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Vorbilder Soldaten mit dem Ehren- kreuz für Tapferkeit Drohnen Die Maschine – und der Mensch dahinter Waffenexporte Die kirchliche Friedens- ethik und der IS HELDEN AUSGABE 29 1/2016 EVANGELISCHE KOMMENTARE ZU FRAGEN DER ZEIT Brauchen wir nicht mehr. Oder?

HELDEN - eka.militaerseelsorge.bundeswehr.de · INHALT Das Archiv vergangener zur sache bw-Magazine und die Linkliste zur aktuellen Ausgabe finden Sie auf der Website der Evangelischen

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Brauchen wir nicht mehr. Oder?

04 Wir träumen von einer besseren Welt

Yitzhak Rabin gab dem Frieden eine Chance

06 Editorial

SCHWERPUNKTHELDEN

08 Kein Platz für Helden?Postheroische Gesellschaften

brauchen keine Helden. Wohin mit der vagabundierenden

Sehnsucht nach dem Heldentum? Von Herfried Münkler

14 Held nein, Vorbild jaDaniel Seibert und Jared Sembritzki

erhielten das Ehrenkreuz für Tapferkeit Von Saara von Alten

16 In Uniform als „Antiheld“?Über die hohen Anforderungen an

Soldaten und die Rückkehr des HeldenVon Uwe Hartmann

21 Maschinen handeln nicht im Heldenmodus

Mit den Drohnen wandelt sich das Bild des Soldaten Von Ulrich Bröckling

Das Titelbild und seine Geschichte Der Bundeswehrsoldat auf unserem Titelbild schläft in einem Erdloch. Rucksack und Schuhe sind ordentlich abgestellt, die aufgeschüttete Erde bildet einen kleinen Schutzwall um Kopf und Füße. Das Bild wurde auf-genommen in einem provisorischen Camp auf der sogenannten Westplatte, einem Hochplateau nahe Nawabad in der Provinz Kunduz. Ob der schlafende Soldat ein Held ist, weil er nach Afghanistan gegangen ist? Ob er zu einem würde, wenn er verwundet – oder gar nicht – zurück-käme? Ob er überhaupt einer sein will? Dieses Foto wirft viele Fragen auf. Deshalb zeigen wir es.

26 Solche Helden brauchen wirÜber die Besonderheit

biblischer HeldenerzählungenVon Frank Hofmann

28 Wann ist ein Held ein Held?Was es alles braucht,

um wirklich als Held zu geltenVon Veronika Drews-Galle

30 „Helden haben immer einen Makel“

Interview mit der paralympischen Schwimmerin Kirsten Bruhn

Von Gabriele Meister

32 FilmheldinnenStarke Frauen im Kino Von Thomas Bohrmann

36 Abschied vom tragischen HeldenSøren Kierkegaard gegen

die Ethik und ihren Liebling Von Jochen Bohn

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INHALT

Das Archiv vergangener zur sache bw- Magazine und die Linkliste zur aktuellen Ausgabe finden Sie auf der Website der Evangelischen Militärseelsorge unter www.eka.militaerseelsorge.bundeswehr.de

> Service > Publikationen > zur sache bw. Oder scannen Sie mit dem Smartphone diesen QR-Code:

FRIEDENSETHIK40 Zwischen Gewaltverbot

und Beistandspflicht Der IS als Prüfstein für die kirchliche Friedensethik

Von Friedrich Lohmann

SICHERHEITSPOLITIK48 Demokratie ohne Ertrag

Die arabischen Umbrüche – Fokus auf Tunesien Von Said AlDailami

GLAUBENSFRAGEN62 Gemeinden sind die wichtigsten

DrehscheibenZur Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung

Von Gerhard Wegner

64 „Ist es recht?“Vom sozialen Wert und

Preis des aufrechten Gehens Von Klaus Beckmann

66 Frieden als LebensweiseFriedensspiritualität ist der

Kern unseres Glaubens Von Marie-Noëlle van der Recke

68 Kirche unter den SoldatenDer Raum der Stille im Evangelischen

Militärpfarramt Delitzsch Von Martin Hüfken

69 Impressum

70 QuerdenkerDie Künstlergruppe Gotensieben

zeigt den gekreuzigten Jesus als Superhelden

INNERE FÜHRUNG52 Wie zeitlos ist die Innere Führung?

Workshop über die Anwendbarkeit des Konzeptes von Graf von Baudissin

auf die gegenwärtige Situation Von Detlef Bald

56 Glaube mit ideologiekritischem Potenzial

Rezension von Klaus Beckmanns „Treue. Bürgermut. Ungehorsam“

Von Markus Thurau

58 Quo vadis, Innere Führung?Rezension des Jahrbuchs

Innere Führung 2015 Von Kai Samulowitz

60 Mut als Schlüssel zum LebenRezension von A. L. Kennedys „Day“

Von Alexander Liermann

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„Wir geben heute dem Frieden eine Chance und sagen

euch mit klarer Stimme: Bis hier, nicht weiter.

Beten wir dafür, dass der Tag noch kommen wird,

an dem alle sagen werden: Fort mit den Waffen.“

Yitzhak Rabin in seiner Rede zur Unterzeichnung des ersten israelisch-palästinensischen Abkommens am 13. September 1993 in Washington.

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Dr. Dirck Ackermann, Referatsleiter im Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr

Wie sehen meine Helden aus?Wir suchen ein passendes Bild zur aktuellen Ausgabe.

Nehmen wir Rosa Parks? Die Afroamerikanerin wurde

1955 verhaftet, weil sie sich weigerte, ihren Platz im

Bus für einen Weißen freizumachen. Oder Jurij Gagarin,

der erste Mensch im Weltall? Oder eine Gedenktafel für

die Gefallenen im Ersten Weltkrieg? Lange als Helden ver-

ehrt. Oder Dietrich Bonhoeffer? Der Pfarrer und Wider-

standskämpfer, für mich seit frühen Tagen ein Held und

Vorbild. Und wie steht es mit Soldaten der Bundeswehr?

Sind sie die Helden unserer Tage?

Mehr Fragen als Antworten. Wir merken: Je nach per-

sönlichem Zugang sehen Helden unterschiedlich aus.

Viele würden nicht einmal von Helden sprechen. Manche

würden den Begriff für sich ablehnen.

Verschiedene Zugänge zu einem Begriff, der in einer

„postheroischen Gesellschaft“ wie aus einer anderen Welt

zu kommen scheint und dennoch bei manchem eine

Sehnsucht weckt. Viele Erkenntnisse und Einblicke auf

der Suche nach Ihren Helden wünscht Ihnen

Dr. Dirck Ackermann, Referatsleiter im Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr

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In postheroischen Gesellschaften hat die Idee des Tauschs die des Opfers abgelöst. Sie brauchen keine Helden. Aber

wohin mit der vagabundierenden Sehnsucht nach dem Heldentum?Von Herfried Münkler

Bei Konzerten und Sportereignissen bejubeln wir Stars und Idole, nennen sie manchmal sogar Helden. Aber Opferbereitschaft ist uns suspekt

KEIN PLATZ FÜR HELDEN?

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P ostheroische Gesellschaften können von Helden eigentlich nur in der Vergangenheitsform sprechen: Es gab Helden, aber es gibt keine mehr. Und dass es keine Helden mehr

gibt, ist in ihrer Sicht kein Grund zur Melancholie, sondern ein Indikator des Glücks. Glücklich das Land, das keine Helden nö-tig hat, heißt es bei Bert Brecht. Und in gewisser Hinsicht ist das ja auch zutreffend: Der siebzigjährige Frieden in Europa hat den Heldenbedarf drastisch reduziert. Die beruhigende Auskunft der postheroischen Gesellschaft lautet, man habe keine Helden mehr, weil man keine mehr brauche. Heroismus sei die Disposition einer Epoche, die der Vergangenheit angehöre.

Postheroische unterscheiden sich von unheroischen Gesell-schaften darin, dass sie sich selbst als geschichtlichen Fortschritt verstehen. Sie blicken zurück auf Zeiten der Heroizität und sehen darin Irrwege der Geschichte. Dafür gibt es in Europa auch al-len Grund: Zwischen den Napoleonischen Kriegen und den bei-den Weltkriegen kam es zu einer Intensivierung der militärischen Gewaltanwendung, wie es sie davor nie gegeben hatte. Die Auf-stellung von Massenarmeen im Gefolge der politischen Revoluti-on und deren Ausrüstung mit Waffen von größter Vernichtungs-kraft, möglich geworden durch die industrielle Revolution, haben dem Krieg eine Intensität verliehen, die, wäre er weiterhin eine zwecks Abgleich der politischen Willen gepflegte Praxis geblieben, zur Selbstvernichtung der Gesellschaften geführt hätte.

Unheroische Gesellschaften existieren in naiver Unschuld; sie haben kein schlechtes Gewissen oder ungutes Gefühl, wenn sie Söldner kaufen und einsetzen, die für sie Schutz und Sicherheit ga-rantieren sollen. Postheroische Gesellschaften haben diese Naivität verloren: Entweder sie schauen zurück auf die Zeiten des Heroi-schen, und dieser Blick ist geprägt von sentimentalischer Wehmut, oder sie verachten diese Epochen, weil in ihnen für so geringe Er-gebnisse so große Opfer abverlangt wurden. Unheroische Gesell-schaften müssen sich für das Heroische nicht interessieren; es ist da und wird verbraucht. Die Idee des Helden lässt die unheroische Gesellschaft kalt. Das ist bei postheroischen Gesellschaften anders: Sie fühlen sich durch den Gedanken des Heroischen herausgefor-dert; die Vorstellung, dass sie diese Zeit überwunden haben, ver-mag sie nicht wirklich zu beruhigen. Sie sind sich nicht sicher, ob dieses Hinter-sich-Lassen endgültig war, weil sie das Auftauchen barbarischer Heroen fürchten, denen sie dann ausgeliefert wä-ren. Der postheroischen Gesellschaft ist nicht wohl, wenn sie ans Heroische denkt. Deswegen beschäftigt sie sich ständig mit ihm.

KriegsheldenJakob Böttcher: Heldenkult, Opfermythos und Aussöhnung – Zum Bedeutungswandel deutscher Kriegsgräber nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Deutschland Archiv Online, 07.02.2014, Link: http://www.bpb.de/178572

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Aber was meinen wir eigentlich, wenn wir von Helden sprechen? Ist der Held womöglich nur eine Imagination der Späteren, die in ihn alle Sehnsüchte nach einer sicheren Welt hineinprojiziert ha-ben? Vermutlich sind die griechischen und germanischen Helden-sagen, die Erzählungen von Herakles und Achill, Siegfried und

Solchen Männern ist zu verdanken, dass die Welt bewohnbar geworden ist

Diplomaten sind nicht heroischGibt es neben dem Umstand, dass die postheroische Gesellschaft dadurch definiert ist, nicht mehr heroisch sein zu wollen, noch andere Gründe dafür, dass sie postheroisch ist? Es gibt sie, und sie sind sozialstruktureller Art: Die Gesellschaften der westlichen Welt haben infolge des demografischen Wandels nicht mehr ge-nügend junge Männer (oder auch junge Frauen), die sie in den Krieg schicken können, um ihre Interessen zu verfolgen oder ihre Ideale zu verwirklichen. Sie sind postheroisch, weil sie mit ih-ren knappen Ressourcen sorgfältig haushalten müssen. Aber die postheroischen Gesellschaften können manpower durch equipment ersetzen, und das ist effektiv, solange sie nicht mit ihresgleichen in Konflikt geraten. Da Letzteres aber auf die Selbstvernichtung dieser Gesellschaften hinauslaufen würde, suchen sie dies unter allen Umständen zu vermeiden, und deswegen lässt sich seit ei-nigen Jahrzehnten beobachten, dass Konflikte, die früher gewalt-sam ausgetragen worden wären, inzwischen mit den Mitteln der Diplomatie bearbeitet werden. Diplomaten aber sind keine Hel-den; sie sind vielleicht klug, beredsam, listig, berechnend, gele-gentlich sogar kühn – aber heroisch sind sie mit Sicherheit nicht. Diplomaten sind Personifikationen des Antiheroischen. Sie sind Heldenvermeider.

Die ErschütterungZahl der Toten im Zweiten Weltkriegin ausgewählten Ländern(Zahlen aus: Deutschland verstehen – ein Lese-, Lern- und Anschaubuch. © Gestalten-Verlag 2012)

Norwegen 10 000

Finnland 84 000

Großbritannien 386 000

Niederlande 125 000

Belgien 60 000

Frankreich 810 000

Italien 330 000

Deutschland 5 250 000

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Königssippe. Alles nur Literatur, und wo bleibt die soziokulturelle Wirklichkeit? Es sind literarische Figurationen, die ein Heldenbild formen, an dem sich die jungen Männer einer Gesellschaft sodann orientieren; die Helden der Literatur sind die Vorbilder, mit denen die Fantasie der jungen Leute angefeuert wird, um sie zu dem zu machen, was sie noch nicht sind, aber werden sollen: Helden. Die Achills und Siegfrieds sind das Ich-Ideal, an dem sich ein Leben auszurichten hat, wenn es das eines Helden werden soll. Die Drill-meister der Übungs- und Exerzierplätze bringen vielleicht Virtuo-sen der Waffentechnik hervor, aber Helden machen aus ihnen erst die Dichter. Heroische Gesellschaften sind gespickt mit solchen Dichtern; sie haben viel zu tun, denn die heroische Gesellschaft begnügt sich ja nicht mit einer Handvoll Helden, sondern sie ist beherrscht von der Direktive, dass jeder Mann sich, so dies erfor-derlich ist, als Held zu bewähren hat.

Der Erste Weltkrieg als Zeitenwende Die heroische Gesellschaft ist ein Ausnahmefall der Geschichte; heroische Gemeinschaften hat es dagegen immer gegeben, Grup-pen also, die sich durch ihre Selbstverpflichtung zum Kampf und notfalls zur Selbstaufopferung vom Rest der Gesellschaft abgeson-dert haben und die zur Bekräftigung dieser Absonderung einen Kanon von eigenen Ritualen entwickelt haben. Dass die gesamte Gesellschaft der Erwartung des Heroischen ausgesetzt wird, ist ein Sonderfall, der sich an den griechischen Poleis des 5. vorchristli-chen Jahrhunderts beobachten lässt, sodann an der Römischen Republik und später an den Nationalstaaten West- und Mitteleu-ropas zwischen der Französischen Revolution, präziser: der levée en masse im Jahre 1792, und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nach einiger Zeit waren diese Gesellschaften von den permanen-ten Heroisierungsanstrengungen erschöpft und wandelten sich in postheroische Formationen, die mit einer Mischung aus Erleich-terung und Sentimentalität auf ihre Vergangenheit zurückblick-ten. Im Prinzip war der Erste Weltkrieg die Katastrophe der he-roischen Gesellschaften Europas; wer die Vorgeschichte und den Verlauf des Zweiten Weltkriegs genauer studiert, wird feststellen, dass der Anspruch eines die gesamte Gesellschaft beherrschen-den Heroentums nur noch in totalitären Regimen aufrechtzuer-halten war, während die westlichen Demokratien Heroismus als gesellschaftliche Gesamterwartung allenfalls in kleinen Dosen ins Spiel brachten.

Hagen, in dieser Form entstanden. Alle Texte der sogenannten Heldendichtung drehen sich um einen strukturell ähnlichen Kern: die rettende Tat, durch die eine Gesellschaft oder Gemeinschaft von einer tödlichen Bedrohung befreit oder vor dem Untergang bewahrt worden ist. Der Held, so der narrative Kern der Helden-dichtung, ist einer, der sich opfert, der zumindest zum Selbstop-fer bereit ist, um die seinem Schutz Anvertrauten vor Tod oder Sklaverei zu retten. Das kann im Kampf gegen äußere Feinde er-folgen, aber auch in der Säuberung der Welt von schrecklichen Ungeheuern: Siegfried tötet den Drachen, Theseus den Minotau-rus, Herakles die Hydra mit den nachwachsenden Köpfen, Sim-son den Löwen. Solchen Männern ist zu verdanken, dass die Welt bewohnbar geworden ist.

Offenbar gibt es zwei Schichten narrativer Heldenbildung: eine ältere, in der sich die Idee des Heldenhaften um den Kampf gegen Ungeheuer dreht, deren Kräften und Fähigkeiten kein Mensch ge-wachsen ist – außer dem Helden, der sie durch Mut und Geschick, mitunter freilich auch durch List und Tücke zur Strecke bringt. Einerseits der Halbgott-Held, Herakles etwa, der zur einen Hälf-te von Göttern abstammt und dadurch übermenschliche Kräfte hat, und andererseits ein zutiefst menschlicher Held wie Odysseus, der um die Begrenztheit seiner Kräfte und Fähigkeiten weiß und nicht nur auf Kraft, sondern auch auf List und Verstellung setzt. Daneben steht die jüngere Schicht der Heldenvorstellung, die sich um den Kampf Mann gegen Mann dreht und bei der der Helden-status im Ausscheidungswettbewerb des Duells vergeben wird. Nicht in der Vernichtung des Monströsen zeigt sich hier der Held, sondern ein Held ist, wer sich in fairem Zweikampf als der besse-re Mann erweist. Im Duell hat die Gesellschaft eine „Heldenpro-duktionsmaschine“ erfunden, die nach Belieben in Gang gesetzt werden kann. Diese Gesellschaft will den Nachwuchs an Helden nicht dem Zufall überlassen, sondern trifft Vorsorge dafür, dass es an Helden nicht mangelt.

Bei einer retrospektiven Inspektion des Heroischen, wie sie hier vorgenommen worden ist, erscheinen die Heldentypen deut-licher konturiert, als das in den Heldenerzählungen der Fall ist, wo sich die ältere und die jüngere Schicht des Heroischen häufig miteinander vermischen: Siegfried etwa ist nicht nur der legen-däre Drachentöter, sondern auch ein überragender Kämpfer auf dem Schlachtfeld, Hagen ist nicht nur ein listenreicher Problemlö-ser, sondern auch ein todesmutiger Beschützer der burgundischen

Polen 4 500 000–6 000 000

Österreich 270 000

ehemaliges Jugoslawien 1 000 000

Tschechien und Slowakei 90 000

Ungarn 420 000

Rumänien 378 000

Bulgarien 10 000

Griechenland 100 000

Sowjetunion 27 000 000

China 14 500 000Japan 1 800 000

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Die Entstehung postheroischer Gesellschaften ist in Europa also kein erst in jüngster Zeit eingetretener Vorgang. Aber es hat eine gewisse Zeit gedauert, bis wir es uns leisten konnten, dies einzuge-stehen. Die Zeit des Kalten Krieges hat wie ein Verzögerer gewirkt; als sie zu Ende ging, wurde sichtbar, dass es keine heroischen Ge-sellschaften mehr gab. Das Ende der Allgemeinen Wehrpflicht steht – auch – im Zusammenhang mit dieser Erkenntnis. Das heißt nicht, dass das Erfordernis der Heroizität damit gänzlich verschwunden wäre. Definiert man es als die Bereitschaft zur rettenden Tat, so hat es sich aus einer gesamtgesellschaftlichen Erwartung in eine wesentlich berufsspezifische Disposition verwandelt. Postheroi-sche Gesellschaften sind dadurch gekennzeichnet, dass Opferbe-reitschaft in ihnen auf einer individuellen Entscheidung bei der Berufswahl beruht.

Es ist aber nicht nur der Mangel an jungen Männern (und Frau-en), der unsere Gesellschaften hat postheroisch werden lassen, son-dern ebenso ein Bedeutungsschwund des Religiösen. Postheroische Gesellschaften sind religiös erkaltete Gesellschaften. Dabei ist das Religiöse nicht in dem engen Sinn eines Glaubens an Gott zu ver-stehen, sondern es geht um die Herausstellung eines Wertebezugs, der unbedingt und unverhandelbar, also jedes Opfer wert ist. Das kann die Nation oder eine politische Idee sein, kurzum alles, was nicht in der Reziprozitätsvorstellung des Tauschs unterzubringen

Religiös erkaltete Gesellschaften kennen kein Opfer

ist, sondern bedingungslose Hingabe verlangt. Das Religiöse ist ein System von Imaginationen, Dogmen und Riten, die sich um die Idee des Opfers ranken. Das Opfer ist das Gegenstück zum Tausch, auf dem die Immanenz einer jeden Gesellschaft begründet ist. Im Opfer dagegen kommt das Transzendente ins Spiel, das, worüber wir nicht verfügen, was bedingungslose Hingabe abverlangt. Der Tausch regelt den Alltag, das Opfer ist der Kerngehalt des Außerall-täglichen. Es ist der Memorialgehalt des Feiertags, nachdem die Praxis eines realen Opferns außer Gebrauch gekommen ist. Ohne Opferbezug verkommen Feiertage zum bloßen Volksfest.

Der Held lebt weiter im kollektiven GedächtnisDas gilt auch für die Idee des Heroischen: Der Lohn des Helden, der bei der rettenden Tat den Tod gefunden hatte, war das Ver-sprechen „ewigen“ Erinnerns seitens der Geretteten. Der Held lebt weiter im Gedächtnis derer, die nur aufgrund seines Selbstopfers noch existieren. Religiös erkaltete Gesellschaften haben keinen Sinn für das Opfer; sie dechiffrieren es nach den Vorgaben des Tauschs. So machen sie es ihrem Selbstverständnis kompatibel: Ei-gentlich war das vorgebliche Opfer gar kein Opfer im Sinne selbst-loser Hingabe, sondern ein missverstandener Tausch. So wird die Dominanz des Alltäglichen gegen die appellative Zudringlichkeit des Außeralltäglichen sichergestellt.

Tugce – eine Heldin?Die 22-jährige Studentin Tugce Albayrak, die am 15. November 2014 in Offenbach zusammen-geschlagen wurde und kurz danach starb, gilt vielen als Heldin. Sie hatte zwei Mädchen vor einem zudringlichen jungen Mann beschützt und war daraufhin von diesem angegriffen worden. Auch wenn beim späteren Prozess gegen den Täter herauskam, dass die junge Frau

an der Eskalation der Situ ation nicht unschuldig war, wurde sie zu einer Art Ikone für Zivilcourage. Hunderttausende unterzeichneten eine Online petition, Tugce das Bundesverdienstkreuz zu verleihen. Die Universität Gießen hat ihrer früheren Studentin einen Gedenk - stein errichtet. Alle Artikel zum Fall Tugce auf www.evangelisch.de(Suchwort Tugce Albayarak)

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Und doch verspüren postheroische Gesellschaften ein starkes Be-dürfnis nach dem Heroischen. Vielleicht leiden sie nicht an ihrer Postheroizität, aber es gibt immer wieder Anzeichen dafür, dass sie von sentimentalischer Nostalgie überwältigt werden, wenn sie sich ihrer heroischen Vergangenheit erinnern. Sie bearbeiten das dann in Spiel- und Dokumentarfilmen, in denen das Hero-ische noch einmal im Präteritum in Szene gesetzt wird oder in denen es um die exorbitanten Kosten des Heldentums geht. Letz-teres soll die vagabundierende Sehnsucht nach dem Heroischen dämpfen, während Ersteres diese Sehnsucht zu überschaubaren Kosten befriedigt: dem Eintrittspreis der Kinovorstellung. Beides zusammengenommen ist ein probater Modus, mit der Sehnsucht nach dem Helden umzugehen.

