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Inhalt Heimspiele Aus eins macht drei WALES Erfolge der Nationalelf beflügeln Träume nach Unabhängigkeit 76 Viel Gepäck KROATIEN Postjugoslawische Identitätssuche und Nationalismen prallen auf dem Balkan aufeinander 80 Eine allzu globale Idee ITALIEN Investoren kaufen Traditionsvereine auf – und ebnen so Ideen wie der Super League ihren Weg 86 Finnischer Mumm FINNLAND Zum ersten Mal sind die Skandinavier bei einer Euro dabei 92 Schön sauber bleiben ASERBAIDSCHAN Wo der Sport der Profilierung autokratischer Herrscher dient, bleibt für Gegenmeinungen kein Platz 96 Fußballträume in Istanbul TÜRKEI Afrikanische Immigranten auf der Suche nach der großen Fußballkarriere 102 Tore für das Klima HOLLAND Auch Jugendmannschaften denken den Sport zu Zeiten der Klimakrise neu 122 Noch lange nicht satt UNGARN Zwischen glorreicher Vergangenheit und einer komplizierten Gegenwart suchen ungarische Fans ihren Platz 126 Die Sommer unseres Lebens DEUTSCHLAND Das erste große Turnier deines Lebens vergisst du nie 132 Stoff für Geschichten Kein anderer Sport verwebt so viele Erzählungen miteinander wie der Fußball 10 Traumfänger Über Michel Platini, den manche einen Romantiker und andere einen Schurken nennen 16 „Alle Elemente, die den Fußball zähmen, verunreinigen ihn als Idee.“ Dieser Philosoph weiß schon heute, was das Morgen dem globalen Spiel bringen wird 22 Vorhang auf Corona und soziale Verwerfungen haben alles verändert. Über ein besonderes Fußballjahr 28 Ein großer Mann für kl eine Träume 1996 erklingt in London ein verboten abseitiger Song 34 Ein neues Spiel Auch der Fußball widmet sich der Rettung der Umwelt 40 Fan auf Serbisch Bilder von Fans, die ihren Sport trotz widriger Umstände lieben 44 Wenn Raben höher fliegen Menschen in Belarus stehen gegen Diktator Lukaschenka auf – ein kleiner Verein spielt eine besondere Rolle 58 Fußballwörter In jeder Sprache existieren eigene Fußballwörter. Wir haben einige gesammelt 64 Überall zu Hause Abel Xavier hat in acht Ländern gespielt – und ist doch vor allem für seine Frisuren berühmt 68

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InhaltHeimspiele

Aus eins macht drei

WALES

Erfolge der Nationalelf beflügeln Träume

nach Unabhängigkeit

76

Viel GepäckKROATIEN

Postjugoslawische Identitätssuche und Nationalismen prallen

auf dem Balkan aufeinander

80

Eine allzu globale Idee

ITALIEN

Investoren kaufen Traditions vereine auf – und ebnen so Ideen wie

der Super League ihren Weg

86

Finnischer MummFINNLAND

Zum ersten Mal sind die Skandinavier

bei einer Euro dabei

92

Schön sauber bleiben

ASERBAIDSCHAN

Wo der Sport der Profilierung autokratischer Herrscher dient, bleibt

für Gegenmeinungen kein Platz

96

Fußballträume in Istanbul

TÜRKEI

Afrikanische Immigranten auf der Suche nach der

großen Fußballkarriere

102

Tore für das KlimaHOLLAND

Auch Jugendmannschaften denken den Sport zu

Zeiten der Klimakrise neu

122

Noch lange nicht satt

UNGARN

Zwischen glorreicher Vergangenheit und einer komplizierten Gegenwart

suchen ungarische Fans ihren Platz

126

Die Sommer unseres Lebens

DEUTSCHLAND

Das erste große Turnier deines Lebens vergisst du nie

132

Stoff für Geschichten

Kein anderer Sport verwebt so viele Erzählungen

miteinander wie der Fußball

10

TraumfängerÜber Michel Platini, den manche

einen Romantiker und andere einen Schurken nennen

16

„Alle Elemente, die den Fußball zähmen, verunreinigen ihn als Idee.“

Dieser Philosoph weiß schon heute, was das Morgen dem

globalen Spiel bringen wird

22

Vorhang aufCorona und soziale Verwerfungen

haben alles verändert. Über ein besonderes Fußballjahr

28

Ein großer Mann für kleine Träume

1996 erklingt in London ein verboten

abseitiger Song

34

Ein neues SpielAuch der Fußball

widmet sich der Rettung der Umwelt

40

Fan auf SerbischBilder von Fans, die

ihren Sport trotz widriger Umstände lieben

44

Wenn Raben höher fliegen

Menschen in Belarus stehen gegen Diktator Lukaschenka auf – ein kleiner Verein spielt eine

besondere Rolle

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FußballwörterIn jeder Sprache existieren

eigene Fußball wörter. Wir haben einige gesammelt

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Überall zu HauseAbel Xavier hat in acht Ländern

gespielt – und ist doch vor allem für seine Frisuren berühmt

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EditorialHeimspiele

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Es hat wohl lange keine vergleichbare Zeit der Wirren für den Fußball gegeben wie die Monate vor der Europameisterschaft im Jahr 2021. Ob-wohl die allgegenwärtige Pandemie vielen Men-schen das Gefühl vermittelt, als hätte jemand auf einen Pausenknopf gedrückt und ihre Leben an-gehalten, wirkt sie auf den Fußball bisweilen wie ein Brandbeschleuniger.

Einige Vereine haben schon vor Corona aben teuerlich gewirtschaftet, aber die im Zuge der Pandemie ausbleibenden Einnahmen haben die Gründung einer Super League weiter forciert. Wir illustrieren, wie es so weit gekommen ist (Seite 87 ). Für einige Tage schien der Bruch der Fußball-welt denkbar, bis das Projekt – durch Druck der Anhängerschaft, der Verbände und der Politik – zurückgestellt, wenn auch nicht beerdigt wurde.

Auch hat es schon in der Zeit ausverkauf-ter Stadien eine Entfremdung mancher Fansze-nen von ihren Vereinen gegeben, da der organi-sierte Anhang die Kommerzialisierung und Ein-hegung seines Spiels nicht weiter mitmachen will. Nun haben sich viele Zuschauer vor dem heimischen Fernseher an leere Tribünen gewöh-nen müssen, ist der anfangs laut vernehmbare Ruf der organisierten Fans, nicht vor leeren Rängen weiterzuspielen, längst verstummt. Der Konflikt um die Seele des Spiels aber ist keinesfalls aus-gestanden.

Und nicht zuletzt hat die Pandemie vor der Europameisterschaft die politischen Bruch-stellen Europas offengelegt. Obwohl Corona auf dem gesamten Kontinent wütet, sind mit Bilbao und Dublin zwei Gastgeber ausgeschieden, weil sie keine Zuschauer in den Stadien garantieren konnten. Andere Städte haben Monate vor dem Turnier eine volle Auslastung versprochen, komme da, was wolle.

Sicher ist eine Europameisterschaft, die in ihrem Namen nicht die Zahl des Jahres trägt, in dem sie ausgetragen wird, kein gewöhnliches Turnier: Europameisterschaft 2020, ausgetragen 2021 – ein Turnier als Zeitmaschine. Dabei wäre es auch ohne die Pandemie ein besonderer Wett- bewerb geworden, schließlich wird er zum ersten Mal in ganz Europa ausgetragen – und mit dem Spielort Baku sogar in Asien. Nun aber soll die Euro nach rund anderthalb Jahren leerer Stadien nicht weniger als die Wiedergeburt des Fußballs als Zuschauersport werden.

