die Waffe heruntergenommen, sich allein an den Küchentisch gesetzt und …

Ka-boom.Dad war immer wieder auf Sauftour gewesen und für

mehrere Tage am Stück verschwunden. Mom hatte sich dann jedes Mal besonders fröhlich gegeben, was das Ganze nur noch gruseliger und unheimlicher gemacht hatte. Entweder behauptete sie, dass Dad in geheimer Mission unterwegs sei, oder sie ignorierte sein Verschwinden komplett und lebte ein buchstäbliches »Aus den Augen, aus dem Sinn«, bis Dad, vielleicht eine Woche später, frisch rasiert, mit einem brei-ten Lächeln im Gesicht und einem Dutzend Rosen für Mom

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wieder antanzte und alle so taten, als wäre das vollkommen normal.

YouAreJustMyType.com. Sie, die hübsche und kecke Kat Donovan, studierte die Seite einer Partnerbörse im Internet. Mannomann, keine Spur von wohldurchdachter Planung. Sie hob das Weinglas, toastete dem Bildschirm zu und trank einen kräftigen Schluck.

Leider war die Welt nicht mehr so eingerichtet, dass sie einem automatisch einen Lebenspartner präsentierte. Sex war etwas anderes. Das war kein Problem. Und genau das war auch die überwiegende Erwartungshaltung bei der Part-nerbörse, für jedermann leicht erkennbar, ohne dass darüber gesprochen wurde. Und obwohl Kat die fleischlichen Freu-den ebenso schätzte wie jede andere junge Frau, wusste sie doch genau, dass die Chance für eine langfristige Beziehung extrem sanken, wenn man mit jemandem zu früh ins Bett ging – ganz egal, ob es einem in dem Moment richtig oder falsch vorkam. Das war keine moralische Wertung. Das war einfach Fakt.

Ihr Computer piepte. Ein Nachrichtenfenster öffnete sich.

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Kat trank den Wein aus. Sie überlegte, ob sie sich noch ein Glas einschenken sollte, aber nein, es reichte. Sie ging kurz in sich und wurde sich einer offensichtlichen, wenn auch bisher unausgesprochenen Wahrheit bewusst: Sie wollte je-manden, mit dem sie ihr Leben teilen konnte. Zeit, sich das einzugestehen, okay? Sosehr sie ihre Unabhängigkeit auch schätzte, wollte Kat doch einen Mann, einen Partner, jeman-

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den, der nachts neben ihr lag. Sie schmachtete nicht danach, forcierte es auch nicht, gab sich wahrscheinlich nicht einmal viel Mühe, jemanden zu finden. Trotzdem war sie nicht fürs Alleinsein geschaffen.

Sie fing an, durch die Profile zu klicken. Man muss schon mitspielen, um gewinnen zu können.

Erbärmlich!Manche Männer konnte sie bereits nach einem kurzen

Blick aufs Profilfoto ausklammern. Ja, wenn man darüber nachdachte, war genau das der Schlüssel zum Erfolg. Das Profilbild, das der Mann sorgfältig ausgesucht hatte, war meist der erste, sehr bewusst gewählte Eindruck. Es sprach also Bände.

Daher: Wenn du die bewusste Entscheidung getrof-fen hast, einen Filzhut zu tragen, ist das ein automatisches Nein. Wenn du dich entschieden hast, kein Hemd zu tra-gen, ganz egal, wie gut du gebaut bist – ein automatisches Nein. Wenn du einen Bluetooth-Ohrhörer trägst – herrje, was bist du wichtig – automatisches Nein. Wenn du ein Un-terlippenbärtchen oder eine Weste trägst, blinzelst, irgend-welche Gesten mit den Händen machst, ein orangefarbenes Hemd anhast (persönliche Abneigung) oder die Sonnen-brille oben auf der Stirn balancierst – automatisches Nein, Nein, Nein. Wenn dein Profilname das Wort Hengst enthält oder Sexy-Smile, RichPrettyBoy, LadySatisfier lautet – Sie merken schon, worauf das hinausläuft.

Kat öffnete ein paar Seiten von Männern, die, in ihren Augen … zugänglich aussahen. Alle Texte strahlten eine trau-rige, deprimierende Gleichförmigkeit aus. Sämtliche Män-ner auf der Webseite liebten Strandspaziergänge, gingen gern essen, trieben Sport, unternahmen Fernreisen, gingen zu Weinproben, in Theater und Museen, waren aktiv, aben-

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teuerlustig und scheuten das Risiko nicht – gleichzeitig blie-ben sie aber auch gern zu Hause, um gemeinsam einen Film anzusehen, Kaffee zu trinken, sich zu unterhalten, zu kochen, ein Buch zu lesen und andere schlichte Freuden des Lebens zu genießen. Jeder Mann behauptete, die wichtigste Eigen-schaft, die er in einer Frau suche, sei ihr Sinn für Humor – sowieso, auf jeden Fall  –, was so weit ging, dass Kat sich fragte, ob »Sinn für Humor« eine Umschreibung für »dicke Titten« war. Natürlich beschrieb jeder Mann den bevorzug-ten Körperbau als sportlich, schlank und feminin.

Das klang schon richtiger, zeigte vielleicht sogar einen Anflug von Ehrlichkeit im Wunschdenken.