Sehr viel teurer ist dagegen das Ausleben dieser Sehnsucht, wenn junge Leute, nicht selten solche mit „Migrationshintergrund“, die Gesellschaften Westeuropas verlassen, um sich im Nahen Osten einer dschihadistischen Gruppe anzuschließen: Sie wollen ihrem Leben eine Bedeutung verleihen, wie sie in der postheroischen Ge-sellschaft nicht zu finden ist. Deswegen verachten sie diese mitsamt ihren Zerstreuungen und wählen einen Weg, der zum Opfergang werden kann. Das ist die aktuelle Achillesferse der postheroischen Gesellschaft: dass sie diese Menschen nicht binden kann, sondern sie nur, wenn sie ihrer habhaft wird, mit Freiheitsentzug zu bestrafen vermag. Gerade im Sinne des Selbstverständnisses postheroischer Gesellschaften ist das nicht als klug zu bezeichnen.

Wenn junge Leute sich zum Opfergang entschließen

Die Achillesferse der postheroischen Gesellschaft: Junge Leute, die Helden sein wollen und sich

etwa dem Dschihad anschließen. IS-Kämpfer bei einer Militärparade in Syrien im Sommer 2014

Prof. Dr. Herfried Münkler lehrt Theorie der Politik an der

Humboldt-Universität zu Berlin. Einschlägige Veröffentlichung:

„Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahr-hundert“, Rowohlt, Berlin 2015.

BuchtippHerfried Münkler: Die Deutschen undihre Mythen, Rowohlt, Berlin 2009, 608 S., 14,99 Euro

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HELD NEIN, VORBILD JA

Daniel Seibert und Jared Sembritzki bewährten sich als Führungskräfte im Kampfeinsatz und erhielten dafür die höchste Auszeichnung der Bundeswehr. Als Helden sehen sie sich nicht

Von Saara von Alten

A m 4. Juni 2009 werden Hauptfeldwebel Daniel Seibert und 36 weitere Männer des Panzergrenadierzuges, zu dem er ge-

hört, per Funk alarmiert: Sie sollen einem deut-schen Aufklärungs trupp zur Hilfe eilen, der nahe Kunduz von aufständischen Taliban-Kämpfern an-gegriffen wird. Als sie ankommen, werden sie be-schossen – mit Panzerfäusten und Schnell-feuerwaffen. Als stellvertretender Zugführer reagiert Seibert in dieser Situation schnell und erteilt klare Befehle. Im Kampf tötet er einen Taliban-Kämpfer. Seine Führung ist maßgeblich verantwortlich dafür, dass der Gegner zum Rückzug gezwungen wird.

Für „sein mutiges und verantwortungs-volles Handeln“ in diesem Einsatz erhält Seibert das Ehrenkreuz für Tapferkeit – als erster Bundeswehrsoldat bekommt er die-se Auszeichnung für einen Kampfeinsatz. Trotzdem sieht sich der heute 37-Jährige nicht als Held. „Da denkt man nicht nach. Das ist mein Auftrag, dazu wurde ich jah-relang ausgebildet.“ Er meint auch: „Jeder der Soldaten hat in diesem Gefecht Außerordentli-ches geleistet und es mindestens genauso verdient, diesen Orden zu bekommen.“

Durch seine Auszeichnung habe sich für ihn weder beruflich noch privat etwas geändert. Sein Wert als militärischer Führer hinge nicht von diesem einen Moment in der Vergangenheit ab,

sondern vom Hier und Jetzt. Die mediale Beach-tung hat ihn trotzdem gefreut. Er sprach mit eini- gen Journalisten im Detail über das Gefecht in Afghanistan. „Mir war es wichtig, in der Öffent-lichkeit ein authentisches Bild unserer Arbeit dar-zulegen“, sagt er. Die Ordensverleihung fiel eng mit dem Zeitpunkt zusammen, als der damali-

ge Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg den Afghanistaneinsatz erst-mals als „Krieg“ bezeichnete. Der Soldat gelte in manchen Bevölkerungsgruppen als „Kriegstreiber“, wie Seibert sagt. Das ärgert ihn: Im Auftrag Deutschlands ver-brächten viele Soldaten mehrere Monate im Jahr in Krisenregionen – von Familie und Freunden getrennt. „Manche erleben dort schlimme Sachen“, sagt Seibert. „Wenn ich danach zurückkomme, möchte ich nicht noch auf der Straße blöd angepöbelt oder angespuckt werden.“ Ihm fehle es damals wie heute an einer angemessenen Anerken-nung durch die Bevölkerung: „Ich erhoffe mir mehr Wertschätzung für die Tätigkeit

jedes einzelnen Soldaten, die schließlich auch ihr Leben riskieren.“

Eine Heldenkultur sehe er nicht in der Bun-deswehr, und das finde er auch gut. Für ihn per-sönlich seien die Familienangehörigen, die dem Soldaten im Einsatz den Rücken frei halten, die wahren Helden.

Daniel Seibert erhielt 2010 das Ehrenkreuz der Bundes wehr für

Tapferkeit für seine Leistung als

Zugführer in einem Kampfeinsatz in Afghanistan

Ehrenkreuz für Tapferkeit2008 stiftete Verteidigungsminister Franz Josef Jung das Ehrenkreuz für Tapferkeit als neue und fünfte Stufe des Ehrenzeichens der Bundeswehr. Vorher gab es vier Stufen plus zwei Sonderformen (s. Tabelle rechts).Zur Verleihung muss das normale Maß der Grundpflicht gemäß § 7

Soldatengesetz (SG) deutlich überschritten werden. Dies setzt bei außergewöhnlicher Gefähr- dung von Leib und Leben ein mutiges, standfestes und geduldiges Verhalten voraus, mit dem der militärische Auftrag ethisch fundiert erfüllt wird.

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I m Jahr 2010 ist der Soldat Jared Sembritzki Oberstleutnant und Kommandeur der Quick Reaction Force des ISAF-Einsatzes in Afgha-

nistan. Bei Shahabuddin, einer Ortschaft im Nor-den des Landes, müssen er und sein Verband meh-rere Wochen lang einen Außenposten verteidigen, der immer wieder von Taliban beschossen und im September schließlich von den Rebellen be-setzt wird. In einem mehrtägigen Gefecht, wie es deutsche Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben, gelingt es der Quick Reaction Force unter Sembritz-kis Führung gemeinsam mit amerikanischen Special Forces und den afghanischen Sicher-heitskräften, den Posten zurückzuerobern. Für seinen „Mut, sein Führungskönnen, Entschlusskraft und selbstlosen Einsatz“ be-kommt Sembritzki 2011 das Ehrenkreuz für Tapferkeit verliehen. „Diese Auszeichnung hat mich natürlich stolz gemacht“, sagt der heutige Oberst i. G.. „Es freut mich, dass meine Führungsleistung, und damit auch die des gesamten Verbandes anerkannt wurde.“ Zu Recht, wie er findet. Während des mehrtägigen Kampfeinsatzes hätten er und seine Soldaten Außergewöhnliches leisten müssen. Ge-fechte seien für einen Bundeswehrsoldaten nach wie vor eine Ausnahme im Berufsleben. „Es fällt schon auf, dass man von anderen Soldaten anders wahrgenommen wird, nachdem man an einem

Kampfeinsatz beteiligt war“, meint der Oberst. Da gebe es eine besondere Wertschätzung.

Mit einer Heldenkultur habe das allerdings nichts zu tun. „Der Begriff Held ist überhöht. Ich benutze dieses Wort nicht“, meint Sembritzki. Es passe nicht in die heutige Zeit. „Manche meinen, Götze sei ein WM-Held. Und in der DDR gab es den

Helden der Arbeit. Das sind die einzigen Zu-sammenhänge, in denen das Wort in mei-ner Wahrnehmung jemals aufgetaucht ist. Und auch dort finde ich es nicht zutreffend“, sagt er. Eine Demokratie brauche keinen Kult um einzelne Personen. Als Mensch oder Soldat könne man ein Vorbild sein, für eine bemerkenswerte Tat ausgezeich-net werden. Wenn eine Person beispiels-weise bereit sei, für seine Überzeugungen wie Menschenrechte zu sterben, sei dies ein vorbildliches Verhalten. Ebenso, wenn man einem anderen Menschen das Leben rette.

„Ich persönlich bewerte lieber Handlungen als Personen“, sagt der 47-Jährige.

Einen besonderen Rummel um seine Person habe es nach der Ordensverleihung nicht gegeben, sagt Sembritzki. „Außerhalb der Bundes-wehr hat das kaum jemand zur Kenntnis genom-men.“ Intern aber sei seine Leistung wohl durch-aus anerkannt worden. Wenig später stieg er zum Adjutanten des Generalinspekteurs auf, heute ist er Oberst des Heeres in Veitshöchheim.

Jared Sembritzki erhielt 2011 das Ehrenkreuz der Bundeswehr für

Tapferkeit für seine Leistung als

Kommandeur in einem Gefecht in Afghanistan

Ehren- Medaille

4.800

Ehren-kreuz

Bronze

7.489

Ehren-kreuzSilber

9.526

SilberSonder-

form

239

Ehren-kreuzGold

10.355

Gold Sonder-

form

118

Ehren-kreuz fürTapferkeit

26

Gesamt

32.553

Zahl der verliehenen Ehrenzeichen 2004–2013Quelle: Bundesministerium der Verteidigung

Saara von Alten arbeitet als freie Journalistin in Berlin und

schreibt regelmäßig für den „Tages-spiegel“ sowie das JS-Magazin.

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IN uNIFORM

ALS „ANTI-HELD“?

Über die hohen Anforderungen an Soldaten und die Rückkehr des Helden

Von Uwe Hartmann

Soldat werden, Mensch bleiben. Junge Rekruten, die den freiwilligen

Wehrdienst ableisten, bei ihrem Gelöbnis in der Westfalenkaserne Ahlen

Auf dem Portal streitkraeftebasis.de werden Soldaten mit Zivilcourage lobend erwähnt, so wie zum Beispiel Stabsunteroffizier Florian Grünert‚ der am 13. Juni 2014 in Bensheim einer jungen Frau half. Hier eine gekürzte Version des Berichtes: „Die Frau war nachts um

Soldaten für Zivilcourage

gelobt

W er an Helden denkt, dem kom-men zunächst Zweikämpfe in den Sinn, in denen jeder ver-

sucht, den anderen niederzuringen. Weit-hin bekannt sind die Duelle von Hector und Achilles im langjährigen Krieg um Troja so-wie von David und Goliath unmittelbar vor der Schlacht zwischen Israeliten und Philis-tern. Schnell drängen sich Bilder auf über die Ritter im Mittelalter‚ von Jagdfliegern im Ersten Weltkrieg sowie der Superhelden in den Comics und Blockbuster der heutigen Zeit. Das Bild des Zweikampfes leitete auch Carl von Clausewitz’ Definition des Krieges. Er empfahl, sich „... zwei Ringende vorzu-stellen. Jeder sucht den anderen durch phy-sische Gewalt zur Erfüllung seines Willens zu zwingen.“1 In gewisser Weise ist das We-sen des kriegerischen Aktes also unmittel-bar mit dem Sinngehalt des Heldenbegriffs verbunden. Dabei hatte Clausewitz zwei He-rausforderungen unterschieden, auf die es im Krieg und damit auch im heldenhaften Handeln ankommt: den Mut zur Verant-wortung einerseits und den professionel-len Umgang nicht nur mit seinen Waffen, sondern auch mit Gefahr, körperlicher An-strengung und Informationen andererseits.

Der Erfolg im Zweikampf ist nicht gewiss. Selbst Achill war nicht unbesiegbar. Helden können unterliegen, aber dennoch Helden bleiben. Für Menschen in einem demokra-tischen Rechtsstaat ist es entscheidend, dass sie ihr Leben ehrenhaft und für einen guten Zweck einsetzen. Wer sich an Verbrechen beteiligt, verliert den Status des Helden oder bekommt ihn gar nicht erst zugesprochen. Zudem muss es Menschen geben, die hel-denhafte Taten überliefern. Homers Schrif-ten, die alttestamentliche Bibel, der Minne-gesang und die Kriegsliteratur sind Beispiele einer Erinnerungskultur, die zum Weiter-leben von Helden im Denken und Handeln der Menschen beigetragen haben und im-mer noch beitragen.

Der Held in der Geschichte der Inneren FührungDie Konzeption der Inneren Führung stammt aus einer Zeit, die dem Helden tiefste Skepsis entgegenbrachte. Nur weni-ge Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg stand den Deutschen nicht mehr der Sinn nach heldenhaftem Tun. Eine industrialisierte Kriegsführung, die in der Bombardierung wehrloser Zivilbevölkerungen kulminier-te, die katastrophale militärische Niederla-ge, die zur Zerstörung des Landes und sei-ner Aufteilung in Besatzungszonen führte, sowie die Beteiligung der Wehrmacht an unvorstellbaren Kriegsverbrechen führ-te ihnen den Missbrauch ihrer Opferbe-reitschaft deutlich vor Augen. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die Inne-re Führung, die einen völligen Neuanfang für deutsche Streitkräfte in der Demokra-tie wagte, dem „Helden in Uniform“ kei-nen Platz einräumte. Stattdessen hob Wolf von Baudissin, der Begründer der Inne-ren Führung, die Bedeutung der Wider-standskämpfer gegen den Nationalsozialis-mus hervor. Er bezeichnete sie als „wahre Helden“2, weil sie politische Verantwortung übernahmen und ihr Leben für den richti-gen Zweck opferten.

Auch das damalige Kriegsbild der bipola-ren Welt stellte die Rolle des Helden infrage. Angesichts der zerstörerischen Kraft mo-derner Waffen, vor allem der Atombombe, wurde der Frieden zur Grundvoraussetzung für das Überleben der Menschheit. Der im Kalten Krieg entwickelte Slogan „Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“ be-ruhte auf der festen Überzeugung, dass der Friede der Ernstfall war und heldenhaftes Handeln in einem künftigen Krieg letztlich sinnlos bliebe.

Allerdings ging die Innere Führung da-von aus, dass der Krieg seinen Charakter grundlegend verändert hatte. Als Kalter Krieg wandelte er sich in eine ideologische

ein Uhr auf dem Weg nach Hause und wurde von einigen Betrunkenen bedrängt, etwa acht bis zwölf Männer im Alter zwischen 18 und 20 Jahren. Der 23-jährige Grünert stellte sich zwischen die Gruppe und die Frau. ‚Die Jugendlichen traten sehr aggressiv auf und

begannen sofort, mich zu be-schimpfen. Ich versuchte, mit diesen zu reden und bat sie, die Frau in Ruhe zu lassen‘, erzählt er. Einer der Jugendlichen versetzte ihm einen so starken Schlag ins Gesicht, dass seine Nase brach. Kurz danach kamen Polizei, Feldjäger

und Rettungssanitäter zu Hilfe. Durch die Unterstützung eines Kameraden konnten schließlich auch die Täter ausfindig gemacht werden. Grünert sagt: ‚Trotz der Schmerzen würde ich es jederzeit wieder tun.‘“

http://tinyurl.com/Soldat-Zivilcourage

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Auseinandersetzung zwischen zwei poli-tischen Systemen, die bereits im Frieden stattfand. Aus Sicht der Inneren Führung beabsichtigte die Sowjetunion, den Wes-ten mit geistigen Waffen der Propa ganda und Desinformation niederzuringen. Im besten Fall wäre dieses gelungen, ohne ei-nen Schuss abzugeben. Um solche Angriffe abzuwehren, kam es auf die Widerstands-kraft von Politik, Gesellschaft und Militär an. Dieses weit über Schlachten und Ge-fechte hinausgehende Kriegsbild hatte un-mittelbare Konsequenzen für die Bundes-wehr. Neben ihrer Befähigung zum Kampf durfte sie kein „Staat im Staate“ sein. Der Soldat musste möglichst nahtlos in die Ge-sellschaft integriert werden. Sonst wäre es, wie es im 1957 erstmalig erschienenen Handbuch Innere Führung nachzulesen ist, „zu einer verhängnisvollen Zersplitterung der inneren Front“3, also des sozialen Zu-sammenhalts, gekommen. Eine Überhö-hung des Soldaten als Helden wäre diesem übergeordneten Zweck genauso entgegen-gelaufen wie seine Reduzierung auf solda-tische Professionalität. Der eigentliche Sinn des Leitbildes vom Staatsbürger in Uniform besteht darin, dass Soldaten den Schulter-schluss mit Bürgern und Bürgerinnen su-chen und ihre weit über das klassische Sol-datenhandwerk hinausgehenden Aufgaben in einem umgreifenden politischen Kon-text verstehen.

Der Staatsbürger in Uniform ist daher al-les andere als ein verweichlichtes Zerrbild des Soldaten. Von Baudissin widersprach diesem weitverbreiteten Vorurteil, indem er immer wieder die hohen Ansprüche an die Soldaten herausstellte. Das Hand-buch Innere Führung konstatierte, dass der Kalte Krieg „... Forderungen an die Standhaftigkeit, Überzeugungstreue, Ur-teilskraft und Tatsachenkenntnis des ein-zelnen (stelle), die erschrecken können.“4 Tapferkeit sei nicht erst im Krieg, sondern

bereits im Frieden als aktives Eintreten für Recht und Freiheit der Mitmenschen gefor-dert. Die soldatische Pflicht zur Tapferkeit umfasste also auch die bürgerliche Tugend der Zivilcourage. Neben den Gehorsam trat die selbstbewusste Beteiligung des Soldaten an der politischen, besonders der sicher-heitspolitischen Debatte. Hinzu kam Bür-germut vor Königsthronen, auch innerhalb der militärischen Hierarchie. In diesem Zu-sammenhang sprechen weder von Baudis-sin noch das Handbuch Innere Führung von „Helden“. Es wird aber deutlich, welch enorm hohe Anforderungen die Innere Führung an die politische Klugheit sowie die Zivilcourage des Einzelnen stellte, die weit über die Erwartungen an Staatsbürger ohne Uniform hinausgingen. Sie waren aus dem damaligen Kriegsbild abgeleitet und wurden durch die Integration des Wider-standes gegen den Nationalsozialismus in das Traditionsverständnis der Bundeswehr versinnbildlicht.

Die Bedeutung des Kriegsbildes für die Weiterentwicklung der Inneren Führung verschwand allerdings aus dem Blickfeld. Immer stärker trat die Kompatibilität der Streitkräfte mit der Gesellschaft in den Vor-dergrund. Da diese sich in eine posthero-ische Gesellschaft gewandelt hatte, in der das Opfer für eine höhere Sache als unnö-tig galt, nahmen viele Menschen den Sol-datenberuf als einen Beruf wie jeden an-deren wahr. Die besondere Verpflichtung des Soldaten für die Verteidigung von Recht und Freiheit geriet immer stärker in Wider-spruch zur sicherheitspolitischen Sorglosig-keit einer Zivilgesellschaft, die glaubte, des Schutzes durch den Staat nicht mehr zu be-dürfen. Der Soldat wurde daher zu einem Fremdkörper und Ärgernis. Der Einsatz der Bundeswehr in weit entfernten Krisenre-gionen sowie ihr Umbau in eine Freiwilli-genarmee verstärkten diesen Trend. Zudem wäre die Anerkennung soldatischen, ins-

Bekommen die Bundeswehr- soldaten für ihre Auslands einsätze

ausreichende, zu geringe oder zu viel gesellschaftliche Anerkennung?

Befragung 2010, Quelle: Statista, SOWI/Bundeswehr

zu viel Anerkennung

ausreichende Anerkennung

Weiß nicht / Keine Angabe

zu geringe Anerkennung

3% 66% 8%23%

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besondere heldenhaften Handelns im Ein-satz nicht mit dem Selbstverständnis einer Zivilgesellschaft vereinbar. Daher gibt es heute keine nennenswerte Erinnerungs-kultur außer einer durch die Bundeswehr selbst geförderten.

Was hat sich geändert?Krisen, Konflikte und Kriege finden gleich-zeitig statt, sind untereinander vernetzt und vermitteln den Eindruck einer globa-len Katastrophe. Deutschland ist trotz sei-ner scheinbar komfortablen Lage inmitten von Freunden von deren Fernwirkungen betroffen. Die politische Rhetorik einer aus den Fugen geratenen Welt und das verbrei-tete Gefühl der Verunsicherung sind Aus-druck neuer Perzeptionen und Prioritäten.

Aufgrund der Auslandseinsätze der letz-ten 25 Jahre gibt es wieder Soldaten sowie eine zunehmende Anzahl von Veteranen, die Kampf und heldenhaftes Handeln er-lebten. Die bisher verliehenen Tapferkeits-medaillen und veröffentlichten Erlebnis-berichte belegen dies. In einem zivilen Kontext hätten vergleichbare Handlungen hohe Anerkennung in der Öffentlichkeit hervorgerufen. Dies führt zu Enttäuschun-gen bei aktiven und ehemaligen Soldaten.

An der Seite der „Generation Einsatz“ stehen junge Soldaten, die in die Bundes-wehr eingetreten sind, weil sie ihrem Land auch in den Auslandseinsätzen dienen wol-len. Sie nehmen ihren Einsatz gedanklich vorweg. Nach Diensteintritt suchen sie den Kontakt mit einsatzerfahrenen Soldaten und Veteranen, um von diesen zu lernen. Für sie sind ihre älteren Kameraden nicht selten Helden. Sie wissen, dass der Dienst als Soldat fordernder und gefährlicher ist als die einer postheroischen Gesellschaft angenehme Verführung durch zivilberuf-liche Weiterqualifizierung. Sie trauen sich etwas, fordern allerdings auch Unterstüt-zung ein. Ihr hoher Idealismus verleitet sie

Steht die Gesellschaft hinter mir? Mutter und Sohn bei

der Gelöbnisfeier in Ahlen

Denkmal für Deserteure Im November 2015 wurde in Hamburg ein „Gedenkort für Deserteure und andere Opfer der NS-Militärjustiz“ eröffnet, zentral gelegen zwischen Stephansplatz und Dammtor. Das Denkmal basiert auf einem einstimmigen Beschluss der Hamburgischen

Bürgerschaft vom Juni 2012. Laut Kulturbehörde Hamburg würdigt es die „lange Zeit nicht anerkannten Opfer des National-sozialismus und setzt zugleich ein wichtiges politisches Zeichen gegen Kriegsverherrlichung und für Zivilcourage“.

www.hamburg.de/gedenkort-fuer-deserteure/

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bisweilen zu scharfer Kritik an Politik, Ge-sellschaft und Streitkräften.

Neue Bedrohungen, Kriegs- und Ein-satzerfahrungen sowie Mut zur Kritik von jüngeren Offizieren haben die seit langem geforderte sicherheitspolitische Debatte in Gang gebracht. Es kommt darauf an, diese weiter zu intensivieren und auszudehnen. Denn angesichts permanenter hybrider Be-drohungen ist eine öffentliche Meinungs-bildung über Grundfragen der Verteidigung von Recht und Freiheit ein wesentlicher Baustein für die Handlungsfähigkeit von Regierungen und die Widerstandskraft von Gesellschaften.5 Die Fragen, welche Art von Armee und welcher Typus von Soldat nicht nur wünschenswert, sondern notwendig sind, müssen debattiert werden. Dazu ge-hört auch, inwieweit „Helden in Uniform“ besondere Formen der Anerkennung erfor-dern und welche Grenzen gezogen werden müssen, um Missbrauch sowie falsche Mo-tivationen zu verhindern.