Möglicherweise ist der Fußball mehr als der viel zitierte Spiegel der Gesellschaft, viel-leicht gar ein „Zukunftslabor“, wie uns der Philo-soph Wolfram Eilenberger im Interview (Seite 22 ) darlegt. Ob das für Europa nun eine gute Nach-richt ist, sei allerdings dahingestellt. Schließlich beschreibt Eilenberger etwa den Videobeweis als „Überwachungsfantasie“. Und gerade beim Fußball werden ja Fantasien und Träume wahr, hin und wieder auch die falschen.

Trotzdem bleibt der Fußball ein Spiel, das immer wieder Geschichten liefert, wie uns der Londoner Autor David Winner in seinem Essay erklärt (Seite 10 ). So liefert auch diese Euro schon im Vorfeld frische Erzählungen. Allein Nordmazedonien und Finnland (Seite 92  ), die beide zum ersten Mal bei einer Europameister-schaft antreten, schlagen neue Kapitel auf.

Natürlich machen die großen Themen der Gegenwart aber weder vor dem Fußball noch der Euro halt. Der geistige Vater des Turniers, der ehe -malige Uefa-Präsident Michel Platini, dem wir ab Seite 16 einen Text widmen, hat 2012 noch be-hauptet, dass die vielen verschiedenen Spielorte kein Problem darstellen würden, es gebe schließ-lich Billigflieger. Heutzutage würden wohl weder Funktionäre noch Politikerinnen die Umweltbelas-tung so nonchalant weglächeln. Wie der Fußball versucht, ökologischer zu werden, erfahren wir von Nicole Selmer (Seite 40 ) und am Beispiel einer Ju-gendmannschaft aus den Niederlanden (Seite 122 ).

Vor den ersten Geisterspielen haben viele Anhängerinnen, Wohlmeinende und Interessierte die Hoffnung geäußert, dass die heiß gelaufene Maschine Fußball abkühlt. All diese Rufe erklan-gen in den langen dunklen Monaten der Pande-mie immer leiser. Aber das muss nicht so blei-ben. Die Fans kehren nun nach langer Abwesen-heit in die Stadien zurück. In diesem Moment werden sie mehr Gehör finden als gewöhnlich.

NIK AFANASJEWRedaktion, n-ost

Sicher ist eine Europameisterschaft, die in ihrem Namen nicht die Zahl des Jahres trägt, in dem sie ausgetragen wird, kein gewöhnliches Turnier: Europameisterschaft 2020, ausgetragen 2021 – ein Turnier als Zeitmaschine.

FLIEGT FLIEGT EIN EIN BALL BALL

DURCH DURCH EUROPA...EUROPA...

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A N P F I

F F

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Stoff für Stoff für GeschichtenGeschichten

Menschen haben ihren geliebten Fußball lange romantisiert. Und tatsächlich hat er die Kraft zu immer neuen Erzählungen.

TextDAVID WINNER

IllustrationPAUL WAAK

Vor 15 Jahren begab ich mich auf eine einmonatige und 30.000 Meilen lange Reise, um Menschen beim Fernsehen zuzusehen. Es war 2006, der Som-mer der Weltmeisterschaft in Deutschland, und mir war aufgefallen, dass die Zehntausenden Fans bei großen Fußballspielen irgendwie irre levant geworden waren. Sie waren einfach nur das Stu -dio publikum. Aber kulturell, wirtschaftlich und politisch spielten die Millionen, die vor Bildschir-men saßen, eine viel wichtigere Rolle. Ich nahm an, dass die meisten Journalisten auf traditionelle Weise über die WM berichten würden, also über Spiele, Tore, Stars. Deshalb beschloss ich, etwas anderes zu machen.

Ich reiste nach Deutschland, um es dann gleich wieder zu verlassen, denn in Deutschland würde ich die globalen Auswirkungen des Turniers nicht spüren können. Ich flog also nach Berlin, fuhr mit der U-Bahn zum Olympiastadion, posierte für ein Foto und machte mich dann wieder auf den Rückweg zum Flughafen. Die nächsten vier Wochen verbrachte ich damit, mich dem Jet lag zu ergeben, während ich für mein Buch den Glo-bus umrundete und 14 Länder besuchte.*

2006 fühlt sich mittlerweile wie das ver-lorene Goldene Zeitalter an. Eine Zeit, bevor wir von Twitter oder Covid gehört hatten, als nicht notwendige Flugreisen moralisch noch irgend-

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Heimspiele

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wie akzeptabel schienen. Während dieses an-strengenden Monats befand ich mich beinahe im Delirium, erlebte aber schöne Momente. In Bue-nos Aires warf ich Konfettischlangen und sah Leute, die Teufelszeichen machten, um deutsche Elfmeterschützen abzuwehren. In Rom zog ein Nostradamus-ähnlicher Historiker Parallelen zwi-schen modernen Fußballfans und der alten Lei-denschaft für Wagenrennen, als noch rote, blaue, weiße und grüne Teams im überfüllten Circus Maximus gegeneinander antraten – einige Wo-chen später sollte Italien seinen Weltmeistertitel mit blau, rot, weiß und grün gekleideten Fans in den überfüllten Ruinen des Circus Maximus fei-ern. In einer Danziger Bar schloss ich mich pat-riotischen Polen an, als ihr Team gegen Ecuador verlor. Es gab Tränen, starre Blicke in die Leere und, fünf Minuten nachdem der Schlusspfiff ge-fallen war, trotzdem eine sehr feuchtfröhliche Party. „Es geht nicht um das Spiel“, erklärte mir der Bar-Besitzer, „sondern darum, dass wir alle zusammen sind.“

In Seoul blieb ich eine ganze Nacht mit einer halben Million junger Fans in rotem Hemd wach und aß mit einem koreanischen Profes- sor zu Mittag, der in die Zukunft schauen konnte. Ich werde gleich auf ihn zurückkommen.

Bevor ich mich auf die Reise begab, war ich davon ausgegangen, dass das Fußball-schauen von Land zu Land unterschiedlich sein würde. Ich stellte das Gegenteil fest. Unterschie- de in Sprache, Klima, Religion und politischer An-sicht schienen zu verschwinden, sobald ein Spiel begann. Fußball ermöglichte es uns, einen fikti-ven gemeinsamen Raum zu betreten, der völlig außer halb geografischer Kriterien liegt. Seither haben mich Natur und Mechanismus dieses Raums in ihren Bann gezogen. Es ist fast ein Klischee geworden zu behaupten, dass Fußball zur uni-versellen Sprache unserer Zeit geworden ist. Aber wie funktioniert diese Sprache genau? Das Spiel verkörpert ganz offensichtlich tiefe menschliche Dramen und spricht unsere Bedürf-nisse und Emotionen an. Aber was ist das Be-sondere am Fußball? Was hat er anderen Sport-arten wie Boxen, Baseball, Sumoringen oder eben Wagenrennen voraus?