Die Profile entsprachen nie der Realität. Statt zu zeigen, wer man war, stellten sie wunderbare, wenn auch nutzlose Übungen dar zu beschreiben, wofür man sich hielt – oder wofür der potenzielle Partner einen halten sollte. Oder, was vielleicht noch wahrscheinlicher war, die Profile zeigten ein-fach (und ja, es wäre ein Fest für jeden Psychologen), wie man gerne wäre.

Fast jeder hatte ein persönliches Motto, und sie hätten un-terschiedlicher nicht sein können, aber wenn man sie alle in einem Wort hätte zusammenfassen wollen, träfe Melasse es wahrscheinlich am besten. Das erste Motto lautete: »Das Leben ist jeden Morgen wieder wie eine leere Leinwand, die darauf wartet, bemalt zu werden« … klick. Einige versuch-ten, Ehrlichkeit zu beschwören, indem sie mehrmals wie-derholten, dass sie ehrlich wären. Manche täuschten Auf-richtigkeit vor. Manche gaben sich hochtrabend, arrogant, unsicher oder bedürftig. Eigentlich wie im richtigen Leben, dachte Kat. Die meisten waren einfach zu bemüht. Wie bil-liges Parfüm verströmte der Computer-Monitor wabernde Wolken des Ruchs der Verzweiflung. Das allgegenwärtige

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Geschwafel über Seelenverwandtschaft war bestenfalls ab-törnend. Im richtigen Leben, dachte Kat, ist keiner von uns in der Lage, einen Menschen zu finden, mit dem er mehr als einmal ausgehen will, aber aus irgendeinem Grund glauben wir, dass wir auf YouAreJustMyType.com sofort die Person entdecken, mit der wir den Rest unseres Lebens verbringen wollen.

Wahnhaftes Verhalten? Oder starb die Hoffnung wirklich zuletzt?

Das war die andere Seite der Medaille. Es war leicht, zynisch zu sein und Witze zu reißen, aber wenn sie das Ganze mit ein wenig mehr Abstand betrachtete, wurde Kat etwas klar, das sie bis ins Mark traf: Hinter jedem Profil steckte ein Leben. Banal, ja, aber hinter jedem noch so klischee beladenen, Bitte-liebe-mich-Profil verbarg sich ein Mitmensch mit Träu-men, Zielen und Wünschen. Diese Leute hatten sich nicht umsonst angemeldet, Gebühren bezahlt und den Fragebogen ausgefüllt. Wenn man sich das überlegte: Jede einzelne dieser einsamen Personen war in der Hoffnung auf diese Internet-seite gekommen – hatte die Anmeldeprozedur erledigt und auf Profile geklickt –, dass es dieses Mal anders laufen würde, hoffte, allen Widrigkeiten zum Trotz, dass sie hier auf den einen Menschen stoßen würde, der am Ende der wichtigste Mensch ihres Lebens wurde.

Wow. Einen Moment lang drohte diese Erkenntnis sie zu überwältigen.

Kat hatte sich gedankenverloren mit relativ konstanter, vielleicht leicht zunehmender Geschwindigkeit durch die Profile geklickt. Die Gesichter der Männer – Männer, die sich in der Hoffnung angemeldet hatten, hier »die Eine« zu finden – verschwammen vor ihren Augen zu einer breiigen Masse, als plötzlich ein Bild daraus hervorstach.

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Ein, vielleicht zwei Sekunden lang traute sie ihren Augen nicht. Dann dauerte es noch eine Sekunde, bis der Finger aufhörte, die Maustaste zu bedienen, eine weitere, in der die Profilbilder langsam ausliefen und zum Stillstand kamen. Kat lehnte sich zurück und atmete tief durch.

Das war unmöglich.Während sie über die Männer hinter den Bildern sin-

nierte, über ihre Leben, ihre Bedürfnisse, ihre Hoffnungen nachdachte, hatte sie extrem schnell geklickt. Ihr Gehirn, das in Kats Job gleichermaßen ihre Stärke als auch ihre Schwä-che war, hatte sich mit den umherschweifenden Gedanken beschäftigt und sich nicht auf die Bilder vor ihr konzentriert, trotzdem hatte es das Wesentliche erfasst. In der Sprache der Strafverfolgungsbehörden bedeutete das, dass sie in der Lage war, Möglichkeiten wie Fluchtrouten, Alternativ-Szenarien oder eine versteckt lauernde Gestalt ausfindig zu machen, sowie Verdunkelungen, Hinderungsgründe oder Vorwände zu erkennen.

Es bedeutete aber auch, dass Kat das Offensichtliche manchmal übersah.

Sie fing an, langsam auf den Zurück-Pfeil zu klicken.Es war vollkommen unmöglich.Das Foto war nur kurz aufgeflackert. Die ganzen Gedan-

ken über wahre Liebe, einen Seelenverwandten, die eine Person, mit der man sein Leben verbringen wollte … wie sollte sie ihrer Fantasie vorwerfen, ihr einen Streich gespielt zu haben? Es war achtzehn Jahre her. Sie hatte ein paarmal mehr oder weniger betrunken seinen Namen gegoogelt, aber nur ein paar alte Artikel von ihm gefunden. Nichts Ak-tuelles. Das hatte sie überrascht, ihre Neugier geweckt – Jeff war ein toller Journalist gewesen –, aber was sollte sie ma-chen? Kat war zwischenzeitlich versucht gewesen, gründ-

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licher nach ihm zu suchen. Das wäre in ihrer Position ohne allzu großen Aufwand möglich gewesen. Aber sie mochte es nicht, ihre Verbindungen zu den Strafverfolgungsbehörden für private Zwecke zu nutzen. Natürlich hätte sie auch Stacy fragen können, aber auch da galt: Was sollte es bringen?