Als Staatsbürger in Uniform sollten Solda-tinnen und Soldaten dazu einen noch größe-ren Beitrag leisten. Zivilcourage ist erforder-lich, weil die Stimme von Soldaten bisweilen politisch nicht erwünscht ist oder sogar auf offene Ablehnung bei bestimmten gesell-schaftlichen Gruppen stößt.6 Bevor der Sol-dat sein Leben einsetzt, fordert die Innere Führung, dass er sich politisch einmischt, um heldenhaft für die richtige Sache ein-zutreten, aber auch, um nicht aufgrund feh-lender militärischer Fähigkeiten Held sein zu müssen. Dietrich Bonhoeffers Worte aus dem Jahr 1943, in denen er feststellte, nie habe er so „... viel Tapferkeit und Aufopfe-rung, aber fast nirgends Zivilcourage gefun-den“7, ist noch heute eine wichtige Mahnung.

FazitDie Innere Führung ist keine Führungs-philosophie zur Erziehung von Anti-Hel-

den. Ihr Aushängeschild ist das Leitbild ei-nes Soldaten, der Kampf und heldenhaftes Handeln nicht als Selbstzweck, sondern als Teil seiner umfassenden Verantwortung versteht. Tapferkeit ist von Zivilcourage nicht zu trennen.

Die Innere Führung ist keine postheroi-sche Führungsphilosophie. Sie ist vielmehr eine Führungsphilosophie für eine posthe-roische Gesellschaft. Daher ist sie immer auch Kritik, insbesondere dann, wenn es um die politischen, gesellschaftlichen und militärischen Rahmenbedingungen für den Schutz von Recht und Freiheit geht. Dafür ist sie auf couragierte Staatsbürger mit und ohne Uniform angewiesen.

Die Innere Führung passt sich in ihren Inhalten neuen sicherheitspolitischen Rah-menbedingungen an. Sie hat einiges geleis-tet, um Soldatinnen und Soldaten auf neue Aufgaben in den Einsätzen vorzubereiten. In manchen Bereichen besteht allerdings akuter Denk- und Handlungsbedarf. So ignorierte sie weitgehend, dass durch die Beteiligung der Bundeswehr an Krieg und Einsätzen der Soldat als Held unausweich-lich als Phänomen auftaucht.

Ohne Zweifel haben Soldaten helden-haft in den Auslandseinsätzen gehandelt. Sie haben ihr Leben eingesetzt für einen durch Regierung und Parlament legiti-mierten Auftrag. Eine postheroische Ge-sellschaft, die ihre Schutzbedürftigkeit erkennt, wird dieses Ausnahmehandeln anerkennen und belohnen. Sie darf dar-auf vertrauen, dass die über 60 Jahre ge-wachsene politische Klugheit nicht zuletzt bei den Staatsbürgern in Uniform verhin-dert, in die Extreme von Kriegsverherrli-chung und Heldenkult abzudriften.

Oberst i. G. Dr. uwe Hartmann ist derzeit im Kommando Heer

in Strausberg eingesetzt.

1 Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Bonn 1991, S. 191.

2 Wolf Graf von Baudissin, Grundwert: Frieden in Politik – Strategie – Führung von Streitkräften, Berlin 2014, S. 225.

3 BMVg (Hrsg.), Handbuch für Innere Führung, Bonn 1957, S. 23.

4 Ebd., S. 36.5 Uwe Hartmann,

Hybrider Krieg als neue Bedrohung von Freiheit und Frieden, Berlin 2015.

6 Klaus Beckmann, Treue. Bürgermut.Ungehorsam. Anstöße zur Führungskultur und zum beruflichen Selbstverständnis in der Bundeswehr, Berlin 2015.

7 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, München 1990, S. 10.

Die Debatte Zwei Radiointerviews auf NDR Info verdeutlichen die Positionen in der aktuellen Debatte um die Innere Führung:– Interview mit Leutnant Jan-Philipp Birkhoff,

einer der Autoren im Sammelband „Armee im Aufbruch: Zur Gedankenwelt junger Offiziere in den Kampftruppen der Bundeswehr“. NDR Info vom 16. 01. 2016, knapp 23 Minuten

– Interview mit General Jürgen Weigt, Chef des Zentrums Innere Führung. NDR Info vom 16. 01. 2016, knapp 25 Minuten

Zu hören auf http://tinyurl.com/NDR-Interviews-Armee-Aufbruch

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MAScHINEN HANDELN NIcHT IM

HELDENMODuSDer Wunsch nach technischer Überlegenheit ist kein neues Phänomen des Drohnenzeitalters.

Aber mit den Drohnen wandelt sich das Bild des Soldaten Von Ulrich Bröckling

Abschuss einer Aufklärungsdrohne durch deutsche Soldaten im Feldlager Kunduz

Denkanstoß Der Einsatz von Drohnen hat nicht nur die moderne Kriegsführung verändert, sondern auch die Bedeutung des Tötens an sich, so Nils Markwardt in Zeit online:www.zeit.de/kultur/2014-10/drohnen-moral-ethik

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A m 4. Februar 2002 feuerte eine Drohne vom Typ Predator eine Hell-fire-Rakete auf drei Männer in der

Nähe der afghanischen Stadt Khost und tö-tete sie. Gerüchte kursierten, die CIA habe einen der drei wegen seiner Körpergröße und seiner grauen Haare für Osama bin La-den gehalten. Ein offensichtlicher Irrtum, wie sich bald herausstellte. Journalisten berichteten später, die Getöteten seien Zi-vilisten gewesen, die auf dem Gelände ei-nes verlassenen Mudjaheddin-Camps nach Altmetall suchten. Bei dieser Tötungsakti-on handelte es sich um die erste bekannt-gewordene Operation einer bewaffneten Drohne. Damit begann der rasante Aufstieg der Unmanned Combat Air Vehicles – und der öffentliche Streit über ihren Einsatz.

Fast noch anstößiger als die präempti-ve Tötung Verdächtiger ohne Anklage und Gerichtsurteil und die mit dem zynischen Euphemismus eines Kollateralschadens be-legten zivilen Opfer erscheint den Kritikern die Diskrepanz zwischen der tödlichen Ge-

walt, denen die Ziele der Drohnenangrif-fe ausgesetzt sind, und der Sicherheit der Crews in ihren Operation Rooms. Eine solche Ungleichheit der Bedingungen widerspricht dem soldatischen Ideal eines „gerechten Kampfes“. Demnach gilt es als unehren-haft, einen Feind anzugreifen und zu töten, ohne sich selbst derselben Gefahr auszu-setzen. Zum Kriegshelden kann nur wer-den, wer auch zum Selbstopfer bereit ist. Der Drohnenkrieg bricht mit dieser elemen-taren Reziprozität.

Weil die Drohnenpiloten für den Gegner unerreichbar bleiben, trifft sie das Verdikt der Feigheit – ein Vorwurf, in dem zugleich eine sexuelle Depotenzierung steckt. So hat die offizielle Bezeichnung für die fernge-steuerten Waffensysteme – Unmanned Com-bat Air Vehicles – einen deheroisierenden, weil die Männlichkeit anzweifelnden Dop-pelsinn: „Unmanned“ bedeutet im Engli-schen nicht nur unbemannt, sondern auch entmannt (Chamayou 2014, 110). Der Vor-wurf, Distanzwaffen seien die Waffen der

Feiglinge, bindet ex negativo militärisches Heldentum an das Vorbild des Kampfes Mann gegen Mann. In der Geschichte des Krieges diente die Überhöhung des ver-meintlich fairen Zweikampfes als Gegen-modell zur gezielten Tötung aus sicherer Entfernung stets dazu, „das Schlachten ak-zeptabel – oder besser noch, ruhmreich zu machen“ (Chamayou 2014, 108). Weil blo-ßer Zwang auf Dauer nicht ausreicht, um Menschen dazu zu bringen, in den Krieg zu ziehen, wird die Kopplung von Kampf und Opfer zur heroischen Tat überhöht. Die Fabrikation gehorsamer Soldaten muss bei-des wecken, die Bereitschaft zu töten und die zu sterben. Deshalb werden diejenigen, die zu beidem willens und in der Lage sind, zu Vorbildern erhoben und als Helden ver-ehrt. Das Ethos des fairen Kampfes liefert dafür das normative Gerüst: Die Gefahr des Getötetwerdens suspendiert das allgemei-ne Tötungsverbot. Nur weil der Gegner mir ans Leben will und kann, darf und muss ich ihm das Seine nehmen.

Der Beitrag entstand im Rahmen des DFG-Sonder forschungsbereichs 948 „Helden, Heroisierungen, Heroismen“ an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Eine erweiterte Fassung erscheint in: Achim Aurnhammer, Ulrich Bröckling (Hg.), Vom Weihegefäß zur Drohne.Kulturen des Heroischen und ihre Objekte, Würzburg 2016.

DrohnenbesitzÖffentlich bekannter Bestand von

großen militärischen Drohnen 2012 Quelle: Statista/Zeit online

678uSA

38Indien*

28Türkei*

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Niemand will symmetrische KriegführungMit der kriegerischen Wirklichkeit hatten die Beschwörungen militärischen Helden-tums indes niemals viel zu tun. Das Letz-te, was sich Soldaten auf dem Schlachtfeld wünschen, ist ein fairer Kampf. Sie wollen überleben, keine Verletzungen davon tra-gen, nicht in Gefangenschaft geraten, viel-leicht Beute machen, sich rächen, ihre Geg-ner außer Gefecht setzen oder einfach nur töten, und sie werden deshalb alles tun, um auf jeden Fall zu den Stärkeren zu gehö-ren. Asymmetrische Kriegführung ist daher nicht die Ausnahme, sondern der Normal-fall. Die Geschichte militärischer Rüstung lässt sich als ein einziger Versuch lesen, die Symmetrie der Konfrontation durch techni-sche Überlegenheit zu asymmetrisieren, was durch immer neue Resymmetrisierungsver-suche konterkariert wird, die wiederum neue Asymmetrisierungsanstrengungen in Gang setzen usw. (Münkler 2006).

Im Krieg kreuzen sich zwei Handlungs-logiken, die des Kampfes und die der effi-zienten Gewaltanwendung. Auf der einen Seite ist der Krieg nach Clausewitz’ be-kannter Definition „nichts als ein erwei-terter Zweikampf“, in dem jede Partei ver-sucht, die andere „durch physische Gewalt zur Erfüllung [ihres] Willens zu zwingen“, sie „niederzuwerfen und dadurch zu jedem ferneren Widerstand unfähig zu machen“ (Clausewitz 1832–34/1952, 89). Auf der an-deren Seite versucht jede Partei durch Ein-satz technischer Mittel, den Gegner wehrlos zu machen und sich zugleich gegen seine Gewalt wirksam zu schützen. Dazu dienen Apparaturen, welche die Intensität der Ge-walt, ihre Zielgenauigkeit und Reichweite steigern, die Beweglichkeit und Geschwin-digkeit von Truppen und Waffen erhöhen, für möglichst vollständige Sichtbarkeit des Gegners sorgen oder durch Panzerung be-ziehungsweise Tarnung die eigene Ver-wundbarkeit minimieren. Eine elementa-

re Strategie in diesem Zusammenhang ist die Vergrößerung der Distanz zum Gegner, die wiederum eine erweiterte Reichweite und verbesserte Zielgenauigkeit der eigenen Waffensysteme voraussetzt. Die Körper der Kämpfer und ihre Waffen, genauer: der Ort, an dem die Waffen ihre Zerstörungskraft entfalten, werden möglichst weit vonein-ander getrennt. Ziel ist es, den Gegner zu treffen, ohne selbst von ihm getroffen wer-den zu können. Die Drohnenkriegführung treibt die Asymmetrie von Kampf und tech-nischer Effizienz so weit ins Extrem, dass die eine Seite ganz verschwindet. Die Spiel-regeln wandeln sich radikal: „Das Paradig-ma ist nicht jenes von zwei Kämpfern, die einander gegenüberstehen, sondern ein an-deres: ein Jäger, der seinen Vorstoß macht, und eine Beute, die flieht oder sich ver-steckt“ (Chamayou 2014, 44). Aus Krieg wird präventive Menschenjagd. Drohnen machen keine Gefangenen, und sie erlau-ben keine Kapitulation.

„Nicht Kriegsverhinderung, sondern die Sicherung der Kriegführungs -

fähigkeit motiviert die Abkehr vom Ideal militärischen Heldentums.“

26Israel*

23Frankreich

10uK*

9Deutschland

5Italien

* im Besitz weiterer Drohnen, über deren Anzahl es keine Angaben gibt

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Das Bemühen, eigene Verluste zu ver-meiden, und auch die Einseitigkeit des Tö-tens sind allerdings kein Spezifikum des Drohnenkrieges. Als die westlichen Erobe-rer in den Kolonialkriegen mit Maschinen-gewehren die allenfalls mit Speeren oder alten Flinten bewaffneten Eingeborenen niedermähten, hatte auch das nichts Hel-denhaftes. Das Besondere der „Drohnisie-rung“ des Krieges liegt weniger in der impe-rialen Machtüberlegenheit als im offiziellen Übergang zu einer Ethik, die den Schutz des Lebens der eigenen Soldaten zum absolu-ten Imperativ erhebt. Schon eine begrenz-te Anzahl von Gefallenen – gemeint sind selbstverständlich nur Tote auf der eigenen Seite – würde die öffentliche Zustimmung zu einem Kriegseinsatz gefährden, so die militärische Begründung für die Umwer-tung militärischer Werte. Smarte Techno-logie soll deshalb übernehmen, wofür bis-her Kampfeswille und Opferbereitschaft mobilisiert werden mussten. Nicht Kriegs-verhinderung, sondern die Sicherung der Kriegführungsfähigkeit motiviert die Ab-kehr vom Ideal militärischen Heldentums. –

„Give War a Chance“ lautet der Titel eines der ersten Aufsätze zur postheroischen Kriegführung (Luttwak 1999).

Burn-out statt HeldentodIn der Geschichte führten neue und beson-ders wirkmächtige Waffen häufig auch zur Heroisierung derjenigen, die sie lenkten – man denke nur an die Fliegerhelden des Ersten und Zweiten Weltkrieges. Für die Drohnenpiloten trifft das Gegenteil zu: Sie sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, Nerds zu sein, die ihrer Leidenschaft für Com-puterspiele nachgehen und vom sicheren Sessel aus die Raketen schon deshalb ohne Skrupel abfeuern, da sie zwischen virtuel-ler und realer Welt kaum mehr zu unter-scheiden wüssten. Der Gamifizierung des Krieges entspreche eine Playstation-Menta-lität der Piloten, die ihre prospektiven Op-fer nur als bewegte Bilder auf den Monito-ren sähen. Nachdem in der Anfangsphase der Drohnenangriffe wiederholt Intervie-wäußerungen von Piloten bekanntwurden, die geeignet waren, dieses Bild zu bestäti-gen, betonen die militärischen Instanzen

inzwischen die besonderen psychischen Belastungen, denen die Drohnenoperato-ren ausgesetzt sein sollen. Die permanente Sorge, versehentlich Unschuldige zu treffen, sowie das emotionale Wechselbad, in der Nachtschicht per Fernsteuerung verdäch-tige Terrorkämpfer zu töten und am nächs-ten Morgen die Kinder zur Schule zu brin-gen, stellen demnach außergewöhnliche Stressoren dar. Die Befunde in der militär-medizinischen Fachliteratur sehen freilich anders aus: Die untersuchten Operatoren wiesen zwar deutlich überdurchschnitt-liche Burn-out-Raten auf, die Befragten nannten als Belastungsfaktoren jedoch in erster Linie Schichtarbeit, Dienstplanän-derungen, personelle Unterbesetzung und vor allem die Eintönigkeit der Arbeit (Or-tega 2012, 24). Heldenmythen lassen sich aus solchen Befunden schwerlich stricken.

Technik mit moralischer QualitätWenn also die Drohnenkrieger schon nicht als Kriegshelden taugen, lassen sich dann vielleicht die Drohnen selbst heroisch auf-laden? An entsprechender Rhetorik man-

Kameraoperator der Aufklärungsdrohne Heron 1 im Steuerungscontainer

Good Kill – Tod aus der Luft US-amerikanisches Filmdrama

von 2014 über die Drohnen- einsätze der U. S. Air Force und deren Folgen für die Piloten. Die

Hauptrolle spielt Ethan Hawke. In Deutschland erschien der Film 2015 direkt auf DVD und Blu-ray

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gelt es nicht: Die militärische Propaganda rühmt die elektronischen Aufklärungs- und Waffensysteme dafür, das Leben der ei-genen Truppen zu schützen und durch ihre Präzision auch die Zahl der gegnerischen Opfer zu senken. Was den Drohnenpilo-ten als Feigheit angekreidet wird, die Aus-schaltung des Gegners ohne Risiko, wird der Technik als moralische Qualität gut-geschrieben. Ihren Apologeten gelten die Drohnen als geradezu humanitäre Waffen, die zuverlässig die Bösen aufspüren und sie vernichten, noch bevor diese selbst zur Un-tat schreiten können. All das sind militä-rische Leistungen, für die ein Soldat zwei-fellos in den Heldenstand erhoben würde. Dass Drohnen weit länger auf ihren Posten in der Luft bleiben, schärfer sehen und ge-nauer treffen, als es Menschen je könnten, ist ohnehin klar.

Von einem Heldenkult rund um die Droh-nen kann trotzdem keine Rede sein. Dazu fehlen ihnen jene spezifisch menschlichen

Eigenschaften – allen voran moralische Ur-teilskraft, Empathie und Emotionalität –, an die heroische Identifikationen anschließen könnten. In den Imaginationswelten der Po-pulärkultur wimmelt es zwar von mensche-nähnlichen Robotern, die aber nur dann zu Helden avancieren, wenn sie auch mensch-liche Regungen zeigen, also ihre Roboterhaf-tigkeit aufgeben. Maschinen selbst operie-ren nicht im Heldenmodus, ihnen fehlt dafür eine fundamentale Dimension heroischen Handelns: die Fähigkeit, sich zu entschei-den. Sie prozessieren Algorithmen; heroi-schen Anrufungen zu folgen oder eben nicht, dafür besitzen sie kein Sensorium.

Der postheroische Traum gebiert heroische ungeheuerHelden erzeugen die Drohnen allerdings auf ganze andere Weise: Das ferngesteuer-te targeted killing führt dem globalisierten Dschihadismus fortlaufend neue Kämpfer zu. Sie setzen der Risikoaversion westli-

cher Kriegführung die Unbedingtheit ih-res Todeswillens entgegen und finden dafür begeisterte Anhänger. Der Selbstmordat-tentäter ist die feindliche Komplementär-figur des Drohnenpiloten: „Auf der einen Seite das vollkommene Engagement, auf der anderen die absolute Distanzierung“ (Chamayou 2014, 95f.). Der postheroische Traum einer sauberen Kriegführung gebiert heroische Ungeheuer.

Die Diagnose des postheroischen Zeit-alters bedeutet daher keinesfalls ein Ende heroischer Anrufungen. Solange politische oder religiöse Mächte auf die Bereitschaft zum Selbstopfer angewiesen sind und sie schüren, wird man Helden suchen und fin-den. Der Streit darüber, ob militärischer Heroismus antiquiert ist und wir in der Ära des Postheroismus angekommen sind, führt deshalb nicht weiter. Schon die Frage ist falsch gestellt. Wir sind nie heroisch ge-wesen. Wir sollten es immer nur sein. Und viel zu oft wollten wir es auch.

Prof. Dr. ulrich Bröckling ist Professor für Kultur- soziologie an der Albert- Ludwigs-Universität Freiburg und Teilprojektleiter im Sonderforschungsbereich „Helden, Heroisierungen, Heroismen“ (siehe rechts unten)

Literatur– Gregoire Chamayou, Ferngesteuerte Gewalt.

Eine Theorie der Drohne, Wien 2014.– Carl von Clausewitz, Vom Kriege,

16. Auflage, Bonn 1952. – Edward N. Luttwak, Give War a Chance,

In: Foreign Affairs 78 (4), 1999, S. 36–44.– Herfried Münkler, Der Wandel des Krieges.

Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswist 2006.– Hernando J. Ortega,

Combat Stress in Remotely Piloted/UAS Operations, Transskript eines Vortrags vom 3. Februar 2012 im Brookings-Institut, Washington, http://tinyurl.com/Combat-Stress-Drohne

Helden verstehen Heroische Figuren können nur im Kontext kultureller, politischer und sozialer Sinnsysteme verstanden werden. Am Sonderforschungs-bereich „Helden, Heroisierungen, Heroismen“ der Deutschen

Forschungs gemeinschaft (DFG), angesiedelt an der Freiburger Universität, untersuchen Forscher das Heroische in einer kulturüber-greifenden Langzeitperspektive von der Antike bis heute.

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SOLcHE HELDEN

BRAucHEN WIR

Über die Besonderheit biblischer Heldenerzählungen

Von Frank Hofmann

W ir brauchen Helden. Ohne Helden könn-ten wir keine Geschichten erzählen. Noch nicht einmal unsere eigene Lebensge-

schichte. Die Überhöhung von Menschen zu zentra-len Figuren einer Erzählung hilft uns, unsere Herkunft zu verstehen und unsere Identität zu finden. Die Hel-dengeschichten des Altertums waren das narrative Ge-dächtnis ganzer Völker. Heute, globalisiert und indivi-dualisiert, wollen wir wenigstens in unserem eigenen Leben einen roten Faden erkennen: Wir sind selber die Helden unseres Lebens. Kurse, in denen das Auto-biografie-Schreiben gelehrt wird, haben regen Zulauf.

Je unbedeutender die Wirklichkeit ist, umso größer muss die Fantasie des Erzählers sein. Eines der unbe-deutendsten Völker der Antike war das, von dem die Bibel erzählt. „Du bist das kleinste unter allen Völkern“, ruft Mose seinen Israeliten zu (5. Mose 7,7). Trotzdem begriffen die Israeliten sich als von Gott in besonderer Weise begünstigt. Ein Selbstverständnis, das sich auch auf Heldenerzählungen gründete. Doch erstaunlicher-weise fehlt den Helden des „auserwählten Volkes“ eine von drei typischen Eigenschaften. Üblicherweise haben Helden eine außergewöhnliche Tat vollbracht, eine Er-zähltradition begründet – und verdienen als Vorbilder Ruhm und Verehrung. Das letzte Kriterium erfüllen die großen Helden des biblischen Israels gerade nicht.

Die älteste und für die Identitätsfindung der Israeli-ten wichtigste Erzählung sind die Geschichten über Ja-kob,1 dessen Namensgebung schon diese Besonderheit zum Ausdruck bringt. „Jakob“ lässt sich vom hebräi-schen Wort für „betrügen“ ableiten. Eine Erinnerung an die miese Masche, mit der sich der Zweitgeborene gegen ein Linsengericht den Erstgeburtssegen von sei-nem Bruder Esau erschlich. Als Jakob sich aus ganz und gar unheroischer Angst vor Esaus Rache auf den Weg macht, um bei seinem Bruder Abbitte zu leisten, verwickelt ihn ein Unbekannter des Nachts in einen Ringkampf. Jakob erkennt in dem Gegner Gott – und erhält von ihm einen neuen Namen, den Namen des Volkes: „Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen ge-kämpft und hast gewonnen.“ (1. Mose 32,29) Als Ahn-vater erwählen sich die Israeliten gerade keinen ma-kellosen Helden, sondern eine zwielichtige Gestalt, die sich mit moralisch verwerflichen Tricks Vorteile und Reichtum verschafft.