2Fußball ist einfach genug, sodass auch

kleine Kinder das Spiel verstehen können, aber gleichzeitig auch unergründlich komplex, sodass selbst die anerkanntesten Experten dessen Rät-sel nicht zu lösen vermögen. Für diejenigen, die danach Ausschau halten, steckt das Spiel voller unerwarteter Zeichen und Wunder. Ist euch je-mals aufgefallen, dass der Strafraum zusammen mit dem D-förmigen Strafraum-Teilkreis einem rechteckigen Baukörper samt Kuppel von Sak-ralbauten ähnelt? Und hat schon jemand je die vielen Bedeutungen eines Tors zufriedenstellend erklären können? Ist es eine sportive Version des Orgasmus? Ein symbolischer „Tötungsakt“? Es gibt verschiedene Theorien, mit denen man den Einfluss des Fußballs auf uns erklären kann. Er ist eine Quasi-Religion; er erfüllt unser Stammesbe-dürfnis nach Zugehörigkeit; er verbindet uns mit unseren unbewussten Erinnerungen an unsere Vorfahren, die Jäger und Sammler.

Ich denke aber, dass der Reiz des Spiels in etwas Einfacherem wurzelt: seiner Kraft als niemals endende Geschichte.

Menschen brauchen Geschichten zum Leben. In seiner Poetik sagte Aristoteles, dass alle Dramen einen Anstoß, eine Halbzeit und ei-nen Schlusspfiff haben müssen. Na gut, eigent-lich sagte er, Geschichten brauchen „einen An-fang, eine Mitte und ein Ende“. Es läuft aber auf das Gleiche hinaus. Wie von Aristoteles empfoh-len, gibt es auch im Fußball Protagonisten und Antagonisten, wer hier welche Rolle einnimmt, hängt davon ab, welche Mannschaft ihr unter-stützt. Fußballkommentatoren und Journalisten aller Art sind das Äquivalent zum Chor, der uns durch die Erzählung führt. Sie fördern Themen wie Hybris, Nemesis und Pathos zutage, die den alten Griechen gefallen zu haben scheinen. Der-weil dauert ein Spiel so lange wie die meisten Filme. Die Halbzeitpause ähnelt der Pause zwi-schen den Akten im Theater und der Oper. 90 Minuten scheinen die ideale Länge für eine Geschichte zu sein: lang genug für Komplexität; kurz genug, um Eintönigkeit zu vermeiden.

Aus der täuschend einfachen Struktur eines einzelnen Fußballspiels kann sich alles Weitere entspinnen: ein riesiges Gebäude voller mit ein - an der verbundener, nie endender Geschi chten,

von Spielzeiten, Vereinsgeschichten, individuellen Lauf bahnen, kollektiven Erlebnissen, ja, ganzen Fankulturen.

Fußball passt auch gut zu anderen Kon-zepten von Geschichten. Alle Klubs, egal auf wel-chem Niveau, sind von der gleichen Erzählstruk-tur geprägt. Sie alle haben Gründerväter und lo-kale Helden, goldene und dunkle Zeitalter, Böse-wichte, Feinde, Triumphe, Erfolge. Unsere Sicht auf Fußballhelden erinnert an Joseph Campbells Buch Der Heros in tausend Gestalten. Campbell verglich religiöse Gründungsmythen aus allen Tei-len der Welt und stellte fest, dass sie alle die-selbe Grundstruktur hatten: Ein scheinbar gewöhn-licher, aber bemerkenswerter Junge (es ist nor-malerweise ein Junge ) aus einfachen Verhältnis-sen wird „vom Leben zum Handeln aufgerufen“, verlässt das Haus und begibt sich auf eine dra-ma tische Reise mit vielen Prüfungen und Aben-teuern. Er hat verschiedene Helfer, erleidet Nie-derlagen, feiert Siege und schenkt seinem Volk schließlich ein großes Geschenk oder einen „Se-gen“. Das Muster passt zu den Geschichten von Jesus, Moses und Buddha. George Lucas nutzte explizit Campbells Arbeit, um den Charakter von Luke Skywalker in Star Wars zu entwickeln. Und Fußballautoren setzen unbewusst die gleiche Bild- sprache ein, wenn sie großartige Spieler wie Pelé, Cruyff, Maradona, Zidane, Ronaldo, Messi und andere beschreiben.

Doch das vielleicht Wichtigste ist, dass die immer größer werdende globale Macht und Reich-weite des Spiels an seine Beziehung zum Fernse-hen gebunden ist – also einem weiteren Medium zum Erzählen von Geschichten. Früher waren Fernsehen und Fußball ein merkwürdiges Paar, aber jetzt sind sie miteinander verschmolzen. Ähnlich wie Jeff Goldblum und die Fliege in Die Fliege bilden die beiden nun einen einzigen uner-sättlichen Organismus. Sollten wir Angst haben, sehr viel Angst sogar? Es ist ein Organismus, der sicherlich unsere Beziehung zum Spiel verändert.

3In den frühen Jahrzehnten des Fernsehens

standen die Fußballorganisatoren dem neuen Me-dium mit Skepsis gegenüber, nur wenige Spiele wurden aufgezeichnet, geschweige denn live ge-zeigt. Heute wird jeder Moment eines Spitzen-spiels von Kameras erfasst. Vieles hat sich verän-dert seit den Tagen, als die einzige Möglichkeit, ein Spiel zu sehen, darin bestand, dabei zu sein. Aber in einem Stadion stehend oder sitzend nimmt jeder Zuschauer das Spiel verschieden wahr. Die TV-Darstellung des Spiels hingegen ist standardisiert – und leicht zu vermarkten.

Wegen Covid können wir das Spiel jetzt nur noch auf einem Bildschirm verfolgen, wo jedes Bild für uns ausgewählt wird. Wir sehen nur das, was uns der Regisseur zeigt.

Durch den Videoassistenten und Videobe-weis hat sich das Fernsehen vom Beobachter zum direkten Eingreifer in Spiele entwickelt. Das Fern-sehen hat sicherlich auch den Lokalpatriotismus geschädigt. Gibt es einen grundlegenden Unter-schied zwischen einem Liverpool-Fan in Kuala Lum-pur und in Liverpool selbst – jetzt, da wir alle die gleichen Bilder sehen? Bis zur Pandemie habe ich mich gefragt, ob soziale Medien, gestützt von neuen, allgegenwärtigen Mini-Bildschirm en auf Telefonen, dabei sind, eine der anderen Regeln von Aristoteles zu zerstören, nämlich dass ein Dra- ma die Einheit von Zeit, Ort und Hand lung braucht.

Schließlich kann das Verfolgen eines Spiels auf Twitter die Zeitleiste komplett durch-einanderbringen, bis das Spiel einem Film von Nicolas Roeg ähnelt. Ihr könnt beispielsweise zuerst sehen, dass euer Team ein Tor erzielt hat, und danach erfahren, dass es vom Videobeweis annulliert wurde. Jemand hat dann vielleicht einen Clip mit arabischen Kommentaren gepos-tet. Dann gibt es eine Rote Karte und alle auf Twitter streiten sich über sie. Die andere Mann-schaft gleicht aus und erzielt dann ein früheres Tor. Jetzt gibt es einen Elfmeter. Nach dem End-ergebnis kommen aktuelle Teamnachrichten he rein, die sich auf ein Ereignis Stunden zuvor beziehen.

Wer einen beliebigen Spielbericht aus al-ten Zeiten liest oder einen kurzen Highlight-Mit-schnitt anschaut, wird die Kluft zwischen sol-chen Konstrukten und der Komplexität und dem

Wie von Aristoteles empfohlen, gibt es auch im Fußball Protagonisten und Antagonisten.

* ZUERST AUF NIEDERLÄNDISCH ALS WELTCUP- AUSGABE 2006 VON HARD GRAS UNTER DEM TITEL DE HELE WERELD ZAG HET (DIE GANZE WELT SAH ES) UND SPÄTER AUF ENGLISCH ALS AROUND THE WORLD IN 90 MINUTES VERÖFFENTLICHT.