Jeff war weg.Einen Ex-Lover zu verfolgen oder auch nur zu googeln,

war einfach nur jämmerlich. Okay, Jeff war mehr als das ge-wesen. Viel mehr. Geistesabwesend fuhr Kat mit dem Dau-men über ihren linken Ringfinger. Leer. Das war er aber nicht immer gewesen. Jeff hatte um ihre Hand angehalten, hatte alles richtig gemacht. Er hatte ihren Vater um Erlaub-nis gefragt. Er war vor ihr niedergekniet. Nichts Kitschiges. Er hatte den Ring nicht im Dessert versteckt oder die Frage im Madison Square Garden an die Anzeigetafel schreiben lassen. Es war stilvoll, romantisch und traditionell gewesen, weil er wusste, dass sie es sich genauso gewünscht hätte.

Tränen traten ihr in die Augen.Kat klickte sich über den Zurück-Pfeil durch ein Pot-

pourri aus Gesichtern und Frisuren, durch die vereinten Nationen verfügbarer Junggesellen, dann stoppte ihr Fin-ger. Einen Moment lang starrte sie einfach mit angehalte-nem Atem auf den Monitor und traute sich nicht, sich zu bewegen.

Dann stieß sie einen leisen Schrei aus.Der zuvor tief verborgene Kummer war sofort wieder da.

Die alte Wunde fühlte sich so frisch an, als wäre Jeff gerade erst durch die Tür gegangen und nicht vor achtzehn Jahren. Ihre Hand zitterte, als sie sie zum Monitor ausstreckte und sein Gesicht berührte.

Jeff.Immer noch so verdammt attraktiv. Er war etwas gealtert,

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die Schläfen waren leicht angegraut, aber, Mann, das stand ihm gut. Kat hatte das nicht anders erwartet. Ihr war damals schon klar, dass Jeff zu den Männern gehören würde, die im Lauf der Jahre attraktiver wurden. Sie streichelte sein Ge-sicht. Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel.

Oh Mann, dachte sie.Sie versuchte, sich zusammenzureißen, versuchte, etwas

runterzukommen und die Dinge ins rechte Licht zu rücken, aber um sie herum drehte sich alles, und sie sah keine Mög-lichkeit, die Bewegung zu bremsen. Sie legte ihre noch im-mer zitternde Hand auf die Maus und klickte auf das Profil-bild.

Die nächste Seite öffnete sich. Da stand Jeff in einem Fla-nellhemd und Jeans, die Hände in den Taschen und mit so blauen Augen, dass man unwillkürlich nach dem Rand einer Kontaktlinse suchte. Er war sehr attraktiv. Sah so verdammt gut aus. Er wirkte fit und sportlich, und trotz allem mach-ten sich andere Regungen tief in Kats Innerem bemerkbar. Sie riskierte einen kurzen Blick ins Schlafzimmer. Sie hatte schon damals, als sie mit ihm zusammen war, hier gewohnt. Nach ihm waren andere Männer in diesem Schlafzimmer gewesen, aber nichts war dem Hochgefühl nahe gekommen, das sie mit ihrem Verlobten erlebt hatte. Sie wusste, wie sich das anhören musste, aber als sie mit Jeff zusammen war, hatte er alles in ihr zum Klingen gebracht. Es lag nicht an einer Technik, der Größe oder sonst irgendetwas. Es lag – so unerotisch das auch klang – am Vertrauen. Dieses Vertrauen hatte den Sex so umwerfend gemacht. Kat hatte sich bei ihm sicher gefühlt. Sie war selbstsicher, schön, furchtlos und frei gewesen. Er hatte sie zwar gelegentlich herausgefordert, die Kontrolle übernommen, aber sie hatte sich bei ihm nie ver-letzlich oder befangen gefühlt.

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Bei anderen Männern hatte Kat nie richtig loslassen kön-nen.

Sie schluckte und klickte auf den Link zum vollständigen Profil. Sein persönliches Motto war kurz und, wie Kat fand, perfekt: Lass uns sehen, was passiert.

Kein Druck. Keine grandiosen Pläne. Keine Bedingun-gen, Versprechungen oder hochgesteckten Erwartungen.

Lass uns sehen, was passiert.Sie klickte auf seinen Status. Im Lauf der letzten achtzehn

Jahre hatte Kat sich unzählige Male gefragt, wie es ihm er-gangen war. Die erste Frage war also naheliegend: Was war in Jeffs Leben passiert, dass er auf einer Internetseite für Singles gelandet war?

Andererseits: Was war in ihrem Leben passiert?Der Status lautete: Witwer.

Noch ein Wow.Sie versuchte, sich das vorzustellen – wie Jeff eine Frau

geheiratet, mit ihr zusammengelebt hatte, bis sie schließlich verstorben war. Der Gedanke ließ sie nicht los. Noch nicht. Sie sperrte sich gegen die Vorstellung. Das war okay. Mach einfach weiter. Es gab keinen Grund, sich länger damit auf-zuhalten.

Witwer.Dann ein weiterer Schock: Ein Kind.