König David ist ein EhebrecherEbenso fragwürdig der andere bedeutende biblische Ahnvater, aus dessen Nachkommenschaft der Messias prophezeit wurde: David, der unscheinbarste der Söh-ne Isais, der trotz seiner körperlichen Schwäche zum künftigen König gesalbt wird. Dass er den starken Phi-lister Goliath in seiner gepanzerten Rüstung mit einer einfachen Steinschleuder niederstreckt, scheint ihn zum Helden zu erheben. Doch seine Vorbildlichkeit

Schlachtenreich Wie das Kino die Geschichten der Bibel neu entdeckt und aufbereitet. Ein kritischer Überblick auf evangelisch.de http://tinyurl.com/evangelisch-de-Bibelfilme

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verspielt er sich gleich nach Amtsantritt: Der frisch inthronisierte Herrscher des Volkes Israel verliebt sich in die Frau eines seiner Offiziere, schläft mit ihr – und stellt den betrogenen Ehemann dann im Krieg in die vorderste Frontreihe, wo dieser erwartungsgemäß dem Gegner zum Opfer fällt. Der legendarische König der Israeliten – ein Ehebrecher und Mörder.

In dieser Art gebrochener Heldenerzählungen, die für die damalige Zeit einzigartig waren, zeigt sich ein Grundzug jüdisch-christlichen Glaubens. Nicht der Mensch kann sich aus eigener Kraft zu etwas Beson-derem machen – es ist Gott allein, der Helden schafft. Oft aus dem Nichts (wie zum Beispiel bei Gideon; vgl. Richter 6,11 ff.), oft gegen den Protest der Betroffenen (wie bei vielen Prophetenberufungen) und manchmal gegen jede menschliche Maßstäbe (wie bei dem Bru-derpaar Jakob und Esau). Was immer Menschen voll-bringen, so die dahinterstehende Überzeugung, Gott allein gebührt die Ehre – soli deo gloria. Auch ist kein Mensch so perfekt, dass er Verehrung verdiente.

Diese realistische Sicht auf den Menschen bestimmt auch die Darstellung Jesu im Neuen Testament. Die Evangelien beschreiben Jesus als einen Menschen, der sich in seinen Prophezeiungen irrt (zum Beispiel Markus 9,1), der für seine Botschaft keine Anhänger gewinnt (Markus 6,4–6), der zutiefst deprimiert ist (Markus 14,34), im Zorn andere Menschen schlägt (Johannes 2,15), Hilfesuchende auch mal arrogant abweist (Markus 7,27) – und in der Stunde größter Verzweiflung ratlos ist (Markus 15,34). Alle Vorschlä-ge, sich ein heldenhaftes Denkmal zu setzen, lehnt er ab. Er stürzt sich nicht von der Zinne des Jerusalemer Tempels und steigt auch nicht vom Kreuz. Und doch begründete er eine Gefolgschaft, die in ihrer Größe und Dauer einzigartig ist.

Solche Helden brauchen wir. Helden, an denen sich Größeres zeigt als eine außergewöhnliche Tat. Wir brau-chen Helden, die zeigen, dass Gott in Menschen wirkt. Helden wie du und ich. Die christliche Heldendefinition hat Paulus im 2. Korintherbrief formuliert: „Gott hat zu mir gesagt: ‚Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.‘ Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi in mir wohne.“ (12,9)

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Dr. Frank Hofmann gehört zum Heraus-geberkreis von zur sache bw und ist Chefredakteur des ökumenischen Vereins Andere Zeiten e. V. in Hamburg.

1 Die in der biblischen Abfolge vorher eingefügten Abraham- und Isaak-Geschichten entstammen einer späteren Tradition.

Zum Reinhören: Daniel in der Löwen- grube, der über-menschlich starke Simson, die mutige Esther. In einem kurzen, knapp

eineinhalb Minuten dauernden Audio stellt Reporter Sebastian Jakobi für die Evangelische Kirche Hessen-Nassau einige

Helden der Bibel vor. Dort findet man auch die entsprechenden Bibelstellen. http://tinyurl.com/EKHN-Bibelhelden

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Die Schwimmerin Kirsten Bruhn hat mehrere Paralympics-Goldmedaillen gewonnen.

Was denkt sie, wenn Leute sie als Heldin bezeichnen?Von Gabriele Meister

Frau Bruhn, vor kurzem ist Ihre Biografie erschie-nen. Im Vorwort steht: „Ich hörte oft, ich solle meine Erfolgsgeschichte aufschreiben, weil ich im Kampf gegen mich selbst gewonnen hätte.“ um welchen Kampf geht es?KIRSTEN BRUHN: Ich

hatte mit 21 Jahren einen schweren Motorradunfall und bin seitdem auf den Rollstuhl angewiesen. Ich musste ver-suchen, mich so zu akzeptieren, wie ich bin, was mir schon vorher schwergefallen war. Schulnoten, mein Aussehen… Irgendetwas hatte ich immer an mir auszusetzen. Nach dem Unfall hat es Jahre gedauert, bis ich zum professionellen Schwimmsport zurückge-funden habe und zum ersten Mal für den Behindertensport- verband geschwommen bin.

Was hat Ihnen geholfen, durchzuhalten?Als Kind bin ich öfter ge-

hänselt worden. Weil mein Vater Polizist war und ich „die Bullentochter“. Und weil ich nach Schwimmwettkämpfen in der Zeitung stand. Wenn ich deswegen nicht in die Schule gehen mochte, haben meine Eltern immer gesagt:

„Kann-ich-Nicht steht draußen am Baum und pinkelt“, also: nicht lang schnacken, sondern machen. Diese Einstellung hat mich geprägt. Überhaupt ist meine Familie sehr wichtig für mich. Nach dem Unfall haben wir uns gemeinsam über jeden Fortschritt gefreut.

Aufgrund Ihrer Erfolge haben Medien Sie schon häufiger als „Heldin mit Handicap“ bezeichnet. Ist das nicht ein Wider-spruch in sich?Wenn man näher hinsieht,

haben Helden immer einen Makel bzw. eine Schwach- stelle. Entweder scheitern sie daran wie etwa Achilles. Oder sie werden spezieller wahr-genommen, wie zum Beispiel das erfolgreiche Model Mario Galla mit der Beinprothese. Ein Makel muss also nicht unbedingt schlecht oder eine Behinderung sein. Man kann ihn auch zur Stärke und zur Besonderheit machen.

Hat die Bezeichnung „Held“ oder "Heldin" etwas Positives für den Behindertensport, weil sie das Bild vom makel-losen Körper bricht?Superlative wie „Held“

bauen Hierarchien auf statt Begegnung auf Augenhöhe zu ermöglichen. Wenn mich Leute als Vorbild sehen, fühle ich mich geehrt. Aber ich habe meiner Ansicht nach nichts Weltbewegendes getan. Letztlich sind wir alle irgend-wie Helden oder auch irgend-wie keine Helden. Jeder muss seinen Alltag meistern, ob das nun bedeutet, Krankheiten zu überstehen oder im Job klar-zukommen. Deshalb sollte sich auch keiner über andere erheben. Meine Mutter sagte immer: „Stell dir den Menschen nackt unter der Dusche vor, dann relativiert sich einiges.“

Kirsten Bruhn:Mein Leben und

wie ich es zurückgewann.

Verlag Neues Leben, Berlin 2016, 160 Seiten, 12,99 Euro.

Mediale DarstellungÜber Sätze wie „Sie kämpft nicht nur gegen ihre Gegner, sondern auch gegen ihre Behinderung“ oder „Trotz körperlicher Einschränkung hat er hohe Ziele“ ärgern sich viele Leistungssportler

mit Behinderungen. Sie wollen in den Medien nicht als Leidende oder Helden rüberkommen, sondern als Sportler. Tipps, wie man es besser macht: http://leidmedien.de/journalistische-tipps/broschuere-paralympics/

„HELDEN HABEN IMMER EINEN MAKEL“

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Haben Sie sich nie mit olympischen Schwimmerinnen verglichen?Natürlich ist das auch

mal Thema bei mir. Aber ich war und werde nie so schnell sein wie Franziska van Almsick oder Britta Steffen. Darüber nachzudenken, hätte mich nur von meinem Fokus abgelenkt – meinem eigenen Wettkampf. Das war mein An-sporn. Alles andere war egal.

Ist es nicht trotzdem unfair, wenn Olympia- Athleten stärker im Rampenlicht stehen als Paralympics-Sportler?Ich bin Vorsitzende des

Kuratoriums des Deutschen Behindertensportverbandes und möchte natürlich der Gesellschaft klarmachen, dass paralympische Sportler genau so viel leisten wie olympische und deshalb genau so viel Aufmerksamkeit verdienen. Trotzdem kann man nicht da-von sprechen, dass es „unfair“ ist, wenn jemand weniger im Rampenlicht steht. Das würde ja voraussetzen, dass die Gesellschaft dasselbe Grundverständnis gegenüber beiden Gruppen hat. Aber das ist nicht gegeben.

Woran liegt das?Keiner beschäftigt sich

gern mit Krankheiten, Un-fällen oder Lebenskrisen. Deshalb findet auch der Be-hindertensport vergleichs-weise weniger Beachtung als anderer Sport. Aber jeder wird irgendwann Mobilität ver-lieren. Je früher man sich damit auseinandersetzt, des-to einfacher wird man klar-kommen. Athleten mit Handicap zeigen: Auch ohne perfekten Körper geht es weiter und das Leben ist trotzdem lebenswert. Aber das will die Gesellschaft größtenteils noch nicht sehen, der Fokus liegt immer da- rauf, dass jemand nicht dem Ideal entspricht.

Wie will Ihr Verband das ändern?Wir versuchen, zu-

nehmend Wettkampftage zu veranstalten, an denen be- hinderte und nichtbehinderte Sportler nacheinander antreten, damit die Zuschauer sehen, dass beides normal ist. Auch in der Werbung sollten paralympische Sportler eine Selbstverständlichkeit sein. Aber hier höhlt der stete Tropfen den Stein sehr lang-sam. Wenn sich Pamela Anderson für Fotos nackt auf ein Pferd setzt, sagt keiner etwas. Wenn das eine bein-amputierte Frau tut, heißt es gleich: Das können wir nicht zeigen, das wäre voyeuristisch. Aktfotos sind Geschmacks-sache, aber ansonsten hoffe ich, dass die Gesellschaft bald versteht, dass beide Bilder völlig normal sind.

Kirsten Bruhn, 46, begann schon als Neunjährige mit dem Leistungs-

schwimmen. Nach einem Unfall im Jahr 1991 hat sie eine

inkomplette Querschnittlähmung

Gabriele Meister ist freie Journalistin

mit einem Schwerpunkt auf Interviews.

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V on Anfang an sind in der ameri-kanischen Filmgeschichte zwar Frauen und Männer als Charak-

tere filmischer Erzählungen zu sehen, al-lerdings ist die Häufigkeit der Präsenz ab-hängig vom Genre. Während nämlich männliche Figuren verstärkt als Protago-nisten in Western, Abenteuer-, Horror- und Kriegsfilmen auftreten, spielen Frauen zu-meist im Melodram und in der (Liebes-)Ko-mödie eine zentrale Rolle. Stereotypische Verhaltensweisen der Geschlechter prägen die Geschichten und verdeutlichen, was typisch männliche und typisch weibliche Merkmale sind: Frauen werden meistens als schön anzusehende Blickobjekte für die männlichen Filmhelden (und freilich auch Rezipienten) inszeniert; sie sind Opfer, die beschützt und gerettet werden müssen und die den Helden schließlich als Preis für den Sieg dienen. Im klassischen Hollywoodki-no dominiert der männliche Held. Etymo-logisch geht der Begriff Held (griechisch Heros) auf „erhalten, bewahren, beschüt-zen“ oder „Kraft, Stärke“ zurück. Demnach ist er eine Person, die sich durch Körper-stärke auszeichnet und als Beschützer und Kämpfer für andere auftritt. Die Geschich-te des Films kennt zahlreiche Schauspie-ler, die solche kraftbetonten Heldenfiguren verkörpert haben und nach wie vor immer noch verkörpern (z. B. Kirk Douglas, Clint Eastwood, Arnold Schwarzenegger, Bruce Willis, Hugh Jackman).

Ripley – die erste starke Heldin im Actiongenre Aber wo bleiben die Frauen, die Heldinnen, die ebenfalls mutig ihren Weg trotz aller Widerstände gehen? Ab Ende der 1970er Jahre wandelt sich das Frauenbild im ame-rikanischen Kino radikal. Die erste star-ke Frau in einem actionorientierten Genre, die ihren männlichen Filmhelden in nichts nachsteht, ist eine Astronautin in einem Science-Fiction-Film und heißt Ripley. Mit

„Alien – Das unheimliche Wesen aus einer

FILM-HELDINNEN

Starke Frauen im KinoVon Thomas Bohrmann

fremden Welt“ (1979) hat die Schauspiele-rin Sigourney Weaver ihren internationa-len Durchbruch. Als Alien-Jägerin nimmt sie den Kampf in einer feindlichen Umwelt gegen eine fremde Spezies auf und siegt am Ende nicht allein durch Körperkraft, son-

dern vor allem durch Intelligenz und Vo-raussicht. Mit ihr begründete der Regis-seur Ridley Scott ein neues Frauenbild im Kino. Ripley ist weder das „geborene Opfer“ noch die „screaming lady“, sondern eine starke Figur, die aktiv die Handlung vo-

1 Christopher Vogler, Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Über die mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgs - kinos, Frankfurt am Main 2004, S. 87.

2 Vgl. Ralph Donald, Karen MacDonald, Woman in War Films. From Helpless Heroine to G. I. Jane, Lanham u. a. 2014.

3 Siegfried Kracauer, Kino. Essays, Studien, Glossen zum Film, hg. von Karsten Witte, Frankfurt am Main 1974, S. 249.

4 Vgl. Alice Fleischmann, Frauenfiguren des zeitgenössischen Mainstreamfilms. A Matter of What’s In the Frame and What’s Out, Wiesbaden 2016.

5 Vgl. Thomas Bohrmann, Wertevermittlung einmal anders? Die Bedeutung von Actionfilmen für die gesellschaftliche Moral, in: Joachim von Gottberg, Elisabeth Prommer (Hg.): Verlorene Werte? Medien und die Entwicklung von Ethik und Moral, Konstanz 2008, S. 231–243.

Ein gut gemachter Comic über die junge deutsche Widerstandskämpferin:

Ingrid Sabisch, Heiner Lünstedt: Sophie Scholl,

Knesebeck-Verlag 2015, 56 Seiten, 19,95 Euro.

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sich in einen Schmelzofen fallen lässt. Mit ihrem Selbstopfer verwirklicht sie genau das, was von einem Helden erwartet wird, nämlich „seine eigenen Bedürfnisse dem Nutzen der Gemeinschaft zu opfern.“1

Das amerikanische Kino kennt mittlerweile viele HeldinnenBlickt man auf die Entwicklung weiblicher Heldenfiguren im Kino nach Ripley, so lässt sich inzwischen eine pluriforme Ansamm-lung sehr unterschiedlicher Charaktere im Action- und Science-Fiction-Film feststel-len. Die zweite starke weibliche Filmfigur im amerikanischen Kino nach Ripley ist die zunächst schüchterne Sarah Connor (Lin-da Hamilton) in „Terminator“ (1984), die aber allmählich in ihre Rolle hineinwächst und am Ende die mordende Maschine aus der Zukunft in einer Stahlpresse „termi-niert“. Einige Jahre später ist sie in der Fort-setzung „Terminator 2 – Tag der Abrech-nung“ (1991) vollends zur selbstbewussten Kämpferin herangereift, die auch optisch – muskelgestählt und schwer bewaffnet – schon fast an den klassischen siegreichen (männlichen) Helden erinnert. Frauen sind in den nachfolgenden Jahren besonders in Polizeifilmen zu sehen, etwa in „Blue Steel“ (1990) und in „Das Schweigen der Läm-mer“ (1991), sie tragen Waffen, schießen und bringen den Bösewicht zur Strecke. Das Thema Gleichberechtigung hat mit dem Film „Die Akte Jane“ (1997) dann auch das Kriegsfilmgenre erreicht.2 Der Film war an den Kinokassen zwar ein Misserfolg, umso deutlicher wurde aber die Botschaft ver-breitet, dass auch Frauen in der Lage sind, heldenhaft für das Vaterland zu kämpfen. Zu Beginn des neuen Millenniums heißen die Protagonistinnen im Kino dann Lara Croft (Angelina Jolie), Alice (Milla Jovo-vich) oder „Die Braut“ (Uma Thurman). In „Tomb Raider“ (2001 und 2003) löst Lara Croft als erfindungsreiche Abenteurerin in fernen Ländern Rätsel, spürt geheimnisvol-le Schätze auf und tritt kampfessicher gegen

Thomas Bohrmann ist Professor für Katholische Theologie mit dem Schwerpunkt Angewandte Ethik an der Universität der Bundes-wehr München.

rantreibt und es nicht dem Zufall überlässt, ob sie gerettet wird, sondern mit eigener Kraft, ohne männliche Unterstützung, ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt. Auf-grund des großen Erfolgs wurde die Ge-schichte fortgesetzt, so dass heute insge-

samt vier Kinospielfilme der Alien-Reihe vorliegen. Als Ripley in „Alien 3“ (1992) von einem feindseligen Alien befruchtet wird und ein Ungeheuer in sich wachsen spürt, ist sie ohne Zögern bereit, ihr Leben für die Menschheit hinzugeben, indem sie

Großer Rao! Lange Zeit war es unter Superhelden verpönt, eine Religion zu haben – das Tabu ist gefallen, meint chrismon-Redakteur Claudius Grigat:http://tinyurl.com/chrismon-Rao

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so manche Feinde an. Alice, die über unge-wöhnliche Fertigkeiten verfügt, kämpft im Horror-Actionfilm „Resident Evil“ (2002) und seinen vier Fortsetzungen gegen ein tödliches Virus und blutrünstige Zombies. Und die Braut in „Kill Bill“ (2003 und 2004) bekämpft in einem großangelegten einsa-men Rachefeldzug all jene, die ihr nach dem Leben trachteten. Das Erstaunliche an diesen beiden Filmen von Quentin Ta-rantino, der hier seine Filmkunst und die Ästhetisierung von Gewalt weiter perfekti-oniert hat, ist aber, dass eine Heldin auftritt, die trotz Rache und Zerstörung einen zent-ralen Aspekt von Weiblichkeit bewahrt und bis zum Ende kultiviert: die Mutterschaft. In der letzten Sequenz schließt die Braut ihre Tochter, die ihr vorenthalten wurde, endlich in die Arme. Auch in den Verfil-mungen der Superhelden und -heldinnen sind starke Frauen zu sehen, zum Beispiel in „X-Men“ (2000), „Catwoman“ (2004),

„Fantastic Four“ (2005) und in „Marvel’s The Avengers“ (2012). Mit Katniss Ever-deen (Jennifer Lawrence) tritt schließlich ein Charakter auf, der besonders ein ju-gendliches Publikum anspricht. In der vier-teiligen Filmreihe „Die Tribute von Panem“ (2012–2015) erweist sich Katniss nicht nur als waffenerprobte Kämpferin, sondern vor allem auch als fürsorgliche und altruisti-sche weibliche Heldin, die sich gegen ein to-talitäres politisches System zur Wehr setzt. Als Jägerin übt sie zudem eine Tätigkeit aus, die nur Männern vorbehalten ist, und zeigt dabei nicht nur physische Stärke, sondern auch psychische Reife.

Filme als Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen Dass sich mit Ripley im Mainstreamfilm aus Hollywood ein neuer Frauentypus in Gestalt der mutigen und starken Heldin eta-blieren konnte und ihr mittlerweile viele weibliche Filmfiguren nachgefolgt sind, kann soziologisch im zeitgeschichtlichen Kontext moderner Gesellschaften erklärt

werden. Siegfried Kracauer hat den kausa-len Zusammenhang zwischen gesellschaft-lichen Verhältnissen und Medienproduk-ten mit seiner Aussage „Filme spiegeln unsere Realität“3 beschrieben. Dass be-deutet, dass der Film den sozialen Wan-

del der Gesellschaft aufgreift und die so-ziale Realität reflektiert. In diesem Sinne übernimmt er eine seismografische Funk-tion für gesellschaftliche Veränderungen. Ab den 1960er Jahren etwa haben sich die westlichen Gesellschaften so stark gewan-

Heldenreise„Star Wars“, „Harry Potter“, „Pretty Woman“ – fast allen erfolgreichen Hollywoodfilmen liegt als Erzähl-muster die „Heldenreise“ zugrunde. Mythenforscher Joseph Campbell entdeckte dieses Grundmuster in den Geschichten von Naturvölkern. Drehbuchautor Christopher Vogler übertrug es auf die Entwicklung von Filmstorys (vgl. Fußnote 1 in diesem Artikel):

Die Stationeneiner Heldenreise

(nach Vogler):

1. Ausgangs- punkt: die gewohnte Welt des Helden.

2. Der Held wird zum Abenteuer gerufen.

3. Er verweigert sich zunächst diesem Ruf.

4. Ein Mentor überredet ihn, die Reise anzutreten. Das Abenteuer beginnt.

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neue Selbstverständnis von immer mehr Menschen. Für die gesellschaftliche Situ-ation von Frauen bedeutet dieser Indivi-dualisierungsprozess vor allem die Befrei-ung von traditionellen Rollenbildern und einen Anspruch auf ein eigenes Leben. Die-ses neue Frauenbild und das damit verbun-dene neue Verhältnis der Geschlechter zu-einander werden auch im Kino aufgegriffen und spiegeln sich u. a. im Actionfilm und seinen Subgenres wider. Auch wenn eine volle Gleichberechtigung der Geschlech-ter etwa im Hinblick auf die quantitative Verteilung der Hauptfiguren im Spielfilm noch nicht gegeben ist – nach wie vor sind männliche Heldenrollen häufiger4 –, kann die Präsenz starker Frauenfiguren vor al-lem in den actionorientierten und gewalt-affinen Genres im Kino der letzten Jahre nicht geleugnet werden.

Die Filme bringen den Wandel west-licher Gesellschaften zum Ausdruck; sie sind aber nicht nur einfach Spiegel der Zeit oder der sozialen Realität, sondern sie bie-ten auch Rollenmodelle und somit Identi-fikationspotenziale für das eigene Handeln an, indem ihre Helden und Heldinnen als moralische Figuren auftreten und ein be-stimmtes Ethos zu transportieren versu-chen.5 Trotz aller Unterschiede werden in den Filmen aktiv handelnde Frauen mit Willensstärke und Risikobereitschaft ge-zeigt, die sich entweder alleine oder zu-sammen mit anderen zielorientiert zu ver-teidigen wissen. Dadurch versuchen sie, starre Geschlechterrollen aufzuweichen. Allerdings bleiben die meisten weiblichen Filmfiguren weiterhin dem klassischen Schönheitsideal verpflichtet; sie sind zu-meist jung, attraktiv, athletisch und allge-mein begehrenswert. Geschuldet ist dies einerseits dem Publikum, das sich gerade im Actiongenre vermehrt aus männlichen Rezipienten zusammensetzt, aber anderer-seits dem ungebrochenen Wunschbild von makelloser Schönheit der amerikanischen Filmindustrie.

Frauen, die sich den Weg freikämpfen – und dabei jederzeit aussehen wie Topmodels: Von oben links im Uhrzeigersinn:

Katniss (Jennifer Lawrence) in „Die Tribute von Panem“, „Die Braut“ (Uma Thurman) in „Kill Bill“,

Lara Croft (Angelina Jolie) in „Tomb Raider“, Alice (Milla Jovovich) in „Resident Evil“

delt, dass die Auswirkungen die gesamte Sozialstruktur inklusive Familienkonstel-lation und Geschlechterbeziehung betref-fen. Selbst gewählte Lebensformen, innere Autonomiebestrebungen und die Loslö-sung von Traditionen verdeutlichen das

5. Der Held überschreitet eine erste Schwelle, nach der es kein Zurück mehr gibt.

6. Er wird vor erste Bewäh-rungsproben gestellt, trifft dabei auf Verbündete und Feinde.

7. Er dringt bis zur tiefsten Höhle, zum gefährlichsten Punkt vor und trifft dabei auf den Gegner.

8. Die entscheiden-de Prüfung findet statt: Konfrontation und Über-windung des Gegners.

9.Der Held nimmt seine Belohnung (den Schatz, einen besonderen Gegenstand, neues Wissen) in Besitz.