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Heimspiele Stoff für Geschichten

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Rhythmus eines tatsächlichen Spiels in voller Länge bemerken. Wie können wir dem Ganzen einen Sinn verleihen? Wir nehmen die chaotische Realität und ordnen sie in unserem Kopf nach vertrautem Muster – Helden und Bösewichte, Freu- de oder Verzweiflung, Status und so weiter. Der französische Filmregisseur Jean-Luc Godard sagte, eine Geschichte „sollte einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben – aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge“. Und in einem seiner Filme ließ er den früheren Hollywood-Regisseur Sam Fuller sein Medium auf eine Weise definieren, die, solange man sich daran erinnert, dass der sport-liche Tod eher symbolisch ist, auch für Fußball gilt: „Film ist wie ein Schlachtfeld“, sagte Fuller. „Liebe, Hass, Aktion, Tod. Mit einem Wort, Emotion.“

Ein Außerirdischer, der bei einem Fuß-ballspiel zuschaut, würde die Körperlichkeit der Bewegungen, die Farben der Trikots, die weißen Linien und Grünflächen sowie die Architektur der Umgebung bemerken können. Wenn wir dasselbe Spiel sehen, von unserem Chor geführt, dann se-hen wir Geschichten. Und was hat das alles mit der Euro 2020 zu tun? Wir befürchten, dass die Pandemie den Fußball auf eine unwiederbringli-che Art gebrochen hat. Sie hat immerhin die Ge-sellschaft, die Wirtschaft und unser persönliches Leben verändert. Wir wissen, dass viele kleine Klubs und vielleicht sogar ganze Verbände plei-tegehen werden. Die televisuelle Dominanz der Premier League hat bereits große Teile des loka-len und nationalen Fußballs in Afrika und Asien lahmgelegt. Die größten Vereine und mächtigs-ten Fußballgremien werden ihre Dominanz aus-weiten. Und selbst wenn Fans wieder in die Sta-dien dürfen, fällt es schwer, sich ihre Rückkehr ausgelassen vorzustellen. In der Zwischenzeit hat das spanische Fernsehen nicht nur mit künst-licher Geräuschkulisse experimentiert, sondern auch mit virtuellen Fans.

4Aber hat Covid dem Spiel seine Fähigkeit

genommen, eine Geschichte zu erzählen, die sich aus sich selbst generiert und nie aufhört? Das ver-gangene Jahr ist ein ziemlich eindeutiger Beweis dafür, dass dies nicht der Fall ist. Vielleicht er-innert ihr euch noch an den ersten Monat im Lockdown. Fast genauso schnell wie Live-Fußball überall, bis auf Belarus, eingestellt wurde, zogen minderwertige YouTube-Live-Streams von Spielen zwischen Teams wie Shakhtyor Soli-gorsk und Neman Grodno ein großes globales Pu-blikum an. Der Fußball war schrecklich anzusehen, aber das Drama funktionierte gut genug, selbst mit Mannschaften, von denen wir wenig wussten.

Die belarussische Liga erhielt sicherlich mehr internationale Aufmerksamkeit als die gestoh- lene Präsidentschaftswahl des Landes im August.

Tatsächlich haben mir diese Spiele in Weiß-russland nicht gefallen. Ich befürchtete, dass Spie-ler ohne Covid-Schutz erkranken könnten, nur um mich zu unterhalten. Ich floh stattdessen in die Ver-gangenheit und wurde nach vergangenem Fußball süchtig. Ich kombinierte das Virtuelle mit Ersatz-Zeitreisen und genoss dabei besonders eine Serie von ganzen Spielen zwischen England und Schottland aus den 1960er-Jahren. Ich war von der Langsamkeit und der antiquierten Taktik der Spiele fasziniert, aber komplett in den Bann gezo-gen und erstaunt, wie gut die Geschichte funktio-nierte, genauso gut, als hätte ich live zugesehen.

So oder so fand Fußball bald einen Weg, trotz der Pandemie weiterzumachen. Und die neuen Bedingungen haben faszinierende Mög-lichkeiten geschaffen. Als die Bundesliga vor der Premier League startete, fand ich mich in ein em Zoom-Chat mit einem Freund in Washington DC wieder, um gemeinsam Spiele von Eintracht Frankfurt zu schauen. Die Euro 2020 wurde ver-schoben, aber die späteren Runden der Cham-pions League, die alle an einem Ort gespielt wur-den und wie eine Mini-Weltmeisterschaft ablie-fen, waren mitreißend.

Wir haben uns seither überraschend rei-bungs los an die neue Normalität angepasst. Künstliche Stadiongeräusche mit Fanjubel schei-nen nicht länger unnatürlich. Das Interesse am Fußball wurde wiederhergestellt. In den diversen Formen des Lockdowns mag Fußball sogar noch

wichtiger geworden sein, in seiner Funktion als gemeinsame Geschichte. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass das Fernsehpublikum Eu-ropas der verspäteten Euro 2020 mit weniger In-tensität begegnen wird, als dies unter alten Be-dingungen der Fall gewesen wäre. Jedes Spiel hat das Potenzial, Jock Steins berühmte Zeile zu widerlegen: „Fußball ist nichts ohne Fans.“

Wohin führt uns das alles? Es scheint, dass Covid einen bereits eingesetzten Wandel einfach beschleunigt hat. Und ich erinnere mich an ein Gespräch vor 15 Jahren mit Dr. Hongik Chung, Professor für Kulturpolitik an der Graduate School of Public Administration an der Seoul Na-tional University. Ich sprach mit ihm über meine Vorstellungen von Fußball als einem fernsehver-mittelten Phänomen, aber er ging sogar noch weiter. Er prognostizierte, dass Sport innerhalb von 20 Jahren zur reinen Geldmachmaschine und an der Spitze von neuen softwarebasierten Unterhaltungsindustrien stehen würde, die zu-nehmend an Bedeutung gewinnen. Fußball, er-klärte er, produziere kein greifbares Material. Fußball produziere einfach Bilder für das Fern-sehen, das bereits zum wichtigsten Ort für den „Konsum“ des Sports geworden sei. Er sagte zu Recht vorher, dass sich dies in Zukunft noch ver-stärken würde.

Wir haben das Spiel früher in romanti-sch em Licht und als eine instinktive und höchst körperliche Sache betrachtet: rasende Leiber, dicht gedrängte Menschenmengen mit einem Wort: Emotionen. Aber Dr. Hongik Chung hat das alles durchschaut. Das Spiel war bereits dabei, zu einem immateriellen und programmierbaren Unterhaltungsgut zu werden. „Fußball ist Soft-ware“, sagte er mir. „Das ist die Zukunft.“

DAVID WINNER IST JOURNALIST UND AUTOR. SEINE BÜCHER BRILLIANT ORANGE UND THOSE FEET WURDEN FÜR DAS WILLIAM HILLSPORTS BOOK OF THE YEAR NOMINIERT.Übersetzt von Kristina Moorehead

Ein Außerirdischer, der bei einem Fußballspiel zuschaut, würde die Körperlichkeit der Bewegungen, die Farben der Trikots sowie die Architektur der Umgebung be merken können.