Alter und Geschlecht waren nicht angegeben, aber das spielte natürlich auch keine Rolle. Jede Enthüllung, jede neue Information über den Mann, den sie einmal von gan-zem Herzen geliebt hatte, drohte ihre Welt erneut aus der Bahn zu werfen. Er hatte ein ganzes Leben ohne sie gelebt. Warum überraschte sie das? Was hatte sie erwartet? Ihre Trennung war sowohl plötzlich als auch unvermeidlich ge-wesen. Auch wenn er sie letztendlich verlassen hatte, war es

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doch ihre Schuld gewesen. Er war einfach verschwunden, ganz plötzlich, und mit ihm das ganze Leben, das sie ge-kannt und geplant hatte.

Jetzt war er wieder da, als einer von ein- oder zweihundert Männern, durch deren Profile sie sich geklickt hatte.

Stellte sich nur die Frage, wie sie damit umgehen sollte.

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Z W E I

Gerard Remington hatte nur wenige Stunden davor-gestanden, Vanessa Moreau einen Heiratsantrag zu

machen, als es um ihn herum schwarz wurde.Der Heiratsantrag war, wie so viele Dinge in Gerard

Remingtons Leben, sorgfältig geplant gewesen. Erster Schritt: Nach ausgiebiger Recherche hatte Gerard einen Ver lobungs ring gekauft: 2,93 Karat, exquisiter Schliff, Rein-heit VVS1, Farbe F, Platinring mit runder Fassung. Er hatte ihn bei einem namhaften Juwelier im Diamantenviertel in Manhattan gekauft – nicht in einem der überteuerten, grö-ßeren Läden, sondern an einem Stand weiter hinten an der Ecke zur 6th Avenue.

Zweiter Schritt: Ihre Maschine würde als JetBlue Flug Nummer 267 um 7 Uhr 30 am Bostoner Logan Airport ab-heben und um 11 Uhr 31 in St. Maarten landen, wo er und Vanessa in eine kleine Klapperkiste nach Anguilla umsteigen und um 12 Uhr 45 auf der Karibikinsel ankommen würden.

Schritt drei, vier etc.: Sie würden sich in der zweige-schossigen Villa vom Viceroy Anguilla Hotel mit Blick auf Meads Bay entspannen, sich kurz im hauseigenen Infinity-Pool erfrischen, sich lieben, duschen und sich anziehen und im Blanchards essen gehen. Das Abendessen war für 19 Uhr reserviert. Gerard hatte angerufen und eine Flasche von Vanessas Lieblingswein vorbestellt, einen Château Haut-Bailly Grand Cru Classé 2005, einen Bordeaux aus dem Ge-

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biet Pessac-Léognan. Nach dem Abendessen würden Gerard und Vanessa barfuß, Hand in Hand am Strand entlangspa-zieren. Er hatte im Mondphasenkalender nachgesehen und wusste, dass es beinahe Vollmond war. Einhundertachtund-neunzig Meter den Strand hinab (er hatte es ausmessen las-sen) stand eine schilfgedeckte Hütte, die tagsüber für den Verleih von Schnorcheln und Wasserski genutzt wurde. Nachts war sie leer. Ein örtlicher Blumenhändler würde die Vorderveranda mit einundzwanzig (die Anzahl der Wochen, die sie sich kannten) weißen Callas schmücken (Vanessas Lieblingsblume). Außerdem würde sie dort ein Streichquar-tett erwarten. Auf Gerards Stichwort würde das Quartett Somewhere Only We Know von Keane spielen, der Song, den Vanessa und er sich als den ihren erwählt hatten. Und weil beide Traditionen mochten, würde Gerard vor ihr nieder-knien. Gerard konnte Vanessas Reaktion vor seinem inne-ren Auge aufziehen lassen. Sie würde überrascht nach Luft schnappen. Tränen würden ihr in die Augen steigen. Sie würde erstaunt und erfreut die Hände vors Gesicht schlagen.

»Du bist in mein Leben getreten und hast es für immer verändert«, würde Gerard sagen. »Wie ein Superkatalysator hast du dieses einfache Stück Lehm in etwas unendlich Be-deutsameres, Glücklicheres und Lebensfroheres verwandelt, als ich es mir je hätte vorstellen können. Ich liebe dich. Ich liebe dich von ganzem Herzen. Ich liebe alles an dir. Dein Lächeln gibt meinem Leben Farbe und Struktur. Du bist die schönste und leidenschaftlichste Frau auf der Welt. Würdest du mich heiraten und mich damit zum glücklichsten Mann auf der Welt machen?«

Am exakten Wortlaut hatte Gerard noch gearbeitet – er musste perfekt sein –, als es um ihn herum schwarz wurde. Aber jedes Wort entsprach der Wahrheit. Er liebte Vanessa.

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Er liebte sie von ganzem Herzen. Gerard war nie ein großer Romantiker gewesen. Sein Leben lang hatten die Menschen ihn immer wieder enttäuscht. Anders als die Wissenschaft. Ehrlich gesagt war er immer am zufriedensten gewesen, wenn er allein war und Mikroben und andere Organismen bekämpft, neue Medikamente und Gegenmittel entwickelt hatte, um die Kriege gegen sie zu gewinnen. Er war voll-kommen zufrieden gewesen in seinem Labor bei Benesti Pharmaceuticals, wenn er an der Tafel eine Gleichung löste. In der Beziehung war er etwas altmodisch, wie seine jün-geren Kollegen immer wieder betonten. Er mochte die Ta-fel. Sie half ihm beim Denken, er mochte den Geruch der Kreide, den Staub, die schmutzigen Finger, die Leichtigkeit, mit der sich alles wieder wegwischen ließ, denn in der Wis-senschaft sollte nur Weniges ewig währen.