10. Er tritt den Rückweg an, während- dessen er von seinen Feinden verfolgt wird.

11. Ein letztes Mal muss sich der Held den feind- lichen Mächten stellen und erlebt nach dem Kampf seine Aufer stehung. Er ist schließlich zu einer neuen Persönlichkeit gereift.

12. Das Ende der Reise: Der Held kehrt mit dem Elixier zurück und wird zu Hause mit Anerkennung belohnt.

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ABScHIED VOM TRAGIScHEN

HELDENSøren Kierkegaard gegen die Ethik

und ihren LieblingVon Jochen Bohn

D ie biblische Geschichte ist alt und verstörend (Gen 22,1–18): Abraham, der lan-ge auf seinen Sohn Isaak als Erfüllung göttlicher Verheißung gewartet hat, wird von Gott selbst aufgefordert, diesen Sohn zu töten und als Brandopfer darzu-

bringen. Der alte Mann packt schweigend seinen Esel und zieht gemeinsam mit Isaak und zwei Knechten los. Niemand erfährt, was er tatsächlich vorhat. Am befohlenen Ort angekommen, baut Abraham einen Altar, bindet seinen Sohn, legt ihn auf das Brenn-holz und hebt das Messer zur Schlachtung. In diesem Moment ruft ihn ein Engel Gottes zurück. An Isaaks statt darf Abraham einen Widder opfern. Ausdrücklich wird er je-doch dafür gelobt, das göttliche Gebot über alle weltlichen Bindungen und Hoffnungen gestellt zu haben: über die Liebe zu seinem Sohn und über die Verheißung einer großen Nachkommenschaft.

Protest gegen die AllgemeinheitenOft wird die Pointe dieser Geschichte entschärft. So spricht die jüdische Tradition nicht von der „Opferung“, sondern von der „Bindung“ Isaaks. Hier wird vor allem der göttli-che Rückruf angeschaut: „Lege deine Hand nicht an den Knaben.“ Abraham gilt als der demütig Vertrauende, der innerlich gelassen an Isaak festhält. Auch christliche Inter-pretationen lesen die Erzählung gerne von hinten: Gott ist gnädig. Er fordert kein Opfer, schon gar kein Menschenopfer. Isaaks Rettung wird zum Symbol kulturellen Fortschritts. Derartige Entspannungsübungen sind dem dänischen Philosophen Søren Kierkegaard (1813–1855) zuwider. Mit seinem Büchlein „Furcht und Zittern“1 greift er das in allge-meinen Selbstverständlichkeiten erstarrte Kulturchristentum seiner Zeit frontal an. Zu-gleich wendet er sich gegen die großen philosophischen Entwürfe Kants und Hegels, in denen der Glaube des Einzelnen von der Idee allgemeiner Sittlichkeit aufgesaugt und zuletzt überwunden wird. Mit Abraham will er das Besondere des Glaubens noch ein-mal markieren.

Erst der Engel hält Abraham davon ab, seinen Sohn zu töten. „Die Opferung Isaaks“

von Michelangelo Merisi da Caravaggio

Der OpferbegriffEin Artikel der Deutschen Welle versucht, die politisch-gesellschaftlichen Diskurse um den Opferbegriff mit den „Du Opfer“-Sprüchen von Jugendlichen in Bezug zu setzen.http://tinyurl.com/Deutsche-Welle-Opferbegriff

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Das Ethische als VersuchungKierkegaard interpretiert nicht vom Ende her – als stünde der Ausgang der Geschichte bereits fest. Auch mildert er nicht die dramatische göttliche Forderung – als hätte Abra-ham sie gar nicht ernst genommen. In Abraham tobt nach dem Anruf Gottes vielmehr ein wilder Kampf: Zunächst ist ihm zugemutet, alles, worauf er in Isaak gesetzt hat, end-gültig aufzugeben. Überdies ist er ethisch in höchstem Maße provoziert. „Das Ethische ist als solches das Allgemeine und als das Allgemeine das, was für jeden gilt“ (S. 49). Nun gilt für jeden ganz zweifellos, dass der eigene Sohn geliebt und keinesfalls getötet wer-den soll. Gott will aber doch gerade das Gegenteil, und das Ethische wird für Abraham zur „Versuchung, das ihn davon abhalten will, Gottes Willen zu tun. Was aber ist dann Pflicht?“ (S. 55). Für Kant ist in seinem „Streit der Fakultäten“ die Sache klar: Abra-ham muss sich Gott ethisch begründet verweigern. „Daß ich meinen guten Sohn nicht tödten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiß und kann es auch nicht werden.“ Abraham handelt jedoch anders. Er lässt sich vom Gottesgebot aus dem Allgemeinen herausreißen. Er begreift Gottes Ruf als eine

„Suspension des Ethischen“ (S. 49) und hebt entschlossen das Messer. Damit wird er zum radikal Einzelnen – vor Gott und vor der Welt.

Liebling oder MörderUm die vereinzelte Existenz aus Glauben deutlich von der allgemeinen ethischen Existenz abzuheben, unterscheidet Kierkegaard den „Ritter des Glaubens“ (S. 42) vom „tragischen Helden“ (S. 54). Der tragische Held ist „der Liebling der Ethik“ (S. 81). Er ist das Ideal des Allgemeinen, und das Allgemeine ist sein Ideal. Das Wohl aller ist ihm das Höchste, und auf dieses Wohl hin trifft er seine Entscheidungen. Im Widerstreit verschiedener Pflichten entscheidet er sich nach Güterabwägung für das Höhere – selbst dann, wenn die Kosten unerträglich erscheinen. So wie Agamemnon, der in der griechischen Mythologie seine Tochter Iphigenie opfert, um Schaden vom Volk abzuwenden (S. 53). Agamemnons Opfer ist erklärbar, und die bewundernden Tränen des Volkes sind dem Helden sicher. Anders steht es um das Opfer des Glaubensritters. Abraham kann vom ethischen Standpunkt nur „als ein Mörder zurückgestoßen und ausgewiesen werden“ (S. 50). Ihm fehlt jeder Rückhalt im Allgemeinen, nichts ethisch Höheres kann ihn rechtfertigen. Dem Glau-bensritter ist nicht das Ethische das Höchste, sondern die „absolute Pflicht gegen Gott“ (S. 64). Dabei ist er zum Schweigen verurteilt, weil die Sprache des Allgemeinen vor seiner Tat versagt. Glaubensritter können weder mit Tränen noch mit Bewunderung rechnen. Ihnen nähert man sich allenfalls „mit einem horror religiosus“ (S. 56).

Furcht und ZitternSich selbst sieht Kierkegaard nicht als Glaubensritter. Er könne diesen Ritter bloß beschrei-ben wie einer, der an einem Seil hängend Schwimmbewegungen nachahme (S. 33). Den-noch fordert er mit Abraham dazu auf, nicht das Allgemeine zu leben, sondern Einzelner zu werden. Dafür ist er scharf kritisiert worden. Die Vorwürfe reichen von übersteigertem Subjektivismus bis hin zu moralischem Nihilismus. Ein zuverlässiges und verantwortli-ches Miteinander von Menschen scheint nicht mehr vorstellbar. Allerdings weiß Kier-kegaard sehr genau, was er dem Allgemeinen zumutet. „Kann man“, so fragt er, „vorbe-haltlos über Abraham reden, ohne Gefahr zu laufen, daß ein Einzelner in Verwirrung hingeht und es ebenso macht?“ (S. 27) Die Antwort liegt für Kierkegaard auf der Hand:

Kierkegaard zur Einführung:

SWR 2-Sendung vom 03.05.2013 in der ARD-Mediathek:Großes Genie, kleine Welt: Søren Kierkegaard– http://tinyurl.com/SWR2-Kierkegaard

Youtube-VideosFreiheit ohne Grenzen/Ich tanze nicht– http://tinyurl.com/youtube-Kierkegaard-Freiheit– http://tinyurl.com/youtube-Kierkegaard-Tanzen

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Soldaten jenseits des Heldentums?Alle Zeiten haben ihre Lieblinge. Die Verräter und Ketzer von gestern sind die Helden und Heiligen von morgen – je nachdem, wie das Allgemeine sich wendet. Von postheroischen Zeiten zu reden, hat daher etwas Ungereimtes. Was jedoch zumindest in Deutschland gesagt werden kann, ist dies: Soldaten sind keine Helden mehr. Als Helden gelten allein noch die Friedensstifter, und es ist alles andere als allgemein anerkannt, dass auch Sol-daten als solche deklariert werden dürfen. Nun können Soldaten durchaus versuchen, Bewunderung und Tränen der Masse zurückzugewinnen. Im Anschluss an Kierkegaard ist allerdings auch eine Alternative denkbar: Soldaten jenseits des Heldentums. Solda-ten als Einzelne, die Abstand nehmen von allgemeinen Selbstverständnissen und Leit-bildern, die sich unabhängig machen von den Wendungen des Ethischen. Soldaten, die im besten Sinne des Wortes selbstständig bereit und fähig sind, das zu tun, was im Hier und Jetzt notwendig ist. Dazu wäre erforderlich, was Kierkegaard „Sprung“ nennt, der Sprung hinein in den Glauben, verstanden als absolute Bindung an das Gebot Gottes. Erforderlich wäre ein Glaube, der es Menschen wie Dietrich Bonhoeffer ermöglicht hat, sich dem Allgemeinen ihrer Zeit zu entziehen. Doch dieser Glaube ist eine seltene Er-scheinung, zumal in Deutschland, der Hochburg des Allgemeinen als Pflicht.

Kein normativer Vorrang des EthischenKierkegaard bleibt vorläufig und unbefriedigend: Er nennt den Glauben eine „Leiden-schaft“ (S. 62). Wie leicht kann da der eigene Trieb mit göttlichem Willen verwechselt werden. Das Ziel der abrahamitischen Leidenschaft ist bei ihm noch ganz diesseitig (S. 31–33). Da ist der Weg nicht weit zu Fanatismus und Terrorismus. Und schließlich bleibt Kierkegaard eine überzeugende Kritik des Ethischen schuldig. Was dazu bewegen sollte, das Allgemeine endgültig zu verabschieden, bleibt offen. Dessen ungeachtet hinterlässt Kierkegaard wertvolle Impulse: Er windet sich heraus aus einer Existenz, die bloß noch allgemein sein kann, gerade auch in ihren Versittlichungen bei Kant und Hegel. Kier-kegaard durchbricht die übliche Idee der Einheit von Göttlichem und Ethischem. Das Göttliche vermittelt sich nicht unbedingt im Allgemeinen, und Sünde ist nicht die Ver-fehlung gegen irgendeine Moral. Vor allem aber macht Kierkegaard noch einmal darauf aufmerksam, dass das Allgemeine keinen normativen Vorrang vor dem Einzelnen bean-spruchen kann. Hinter jeder Flucht ins Ethische verbirgt sich immer auch die Sehnsucht nach Schutz und Sicherheit. Aber Angst und Bequemlichkeit sind keine zureichenden normativen Gründe gegen die Existenz als Einzelner.

PD Dr. Jochen Bohn, Privatdozent für Politische Philosophie und Sozial ethik an der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften, Universität der Bundeswehr München.

1 Søren Kierkegaard: Furcht und Zittern. Mit Erinnerungen an Kierkegaard von Hans Bröchner, übersetzt und mit Glossar, Bibliographie sowie einem Essay „Zum Verständnis des Werkes“, hrsg. von Liselotte Richter (eva-Taschenbuch, Bd. 23), Hamburg 2004. Die Seitenangaben im Text sind dieser Ausgabe entnommen. Das Buch erscheint 2016 in einer neuen Auflage.

Der Ritter des Glaubens, der die Möglichkeit einer Suspension des Ethischen kennt, lebt im Allgemeinen in Furcht und Zittern. Aus „Ehrfurcht vor dem Großen“ (S. 70) exis-tiert er „strenger und zurückgezogener […] als ein Mädchen in seinem Jungfernzwinger“ (S. 69). Glaubensritter „enttäuschen leicht“, weil sie äußerlich den Anschein der „Spieß-bürgerlichkeit“ verbreiten (S. 34). Was aber unterscheidet dann den Glaubensritter vom Schläfer, der sich nach seiner Aktivierung als religiöser Terrorist enttarnt? Was unter-scheidet ihn von Mohammad Atta, dem Attentäter des 11. September 2001, der sich in seinem Testament ausdrücklich auf das „Vorbild des Abraham“ beruft?

TagungsdokumentationUnbequem war er. Streitbar, poetisch, ironisch. Eine Tagung in der Evangelischen Akademie Baden beschäftigte sich mit den vielen Facetten von Søren Kierkegaard (1813–1855).

– Joachim Grage: „Mir nur gelten diese Töne, mir nur winken sie“ – Kierkegaard und die Musik.

– Gerhard Schreiber: Weil Gott es befiehlt. Kierkegaards theonome Ethik.

– Christoph Schneider- Harpprecht: Angst und Glaube. Das Thema Angst und Glaube zwischen Neurobiologie und Theologie.

Gernot Meier, Christoph Schneider- Harpprecht (Hg.): Entweder – oder. . . Eine Begegnung mit Søren Kierkegaard, Herrenalber Forum Band 80, 167 Seiten, Karlsruhe: Evan- gelische Akademie Baden 2015, 15 Euro.

Mit folgenden Beiträgen (Auszug):

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Umstritten: Waffenlieferung aus Deutschland an die

kurdischen Peschmerga im Irak

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ZWisChen GeWALtVerBOt Und BeistAndsPFLiCht

der is als Prüfstein für die kirchliche Friedensethik. ein internationaler Überblick

Von Friedrich Lohmann

der is und die kirchenMit den Anschlägen von Paris und Brüs-sel ist der Terror des selbst ernannten „Is-lamischen Staats“ (IS) in die unmittelba-re Nähe Deutschlands herangerückt. Die blutigen Selbstmordattacken stellen einen weiteren Eskalationspunkt seiner noch jungen Geschichte dar, in der der IS und seine Agenten des Terrors seit der Loslö-sung von Al-Qaida im Jahr 2013 mit im-mer neuen menschenverachtenden Taten von sich reden machen: militärische Ex-pansion von Syrien aus bis tief in den Irak hinein, massenweise Hinrichtungen im Rahmen von Siegerjustiz, Verfolgung al-ler nicht sunnitisch Gläubigen, systemati-sche Versklavung und Vergewaltigung von Frauen, Vertreibungen, Entführungen und Lösegeld erpressungen, Exekution von Ge-fangenen vor laufender Kamera, Terroran-schläge auf Zivilisten auch außerhalb des eroberten Territoriums.

Diese unerhörten Geschehnisse erfor-dern Stellungnahmen in Wort und Tat. Außer den politischen Institutionen die-ser Welt müssen sich auch die Kirchen positionieren: einerseits zum IS-Terror als solchem, andererseits aber auch – im

Sinne ihres friedensethischen Wächter-amts – zu der Frage, wie die Weltöffent-lichkeit ethisch angemessen auf ihn reagie-ren kann und soll. Der IS ist zum Prüfstein kirchlicher Friedensethik geworden. Und tatsächlich hat der IS eine Vielzahl kirch-licher Erklärungen provoziert, die sich al-lerdings vor allem durch eines auszeichnen: durch Uneinigkeit. Historische, geopoliti-sche und theologische Vorannahmen, wie sie die konkreten Urteile in der kirchlichen Friedensethik von jeher bestimmen, finden sich wie in einem Lehrbuch neben- und ge-geneinander ausgebreitet, wenn Kirchen oder kirchliche Institutionen zum IS Stel-lung beziehen.

die deutsche kirchliche Friedensethik: tief gespaltenDie Gespaltenheit der kirchlichen Reakti-onen auf den IS zeigt sich in Deutschland deutlich. Im Nachklang zur öffentlichen Debatte des Sommers 2014, als sich im Rah-men der militärischen Expansion des IS in den Nordirak die Berichte über schwerste Menschenrechtsverletzungen häuften, Ver-treter der Kirchen der betroffenen Regionen

Prof. dr. Friedrich Lohmann ist Professor für Evan- gelische Theologie mit dem Schwer-punkt Angewandte Ethik an der Uni- versität der Bundes-wehr München. Er gehört dem Heraus-geberkreis von zur sache bw an.

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um militärischen Schutz flehten und auch seitens der Bundesregierung über adäqua-te Reaktionen nachgedacht wurde, ver-öffentlichte der Rat der EKD im Septem-ber 2014 eine Stellungnahme, die – neben dem Primat humanitärer Hilfe – angesichts der Größe und Dringlichkeit des Unrechts auch den Einsatz militärischer Mittel, ein-schließlich von Waffenlieferungen an die kurdischen Peschmerga, als letztes Mittel für legitim erklärte: „Militärische Mittel er-scheinen in der gegenwärtigen Lage als die letzte verbliebene Möglichkeit, um wirk-same und schnelle Hilfe zu bringen.“ Die AGDF (Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden e. V.), in der 32 kirchliche Basis-gruppen versammelt sind, hat diesem Vo-tum des obersten kirchenleitenden Gre-miums des deutschen Protestantismus in einem sechsseitigen Kommentar energisch widersprochen und es als verpasste „Chan-ce, in der Friedensfrage wertorientiert Profil zu zeigen“, gewertet. „Zusammengenom-men erkennt die AGDF-Mitgliederver-sammlung nicht, dass die Entscheidung der Bundesregierung, Waffen an die kur-dischen Milizen zu liefern, den kirchlichen Kriterien zur Beurteilung des Einsatzes mi-litärischer Gewalt Stand hält. Die Legiti-mierung militärischer Gewalt hält sie für falsch.“ Nicht ganz so stark, aber doch spür-bar, war der innerprotestantische Dissens, als es im Dezember 2015 um den Bundes-tagsbeschluss bezüglich einer deutschen Beteiligung am Syrieneinsatz Frankreichs ging. Vereinzelten zustimmenden Aussagen standen zurückhaltende bis explizit kriti-sche Stellungnahmen gegenüber. Ähnlich vielfältig und kontrovers sind die Stimmen innerhalb des deutschsprachigen Katholi-zismus, wenn es – jenseits des kirchlichen Konsenses hinsichtlich eines Primats der Gewaltfreiheit – um die Frage geht, ob hin-sichtlich des IS die Kriterien eines Einsat-zes rechtserhaltender und -durchsetzender Gewalt, wie sie das ökumenische Leitbild des gerechten Friedens in Ausnahmefällen vorsieht, gegeben sind.

Gerechter krieg: die militärische OptionNoch deutlich vielstimmiger wird das ethi-sche Meinungsbild, wenn wir unseren Blick auf die Ökumene, die Kirchen des gesam-ten bewohnten Erdkreises, richten. Beson-ders weit in Richtung der militärischen Op-tion geht die Russisch-Orthodoxe Kirche. Patriarch Kirill spricht in einer Erklärung vom 1. Oktober 2015 von einer „verantwor-tungsvollen Entscheidung“ der russischen Regierung, sich militärisch im Syrienkon-flikt zu engagieren, und macht dafür das Leiden der Zivilbevölkerung durch „Extre-misten und Terroristen“ geltend. Der Ein-satz geschehe in der Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit, nachdem der politische

„Besonders weit in richtung der militärischen Option geht die

russisch-Orthodoxe kirche.“

Zum nachlesen:

Stellungnahme des Rates der EKD:– http://www.ekd.

de/download/ friedensethik.pdf

Kommentar der AGDF zur Stellung-nahme des Rates der EKD: – http://tinyurl.com/

agdf-kommentar

Patriarch Kirill zu Syrien: – http://tinyurl.com/

Kirill-Syrien

Erzbischof von Canterbury zu Syrien: – http://tinyurl.com/

Archbishop-Syrien

Brief von 65 US- Kirchen, religiösen Gemeinschaften und Einzelpersonen an Obama:– http://tinyurl.com/

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Prozess gescheitert sei. Bei der Pressever-anstaltung, in der diese Erklärung vorge-stellt wurde, war sogar von einem heiligen Krieg die Rede. Im Hintergrund dieser Stel-lungnahme steht neben der Tatsache, dass sich das Moskauer Patriarchat traditionell als Schutzmacht der orthodoxen Christen im Nahen und Mittleren Orient versteht, auch der „christliche Patriotismus“, wie ihn die Russisch-Orthodoxe Kirche – analog zu anderen orthodoxen Nationalkirchen – in ihrer Sozialdoktrin formuliert hat. Die-se christlich legitimierte Staatstreue wird man auch im Hintergrund der weitgehend inhaltsgleichen Erklärung zu sehen haben, die am gleichen Tag der Interreligiöse Rat Russlands veröffentlichte.

Nur auf den ersten Blick überraschend ist es, wenn auf der anderen Seite des Glo-bus die Southern Baptist Convention – die mitgliederstärkste Denomination im US-amerikanischen „Bible Belt“ – ähnliche Töne wie Kirill anschlägt, indem ihre Lei-tung US-Präsident Barack Obama in einem im Mai 2015 herausgegebenen offenen Brief darum bittet, „to use the influence and po-wer of your distinguished office to take the necessary actions now in this urgent hour to bring an end to these human atrocities“. Auch wenn im Brief selbst nirgends ausge-führt wird, worin diese „necessary actions“ bestehen sollen, muss man ihn als Auffor-derung zu einem massiveren militärischen Engagement lesen. Es gehe um die Vertei-digung und den Schutz derer, die die Heili-ge Schrift „the least of these“ nenne. Dabei wird man auch – nun im strikten Gegensatz zur russischen Position – an Maßnahmen gegen das Assad-Regime zu denken haben.