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Heimspiele Stoff für Geschichten

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FFÄÄNNGGEERR

Platini

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Euro

1984

Michel Platini ist bester Laune. Der Franzose lei-tet noch Europas Fußballverband Uefa, als er im Juli 2012 auf einem Pressepodium in Kiew sitzt. Eigentlich soll der Präsident nur Bilanz ziehen zur Europameisterschaft in Polen und der Ukraine. Doch auch mit 57 Jahren hat sich der Lebemann Platini diese leuchtende, kindliche Freude in sei-nen Augen bewahrt, mit der er als Mittelfeldgenie bei Juventus Turin und in Frankreichs Nationalelf einst Gegenspieler genarrt hat.

Er habe in den vergangenen Wochen „viel Wodka getrunken“, scherzt Platini. „Das ist hier ein lokales alkoholisches Getränk.“ Dann macht er vor der versammelten Presse offenbar einen weiteren Witz: „Wie wäre es, wenn wir die Euro 2020 nicht in einem Land oder in zwei Ländern veranstalten – sondern in ganz Europa?“ Aufruhr im Saal. „Ja, das dachte ich mir“, feixt Platini, „dass da die Köpfe nach oben gehen.“ Eventuell meint er es doch ernst.

Anlass ist das 60-jährige Jubiläum der Europameisterschaft, deren erstes Turnier 1960

in Frankreich stattgefunden hat. „Wir spielen in zwölf Städten in zwölf verschiedenen Ländern“, fährt der Präsident fort, „dann muss jedes Land nur noch ein Stadion und einen Flughafen bauen.“ Das sei doch eine großartige Idee in wirtschaft-lich schwierigen Zeiten. Müssten dann nicht Fans zwischen Lissabon, Cardiff und Tiflis hin- und herfliegen?, wendet jemand ein. „Es gibt Billig-Airlines, das ist doch heute kein Problem mehr“, beruhigt Platini, aber der Saal will sich nicht be-ruhigen. Frage um Frage prasselt auf ihn ein. Der Visionär hebt entschuldigend Hände und Augen-brauen. „Leute, es ist nur eine Idee! Vielleicht lassen wir es ja auch bleiben!“

Am Ende ist aus dem vermeintlichen Witz Wirklichkeit geworden, nur anders als Michel Platini es sich vorgestellt haben dürfte. Die EM findet erst 2021 statt, unter ganz anderen Vor-zeichen. Und ihr Erfinder ist längst nicht mehr Uefa- Präsident: Platini wurden 2015 alle Aktivi-täten im Fußball für vier Jahre untersagt. Er soll illegale Zahlungen angenommen haben. Der da-

Michel Platini war als Spieler eine grazile Wucht, als Funktionär Erfinder

der EM auf dem ganzen Kontinent. Nun wird er nicht einmal die Spiele

besuchen. Über einen, der sich nicht immer verstanden fühlte.

VonDOMINIK BARDOW

TTRRAAUUMM

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dürfen und Tritte von hinten mit Rot geahndet werden. Beides sollte dem von ihm stets so ge-liebten schönen Spiel zugutekommen. Diese beiden Erfolge hätten ihn „überzeugt, dass ich echten Einfluss ausüben konnte, ohne Fußball-schuhe anzuziehen und Tore zu erzielen“, schreibt Platini. Er habe verstanden, dass der Fußball Vi-sionen benötige, um seine universelle Magie zu behalten. „Ich war 35 Jahre alt und spürte, dass ich eines Tages diese Rolle ausfüllen könnte.“

So habe er sich also nach seiner Wahl zum Uefa-Präsidenten 2007 vor allem seinen Vi-sionen gewidmet: Er bezog kleinere Verbände mehr ein, durch die Aufstockung der Euro, der Erfindung der Nations League und bei den Klubs der Erweiterung der Europapokal-Wettbewerbe. Er sorgte durch Financial Fairplay für mehr Chan-cengleichheit zwischen armen und reichen Ver-einen Europas. Nun, zumindest aus seiner Sicht. Und wehrte sich leidenschaftlich gegen die Ein-führung eines Videoschiedsrichters. „Man muss den Zauber dieses Sports bewahren in all seiner Zufälligkeit und Imperfektion“, schreibt Platini. „Während meiner Uefa-Präsidentschaft, auch wenn nicht alles perfekt war, habe ich versucht, ein Gleich gewicht zu finden zwischen dem Spiel und dem Geschäft.“ Nicht alle seine Entscheidungen aus dieser Zeit passen zu dieser These, etwa sein Votum für die WM 2022 in Katar.

Aber vielleicht finden auch seine Kritiker heraus, dass Michel Platini im Grunde ein ent-täuschter Romantiker war, ein wahrer Europäer, mit all seinen kleinen Imperfektionen.

Er selbst, schreibt er, grolle nicht nach seiner Suspendierung durch die Fifa – und füllt dann 240 Seiten mit Groll. „Ich habe mich nie suspendiert gefühlt. Niemals!“ Keine Organisa-tion könne ihn davon abhalten, „Fußball zu at-men, zu leben, zu sein“. Trotzdem fühlte sich seine Sperre an, als habe der Schiedsrichter ihm ohne Grund die Rote Karte gezeigt.

Mit mittlerweile Mitte 60, schreibt Platini, führe er ein ruhigeres Leben, voller Gelegenheit zur Reflektion. Er gehe ins Theater, auf Reisen, habe sich die Zeit genommen, sich Zeit zu neh-men, für Spaziergänge in den Schweizer Bergen und für die Enkel. Ihnen sehe er vergnügt beim Fußball zu, nur im Fernsehen schaue er weniger Spiele. Wenn man selbst diese Turniere organi-siert habe, „ist es eine Frustration dazu verurteilt zu sein, sie vom Sofa aus zu verfolgen“. Zumin-dest dieses Schicksal wird Michel Platini bei die-ser Euro mit vielen Fans aus ganz Europa teilen.

DOMINIK BARDOW IST EIN JOURNALIST AUS BERLIN. ER WAR VIELE JAHRE SPORT-REPORTER MIT DEM SCHWERPUNKT AUF FIFA UND UEFA.

malige Präsident des Weltverbandes Fifa, Sepp Blatter, soll Platini zwei Millionen Schweizer Franken zugeschustert haben, wofür die Fifa beide sperrte. Noch anderthalb Jahre nach Ab-lauf der Sperre Ende 2019 kämpft der Franzose weiter um seinen Ruf, legt Einsprüche ein, macht Aussagen gegenüber Staatsanwälten. Es geht ihm um sein Lebenswerk.

Kritik gab es an dieser Euro schon immer. „So einer Europameisterschaft fehlen Seele und Herz“, sagte auch Blatter 2013 in einem Interview mit dem Kicker. „Ein Turnier gehört in einem Land gespielt, dadurch schafft man Identität und Euphorie.“ Der Tagesspiegel kommentierte 2016: „Turnierfeeling wird sich so nicht einstellen, viel eher macht die Uefa die EM endgültig zu einem Fernsehevent.“ All jene, die eigentlich zu den Spielen fahren, würden das Turnier nun zu Hause vor dem Fernseher verfolgen, wohl oder übel. Und das alles noch vor Corona.

Wer diese Europameisterschaft verste-hen will, muss ihren Erfinder verstehen. Was trieb Platini? War es der europäische Gedanke? Ro-mantik? Wirtschaftliche Zwänge? Sportpolitik?