Ja, in diesen verlorenen, einsamen Momenten war Gerard am zufriedensten.

Zufrieden. Aber nicht glücklich.Seit er Vanessa kennengelernt hatte, war er das erste Mal

im Leben glücklich gewesen.Gerard öffnete die Augen und dachte an sie. Mit Vanessa

war alles bis in die zehnte Potenz erhöht. Keine andere Frau hatte ihn je geistig, emotional und, ja, natürlich, körperlich so bewegt. Keine Frau, die er kannte, würde das jemals kön-nen.

Er hatte die Augen geöffnet, doch die Dunkelheit blieb bestehen. Erst fragte er sich, ob er irgendwie doch noch zu Hause wäre, aber dafür war es viel zu kalt. Sein digita-ler Thermostat stand immer genau auf 21,9 Grad. Immer. Vanessa hatte ihn oft wegen seiner Präzision aufgezogen. Im Laufe seines Lebens hatten einige Leute Gerards Bedürfnis nach Ordnung für eine anale Fixierung oder sogar für eine

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Zwangsstörung gehalten. Vanessa hingegen verstand ihn. Sie schätzte es und betrachtete es manchmal sogar als Vor-teil. »Das macht dich zu einem großen Wissenschaftler und einem fürsorglichen Mann«, hatte Vanessa einmal zu ihm gesagt. Sie erläuterte ihm ihre Theorie, dass Personen, die wir heute als »etwas schräg« einordnen, in der Vergangen-heit die Genies in Kunst, Wissenschaft und Literatur gewe-sen waren, die wir inzwischen mit Diagnosen und Medika-menten zurechtstutzten, sie gleichschalteten und ihre Sinne abstumpften.

»Genie entspringt dem Ungewöhnlichen«, hatte Vanessa ihm erklärt.

»Und ich bin ungewöhnlich?«»Im allerbesten Sinne, mein Süßer.«Doch während ihm vor Erinnerung das Herz überging,

konnte Gerard doch den seltsamen Geruch nicht ignorieren. Es roch muffig, alt und moderig und wie …

Wie Erde. Wie frische Muttererde.Panik erfasste ihn. In der pechschwarzen Dunkelheit ver-

suchte Gerard, die Hände zum Gesicht zu führen. Es ging nicht. Seine Handgelenke waren gefesselt. Mit einem Seil oder, nein, etwas Dünnerem. Vielleicht Draht. Er versuchte, die Beine zu bewegen. Sie waren zusammengebunden. Er spannte die Bauchmuskeln an und versuchte, beide Beine nach oben zu schwingen, sie trafen jedoch auf etwas. Holz. Direkt über ihm. Als wäre er in …

Sein Körper fing an, sich vor Angst aufzubäumen.Wo war er? Wo war Vanessa?»Hallo?«, rief er. »Hallo?«Gerard versuchte, sich aufzusetzen, doch er konnte sich

nicht bewegen. Er wartete darauf, dass seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, aber es ging nicht schnell genug.

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»Hallo? Hört mich jemand? Bitte helfen Sie mir!«Er hörte etwas. Direkt über sich. Es klang wie ein Kratzen

oder Schlurfen oder …Oder Schritte?Schritte direkt über ihm.Gerard dachte an die Dunkelheit. Er dachte an den Ge-

ruch frischer Erde. Plötzlich kannte er die Antwort, auch wenn sie vollkommen unlogisch war.

Ich bin unter der Erde, dachte er. Ich bin unter der Erde.Dann fing er an zu schreien.

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D R E I

Kat wurde eher bewusstlos, als dass sie einschlief. Wie an jedem Wochentag weckte ihr iPod sie um

sechs Uhr morgens mit ihrem Lieblings-Zufallssong – an diesem Morgen war es Bulletproof Weeks von Matt Nathan-son. Es war ihr sehr wohl bewusst, dass sie in ebenjenem Bett schlief, in dem sie auch vor all den Jahren mit Jeff geschlafen hatte. Der Raum war immer noch mit dunklem Holz getä-felt. Der Vorbesitzer war Geiger bei den New Yorker Phil-harmonikern gewesen und hatte beschlossen, dass die kom-plette Fünfzig-Quadratmeter-Wohnung wie das Innere eines alten Schiffs aussehen sollte. Überall dunkles Holz und Bull-augen als Fenster. Jeff und sie hatten sich darüber amüsiert und alberne, doppeldeutige Bemerkungen gemacht, dass sie das Boot ins Schaukeln oder zum Kentern bringen würden, oder sie hatten nach einem Rettungsfloß gerufen.

In der Liebe konnte einen die Sentimentalität schon ein-mal überwältigen.

»Diese Wohnung«, sagte Jeff, »das bist so ganz und gar nicht du.«

Natürlich hatte er seine studentische Verlobte für freund-licher und fröhlicher gehalten als ihre Umgebung. Doch in-zwischen, achtzehn Jahre später, fand jeder, der ihre Bleibe betrat, dass sie perfekt zu Kat passte. Es war wie bei Ehepart-nern, von denen man sagt, dass sie sich im Lauf der Jahre immer ähnlicher werden, allmählich glich sie dieser Woh-

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nung. Kat überlegte, ob sie im Bett bleiben und noch eine Mütze Schlaf nehmen sollte, aber in einer Viertelstunde be-gann ihr Kurs. Ihr Lehrer, Aqua, ein winziger Transvestit mit schizophrener Persönlichkeitsstörung, akzeptierte allenfalls lebensbedrohliche Situationen als Grund fürs Nichterschei-nen. Außerdem könnte Stacy kommen, und Kat hoffte, ihr von diesen ganzen Entwicklungen in Sachen Jeff berichten zu können. Kat schlüpfte in die Yoga-Hose und das Träger-top, schnappte sich eine Flasche Wasser und ging zur Tür. Ihr Blick streifte den Computer auf ihrem Schreibtisch.