Weniger verklausuliert wird diese Po-sition vom britischen Theologen und Ox-ford-Professor Nigel Biggar vertreten, der sich in einer Kolumne in der „Times“ für einen Militäreinsatz „against Isis and the Damascus regime“ starkgemacht hat: „Mo-rality demands that we go to war in Syria.“ Wie hinsichtlich des Kosovo 1999 sei ein humanitär motivierter Einsatz einer mög-

lichst großen Militärkoalition in Syrien auch ohne UN-Sicherheitsratsbeschluss legitim.

ein „comprehensive approach“ gegen den terrorBiggars Votum erschien einige Wochen, be-vor im britischen Parlament Anfang De-zember 2015 in der Folge der Pariser An-schläge eine Ausweitung des britischen Einsatzes gegen den IS debattiert und letzt-lich beschlossen wurde. Die Anglikanische Kirche unterstützte diesen Beschluss; ihre Position fällt gleichwohl differenzierter als das Biggar’sche Votum aus. Dies wird in der Erklärung deutlich, die Justin Welby, der Erzbischof von Canterbury, in der ent-scheidenden Sitzung des Oberhauses abgab. Das Oberhaupt der traditionell durchaus militär affinen Anglikanischen Kirche sieht die Kriterien für einen gerechten Krieg als erfüllt an, fordert aber zugleich „a far more comprehensive approach“, der auch eine theologische Komponente (Zusammen-schluss mit der Mehrheit der Muslime ge-gen die IS-Ideologie) und eine politische Komponente (Einbeziehung auch von Sau-di-Arabien und Qatar, stärkeres britisches Engagement in der Flüchtlingsfrage) ent-hält. „Only a holistic, theological and glo-bal policy will achieve our aims.“

Einen solchen „comprehensive ap-proach“, der militärische Maßnahmen nicht ausschließt, sie aber nur für ange-messen hält, wenn sie in umfassende zivile Anstrengungen eingebettet sind, vertre-ten auch andere Kirchen gegenüber dem IS. So hat der Vatikan, der sich mit einer offiziellen Stellungnahme lange zurückge-halten hat, im März 2015 zusammen mit Russland und dem Libanon – erneut eine überraschende Koalition! – dem UN-Men-schenrechtsrat eine Erklärung vorgelegt, die angesichts der Menschenrechtsverlet-zungen durch den IS die internationale Ge-meinschaft zum „support“ der religiösen Minderheiten auffordert. „We call upon the international community to support

Aufschlussreich für die ideologie des is ist die Ansprache von Anführer Abu Bakr al-Baghdadi vom 1. Juli 2014:– http://tinyurl.com/

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Zivile Hilfe: Traumatologe Jan Ilhan Kizilhan aus Villingen-Schwenningen spricht im Nordirak mit einer

Jesidin, die in IS-Gefangenschaft war. Er leitet ein Projekt des Landes Baden-Württemberg,

das tausend dieser schwer traumatisierten Frauen zur Therapie nach Deutschland holt

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the deeply rooted historical presence of all ethnic and religious communities in the Middle East. […] This support will help the countries of the region to rebuild healthy plural societies and sound political systems, ensuring human rights and fundamental freedoms for all.“ Dass diese Unterstützung auch militärische Maßnahmen umfassen soll, hat der zuständige Erzbischof Tomasi deutlich gemacht.

In ähnlicher Weise hatten bereits im Juli 2014 Vertreter der Kirchen Österreichs in einer gemeinsamen Erklärung „zweck-dienliche Maßnahmen“ seitens der Poli-tik eingefordert, „damit die Umtriebe des ‚Islamischen Staates‘ ein Ende finden und auch im Irak der Aufbau eines Staatswesens ermöglicht wird, das auf gleichen Rechten für alle Bürger, unabhängig von ihrer re-ligiösen oder ethnischen Zugehörigkeit, basiert“. Auch hier bleibt allerdings zu-nächst offen, worin die „zweckdienlichen Maßnahmen“ konkret bestehen. Ähnlich schillernd spricht eine Erklärung des Öku-menischen Rates der Kirchen am 1. Sep-tember 2014 davon, es sei neben anderen Maßnahmen von höchster Wichtigkeit, das aggressive militärische Potenzial des IS zu „neutralisieren“.

Deutlicher ist eine Erklärung des Gene-ralsekretärs der Protestantse Kerk in Neder-land anlässlich des Ende September 2014 gefallenen Parlamentsbeschlusses, dass sich die Niederlande an Luftschlägen gegen den IS über dem Irak beteiligen: „We are at war with IS. I see no other option. We can ne-ver bless the weapons. Diplomacy, consul-tation, negotiation, it is all to be preferred. However, there are moments when there is nothing else but to respond violence with violence. Hoping to prevent greater evil.“ Bemerkenswert ist an dieser Stelle auch die spezifisch dem Irak und Syrien gewidme-te Arbeit der niederländischen, kirchlich unterstützten PAX, die sich in ihren Er-klärungen kritisch mit den Reaktionen der Politik auf den IS auseinandersetzt. In der Erklärung vom 22. September 2014 wer-

den Waffenlieferungen an die Peschmerga erwogen, aber an strenge Bedingungen ge-knüpft. Insgesamt wird in dem Papier ge-sagt: „A tactical military response that is not part of a comprehensive political stra-tegy will lead to an open-ended military campaign with unclear goals, and is doo-med to fail.“ Spätere Erklärungen von PAX Netherlands schließen die militärische Op-tion ausdrücklich aus. „Over-reliance on military attacks and armed responses fuels grievances, encourages violence and un-dermines peace“, heißt es in einer Petiti-on nach den Pariser Anschlägen, zu deren Erst unterzeichnern PAX gehört.

Gewaltfreies handeln als christliches ZeugnisDamit sind wir bei der dritten Gruppe von kirchlichen Stellungnahmen zum IS ange-langt: jenen, die auf der Basis einer Theo-logie der Gewaltfreiheit ein militärisches Eingreifen gegen den IS per se für falsch halten. An erster Stelle kann ein offener Brief genannt werden, den 65 US-Kirchen, religiöse Gemeinschaften und Einzelperso-nen am 27. August 2014 an US-Präsident Obama gesendet haben. Zu den Unterzeich-nern gehören u. a. die Kirchenleitungen der Methodistischen, der Presbyterianischen und der Unierten Kirche, die Brüdergemei-ne und die Quäker. Gewalt erzeuge not-wendig Gegengewalt und sei daher nicht zielführend. Demgegenüber seien humani-täre Hilfe, politische Diplomatie, finanzielle Austrocknung des IS, Unterstützung loka-ler gewaltfreier Initiativen und ein Waffen-embargo das Gebot der Stunde. Der Brief endet mit der Bitte an den Präsidenten: „We ask you to move us beyond the ways of war and into the frontier of just peace responses to violent conflict.“

Ervin R. Stutzman, der Executive Direc-tor der Mennoniten in den USA, hat sich im April 2015 in einem „pastoral word in a time of war“ für eine Reaktion auf den Terror ausgesprochen, die nicht dem Wesen dieser Welt entspricht. „I choose to stand

Buchtipp: Bernd Kirchschlager, Kirche und Friedens- politik nach dem 11. September 2001. Protestantische Stellungnahmen und Diskurse im diachronen und ökumenischen Vergleich, Edition Ruprecht, Göttingen 2007, Reihe: Kontexte. Neue Beiträge zur historischen und systematischen Theologie, Band: 38, 304 Seiten, 43,90 Euro.

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with Jesus who spoke against the deadly downward spiral of violence.“ Gewaltfreie Gruppen wie die Christian Peacemaker Teams in der Region zu unterstützen und Flüchtlingen Hilfe zu leisten, seien Beispiele für das Handeln im Sinne der Liebe Gottes.

In der britischen Debatte nach den Pari-ser Anschlägen haben die Quäker klar ge-gen die militärische Option Stellung bezo-gen, die dem IS in die Hände spiele. „Every bomb dropped is a recruitment poster for ISIS, a rallying point for the young, vulne-rable and alienated.“ Stattdessen sei lang-fristig denkende Weisheit gefragt, die auf das Recht, zwischenstaatliche Kooperation und lokales Brückenbauen setze.

Abschließend sei eine Stellungnahme genannt, die das Kollegium des in menno-nitischer Trägerschaft stehenden Theologi-schen Seminars Bienenberg (Schweiz) im September 2014 veröffentlicht hat und die im Angesicht des IS-Terrors die gewaltfreie Option der historischen Friedenskirchen gegen Einwände verteidigt. Gegen die „gän-gige Logik von Gewalt und Gegengewalt“ wird einerseits auf deren häufiges Scheitern bzw. ihre Tendenz zur Eskalation verwie-sen. Auch der IS sei Produkt einer solchen Strategie, nämlich der Intervention gegen Saddam Hussein: „Der militärische Einsatz im Irak hat damit zwar einen Diktator be-seitigt, aber auch neue Gewaltexzesse erst ermöglicht.“ Andererseits sei ein Eintreten für gewaltfreie Maßnahmen nicht so naiv und wirklichkeitsfremd wie oft behaup-tet. Gewaltfreiheit sei nicht mit Passivität gleichzusetzen. Konkret werden folgende Handlungsalternativen zum Einsatz militä-rischer Gewalt genannt: Beten, gewaltfreie Friedenseinsätze, Flüchtlingshilfe (an die-ser Stelle wird auch eine Rettung der vom IS verfolgten Minderheiten analog zur Ber-liner Luftbrücke erwogen), Polizeieinsätze.

ZusammenfassungIn der Zusammenschau erweist sich die kirchliche Friedensethik – in nationaler wie in internationaler Betrachtung – in ihrem

Urteil über die gegenüber dem IS-Terror an-gemessenen Maßnahmen als höchst unei-nig. Es ist daher nicht möglich, am Ende die-ses Beitrags das entscheidende und richtige Wort zum IS zu identifizieren. Wohl aber ist es möglich, anhand der verschiedenen und heterogenen Stellungnahmen die beiden entscheidenden Kontrovers punkte wieder-zuerkennen, an denen sich die christliche Friedensethik seit ihren Anfängen abarbei-tet. Zum einen ist umstritten, wie das bi-blische Gebot eines gerechten Friedens zu verstehen ist. Ist es kategorisch mit dem Ver-zicht auf rechtserhaltende und -durchset-zende Gewalt verbunden oder kann es, muss es vielleicht sogar unter bestimmten Um-ständen zugunsten des Schutzes der „least of these“ unter der Androhung und Anwen-dung von Gewalt durchgesetzt werden? An-ders gesagt: Steht das Gewaltverbot als bibli-sche Forderung immer und überall ethisch über der Beistandspflicht? Das führt uns zur zweiten strittigen Frage. Denn die Gegner militärischer Gewalt lassen die zuletzt ge-nannte Alternative nicht stehen, indem sie auf der Ebene der Empirie bestreiten, dass der Einsatz militärischer Gewalt das zielfüh-rende Mittel sei, die Beistandspflicht wahr-zunehmen. Langfristig betrachtet, führe ein solcher Einsatz zu immer neuen Opfern, in eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt, während nur gewaltfreie Mittel eine Grup-pe wie den IS effektiv beseitigen und damit seinen potenziellen Opfern präventiv bei-stehen könnten. Die Frage lautet jetzt also nicht mehr, welches Vorgehen biblisch le-gitimiert werden kann, sondern: Welches Vorgehen ist langfristig effektiv im Sinne des Liebesgebotes? Die Argumentationsebene verschiebt sich somit von der Bibel auf Ge-schichte und Erfahrung, wobei Befürwor-ter wie Gegner des Gedankens der rechts-erhaltenden und -durchsetzenden Gewalt die Realität auf ihrer Seite zu haben mei-nen. Die ethische Beweislast fällt letztlich der Menschheitsgeschichte und ihrer Inter-pretation zu – ein Fazit dieser Bestandsauf-nahme, das zu denken gibt.

Weitere Literatur- angaben sind auf Anfrage beim Verfasser erhältlich. E-Mail: friedrich. [email protected].

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DEMOKRATIE OHNE ERTRAG

Die arabischen Umbrüche – eine Momentaufnahme mit Fokus auf Tunesien

Von Said AlDailami

N ichts ist übrig geblieben von der anfänglichen Euphorie über den sogenannten Arabischen Früh-

ling. Terror, Krieg und Angst beherrschen die Szene in den meisten Ländern des arabi-schen Umbruchs. Lediglich in Tunesien ist es bisher einigermaßen „ruhig“ geblieben. Dieser Umstand veranlasst einige, vor allem westliche Beobachter, in Tunesien eine Er-folgsgeschichte des demokratischen Über-gangs zu sehen, die viel mehr mit der Er-wartungshaltung des Erzählenden als mit der Realität vor Ort zu tun hat.

Eine ernüchternde Zwischenbilanz nach fünf Jahren des UmbruchsDie anfängliche Machtverschiebung von den staatstragenden Eliten in Politik, Wirtschaft und Kultur hin zu den protestierenden Mas-sen auf den Straßen in den Hauptstädten der arabischen Welt hielt nicht lange an. Lang-sam, aber sicher begann die Rückeroberung der Diskurshoheit durch die „alten“ Eliten in neuem Gewand. Am deutlichsten mani-festiert sich diese Rückerlangung verlorener Macht in Ägypten, wo das Militär wieder inthronisiert wurde. Das Vermächtnis eines halben Jahrhunderts autoritärer Herrschaft, weitgehend monopolisierter und korrum-pierter Wirtschaft sowie mangelnder Inves-titionen in Bildung und Infrastruktur wiegt schwerer, als dass es von der Euphorie und den Emotionen der protestierenden jungen Menschen auf den Straßen hinweggespült werden konnte. Im Jemen, in Libyen und in Syrien beherrschen Krieg und militärische Interventionen von Regional- und Welt-mächten das Geschehen. In allen drei Län-dern trifft der Begriff „failed state“ unum-wunden zu. Bleibt also doch Tunesien als leuchtender Stern am trüben Horizont des

„Arabischen Frühlings“ bestehen?

Tunesien – die letzte Bastion demokratischer Hoffnung? Eine homogene Gesellschaft (98 Prozent malikitische Sunniten), ein hohes Ausbil-dungsniveau der jungen Generation, eine entpolitisierte Armee und eine wichtige po-litische Kraft (Islamisten) im Land, die be-reit war und weiterhin bereit ist, zugunsten des sozialen Friedens eine politische Ehe mit den laizistisch orientierten Erzrivalen einzugehen, sind die wesentlichen Fakto-ren, die für Tunesiens „Ausnahme im ara-bischen Chaos“ angeführt werden. Wie aber sieht die Realität vor Ort aus?

Die genannten Aspekte können zwar nicht geleugnet werden. Sie dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die tunesische Ausnahme am seidenen Fa-den hängt. Gerade weil sie hauptsächlich durch eine Zweckehe zwischen der isla-misch-konservativen Partei (Ennahda) und der laizistisch-konservativen Partei (Nidaa Tounes) in Form einer Regierungskoalition am Leben gehalten wird, bleibt sie für ge-sellschaftliche Polarisierung und gelegent-liche Mobilisierungen aus der Basis beider Parteien äußerst anfällig und zerbrechlich. Zudem ist es ein offenes Geheimnis, dass diese Machtverteilung ihre hauptsächliche Legitimation aus dem Charisma und der Popularität beider amtierender Parteichefs bezieht. Die beiden alten Herren, Beji Caid Essebsi – im November wird er 90 Jahre alt – und Rachid Ghannouchi – im Juni feiert er seinen 75. Geburtstag, versuchen mit Weitsicht und klugem gemeinschaftli-chem Handeln, zumindest den politischen

Frieden im Land zu verstetigen. Denn nur noch dieser schützt Tunesien vor dem völ-ligen Zusammenbruch – in allen anderen Bereichen hingegen fällt die Zwischenbi-lanz fünf Jahre nach der hoffnungsvollen Revolution äußerst vernichtend aus. Seit der Revolution geht es den Menschen im Land spür- und sichtbar schlechter als zu Zeiten des Diktators Ben Ali. Die Arbeits-losenquote ist signifikant gestiegen und er-reicht in manchen Regionen Spitzenwerte von bis zu 60 Prozent. Die Tourismusbran-che ist aufgrund dreier aufeinanderfolgen-der terroristischer Anschläge im Jahr 2015 nahezu komplett zusammengebrochen. Der Kontrast zwischen den einigermaßen gut entwickelten Ballungsräumen entlang der Küste und dem weitgehend vernachlässig-ten „Hinterland“ wurde evidenter. Dieses Ungleichgewicht entlädt sich immer öfter in sozialen Spannungen, welche die Re-gierung und den schlecht ausgebildeten Sicherheitsapparat vor große Herausforde-rungen stellen. Angesichts dieser desola-ten Situation im Land verwundert es wenig, dass der größte Anteil der Kämpfer auf Sei-ten der Terrororganisation „IS“ tunesischer Abstammung ist. Es handelt sich dabei vor-wiegend um Männer unter 30 Jahren, die sich sowohl politisch als auch sozial und vor allem ökonomisch marginalisiert und ausgeschlossen fühlen.

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perspektivlosigkeit und MarginalisierungAus der ökonomischen Misere der jungen tunesischen Bevölkerung resultiert auch eine soziale Katastrophe, welche schluss-endlich in einen Teufelskreis mündet, den viele Jugendliche als unüberwindbar und ausweglos empfinden: Ohne Arbeit gibt es keine Möglichkeit, den eigenen Lebensun-terhalt und den der Eltern und der klei-nen Geschwister zu sichern. Die Investition der Eltern in die universitäre Ausbildung der Familienältesten wiegt schwer auf den Schultern derer, die nun in der Pflicht ste-hen, das zurückzuzahlen, was in sie inves-tiert wurde. Hinzu kommt die Frage nach der individuellen Entfaltung und der Grün-dung einer eigenen Familie inklusive ei-nes eigenen Haushalts. Ohne Arbeit kann eine Heirat weder finanziert noch unter-halten werden. Diese sozio-ökonomische Marginalisierung weiter Teile der Bevölke-rung geht einher mit einem Verdruss über fehlende Repräsentanz durch die Eliten im Land, welche in Politik und Wirtschaft die vorrevolutionären „Tugenden“ der Kor-ruption und des Nepotismus weiterhin praktizieren. Der Graben zwischen Regie-renden und Regierten wird immer tiefer. Der Staat bleibt in den Augen der perspek-tivlosen Jugendlichen weiterhin unfähig, ihre Probleme zu lösen.

Jungen spielen Fußball auf dem Place de la Kasbah in der Medina (Altstadt) von

Tunis. Dahinter die Fassade des Rathauses

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Die Entwicklungen in den arabischen Ländern des Umbruchs erschienen an-fangs homogen und sich ähnelnd. Doch kann nun nach fünf Jahren mit Gewiss-heit festgestellt werden, dass Auslöser und Folgen des „Arabischen Frühlings“ in je-dem Land unterschiedlicher Natur waren. Nach dem Abebben der ersten Revolutions-euphorie und dem Fall der Diktaturen spül-te jedes Land seine spezifisch eigenen Pro-bleme an die Oberfläche. Das einende und zugleich mobilisierende Motto „Brot, Frei-heit und Menschenwürde“ nahm in jedem landesspezifischen Kontext eine ihm eigene Dynamik an. Vor diesem Hintergrund ist vor einer vorschnellen Be- oder gar Verur-teilung der arabischen Revolten angesichts der rasanten und heterogenen Entwicklun-gen in den letzten fünf Jahren eindring-lich zu warnen. Vielmehr sollte der Blick auf den prozesshaften und partikularen Charakter der Umbrüche in jedem einzel-nen Revolutionsland fokussiert werden, der letztendlich jede Beschreibung und Bewer-tung der Ereignisse als punktuelle Einzel-fallmomentaufnahme klassifiziert, die am Tag nach ihrer Niederschrift schon überholt

sein könnte. Eine solche Betrachtungsweise soll jedoch nicht die Wertigkeit dieser Mo-mentaufnahmen schmälern, da diese für die Dokumentation und das Verständnis der Prozesse heute und vor allem morgen – sprich in der Retrospektive – von entschei-dender Bedeutung sein könnten.

Die erhoffte Zeitenwende ist in allen Re-volutionsländern ausgeblieben: kein wirt-schaftlicher Aufschwung, keine politische Stabilität, kein gesamtgesellschaftlicher Kon-sens und kein Anschluss an Europa. Der Re-volutionsfunke ist aber trotz dieser trüben Skizze in allen Ländern noch nicht endgültig erloschen. Insbesondere dank einer wachsa-men Zivilgesellschaft und einer politischen Konsenskultur blieb Tunesien von den Tur-bulenzen, die seine Nachbarn ereilten, bisher verschont. Die Zeitenwende wurde eingelei-tet. Ihr Ausgang bleibt ungewiss – wird aber sicherlich prägend für die gesamte Region des Nahen und Mittleren Ostens.

Dr. Said AlDailami ist Leiter des Projektbüros

der Hanns-Seidel- Stiftung in Tunis und

zuständig für die Länder Tunesien,

Algerien und Libyen.

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WIE ZEITLOS IST DIE INNERE

FÜHRUNG?Ein Workshop thematisiert

die Anwendbarkeit des Konzeptes von Graf von Baudissin

auf die gegenwärtige SituationVon Detlef Bald

D ie Innere Führung, hochgelobt und gepriesen – jedes Weißbuch und jede wichtige Rede zur Bundes­

wehr kommen nicht umhin, sich in diese bunte Reihe der lobenden Würdigung von Politikern und Uniformträgern einzutra­gen, so scheint es. Doch schon die Frage nach dem tieferen Sinn dieses auf die Bun­deswehr zugeschnittenen Begriffs erzeugt Unsicherheit und Schwanken, je nach Ant­wortendem; so meinen die einen, es sei ein Merkmal dieser Armee der Bundesrepu­blik Deutschland, das aus friedensorientier­ten Zeiten des vergangenen Kalten Krieges stamme und daher heute nicht mehr re­levant sei, und betonen die andern, es sei das typische Kennzeichen des nach dem Zweiten Weltkrieg reformierten Militärs in Deutschland. Nur: Diese beiden Positi­onen gab es bereits in jenen Jahren, bevor die Bundeswehr im November 1955 offi­ziell gegründet wurde. Im Dokument von Himmerod, der geheimen Militärplanung von 1950, gingen die ehemaligen Generä­le vom Modell des „Inneren Gefüges“ der Wehrmacht aus, genauso wie das NS­Re­

gime sein Militärprofil im Krieg formuliert hatte; dagegen setzte strichartig Wolf Graf von Baudissin das Konzept der Gültigkeit der Werte des Grundgesetzes im und für das Militär. Nach jahrelangen Mühen konnte er dafür den Begriff „Innere Führung“ durch­setzen. Die Ablehnung der Militärführung blieb jedoch erhalten und wurde von Mi­nister Franz Josef Strauß mit dem Wort vom

„Inneren Gewürge“ unterstützt. In beiden Positionen schwingt etwas mit, was in der Diskussion um die Innere Führung heute zu beachten ist, doch zugleich ein wenig die Aufmerksamkeit wegnimmt von dem, was in der gesamten Geschichte der Inneren Führung der Bundeswehr in unterschied­licher Gewichtung eine Rolle gespielt hat und also auch wieder die Positionen in der aktuellen öffentlichen Diskussion befeuert.

IF und die „Armee im Einsatz“ Verdienstvoll ist es daher, dass im Oktober 2015 in Berlin von Angelika Dörfler­Dier­ken vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (Potsdam) und von Kai­Uwe Hellmann von

der Technischen Universität (Berlin) zu ei­nem Workshop eingeladen worden war, der sich den Fragen nach der Inneren Führung unter den Bedingungen einer „Armee im Einsatz“ zuwandte. Die seit Jahren beton­te Auftragslage der Bundeswehr, der po­litisch­militärisch angeordnete Einsatz in anderen Ländern habe eine gewandel­te Professionalisierung zur Folge und die­se bedeute eine Abkehr von der Inneren Führung, durchzog als These die Erörte­rungen der Experten. Auffallend dabei ist, dass die historische Dimension des Mili­tärs der Bundesrepublik nicht (mehr) in der notwendigen Reichweite präsent ist. Oder, anders formuliert: Die Bundeswehr ist in Analysen der soziologischen und po­litikwissenschaftlichen Disziplinen bereits ein Phänomen, das in seinem historischen Umfang nicht recht erfasst wird, und so­mit werden das zeitbezogen Typische oder die dauerhafte Struktur nicht genügend unterschieden. Dieser Bericht zum Work­shop konzentriert sich auf die gegenwärti­ge Diskussion um die Innere Führung im engeren Sinne und kann daher die Breite

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der gesamten Erörterung des Workshops nicht berücksichtigen, so etwa die Bedeu­tung der Theorie von Niklas Luhmann, die Analyse von Gregor Richter zu multinati­onalen Stäben und Dirk Freudenberg zum Führungsdenken.