„Die Journalisten sahen mich verblüfft an, als wäre ich verrückt geworden. Aber mir war es noch nie so ernst. […] Wir würden diesmal die Euro zu den Fans bringen statt die Fans zur Euro. Eine EM für Europa. Ein glückliches Turnier für alle Länder und Städte, die nie die Chance hatten, ei-nes auszutragen.“ So schreibt es Platini selbst, beziehungsweise lässt es schreiben, in seinem Ende 2019 erschienenen Buch „Entre Nous“, was übersetzt „Unter Uns“ bedeutet. Auf 240 Seiten, bisher nur auf Französisch und Italienisch er-schienen, gibt der geschasste Präsident Einblick in sein Denken und seinen Werdegang als Funkti-onär. Sozusagen eine Fortsetzung seiner 1987 er-schienenen Biografie „Ma vie comme un match“ („Mein Leben als Spiel)“, in der er seine Karriere als Spieler Revue passieren ließ. Man erfährt, wie aus dem Europameister von 1984, der so viele Fans verzückte, ein umstrittener Funktionär wurde. Und dass ihn bei diesen beiden Karrieren doch die gleichen Gefühle antrieben.

„Eines Tages, als ich meinem Freund Pierre Lescure meine mangelnde Lust am Lesen anvertraute“, schreibt Platini, „hörte ich diesen herrlichen Satz: ‚Aber Michel! Du musst gar nicht lesen. Dein Leben ist doch schon ein Roman.‘

Pierre hatte recht.“ In aller Bescheidenheit fügt er hinzu: „Ein Roman, in dem ich schon alle Rol-len eingenommen habe: Fußballer, Nationaltrai-ner Frankreichs, Organisator der Weltmeister-schaft 1998, Uefa-Präsident. Eine einmalige Kar-riere. [...] Eine Existenz, die ich jeden Morgen schätze, wenn sich der majestätische Mont Blanc vor meinen Augen entfaltet.“

Umso mehr, das liest man bei Platini, schmerzt ihn in seinem Schweizer Exil die Aus-bootung aus seinem Amt. So zitiert er im Vorwort den Philosophen Montesquieu: „Es gibt keine grausamere Tyrannei als diejenige, die im Schat-ten des Gesetzes und mit den Farben der Ge-rechtigkeit ausgeübt wird.“ Platini unterhält den Leser in der Folge mit vergnüglich vorgetragener Verbitterung. Man möchte denken: Es existiert auf dieser Welt wohl keine herrlichere Sprache für Sticheleien als Französisch.

So schreibt Platini über Blatter: „Mit Sepp war das Verhältnis nie einfach. Ich glaube, dass er mir gegenüber einen doppelten Komplex kulti-viert: jenen der Überlegenheit, wenn er mich für dumm verkaufen wollte, und jenen der Unterle-genheit, wenn er meine Spielerkarriere und meine Popularität beneidet. Ein Syndrom der Anziehung-Abstoßung, das an Schizophrenie grenzt.“ Sei-nem einstigen Ziehvater wirft Platini vor, er habe ihn mit in den Abgrund gezogen bei der Affäre um das Schmiergeld. Aus Platinis Sicht habe es sich nur um ein verspätetes Honorar gehandelt.

Ein wenig erinnert die Lektüre an die Me-moiren von Napoleon Bonaparte, den großen französischen Eroberer, der Europa mit neuen Ideen verändern wollte und ein bitteres Ende im Exil auf der Insel St. Helena fand. Was die Bü-cher von Napoleon und Platini verbindet, ist, dass nur wenige sie gelesen haben dürften. Das ist schade. Denn Michel Platini entwirft schöne Sprachbilder, inszeniert sich als Gegenentwurf zu all den Technokraten und Intrigenspinnern im Weltfußball, in dem es nur noch ums Geschäft gehe. Warum nur, Michel, möchte der Leser ihm zurufen, hast du es nicht gelassen? Du hättest eine viel bewunderte Legende bleiben können.

Platini beschreibt sein Erweckungserleb-nis als kommender Funktionär. 1990 habe er in einer Arbeitsgruppe der Fifa gegen die konser-vativen Regelhüter durchgesetzt, dass Torhüter keine Rückspiele mehr mit der Hand aufnehmen

PLATINI IN SEINEM ERSTEN JAHR ALS UEFA-P

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N 20

07, F

OTO: VAHAN STEPANYAN

1918

Heimspiele

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KLEINEFU

SSBALLGESCHICHTE

Illustration RENÉ STAEBLER

Text JACOB SWEETMAN

DER BEKANNTESTE NAME IM BELGISCHEN FUSSBALL IST NICHT MIT EINEM MOMENT AUF DEM SPIELFELD, EINER RETTENDEN GRÄTSCHE

ODER EINEM LEICHTFÜSSIG-TÄNZELNDEN SOLO DURCH DIE GEGNERISCHE VERTEI-

DIGUNG VERBUNDEN. TATSÄCHLICH ERZIELTE JEAN-MARC BOSMAN IN SEINER KARRIERE

LEDIGLICH VIER TORE. ABER SEIN SIEG VOR DEM EUROPÄISCHEN GERICHTSHOF BEDEUTETE, DASS FUSSBALLER KÜNFTIG

OHNE ABLÖSE WECHSELN DURFTEN, WENN IHR VERTRAG AUSGELAUFEN WAR.

STATT DER VEREINE WURDEN DIE SPIELER REICH UND REICHER. BOSMAN HAT DAS SPIEL MEHR VERÄNDERT ALS FAST JEDER ANDERE.

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Heimspiele

„ALLE ELEMENTE,

DIE DEN FUSSBALL ZAHMEN,VERUNREI-

NIGEN IHN ALS IDEE.“

--

InterviewNIK AFANASJEW

Philosoph Wolfram Eilenberger mag den Videobeweis nicht, erwartet die finnischen Fans als große Überraschung des Turniers – und warnt vor einer „Basketballisierung“ des Fußballs.

HERR EILENBERGER, VIELE MEN-SCHEN ERFAHREN DIE GEGENWART ALS DAUERKRISE. WELCHE ROLLE KANN DER FUSSBALL IN DIESER ZEIT SPIELEN?Wenn eine der Grundfragen unserer

Gesellschaft die nach Einheit und Vielheit ist, nach dem „Ich“ und dem „Wir“, also auch danach, wie sich Einzelne in ein Kollektiv ein-finden, dann macht der Fußball ein spezielles integratives Angebot.

INWIEFERN?Er ist ein Spiel, das wie keine andere

Sportart für jede Form von Individualität einen Platz oder eine Funktion findet.

WEIL SOWOHL DIE KLEINE DRIBB-LERIN ALS AUCH DER SCHLACKSIGE KOPFBALLSPIELER GEFRAGT SIND?Ja. Zudem ist der Fußball ein Spiel,

das Unvermögen statt Vermögen inszeniert. Die Herausforderung besteht darin, mit einer Extremität, die dafür denkbar ungeeignet ist, einen Ball zu kontrollieren. Wir sehen beim Fußball Menschen dabei zu, wie sie eine unmögliche Herausforderung nicht bewälti-gen. Das ist der Kern der Sache!

DER FUSSBALL ALS PERMANENTES SCHEITERN?Auf dem Feld erzeugen die Spieler

beständig mehr Komplexität, als sie bewältigen können. Und das ist für die meisten Menschen ja eine Grunderfahrung unserer Zeit der stän-digen Kontrollillusionen und des damit immer auch einhergehenden Kontrollverlusts. Im Medium des Ballspiels wird diese Erfahrung intensiv erfahrbar, ohne unmittelbar auf unser Alltagsleben durchzuschlagen.