Ach, ein schneller Blick konnte nicht schaden.Die Homepage von YouAreJustMyType.com war noch

geöffnet, nach zwei Stunden Untätigkeit war Kat jedoch au-tomatisch ausgeloggt worden. Ein Fenster warb für ein »fan-tastisches Einführungsangebot« für »Neueinsteiger« (wer sonst käme für ein Einführungsangebot auch infrage?), das einen Monat unbegrenzten Zugang (was immer das bedeu-tete) mit diskreter Abrechnung (hä?) über die Kreditkarte für nur 5,74 Dollar bot. Glücklicherweise hatte Stacy ihr ein ganzes Jahr finanziert. Hurra!

Kat gab ihren Namen und das Passwort wieder in die ent-sprechenden Felder ein und drückte ENTER. Sie hatte in-zwischen Nachrichten von mehreren Männern, beachtete sie aber nicht. Sie ging direkt auf Jeffs Seite, die sie natürlich in ihren Lesezeichen gespeichert hatte.

Sie klickte auf ANTWORTEN. Ihre Finger lagen auf der Tastatur.

Was sollte sie schreiben?Nichts. Jedenfalls nicht sofort. Denk drüber nach. Die

Zeit wurde knapp. Der Kurs begann gleich. Kat schüttelte den Kopf, stand auf und verließ die Wohnung. Wie jeden Montag, Mittwoch und Freitag joggte Kat zur 72nd Street

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und ging dort in den Central Park. Der Bürgermeister von Strawberry Fields, ein Performancekünstler, der von den Trinkgeldern der Touristen lebte, war schon dabei, seine Blumen auf dem Mosaik zum Gedenken an John Lennon auszulegen. Er machte das fast jeden Tag, war aber selten so früh da. »Hey, Kat«, sagte er, und reichte ihr eine Rose.

Sie nahm sie. »Morgen, Gary.«Sie eilte über die obere Terrasse vom Bethesda. Der See

war noch ruhig – es waren noch keine Boote darauf –, aber das Wasser, das der Springbrunnen in die Luft sprühte, glänzte wie ein Perlenvorhang. Kat nahm den linken Pfad, der an der riesigen Hans-Christian-Andersen-Statue vorbei-führte. Wie jeden Morgen saßen Tyrell und Billy, die beiden Obdachlosen (wenn sie denn obdachlos waren, woher sollte sie wissen, ob die beiden nicht im San-Remo-Gebäude leb-ten und sich nur so kleideten), an einem Tisch und spielten, ebenfalls wie jeden Morgen, Gin Rommé.

»Toller Arsch, Mädel«, sagte Tyrell.»Deiner auch«, antwortete Kat.Tyrell war begeistert. Er stand auf, tanzte ein paar Schritte,

wackelte dabei kurz mit dem Hintern und klatschte sich mit Billy ab, wobei er seine Karten fallen ließ. Billy musterte ihn mit finsterem Blick.

»Heb die auf!«, schrie er.»Beruhig dich wieder, okay?« Dann zu Kat: »Yoga heute

Morgen?«»Ja. Wie viele sind da?«»Acht.«»Ist Stacy schon vorbeigekommen?«Als ihr Name fiel, nahmen beide Männer den Hut ab und

legten ihn respektvoll aufs Herz. Billy murmelte: »Herr, er-barme dich.«

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Kat runzelte die Stirn.Tyrell sagte: »Noch nicht.«Sie ging rechts weiter ums Conservatory Water herum.

Hier fanden schon so früh am Morgen Modellbootrennen statt. Hinter Kerbs Boathouse saß Aqua im Lotussitz. Seine Augen waren geschlossen. Aqua, das Produkt eines afroame-rikanischen Vaters und einer jüdischen Mutter, beschrieb seine Hautfarbe gern als Mokka-Latte mit einem Hauch Sahne. Er war zierlich und geschmeidig und saß jetzt voll-kommen bewegungslos da, ein Anblick, der im absoluten Widerspruch zu dem manischen Jungen stand, mit dem sie vor vielen Jahren befreundet gewesen war.

»Du kommst zu spät«, sagte Aqua, ohne die Augen zu öff-nen.

»Wie machst du das?«»Was? Mit geschlossenen Augen gucken?«»Ja.«»Das ist ein spezielles Geheimnis von uns Yogameistern«,

sagte Aqua. »Wir New Yorker Yogis nennen es linsen. Setz dich.«

Das tat sie. Kurz darauf stieß auch Stacy zur Gruppe. Aqua ermahnte sie nicht. Früher hatte Aqua den Kurs auf dem Great Lawn gegeben – bis Stacy auftauchte und ihre Geschmeidigkeit in der Öffentlichkeit präsentierte. Plötz-lich zeigten viele Männer ein enormes Interesse an Yoga. Aqua gefiel das nicht, also machte er aus der morgendlichen Gruppe kurzerhand einen reinen Frauenkurs, der versteckt hinter dem Bootshaus stattfand. Der für Stacy »reservierte« Platz lag direkt an der Mauer, sodass diejenigen, die aus der Ferne gaffen wollten, keine freie Sicht hatten.