Unsicherheit über AkzeptanzDie in Politik und Militär verbreitete An­nahme, der Kalte Krieg sei konstitutiv für den Begriff der Inneren Führung und das Kriegsszenario der „Armee im Einsatz“ sei daher per definitionem unvereinbar mit der Inneren Führung, wurde zunächst als gegebene Tatsache in die Diskussion ein­geführt; entsprechend galt, dass seit den neunziger Jahren der Konsens zwischen Gesellschaft und den Soldaten über den Auftrag der Bundeswehr verloren gegan­gen sei. Zwar habe zuletzt noch Bundes­präsident Joachim Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2015 mit dem Hin­weis auf die globale Verantwortung der Po­litik der Bundesrepublik für eine innenpo­litische Zustimmung zu den Einsätzen der Bundeswehr geworben, doch bleibe die öf­

fentliche Legitimierung hinter den soldati­schen Erwartungen zurück. Auch wenn es eine demokratische Legalität gäbe, hätte die Unsicherheit über die Akzeptanz der Ein­sätze zu einer „professionellen Exklusivität“ (Jens Warburg) der Soldaten geführt. Das „Band zwischen Soldaten und Zivilgesell­schaft“ sei brüchig geworden und könne nicht durch eine einseitige „Integrations­leistung“ der Bundeswehr gekittet werden. Im Einsatz, vor Ort, ist der Soldat indivi­duell zur Entscheidung gezwungen, zu re­agieren – auch gewaltförmig.

Mit diesen Fakten war ein Grundpro­blem der soziokulturellen Entwicklung innerhalb der Bundeswehr des letzten Jahrzehnts aufgerufen, nämlich die Fol­gewirkungen der internationalen militä­rischen Erfahrungen der, wie sie klassifi­ziert wurde, „Generation Einsatz“ (Nina Leonhard). Diese Umschreibung kenn­zeichnet die Selbstidentifikation, um die Gruppe der jüngeren von älteren Soldaten zu unterscheiden, aber vor allem um glei­che Erfahrungen, Emotionen und Denksti­le durch den Einsatz zu betonen. Vermeint­

liche und reale Unterschiede innerhalb der Bundeswehr haben Bedeutung gewonnen, um Kompetenz­ und Hierarchiebewusst­sein neu zu ordnen. Damit hat sich eine neue Erzählung der Professionalität he­rausgestellt, die eine erkennbare, organisa­torisch und kulturell wirksame Neuorien­tierung bewirkt habe. Gefecht, Erfahrung im Ausland unter militärischen Einsatzbe­dingungen, ist der Faktor geworden, das eigene Profil der Soldaten zu schärfen; zu­gleich dient es dazu, den Mangel an gefühl­ter Nichtanerkennung in der Gesellschaft zu beheben.

Keine Orientierung für den Einsatz?Das Deutungsmuster der „Generation Ein­satz“ hat notwendig den Bezug zur Teil­streitkraft Heer, die insoweit der Bundes­wehr „den Stempel“ aufgedrückt hat. Es sind existenzielle individuelle Erfahrungen von Soldaten, deren kollektive Auswirkun­gen in der Bundeswehr zu beobachten sind. Die Auswirkungen auf die Innere Führung scheinen beträchtlich, da sie pauschal mit Friedensorientierung identifiziert wird und

Angelika Dörfler-Dierken und Kai-Uwe Hellmann (Foto links) luden am 7. 10. 2015

ins Evangelische Kirchenamt für die Bundes- wehr in Berlin. Unter den Teilnehmern:

Uwe Hartmann und Detlef Bald (Foto Mitte)

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daher den Soldaten keinen Anknüpfungs­punkt für das Verhalten in Einsätzen zu bieten habe. Kräfte in der Bundeswehr – wie bei den Fallschirmjägern – suchten da­her Lösungen ihrer Probleme darin, neue historische Kontexte herzustellen und di­rekt an die Tradition zur Wehrmacht an­zuknüpfen.

Friedensbezug falsch eingesetztMit diesen Tendenzen in der Bundeswehr jedoch entsteht eine tiefe Kluft, wenn nicht sogar ein prinzipieller Widerspruch zum Geist der Inneren Führung. Der le­gendengleich verbreitete Mythos der In­neren Führung, sie sei nur für politische Verhältnisse in Friedenszeiten geschaffen worden, fand auf dem Workshop eine Wi­derlegung in Bezug zum ursprünglichen Konzept von General Wolf Graf von Baudis­sin, der die Militärreform der Nachkriegs­zeit unter dem Namen Innere Führung vo­rangebracht hatte. Der falsch eingesetzte Friedensbezug der Inneren Führung wur­de mit dem „Kriegsbild des modernen Krie­ges“ (Claus von Rosen), wie von Baudissin

es seinen Analysen zugrunde gelegt hat­te, offenbar. Danach habe von Baudissin – in Anlehnung an die Terminologie von Carl von Clausewitz – wohl den „absolu­ten Krieg“ des Atomzeitalters beschrieben, der in letzter Konsequenz der Atomstrate­gie nur „blindes Wüten und Zerstören“ mit sich bringe, also „Friedhofsruhe“ herstelle.

Von Baudissin allerdings betrachtete den Atomkrieg als einen von mehreren Typen der modernen militärischen Aus­einandersetzungen. Er unterschied vier Formen von Krieg: Kalter Krieg, Subversi­ver Krieg, Konventioneller Krieg und Ab­soluter Krieg, der Atomkrieg. Diese Typen könnten nach­ und nebeneinander auf­treten, je nach den „Absichten und Mit­teln“ der kriegführenden Parteien und der von ihnen gewählten Kriegsschauplätze. Mischformen könnten auch als Bürgerkrieg oder Partisanenkrieg in Erscheinung tre­ten. Somit, das ist die zentrale Folgerung: Von Baudissin gab bereits „eine klassische Beschreibung“ der gegenwärtig aktuel­len Form der militärischen Auseinander­setzung und benannte damals schon den

Typ „des heute hybrid genannten Krieges“ (Claus von Rosen). Diese Dimensionen der Kampfführung könnten, mit von Baudis­sins Worten, einen „möglichen Krieg der Zukunft“ bestimmen; sie hätten erhebliche Auswirkungen auf Taktik, Ausrüstung und Ausbildung, beispielsweise für den Verant­wortungsbereich des soldatischen Führers.

Stabilisiert auch im EinsatzSchwerpunktmäßig wurde der Typ des hybriden Krieges, die Auseinanderset­zung ohne Begrenzung auf Ort und Zeit, erörtert. Zu seiner Lösung habe das Kon­zept der Inneren Führung Bedeutung für Politik, Gesellschaft und Streitkräfte. Die­ses Kriegsbild binde und leite die Kompe­tenzen auf allen Ebenen. Wenn der Satz von von Baudissin – der Mensch sei „der eigentliche Kriegsschauplatz, auf dem sich die Auseinandersetzung abspielt, er ist zu­gleich Ziel und Träger des Kampfes“ – ab­strakt erscheint, ist seine Funktion deut­lich, als „geistige Rüstung“, wie es früher genannt wurde, zur Stabilisierung der Sol­daten im Einsatz zu dienen. Die „Relevanz

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der Inneren Führung“ (Uwe Hartmann) sei eine Grundlegung für den Staatsbür­ger, die Komplexität der Kriegsszenarien sowie der Kriegführung zu begreifen, um als Soldat angemessen handeln zu können. Die persönliche Wertorientierung an Men­schenwürde, Freiheit und Frieden, wie sie die Innere Führung in Orientierung an den Werten der Verfassung vertritt, bedeu­te mehr als Menschenführung, aber sei die Voraussetzung zur Stabilisierung in einer verunsichernden Situation im Einsatz fern der Heimat.

Moderne Kriege begreifen Eine Leitidee des Staatsbürgers, Gewissheit über die eigene bürgerlich­gesellschaftliche Basis seiner Werte zu haben, stärke seine kulturelle Kompetenz in der interkultu­rellen, eben auch militärischen Ausein­andersetzung; diese Befähigung begüns­tige die „Stabilisierung des Staatsbürgers in Uniform“. Die strategische Anlage mi­litärischer Einsätze, so die bedeutende Er­kenntnis der Erörterung dieses Workshops, verlangt eine Grundlegung dieser Elemente

der Inneren Führung für den Soldaten wie für seine Einheit. Dieses Prinzip könne als notwendiges Instrument begriffen werden, solche modernen hybriden Kriege positiv zu bestehen.

Die Erkenntnis, die Innere Führung nach von Baudissin sei nicht von einer eupho­rischen Friedensduselei, sondern von rea­listischer Gesellschafts­ und Kriegsanalyse getragen worden, wird für die Klärung der Fronten um die Rolle der Inneren Führung innerhalb der Bundeswehr wichtig sein. Insbesondere die Tatsache, dass das Kriegs­bild hinter der Inneren Führung differen­ziert, aber damals wie heute für die Ziele des Konzepts der Inneren Führung wegweisend notwendig war, sollte zu denken geben und der Anlass sein, die Texte von Baudissins neu hervorzuholen – wenigstens, um das Phänomen des hybriden Krieges zutreffend zu begreifen. Das würde auch helfen, den Sinn des Soldat­Seins nicht im traditionalis­tischen Anknüpfen an die Taten der Wehr­macht zu ergründen, sondern den militäri­schen Einsatz tatsächlich als Einsatz für den Frieden auszurichten.

Detlef Bald ist Politikwissen - schaftler und Militärhistoriker. Er ist Vorsitzender des Dietrich-Bonhoeffer- Vereins und war bis 1996 am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr in München tätig.

Titel des Workshops: Eine neue Funktionalisierung der Bundeswehr als Herausforderung für die Innere Führung?

Teilnehmer Nina Leonhart, Ronald Rogge, Roger Töpelmann, Peter Buchner (v. l. n. r.)

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GLAUBE MIT IDEOLOGIE- KRITISCHEM POTENZIAL

Leidenschaftliches Plädoyer für den Staatsbürger in Uniform Rezension von Markus Thurau

Der Essay des Mayener Militärpfarrers Dr. Klaus Beck­mann stellt ein leidenschaftliches Plädoyer für die Kon­zeption der Inneren Führung (IF) und ihres Leitbildes, des Staatsbürgers in Uniform, dar, das aus der Per­spektive des evangelischen Seelsorgers Anstöße für die Führungskultur und das berufliche Selbstverständnis der Bundeswehr geben will. Anlass ist die Diskussion um die IF, deren Gesamtkonzeption durch die neue Re­alität der Auslandseinsätze und der damit verbundenen ethischen Probleme infrage gestellt wird, so etwa durch eine Streitschrift über die Gedankenwelt junger Offi­ziere in den Kampftruppen der Bundeswehr aus dem Jahr 2014. Sichtlich irritiert von diesem „Pamphlet“, dem er die Gefahr des Abdriftens in „kriegerisches Fach idiotentum“ oder sogar „Servilität“ attestiert, be­tont der Autor die unaufhebbare Verbindlichkeit der IF auch unter dem Wandel, den die Auslandseinsätze mit sich bringen. Am Beispiel Afghanistans, wo der Autor selbst als Seelsorger im Einsatz war, werden die aktu­ellen Probleme benannt. So gibt er zu, dass die komple­xe Realität des Einsatzes offiziell lange Zeit schöngere­det worden sei, so dass sich unter den Einsatzsoldaten kaum ein „staatsbürgerliches Bewusstsein“ habe bil­den können. Gleichwohl helfe hier nicht der Verzicht auf eine kritische Reflexion über den Einsatz, sondern allein die Stärkung der politischen Urteilsfähigkeit des Soldaten als eines mündigen Staatsbürgers. Das Mot­to „Professionalisierung statt Politisierung“, das heißt militärisches Funktionieren statt politischen Abwä­gens der Entscheidungen, wird daher klar abgelehnt.

Kirche in der Bundeswehr übernimmt „Wächteramt“Anhand von Elmar Wiesendahls Unterscheidung zwi­schen Spartanern und Athenern warnt der Autor davor, in der Diskussion um ein zeitgemäßes Leitbild der Bun­deswehr die Mentalität des Spartaners der des Athe­

ners vorzuziehen. Die Reduzierung des soldatischen Selbstverständnisses auf Kampf und Krieg sowie der von ihm beobachtete Trend, die Spannung zwischen Bürgerrechten einerseits und Gehorsam andererseits aufzulösen, werden vom Autor als „innere Verarmung“ und Verletzung der Selbstachtung des Soldaten cha­rakterisiert.

Die argumentative Stärke des Buches besteht da­rin, dass es nicht nur abstrakt normative Defizite be­nennt, sondern auch konkrete Probleme beschreibt, die Beckmann aus seinem Alltag als Militärseelsorger kennt, wie z. B. die fehlende ethische Reife minder­jähriger Soldaten, die mit Ängsten verbundene Isolie­rung der Offiziersausbildung von der übrigen Truppe oder das Verschweigen berechtigter Kritik aufgrund von befürchteten Karrierenachteilen. Diese Orientie­rung an der eigenen Praxis zeigt sich besonders deut­lich in der Interpretation der IF als „reformatorische Berufsethik“, da der Autor mit dieser Interpretation weniger auf die allgemeinen christlichen Vorausset­zungen der IF verweist, sondern diese mit seinem ei­genen Beruf in Zusammenhang bringt. So wird das durch die IF geforderte eigenverantwortliche Handeln innerhalb der Institution Bundeswehr mit der Bedeu­tung einer unabhängigen Militärseelsorge innerhalb dieser In stitution zusammengedacht. Eine Militärseel­sorge unter den Bedingungen der IF dürfe sich nicht instrumentalisieren lassen. Selbst eine Funktionalisie­rung innerhalb des Militärs würde das „ideologiekriti­sche Potenzial“ des christlichen Glaubens unterlaufen. Der Autor sieht die Aufgabe seiner Kirche innerhalb der Bundeswehr als kritisches „Wächteramt“, durch wel­ches das Menschenbild, für das die Bundeswehr ein­steht, immer wieder zur Sprache gebracht und so das Handeln der Bundeswehr überzeugend begründet wer­den kann. Die Position der Kirche und ihres Glaubens wird als kritische Begleitung und gegebenenfalls auch

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Klaus Beckmann: Treue. Bürgermut. Ungehorsam. Anstöße zur Führungskultur und zum beruflichen Selbst verständnis in der Bundeswehr (Reihe Standpunkte und Orientierungen, Bd. 7), Carola Hartmann Miles-Verlag, Berlin 2015, 100 Seiten, 9,80 Euro.

als Korrektiv verstanden, das dem Soldaten „autono­mes Handeln in gesellschaftlichem und dienstlichem Rahmen“ ermöglichen und zur Befähigung führen soll, falsche Loyalitäten infrage zu stellen.

Begrenzter GehorsamAufgrund einer solchen Aufgabenbeschreibung gehö­ren die disparat anmutenden Hauptwörter des Titels fest zusammen: Treue, Bürgermut und Ungehorsam schließen sich im soldatischen Selbstverständnis der Bundeswehr nicht aus, sondern bleiben aufeinander bezogen. Die Bedeutung dieser Trias tritt durch einen Vergleich der Selbstverständnisse von Bundeswehr, Wehrmacht und NVA besonders deutlich hervor: Die im Diensteid der Bundeswehr abgegebene Verpflich­tung zum „treuen Dienen“ stellt der Autor in Gegensatz zum „unbedingten Gehorsam“, auf den die Soldaten in Wehrmacht und NVA verpflichtet wurden, da Treue ein eigenverantwortliches Subjekt voraussetze, dem nur ein bedingter Gehorsam abverlangt werden kön­ne. Wenn der geforderte Gehorsam nicht zu Willkür und Unrecht führen soll, kann er immer nur begrenzt sein. Ob die vom Autor aus der Geschichte aufgezeigten Wege und Irrwege der Gehorsamspflicht – wie etwa die Beispiele für mangelnden Ungehorsam gegenüber un­gerechten Befehlen – der historischen Kritik in allen Punkten standhalten würden, sei anheimgestellt; vor allem wäre es eine Frage, ob die entschiedene Diffe­renzhermeneutik des Autors, die den Traditionsbruch zwischen Wehrmacht und Bundeswehr im Hinblick auf die Gehorsamspflicht herauszuarbeiten versucht, derart durchzuhalten ist. Dennoch verfolgt er mit sei­nen historischen Exkursen einen wichtigen Zweck: Er verweist damit anschaulich auf die bleibende Be­deutung der IF als „normative Leitkultur jeder militä­rischen Sozialisation“, die für die Identitätssuche der

„neuen“ Bundeswehr aktueller ist denn je.

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QUO VADIS, INNERE FÜHRUNG?

Neue Denkwege für neue sicherheitspolitische Herausforderungen Rezension von Kai Samulowitz

Uwe Hartmann, Claus von Rosen (Hrsg.): Jahrbuch Innere Führung 2015. Neue Denkwege angesichts der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Krisen, Konflikte und Kriege. Carola Hartmann Miles-Verlag, Berlin 2015, 332 Seiten, 24,80 Euro.

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„Neue Denkwege angesichts der Gleichzeitigkeit unter­schiedlicher Krisen, Konflikte und Kriege“ ist Leitthe­ma und Untertitel des aktuellen, siebten Bandes (2015) des Jahrbuchs Innere Führung, den Uwe Hartmann und Claus von Rosen herausgegeben haben.

Von Rosen analysiert das Kriegsbild. Von den vier möglichen Formen des Krieges nach von Baudissin gelangt er zu den neuen Kriegen nach Münkler und den hybriden Kriegen nach ursprünglich US­ameri­kanischer Lesart.

Rudolf Hamann, Hendrik Hoffmann und weitere Autoren beschäftigen sich mit dem Prinzip der Schutz­verantwortung. In „Umkehrung des klassischen Peace­keepings“ befürworten sie den Einsatz militärischer Gewalt bereits im Rahmen der Krisenprävention, um gewaltsame Konflikte zu unterbinden oder frühzeitig zu beenden. Die EU­Battlegroup könne einen solchen Auftrag der Vereinten Nationen durchführen.

„Zukunftsrobustheit“ von EntscheidungenDem in der Politik offenbar weit verbreiteten „Prinzip der Durchwurstelstrategie“ setzt Olaf Theiler die Stra­tegische Vorausschau als Prozess der Beschäftigung mit möglichen Entwicklungen in der Zukunft entge­gen. Dabei werden wissenschaftliche Methoden aus unterschiedlichen Disziplinen eingesetzt. Ziel ist eine fundierte Politikberatung, um die „Zukunftsrobustheit“ von Entscheidungen zu erreichen.

Uwe Hartmann beschäftigt die zivil­militärische Schnittstellenproblematik. Der ganzheitliche Ansatz der Vernetzten Sicherheit schaffe zuweilen problema­tische Beziehungen zwischen Politik und Militär, die bei Soldaten häufig zu Frustrationen führten. Die Sol­daten der Bundeswehr hätten einen entscheidenden Vorteil: die Führungsphilosophie der Inneren Führung, „welche die soldatische Existenz ebenso wie das mili­tärische Handeln in einem Einsatz in ein umfassendes und umgreifendes Verständnis von Politik integriert“.

Der Funktionslogik des militärischen Führungs­systems widmet sich Peter Buchner. Er stellt die vier Komponenten des militärischen Führungssystems vor. Dabei werde Komplexität reduziert, Zweifel und Stö­rungen würden beseitigt und Informationsflüsse mi­nimiert.

In Zeiten der „Kontextveränderung der kriegeri­schen Konflikte“ gehörten auch die traditionellen mi­litärischen Kategorien Strategie, Operation und Taktik auf den Prüfstand, so Klaus Naumann. Die Schlüssel­rolle falle dabei dem politisch­strategischen Denken und Handeln zu. Der Autor schlägt vor, die gebote­ne geistige Haltung „als Präsenz des Politischen“ zu bezeichnen, „die für das professionelle Denken und Handeln eines zeitgemäßen soldatischen Berufsver­ständnisses unverzichtbar ist und überdies eine Brücke schlägt zur Staatsbürgerlichkeit des Soldaten“.

Militärisches Handeln in DilemmasituationenErik Rattat beschreibt das gewachsene Anforderungs­profil an den militärischen Führer in einem komplexen Operationsumfeld. Zusätzlich zur klassischen militäri­schen Ausbildung komme es auf Qualifikationen wie Aufstandsbewältigung, Denken in vernetzten Struktu­ren, Einschätzung militärischer und politischer Wir­kung sowie Handeln in multinationalen und vernetz­ten Strukturen an.

Angelika Dörfler­Dierken und Philipp Heinrich be­leuchten Funktionsweise und Wirkung der Inneren Führung aus der Perspektive der Mannschaften. Ihre statistischen Erhebungen münden in das Plädoyer, das in den Mannschaften steckende Potenzial zu fordern und zu fördern, um so den „strategischen Gefreiten“ reifen zu lassen.

Hartwig von Schubert untersucht militärisches Handeln in Dilemmasituationen und geht auf die Pro­bleme der Gewissensbildung, Entscheidungsfindung und Umgang mit Schuld ein.

Dieter H. Kollmer skizziert die haushaltsorientierte Finanzierung deutscher Streitkräfte. Er macht deutlich, dass Streitkräfte ihren Auftrag nur dann erfüllen kön­nen, wenn ihnen ausreichend Personal, Material und Zeit zur Verfügung gestellt werden.

Drei Beiträge setzen sich mit Information ausein­ander. Frank Pieper sieht in moderner Kommunikati­on ein Schlachtfeld der Entgrenzung, wobei die Ver­netzung der Kommunikation im Einsatzgebiet mit der Kommunikation im Heimatland von überragender Be­deutung sei. Hans­Joachim Reeb stellt die Bedeutung der Truppeninformation für die taktische Führung heraus und beschreibt deren Anpassung an das Me­diennutzungsverhalten der Soldaten. Axel Weißhaupt fordert einen Neuansatz im Informationsmanagement der Bundeswehr und sieht diesen am besten in der Aus­stattung eines jeden Soldaten mit einem kostenfreien dienstlichen Smartphone realisiert.

Zwei Beiträge widmen sich dem kontroversen Buch „Armee im Aufbruch“. Jochen Bohn kritisiert die un­reflektierte Selbstbespiegelung unerfahrener junger Offiziere, die in unbeschränkter militärischer Funk­tionalität und völliger Bindungslosigkeit an Werte zu münden drohe. Marcel Bohnert hingegen betont, dass das Buch eine breite Diskussion angestoßen habe, und versucht, die Vorwürfe gegen die Autoren systematisch zu entkräften.

Reinhold Jankes Analyse von Feindbildern und zwei Rezensionen beschließen den Sammelband.

Fazit: Wer sich eingehend mit den politisch­militäri­schen Fragen unserer Zeit beschäftigen möchte, erhält mit diesem Buch wertvolle inhaltliche Impulse und wohl durchdachte intellektuelle Anregungen. Dieser Sammelband ist daher eine lohnende Lektüre und be­sonders empfehlenswert!

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MUT ALS SCHLÜSSEL ZUM LEBENÜber das Überleben nach dem Überleben

Rezension von Alexander Liermann

Alfred Day, Mitte 20, ist wenige Jahre nach Kriegsende in das Land der ehemaligen Fein­de zurückgekehrt. In Deutschland wird ein Film gedreht, bei dem ein Kriegsgefangen­lager von Bedeutung ist. Als ehemaliges Be­satzungsmitglied eines britischen Bombers war Day zum Kriegsgefangenen geworden. Er setzt sich während der Dreharbeiten, bei denen er als Statist mitwirkt, bewusst seinen Erinnerungen aus – umgeben von anderen Schauspielern und Komparsen, die zum Teil selbst Treibgut des Krieges sind.