WAR ES FRÜHER WIRKLICH ANDERS?Dass gerade Mannschaftsballsport­

arten zu den zentralen leiblichen Medien der Moderne geworden sind, ist keineswegs selbstverständlich. In der heutigen Form gibt

es sie schließlich erst seit maximal 200 Jahren. Sie sind damit gleichursprünglich mit der europäischen Moderne und ihrer Metropolen-erfahrung. Es existiert eine Bestimmung dieser Moderne nach dem Dichter Charles Baudelaire, die vor allem das Kontingente, Unverfügbare, Episodische benennt. Wenn das die zentralen Eigenheiten der Großstadterfah-rung sind, dann spiegelt sie der Fußball mit seiner Ästhetik der Unverfügbarkeit. Das ist wohl der Sinn des Satzes: „Fußball ist unser Leben.“

VERÄNDERT SICH DIE STATIK DIESER WECHSELWIRKUNG DURCH DIE GEGENWÄRTIGE PANDEMIE?Nicht grundsätzlich. Die Pandemie zeigt

uns als Ausgesetzte innerhalb eines Zusammen-hangs, den wir nicht kontrollieren. Das tut der Fußball auch. Wann immer der Mensch über-fordert ist, ist der Fußball ein Medium, das für ihn da ist.

EIN MEDIUM DER ABLENKUNG?Spiele öffnen gerade in großen Krisensituatio-nen Fenster und Horizonte der Hoffnung. Es ist also mehr als Ablenkung. Ablenken kann man sich mit vielen Dingen. Aber gerade in diesen Zeiten ist der Fußball ein Geschenk, in dem das Alltagsvertraute und damit Beruhigende mit dem Offenen und Intensiven einhergeht.

ABER DAS SPIEL SELBST VERÄNDERT SICH DURCH DIE LEEREN ARENEN.Es tritt nun klarer hervor, dass das

Ereignis auf dem Rasen nur ein Teil des Gesamterlebnisses ist. Und dass es verarmt, sofern die Zuschauer nicht präsent sind und das Ereignis nicht mit ihrer Präsenz anreichern. Untersuchungen haben ja ergeben, dass Gegenspieler ohne Zuschauer später angelau-fen werden. Eine gewisse Aggressivität fehlt.

SEHEN WIR NUN VIELLEICHT SOGAR EINEN „REINEREN“ FUSSBALL?Das könnte man so empfinden, wenn

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Gespräch mit Wolfram EilenbergerHeimspiele

man ein Reinheitsideal definieren würde, das von einer gewissen technokratischen Per-spektive dominiert ist. Für mich ist Fußball aber vor allem Körperintensität und Kontroll-verlust. Beides wird durch die Pandemie gemindert. Zudem gibt es ja durch Kunstrasen, Videobeweis und überdachte Arenen ohnehin immer weniger Unverfügbarkeitselemente. Aus meiner Sicht besteht die Schönheit des Fußballs, anders gesagt, in seiner wesenhaf-ten Unreinheit. Alle Elemente, die den Fußball zähmen, verunreinigen ihn als Idee. So auch Geisterspiele.

DIE SPIELER MUSSTEN SICH SEIT ANDERTHALB JAHREN AN LEERE ARENEN GEWÖHNEN. WIE WIRKT SICH DAS AUF SIE AUS?Man darf nicht unterschätzen, dass

Fußballer in den Jugendmannschaften für viele Jahre nur Geisterspiele kennen, dort schaut ja kaum jemand zu. Das Geisterspiel ist für einen jungen Akteur also keine neue Heraus-forderung. Seine Spezialerfahrung sind zunächst Spiele mit Publikum.

ABER IM ALLTAG LEIDEN DIE SPIELER DOCH AUCH UNTER DEN AUS-WIRKUNGEN DER PANDEMIE.Sicher tun sie das, aber vermutlich

weniger als andere Menschen. Profis existie-ren ja weitgehend in einer Betreuungsblase, in der Überschneidungen mit dem sogenann-ten alltäglichen Leben nicht erwünscht sind. Ob sich also lebensweltlich für die Profis viel geändert hat, ob der Alltag eines Spitzen­spielers sich in den vergangenen 18 Monaten von den vorherigen 18 Monaten extrem unter-scheidet, wage ich zu bezweifeln.

WELCHE SPIELTAKTISCHEN TRENDS ERWARTEN SIE BEI DER EM, UNABHÄNGIG VON DER PANDEMIE?Einen langfristigen Megatrend sehe

ich in der „Basketballisierung“ des Fußballs. Es sind immer mehr physisch große Spieler gefragt. Das hängt auch damit zusammen, dass Standardsituationen immer wichtiger werden.

SIE HABEN AM ANFANG GESAGT, DASS DER FUSSBALL FÜR JEDE FORM VON INDIVIDUALITÄT EINE FORM FINDET. LÄUFT DIESE BASKETBALLISIERUNG DEM NICHT ZUWIDER?

Absolut. Sie konterkariert diese Idee. Die große Konzentration auf Standards raubt dem Spiel viele Möglichkeiten und Reize – die mit dem Videoschiedsrichter einhergegan-gene Inflation des Elfmeters ist dabei wohl die schädlichste Entwicklung. Absurde, unbeab-sichtigte und in ihrer Auswirkung an sich abso-lut unbedeutende Ballberührungen mit der Hand werden spielentscheidend. Furchtbar.

VIELLEICHT SIND DIE AKTEURE NACH KRÄFTEZEHRENDEN SAISONS MIT STÄNDIGEN SPIELEN UND NIMMER-MÜDEM GEGENPRESSING EINFACH ZU FERTIG, UM NOCH AUS DEM SPIEL HERAUS ZU WIRKEN.Die Belastung der Spieler wird definitiv

eine große Rolle spielen. Sie bietet aber auch einigen kleineren Nationen Gelegenheiten, da ihre Spieler weniger beansprucht wurden. Sie spielen zwar bisweilen auch in den Top-mannschaften, aber eben nicht alle und viele sind dort eher Ergänzungsspieler. Eigentlich würde ich sagen, dass England Favorit auf den Titel ist. Aber die Engländer werden mit ihren vielen Ligaspielen wieder vollends abgekämpft anreisen. Müde Spieler siegen nicht.

VIELE FANS HATTEN AM ANFANG DER PANDEMIE DIE HOFFNUNG, DASS SICH DER FUSSBALL ERDEN WÜRDE.Man hört ja dieser Tage oft, dass

nun offen zutage treten würde, dass es nur ums Geschäft geht. Aha! Habe ich davor nicht geahnt! Im Ernst. Da ist mir auch viel Einsichtskitsch dabei, wie bei Eltern, die nach der Geburt ihres Kindes sagen, dass sie nun endlich wüssten, was wirklich wichtig sei. Wenn es jetzt also heißt, die Vereine sollten in der Pandemie erkennen, dass weniger manch-mal mehr sei, dann stellen diese beim Blick auf ihr Bankkonto zunächst einmal fest: weni-ger ist weniger.

LIESSEN SICH TECHNISCHE NEUE-RUNGEN UND KOMMERZIALISIERUNG ÜBERHAUPT ZURÜCKDREHEN?Die Möglichkeit besteht absolut, auch

wenn ich das für unwahrscheinlich halte. Gerade beim Videobeweis erkennt man ja, dass er eine Arznei mit extrem starken Nebenwirkungen ist. Nicht nur ist er höchst unvollkommen bei der Einhegung strittiger

MAN HÖRT JA DIESER TAGE OFT, DASS NUN OFFEN ZUTAGE TRETEN WÜRDE, DASS ES NUR UMS GESCHÄFT GEHT. AHA! HABE ICH DAVOR NICHT GEAHNT!“

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Spielsituationen, er greift auch tief in die innere Logik des Spiels ein. Ich würde mir wünschen, dass man nach einigen Jahren die Lage analysiert und sagt: Wir haben es pro-biert, wir lassen es. Das Spiel leidet zu sehr.