Aqua führte sie durch eine Reihe Asanas. Jeden Morgen, ob es regnete, die Sonne schien, sogar bei Schnee, unterrich-

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tete Aqua an diesem Ort seinen Kurs. Er nahm keine feste Gebühr. Man gab das, was man für angemessen hielt. Er war ein wunderbarer Lehrer – informativ, freundlich, motivie-rend, aufrichtig und komisch. Er korrigierte deinen Nach

unten schauenden Hund oder den Krieger II mit einer leichten Berührung, die aber alles in einem bewegte.

Meistens verlor Kat sich in den Stellungen. Ihr Körper arbei tete schwer. Ihr Atem verlangsamte sich. Ihr Gehirn kapi tulierte. Im normalen Leben trank Kat, rauchte gele-gentlich eine Zigarre und ernährte sich schlecht. Ihr Job konnte ein reiner, unverschnittener Schuss Gift sein. Aber hier spülte Aquas besänftigende Stimme all das üblicher-weise davon.

Heute nicht.Sie versuchte loszulassen, sich dem Moment hinzugeben

und diesem ganzen Zen-Kram, der unsinnig klang, es sei denn Aqua sprach darüber, aber Jeffs Gesicht – das, das sie kannte, das, das sie gerade gesehen hatte – verfolgte sie. Aqua sah, dass sie abgelenkt war. Er beäugte sie misstrauisch und nahm sich etwas mehr Zeit als sonst, um ihre Stellungen zu korrigieren. Aber er sagte nichts.

Am Ende jedes Kurses, wenn die Schüler in der Totenstel-lung ruhten, belegte Aqua einen komplett mit seinem Ent-spannungszauber. Alles kapitulierte. Man dämmerte weg. Dann wünschte er allen einen gesegneten und besonderen Tag. Die Teilnehmer blieben noch kurz liegen, atmeten ein paarmal tief durch, die Fingerspitzen kribbelten. Langsam öffneten sie die Augen – wie Kat es jetzt machte –, und Aqua war verschwunden.

Kat erwachte langsam wieder zum Leben. Das galt auch für die anderen Schülerinnen. Schweigend rollten sie ihre Matten auf, waren kaum in der Lage zu sprechen. Stacy ge-

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sellte sich zu Kat, und gemeinsam gingen sie ein paar Minu-ten am Conservatory Water entlang.

»Erinnerst du dich an den Typen, mit dem ich so halb-wegs zusammen war?«, fragte Stacy.

»Patrick?«»Genau der.«»Der schien sehr nett zu sein«, sagte Kat.»Ja, ich musste ihm den Laufpass geben. Hab festgestellt,

dass er was richtig Übles macht.«»Was?«»Einen Spinning-Kurs.«Kat verdrehte die Augen.»Komm schon, Kat. Der Typ geht zu einem Spinning-

Kurs. Was kommt da noch, Kegeln?«Es war komisch, mit Stacy spazieren zu gehen. Nach einer

Weile fielen einem die Blicke und Pfiffe nicht mehr auf. Man war weder beleidigt, noch ignorierte man sie. Sie verschwan-den einfach. Kat konnte sich keine bessere Tarnung vorstel-len, als neben Stacy herzugehen.

»Kat?«»Ja.«»Verrätst du mir, was los ist?«Ein großer Mann mit Fitnessstudio-Muskeln, hervortre-

tenden Venen und zurückgegelten Haaren blieb vor Stacy stehen und senkte den Blick bis auf ihre Brust. »Hey, das ist ja ein echt gewaltiger Vorbau.«

Auch Stacy blieb stehen und senkte den Blick auf seinen Schritt. »Hey, das ist ja ein echt winziger Schwanz.«

Sie gingen weiter. Okay, vielleicht waren sie doch nicht ganz verschwunden. Stacy reagierte unterschiedlich auf An-näherungsversuche, je nach Art der Anmache. Aufgesetzten Mut, Pfiffe und jede Art von Ungehobeltheiten konnte sie

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nicht ausstehen. Die scheuen Typen, diejenigen, die ihren Anblick einfach bewunderten und sich daran erfreuten, an denen erfreute sich auch Stacy. Manchmal lächelte sie, winkte sogar, fast wie eine Berühmtheit, die etwas von sich preisgibt, weil es für sie nur eine Kleinigkeit ist und andere glücklich macht.

»Ich war gestern auf dieser Internetseite«, sagte Kat.Stacy lächelte: »Schon?«»Ja.«»Wow, das ging ja fix. Hast du zu jemandem Kontakt auf-

genommen?«»Nicht direkt.«»Was sonst?«»Ich habe dort meinen ehemaligen Verlobten entdeckt.«Stacy blieb mit weit aufgerissenen Augen stehen: »Sag das

noch mal.«»Er heißt Jeff Raynes.«»Moment. Du warst verlobt?«»Ist lange her.«»Aber verlobt? Du? So mit Ring und allem Drum und

Dran?«»Warum bist du so überrascht?«»Ich weiß nicht. Ich meine, wie lange sind wir jetzt be-

freundet?«»Zehn Jahre.«»Genau, und in der ganzen Zeit hast du nicht ein einziges

Mal an so etwas wie Liebe geschnüffelt.«Kat zuckte kurz die Achseln. »Ich war zweiundzwanzig.«»Mir fehlen die Worte«, sagte Stacy. »Verlobt. Du.«»Könnten wir diesen Teil jetzt beenden?«»Ja, okay, ’tschuldigung. Und gestern Nacht hast du sein

Profil auf der Internetseite entdeckt.«

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»Ja.«»Wie war seine Seite?«»Die Seite von wem?«»Wessen Seite.«»Was?«»Nicht die Seite von wem. Es heißt wessen Seite.« »Schade, dass ich meine Waffe gerade nicht dabeihabe«,

sagte Kat.»Was hast du, äh, Jeff geschrieben?«»Nichts.«»Bitte?«»Ich hab ihm nicht geschrieben.«»Wieso nicht?«»Er hat mich sitzen lassen.«»Ein Verlobter.« Wieder schüttelte Stacy den Kopf. »Und

du hast mir noch nie etwas von ihm erzählt? Ich komme mir vor, als hätte man mich übers Ohr gehauen.«

»Wieso das?«»Ich weiß nicht. Ich dachte immer, wenn’s um Liebe geht,

wärst du genauso eine Zynikerin wie ich.«Kat ging weiter. »Was denkst du wohl, wie ich zur Zyni-

kerin geworden bin?«»Punkt für dich.«Sie suchten sich einen Tisch im Le Pain Quotidien im Cen-

tral Park in der Nähe der West 69th Street und bestellten Kaffee.

»Tut mir wirklich leid«, sagte Stacy.Kat tat es mit einer Geste ab.»Ich habe dich auf der Internetseite angemeldet, damit du

dich flachlegen lassen kannst. Herrje, du musst dringend mal flachgelegt werden. Also, von allen, die ich kenne, bist du die-jenige, die am dringendsten mal flachgelegt werden muss.«

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»Tolle Entschuldigung«, sagte Kat.»Ich wollte keine bösen Erinnerungen heraufbeschwö-

ren.«»Ist keine große Sache.«Stacy sah sie skeptisch an. »Willst du darüber reden? Na-

tür lich willst du das. Ich bin neugierig wie nur irgendwas. Erzähl mir alles.«

Also erzählte Kat ihr die ganze Geschichte mit Jeff. Sie erzählte ihr, wie sie sich an der Columbia University ken-nengelernt hatten, wie sie sich verliebt hatten, wie es ihr vor-gekommen war, als wäre es für die Ewigkeit, wie leicht und richtig es sich angefühlt hatte, als er ihr den Heiratsantrag gemacht hatte, wie sich alles verändert hatte, als ihr Vater ermordet worden war, wie sie sich immer weiter zurückge-zogen hatte, wie Jeff sie schließlich verlassen hatte, wie sie zu schwach oder vielleicht zu stolz gewesen war, um ihn zu-rückzuholen.

Als sie fertig war, sagte Stacy: »Wow.«Kat trank einen Schluck Kaffee.»Und jetzt, fast zwanzig Jahre später, siehst du deinen

alten Verlobten auf einer Partnervermittlungsseite im Inter-net?«

»Ja.«»Single?«Kat runzelte die Stirn. »Viele Verheiratete sind da nicht

zu finden.«»Klar, logisch. Und wie sieht’s aus? Ist er geschieden? Hat

er wie du zu Hause gesessen und die ganze Zeit geschmach-tet?«

»Ich hab nicht die ganze Zeit geschmachtet«, sagte Kat. Dann: »Er ist verwitwet.«

»Wow.«

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»Hör auf mit diesem ›Wow‹. Du bist doch nicht mehr sie-ben!«

Stacy ignorierte den kurzen Ausbruch. »Er heißt Jeff, richtig?«

»Richtig.«»Gut. Als Jeff sich von dir getrennt hat, hast du ihn da

noch geliebt?«Kat schluckte. »Ja, natürlich.«»Glaubst du, dass er dich nicht geliebt hat?«»Offenbar nicht.«»Hör auf mit dem Quatsch. Denk darüber nach. Vergiss

mal für einen Moment, dass er dich sitzen gelassen hat.«»Das ist irgendwie schwierig. Ich gehöre zu den Frauen,

die finden, dass Taten mehr als Worte sagen.«Stacy beugte sich zu ihr. »Es gibt nicht viele Leute, die

die Kehrseite der Liebe und der Ehe deutlicher gesehen haben als meine Wenigkeit. So weit sind wir uns doch einig, oder?«

»Ja.«»Man erfährt viel über Beziehungen, wenn der eigene

Job gewissermaßen darin besteht, sie zu zerstören. Die Wahrheit ist aber, dass es in fast jeder Beziehung Bruch-stellen gibt. Jede Beziehung hat Risse und Sprünge. Das heißt nicht, dass sie bedeutungslos, schlecht oder unglück-lich ist. Wir wissen, dass alles in unserem Leben komplex ist und sich in Grau tönen abspielt. Aber irgendwie erwar-ten wir von unserer Beziehung immer, dass alles einfach und perfekt abläuft.«

»Das ist alles richtig«, sagte Kat, »ich versteh aber nicht, worauf du hinauswillst.«

Stacy beugte sich vor. »Als ihr beiden euch getrennt habt, hat Jeff dich da noch geliebt? Und komm mir jetzt nicht da-

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