DER FUSSBALL WIRD OFT ALS SPIEGELBILD DER GESELLSCHAFT BEZEICHNET. ZU RECHT?Er ist mehr ein Zukunftslaboratorium

als ein Spiegel. Entwicklungen werden in ihm früher sichtbar. So ist das neue totale, von widrigen Einflüssen befreite, von Kameras kontrollierte Spiel ja eine technologische Überwachungsfantasie. Die Utopie dahinter ist, dass wir irgendwann gar nicht mehr urtei-len müssen, weil die Technik für uns alle alles eindeutig entscheidet. Sie nimmt uns damit faktisch das Menschssein ab. Und schafft damit auch den Spielraum und die Offenheit in ebenjenem Spiel ab, das unser Menschsein am schönsten inszeniert: Fußball!

VERORTEN DIE AUSWIRKUNGEN VON CORONA DEN FUSSBALL NEU?Sie führen bisweilen eine Ortlosigkeit

vor, die etwas Unheimliches hat. Wenn Leipzig und Liverpool sich vor leeren Rängen in Buda-pest duellieren, erleben wir eine Art Meta­Geisterspiel. Fast wirkt es so, als könnte jeder Spieler im nächsten Augenblick auch das andere Trikot tragen.

ODER IN EINEM ANDEREN STADION SPIELEN. ODER AUF EINEM FLUG-ZEUGTRÄGER MITTEN IM OZEAN.Dabei ist intensiv genossener Fußball

für die meisten Fans immer noch ein regiona-les Phänomen. Eine Region, eine Nation, das sind fassbare Bezugsgrößen. Mein Revier. Meine Emotion. Ohne konkrete örtliche Ver-wurzelung halten es die wenigsten Lebewesen gut aus, auch Menschen nicht.

WIRD SICH DAS VERHÄLTNIS ZWI-SCHEN NATIONALMANNSCHAFTEN UND VEREINSFUSSBALL WANDELN?Alles hängt davon ab, wie sich Nationen

im europäischen Kontext entwickeln. Ob sie als etwas Überwindungswürdiges angesehen werden oder als Form regionaler Verwurze-lung, die nicht nur zu akzeptieren, sondern sogar zu fördern ist. Natürlich ist der Begriff „Nation“ in Deutschland deutlich problem ­

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Gespräch mit Wolfram EilenbergerHeimspiele

„ UNTERSUCHUN-GEN HABEN ERGEBEN, DASS GEGENSPIELER BEI GEISTER-SPIELEN SPÄTER ANGELAUFEN WERDEN. EINE GEWISSE AGGRESSIVITÄT FEHLT.“

atischer als anderswo. Aber die Idee einer Nationalmannschaft ist gerade für kleine Nationen gegenwärtig absolut identitätstra-gend. Denken Sie an Belgien. Ziehen Sie Eddy Merckx und die Nationalelf ab, und Sie haben nichts als zerstrittene Provinzen ohne König.

LEBEN WIR IN WAHRHEIT NICHT SCHON LANGE IN EINEM POST-NATIONALEN ZEITALTER?Nicht mein Eindruck. Menschen als

kulturelle Existenzen bleiben Nationen oder ähnlichen Gemeinschaften verbunden. Wichtig ist, dass eine positive Identifikation mit dem eigenen keine Abwertung des anderen bedeu-ten muss. Wir erleben natürlich in zahlreichen Ländern nationalchauvinistische Tendenzen. Aber an der Idee der Nation muss nicht not-wendig etwas Herabwürdigendes gegen andere sein. Das unterscheidet den weltoffe-nen Patrioten vom neidischen Nationalchauvinisten.

SIE HABEN AM ANFANG VON EINER ÜBERFORDERUNG GESPROCHEN, DIE SOWOHL DEM MODERNEN MEN-SCHEN ALS AUCH DEM FUSSBALL INNEWOHNT. ÜBERFORDERT SCHEI-NEN MITTLERWEILE AUCH IMMER HÄUFIGER EINZELNE LÄNDER ZU SEIN, WENN ES UM DIE AUSTRAGUNG EINES TURNIERS GEHT.Ja, einzelne Staaten geraten da not-

wendig an ihre Grenzen. Spannend an dieser Frage finde ich, dass es zwei Modelle gibt, wie Europa sich organisiert, zwei mythische Ursprünge. Das griechische Modell, das auf Pluralität setzt, spiegelt sich heute etwa im deutschen Föderalismus wider. Das römische Modell ist ein Zentralstaat, wie er in Frankreich zu finden ist. Nun hat mit Michel Platini aber ausgerechnet ein Franzose, der mit dem Charme des Zentralstaates vertraut ist, mit dieser Europameisterschaft die Pluralität Europas als Festivität inszeniert. Diese Idee einer föderalen Logik, die gefällt mir.

BESONDERE VORFREUDE DÜRFTEN JENE VERSPÜREN, DIE ZUM ERSTEN MAL DABEI SIND, ALSO NORD-MAZEDONIEN UND FINNLAND. SIE HABEN LANGE IN FINNLAND GELEBT.

WAS ERWARTET UNS?Die finnische Kultur ist nicht so sehr auf

das Gewinnen ausgelegt wie etwa die deut-sche. In Deutschland leiden wir unter einer Gewinnneurose, niemand versteht die Idee des stolzen Dabeiseins. Das macht uns bis-weilen etwas eng und geizig. Den Finnen geht es aber vor allem um diesen Aspekt: Sie leben da über Jahrzehnte hinter dem Rücken des Fußballgottes und zeigen jetzt aller Welt ihre kaltblauen Farben.

DIE FINNISCHEN FANS HÄTTEN ABER SICHER NICHTS GEGEN EIN PAAR SIEGE EINZUWENDEN.Nun, die Mannschaft hat sicher nicht

das Zeug zur großen Turnierüberraschung, aber die Fans haben es. Die Finnen werden, in Sachen Fankultur, die neuen Iren oder Islän-der des Events.

JEDENFALLS IST DIE GESCHICHTE DES UNDERDOGS AUS DEM NORDEN JA POTENZIELL SYMPATHISCH.Und der Fußball braucht Geschichten,

große Geschichten. Das müssen keine Gewinngeschichten sein. Der Fußball ist wie ein Roman, weil er ein Paradies der Individua-lität abbildet. In Bezug auf eine Karriere oder einzelne Spiele vielleicht auch ein Fortset-zungsroman. Und Don Quijote, als eigentliches Gründungsdokument eines spielerischen Europas, ist ja nicht deswegen eine große, mitreißende Erzählung, weil ihr Held ein Sieger wäre, sondern weil er für seinen Traum kämpft, rennt, anfeuert! Wir müssen uns den Fußball als eine endlose Saga glücklicher Verlierer vorstellen.

WOLFRAM EILENBERGER IST PHILOSOPH, SCHRIFTSTELLER UND FUSSBALLFAN. OFT IST ER SOGAR ALL DAS IN EINER PERSON.Nik Afanasjew ist ein in Berlin lebender Autor und Journalist. Gemeinsam mit Wolfram Eilenberger spielt er in der Autorennationalmannschaft