A. L. Kennedy nutzt Montagen, indem sie Days Gedanken ungefiltert in den erzählen­den Text einrückt. Diese erschreckend gewaltaffinen, dann aber auch wieder rührend zärtlichen Passagen machen sichtbar, wie die Normalität durch Days Trau­ma gestört ist. So beschreibt Day seine verehrte Mutter folgendermaßen: „Ma ist der Kirche immer treu geblie­ben, egal was passierte. Sie hat sie geliebt. Ich glaube, die Nutzlosigkeit, die fehlende Belohnung hat ihr be­sonders gefallen. Wenn sie im Gottesdienst sang, wirk­te sie wie ein junges Mädchen, leuchtete von innen. Allerdings möchte niemand von innen leuchten – das zieht nur die Aufmerksamkeit auf sich.“

Die Tragik bekommt kein hübsches GesichtWas Day innerlich beschäftigt und damit am Leben hält, ist seine tragisch zu Ende gegangene Liebesgeschich­

te mit einer jungen, bereits verheirateten Frau. Wehmut und Misstrauen sind geblie­ben: „Das hätte dir auffallen können, wie es läuft – wenn du traurig warst, wurde sie froh. Aber du wirst nie wissen, ob das stimmt. Ob sie all die Jahre so froh gewesen ist wie du traurig.“ Day lässt die Erinnerung nicht los. Sie wird zum Schlüssel für seine Zukunft.

Der Roman fragt auch nach der Verhält­nismäßigkeit der Mittel des Krieges. Immer wieder kommt die Besatzung des Flugzeuges darauf zu sprechen. In einem leisen Zwie­gespräch zwischen Day und einem Kamera­den wird Gott, der in der Welt der fliegenden Krieger im Gegensatz zum Aberglauben keine Rolle spielt, zum gefürchteten Richter über das schreckliche Tun der Soldaten.

Wer sich dafür interessiert, die Zerris­senheit eines von Krieg und Gewalt im El­

ternhaus gezeichneten Menschen aus dessen Erleben heraus zu betrachten, wird mit „Day“ beides erle­ben: hilflose Betroffenheit und die heilende Kraft von Freundschaft, Ehrlichkeit und unerklärlichen Wen­dungen des Lebens. Der Roman endet überraschend, ohne der zuvor geschilderten Tragik ein hübsches Ge­sicht aufzumalen. Es ist ein Roman, der die Beschädi­gung des ganzen Menschen und all seiner Gefühlsre­gungen durch den Krieg nachzeichnet, der aber auch einen Weg zurück in ein Leben jenseits all dessen sicht­bar werden lässt.

A. L. Kennedy: Day Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2007, 349 Seiten, 22,90 EUR (2009 auch alsFischer-Taschen-buch erschienen).

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GEMEINDEN SIND DIE WICHTIGSTEN DREHSCHEIBENDie Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zeigt Potenziale

Von Gerhard Wegner

I hre Meinung ist uns wichtig!“ – so kriegt man es heute überall zu hören, ob man nun eine Übernachtung in ei-

nem Hotel gebucht oder etwas online be-stellt hat. Immer wollen die betreffenden Unternehmen von ihren Kunden wissen, ob sie einen guten Service erbracht haben. Bei der Kirche ist dies nicht anders. Alle zehn Jahre befragt die EKD mit erhebli-chem Aufwand ihre Mitglieder, wie sie ihre Kirche erleben und bewerten. Dies geschieht mittels einer Befragung, in der repräsentativ für ganz Deutschland Men-schen, die der Kirche angehören, aber auch Konfessionslose zu Wort kommen. Die Ergebnisse sind nun zum fünften Mal seit 1972 veröffentlicht worden – einiges lohnt der näheren Betrachtung.

45 Prozent der Kirchenmitglieder geben an, dass sie sich ihrer Ortsgemeinde sehr und ziemlich verbunden fühlen, und eben-so viele sagen dies auch in Bezug auf die Evangelische Kirche insgesamt. Demgegen-über fällt die Verbundenheit gegenüber den Landeskirchen und z. B. diakonischen Ein-richtungen deutlich ab. Damit ist die Kir-chengemeinde die mit Abstand wichtigs-te Drehscheibe der Kirchenmitgliedschaft.

Hochverbundene sind experimentierfreudigerDeutlich wird zudem, wie wichtig die Fak-toren der persönlichen Kommunikation für die Kirchenmitglieder sind. Dabei stellt sich heraus, dass es einen starken Unterschied macht, wie verbunden die Mitglieder sind und wie sie sich beteiligen. Während die,

Titel der Studie: Engagement und Indifferenz.

Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis.

V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft

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die sich weniger beteiligen, ein eher kon-ventionelles Bild von Kirche haben, pfle-gen die mit der Kirche enger Vernetzten ein deutlich größeres Interesse an Experi-menten. Es zeigt sich hier, dass notwendige Modernisierungen gerade mit den der Kir-che hochverbundenen Mitgliedern erreicht werden können und es eine gute Basis gibt, solche Veränderungen voranzubringen.

Der Anteil von 45 Prozent ist ja nicht gering! Das sind gut zehn Millionen Men-schen, die sich ihrer Kirche besonders ver-bunden fühlen. Welche Organisation in Deutschland erreicht schon eine so gro-ße Zahl ihr eng verbundener Menschen? Auf der anderen Seite muss man natürlich auch sehen, dass über die Hälfte der Kir-chenmitglieder ihrer eigenen Kirche nicht so stark verbunden sind, wenn nicht sogar

ihr eher distanziert begegnen. Sie nehmen zwar ab und zu an der Kirche teil, zahlen Kirchensteuer und sind bewusst Mitglie-der der Kirche – was alle Wertschätzung erfahren muss! –, beteiligen sich aber sehr viel weniger, wenn nicht sogar gar nicht.

Allerdings gilt auch für die stärker Ver-bundenen: Wer sich als der eigenen Ge-meinde stark verbunden erlebt, muss sich gleichwohl nicht regelmäßig oder gar in-tensiv beteiligen. Die Kirche vor Ort ent-faltet aber auch dort eine sehr nachhalti-ge Entwicklung, wo man sich gerade nicht regelmäßig beteiligt, sondern sie nur gele-gentlich oder selten wahrnimmt.

Sprungbrett für soziales EngagementDie Verbundenheit mit der Ortsgemeinde steigt mit dem Alter, was nicht weiter über-rascht. Jüngere fühlen sich nur zu 27 Pro-zent der Kirche stark verbunden. Auch das religiöse Interesse und die eigene religiöse Selbsteinschätzung finden mit diesen Ver-bundenheitsgraden enge Zusammenhänge: Ja, religiöse Kommunikation scheint mit einer hohen Verbundenheit mit der Kirche weitgehend parallel zu gehen.

Insgesamt hat, das zeigen die Studien im Zeitvergleich sehr deutlich, das Inte-resse an Religion unter den Kirchenmit-gliedern, wie auch in der Gesellschaft ins-gesamt, abgenommen. Demgegenüber hat aber die Zahl von ehrenamtlich in der Kir-che engagierten Mitgliedern deutlich zuge-nommen. Hier greift die Vermutung, dass die Kirche vor allem als Sprungbrett für so-ziales Engagement für viele Menschen inte-ressant ist (jetzt z. B. in der Hilfe für Flücht-linge) und die Kirchenmitglieder auf diese Weise wichtige Leistungen für das Gemein-wohl erbringen. Interessant sind in dieser

Hinsicht Analysen über das durch die Kir-chenmitglieder gebildete sogenannte „So-zialkapital“, d. h. die verlässlichen Bezie-hungen, die sich herausbilden. Es ist die Bindung an die vielen kleinen miteinander verbundenen Gemeinschaften innerhalb der Gemeinden, die sich durch persönli-che Kontakte auszeichnen, in denen eh-renamtliches und freiwilliges Engagement ermöglicht und verstetigt wird. Für die Ge-sellschaft ist dies von großer Bedeutung, da das Vertrauen sich nicht nur auf Vorgänge in der Kirche intern, sondern auch auf die Gesellschaft insgesamt bezieht und kirch-lich gebundene Menschen sich in dieser Hinsicht auch häufig für andere einsetzen.

Natürlich: Die Evangelische Kirche hat in den letzten Jahren Mitglieder verloren, auf der einen Seite aufgrund der Bevölke-rungsentwicklung, auf der anderen Seite aber auch aufgrund von Austrittsbewegun-gen. Es muss darüber diskutiert werden, wie weit Austrittsgründe hausgemacht sind. Aber dennoch liefern die Ergebnisse dieser Studie durchaus Anlass zum Optimismus. Die Evangelische Kirche wird nicht zu ei-ner Sekte verkommen; sie bleibt eine große Kirche für das gesamte Volk.

Der genaue Blick auf die Arbeit der Kir-che vor Ort erlaubt zudem eine Differenzie-rung zwischen erfolgreichen, sich öffnen-den Kirchengemeinden – und anderen, bei denen man den Eindruck haben kann, dass sie sich längst aufgegeben haben. Es gibt wunderbare Beispiele sympathischer und ansprechender kirchlicher Praxis. Und wer sich so etwas fantastisch medial aufbereitet anschauen will, dem sei dringend empfoh-len, sonnabends ab 19.30 Uhr im ZDF die

„Herzensbrecher“ zu sehen, Pastor Tabarius und seine charmante Gemeinde.

Gerhard Wegnerist Apl. Prof. für Praktische Theologie an der Universität Marburg und Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland (SI).

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„IST ES RECHT?“Vom sozialen Wert und Preis des aufrechten Gehens

Von Klaus Beckmann

Einmal stehste vor Jott dem Vater, und der fragt dir ins Jesichte: Schuster Willem Voigt, wat haste jemacht mit dein’ leben, un dann muss ick sagen: fußmatten, die hab ick jeflochen in Gefängnis, un da sind se alle drauf rumjetrampelt. und Gott der Vater sagt zu mir: Jeh weg, sagt er, detwegen hab ick dir det leben nich jeschenkt, wo isset? Wat haste ’mit jemacht?1

D er tragikomische Held in Carl Zuckmayers „Hauptmann von Köpenick“ will seinem Schöpfer keine Schande ma-chen, sich selbst auch nicht. So hebt er an, Titel- und

Rangfixierung längst nicht nur der wilhelminischen Ära zu bla-mieren. „Was hast du damit gemacht“ – mit den Begabungen, die dir mitgegeben wurden? Biblisch lässt sich variieren: „Wie hast du mit den dir anvertrauten Talenten gewirtschaftet?“ (Matthäus 25,14–30)

„Ich selbst“ zu sein – ohne entstellende Anpassung, gerade so aber als verantwortliches Glied der Gemeinschaft –, sich des eige-nen Verstandes zu bedienen: Das erfordert, wie Immanuel Kant in seiner Definition der Aufklärung festhielt, Mut. Jeder Selbstdenker, der aus der Gruppenmeinung heraustritt, ist potenzieller Außen-seiter, kommt doch keine Gemeinschaft ohne Konformitätsdruck aus. Zugleich braucht Gemeinschaft, will sie nicht in Stumpfsinn und Routine versinken, innovative Einzelne. Wissenschaftlich und ökonomisch erfolgreich sind Länder, die Individualität fördern, qualifizierter Kritik Raum geben. Ein starkes Gemeinwesen lebt nicht aus eitel Harmonie, sondern aus konstruktiver Streitkultur. Häufig entdecken Außenseiter Lösungswege; was allen „normal“ scheint, ist für sie nicht „alternativlos“.

1 Vom Verfasser gekürzte Szene aus dem Film „Der Hauptmann von Köpenick“ von 1956 mit Heinz Rühmann.

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Christlicher Glaube schafft Grundvertrauen: Mag die Gruppe Normverletzungen mit Liebesentzug ahnden, aus der Liebe Gottes falle ich nie heraus. So macht der Glaube „durchhaltefähig“. Der starke Charakter riskiert, einer wohl erwogenen Entscheidung wegen ins Zwielicht zu geraten. Dass davor kein Entscheidungs-check bewahrt, musste mancher militärische Führer erfahren.

Die biblischen Religionen berufen sich auf abweichende Ein-zelne, bei Noah angefangen, dem Erbauer der Arche, dessen Ei-gensinn das Leben über die Flut rettete. Protestanten – welch pro-grammatisch anspruchsvoller Name! – begehen demnächst das 500. Jubiläum eines Aktes höchster Unangepasstheit. Im Nach-hinein wird so etwas gefeiert.

Entscheidung zwischen Wahrheit und Karriere?Aufrechter Gang hat immer noch seinen sozialen Preis, obwohl das Risiko heute geringer ist als zu diktatorischen Zeiten. Angepasste entwickeln Neid auf den Selbstständigen – dazu ein schlechtes Ge-wissen, schließlich hält er ihnen ja den Spiegel vor. Zuweilen wi-derlegt er in kollektiver Ängstlichkeit wurzelnde Ausreden, wenn seinem unangepassten Verhalten gar keine „Strafe“ folgt und recht-fertigende „Gründe“ der Anpassung zerplatzen. Mancher schiebt Stilfragen vor: „Krawallbruder“ oder „Trotzkopf“, auch „Nestbe-schmutzer“ mag es heißen. Furcht vor dem „Anecken“ kann sich auf absurde Weise hochschaukeln. So entsteht, ohne dass „von oben“ tatsächlich Druck ausgeübt würde, eine duckmäuserische Unkultur.

Als Seelsorger kenne ich die in der Bundeswehr grassierende Furcht vor dem Auffallen. Ein junger Offizier äußerte: „Man muss sich entscheiden, ob man die Wahrheit sagt oder Karriere macht.“ Nun mag sich ein Einzelner bequem und selbstgefällig so einrich-ten, die „Karrieristen“ verachten und womöglich nie ernsthaft versuchen, eine eigene Position durchzufechten. Für den Gesamt–organismus Bundeswehr aber ist das Gift. Wo nur aufsteigt, wer heuchelt und liebedienert, geht die Gemeinschaft vor die Hun-de. Und Feigheit, die sich hinter Verschwörungstheorien von ei-ner anonymen Macht versteckt, ist das Gegenteil von Bürgermut.

Diese Zeilen stammen von Theodor Storm. An solch trotziger Selbstbehauptung gegen Leisetreterkartelle könnte unsere Armee gesunden. Zum christlichen Menschenbild gehört, sich der eige-nen Lebensbilanz zu stellen – aus Dankbarkeit für die anvertrauten Talente. Um Dienstgrad und Einkommen wird es am Ende nicht gehen, vielmehr um Anstöße zu menschlicherem Leben, die ich gab. Ob Vorgesetzte mich als pflegeleicht schätzten (und insge-heim verachteten), dürfte dann Nebensache sein; nicht aber, ob ich Autoritäten immer wieder prüfend die Stirn bot und mich für jene einsetzte, die andere mieden.

Wilhelm Voigt will „so knickrig mal nicht vor meinem Schöp-fer stehen“. Na eben!

Militärpfarrer Dr. Klaus Beckmann

leitet das Evangelische Militärpfarramt Mayen.

2 Aus: Theodor Storm, Sämtliche Werke, Band 3. Hamburg 1918, S. 572.

Der eine fragt: Was kommt danach? / Der andre fragt nur: Ist es recht? / und also unterscheidet sich / Der freie von dem Knecht.2

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fRIEDEN alS lEBENSWEISE

Wenn wir über friedensspiritualität reden, sprechen wir über den Kern unseres Glaubens. Es ist eine dreidimensionale Spiritualität,

welche mich, Gott und meinen Nächsten einschließt.Von Marie-Noëlle van der Recke

Sechs Thesen zum Thema:

Der Friede gehört ins Zentrum des Evangeliums und nicht an den Rand. Er ist die Mitte der Berufung der Kirche und einer jeden Christin, eines jeden Christen.1

Der Begriff Frie-densspiritualität beschreibt eine Lebensweise. Unser Umgang mit Gott, Menschen und der Schöpfung ist gefragt. Das Friedenszeugnis der Kirche ist praktischer, gelebter Glaube.

Der Friedensgedanke ist schon in der hebräischen Bibel lebendig: Neben der Schilderung von Kriegen, die mal als von Gott gewollt, mal als Folge menschlicher Sünde begründet werden, erzählt das ers-te Testament die Geschichte eines Gottes, der Menschen segnen will und seinen Segen auf die ganze Menschheit durch sein Volk erstrecken will.2 Die Bibel beschreibt die Menschheit als rebellisch und dazu geneigt, ohne Gott leben zu wollen. Sie zeigt, wie Gott immer wieder versucht, die Menschen zu gewinnen. Gott gibt seinem Volk Gebote, damit sie in Frieden leben, in Harmonie mit Gott, miteinander und mit der Schöpfung. Dieses Leben beschreibt das erste Testament mit dem Begriff Schalom, das mehr als die Abwesenheit von Krieg bedeutet und die Dimensionen von Gerechtigkeit und einem glücklichen Leben einschließt. Jeder soll sein Brot und seinen Wein unter seinem Feigenbaum genießen können.3 Das erste Testament gibt Raum für die Stimme der Propheten, die wirtschaftliche Ungerechtig- keit anprangerten, Korruption und Betrug entlarvten, die Bündnispolitik mit den mächtigen Nachbarn Israels und den Götzen- dienst verurteilten. Sie verwarfen die Ge-walt, das Morden, den Krieg. Sie predigten Vertrauen in Gott statt Vertrauen in Waffen,4 sie forderten Gerechtigkeit für die Armen und kündigten eine Zeit an, in der Löwe und Lamm zusammen friedlich leben werden, in der aus Schwertern Pflugscharen geschmiedet werden und Krieg nicht mehr gelernt wird.5

1 Siehe Epheser 2: „Christus ist unser Friede“

2 Vgl. 1. Mose 12,1 ff.3 Vgl. Micha 4,4 4 Vgl. Jeremia 31,15 Vgl. Jesaja 2,4,

Micha 4,36 Radikal kommt vom

Lateinischen radix, die Wurzel, und hat nicht die Bedeutung des Extremismus.

7 Vgl. Matthäus 5,218 Vgl. Matthäus 26,52

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9 Vgl. Lukas 9,51–5610 Vgl. Matthäus 5,45

und Lukas 6,27 ff.11 Walter Wink, siehe

besonders: Verwand-lung der Mächte: Eine Theologie der Gewaltfreiheit (2014)

12 Hier wird die ganze Tragweite des Gebets „Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt, gib uns Deinen Frieden“ deutlich.

13 Vgl. Epheser 6

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Die Lehre Jesu in der Bergpredigt stellt eine radikale6 Auslegung der Gebote des ersten Testaments dar: Jesus, die Mitte des zweiten Testaments, steht in der Linie der Propheten. Wie sie sprach er gegen Korruption und Ungerechtigkeit und wies auf Gottes Willen hin. Er war über mensch-liches Gewaltpotenzial realistisch. Ihm war bewusst, dass Gewalt und Hass im Herzen der Menschen stecken, und er betonte, dass der böse Blick, der hasserfüllte Gedanke, eine Beleidigung die Wurzel des Mordes sind.7 Er verurteilte Gewalt in ihrer krasses-ten Form8 sowie Gewalt, die religiös getarnt wird.9 Jesu Lehre über die Gewaltfreiheit ist eindeutig und provozierend: Liebt Eure Fein-de, segnet, die Euch verfluchen, haltet die andere Backe hin. Überrascht Eure Gegner mit einer Haltung der Liebe, die sie nicht er-warten. Jesus fordert heraus zum Handeln. Seine Jünger sollen Gottes Art nachahmen:

„Seid barmherzig, wie Euer Vater barmherzig ist.“ Dieser Weg ist der Weg Gottes, sein Umgang mit Menschen – auch mit bösen Menschen, denn Gott lässt die Sonne auf alle Menschen gleichermaßen scheinen.10

So widerspricht Jesus dem „Mythos der erlösenden Gewalt“,11 der tiefe Wurzeln hat und bis heute sowohl Kultur wie Politik prägt.

Der Weg des Kreuzes ist der Weg des Friedens.Jesus appelliert nicht nur an seine Jünger, sich friedlich zu verhalten. Er zeigt mit sei-nem eigenen Weg, wie weit die Liebe führt, und fordert uns heraus, diesen Weg zu gehen. Er gibt sein Leben am Kreuz und lädt die Jünger ein, ihr Kreuz zu tragen. Im Kreuz offenbart sich Gottes Gewalt-losigkeit, der anstatt seine Feinde – die Menschen – zu vernichten, die Last mensch-licher Sünde auf sich selbst nimmt.12 Die Auferstehung ist die Antwort Gottes auf diesen Weg. So wird offenbar, wie Gewalt überwunden wird. Nach der Auferstehung grüßt Jesus seine Jünger mit dem Friedensgruß und sendet sie als Friedensboten in die Welt.

Jünger und Jünge-rinnen Jesu sind aufgefordert, sich in der Welt als Friedensstifter und Friedens- stifterinnen ein-zusetzen. Der ge-waltfreie Umgang mit Freunden und Feinden will geübt werden. Die Ge-meinde ist ein Ort, wo dieses Einüben geschehen kann. Unterstützt von der Gemeinde, können wir dem Frieden Gottes in der Welt dienen.

friedensspiritualität ist mehr als ein tröstendes Gefühl im angesicht von Krieg und Zwietracht. Sie ist Zuversicht, dass ein liebender Gott Herr der Geschichte ist, und Engagement, darüber Zeugnis im alltag abzugeben. Sie ist Geborgenheit auf-grund des Sieges Jesu über die Mächte und Ge-walten13 und konkreter Einsatz für Versöhnung und erneuerte Beziehungen in der Welt. Sie ist Gabe und aufgabe zugleich.

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Marie-Noëlle van der Recke ist mennonitische Theologin; sie war Dozentin an

der mennonitischen Bibelschule Bienenberg in der Schweiz, später Generalsekretärin

des friedenskirchlichen Netzwerks Church and Peace (www.church-and-peace.org).

Sie ist Dolmetscherin und Übersetzerin.

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KIRCHE UNTER DEN SOLDATEN

Der Raum der Stille im sächsischen Delitzsch bietet einen Rückzugsort, den viele nutzen

Von Martin Hüfken

Delitzsch, Mittwochmorgen, 7:15 Uhr. Die Glocke ist gerade verstummt. Im Gebäude 40 ist der Raum der Stille mit Solda­tinnen und Soldaten besetzt.

Ein großes helles Kreuz öffnet und begrenzt

den Raum zugleich

Dieser „Start in den Tag“ wird jeden Monat zwei Mal an­geboten. Zeit des Singens, der Besinnung, des Gebetes und der Stille. So richtig still

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Impressum

Delitzsch

erahnen. Es scheint, als würden weit ausgebreitete Arme jeden empfangen, der in der Stille ankommen will. Dieser Raum ist für Lehr­gangsteilnehmer und Stamm­personal ein Rückzugsort. An sieben Tagen der Woche ist er 24 Stunden täglich offen. Einladend scheint er zu sein. Noch bis spät in die Nacht finden Suchende den Weg dorthin. Am nächsten Morgen zeugen an­ gezündete Teelichte oder kleine Sorgenkärtchen am „Lücken­kreuz“ von den stillen Ge­ sprächen, die dort stattfanden.

ist dieser Raum aber nicht. Vielsagend sind etwa die gestalteten Fenster. Sie be­grüßen den Gast. Weih­nachten, Ostern, Himmel­ fahrt und Pfingsten laden zu einer „Reise“ durch das Kirchenjahr ein. Nicht so bunt, aber leuch­tend und klar spricht an der Stirnseite hinter dem Altar das Wandgemälde. Matthias Klemm aus Leipzig hat dort großflächig ein Kreuz gestaltet. Längsstrich und Querstrich lassen Kopf und Körper von Jesus Christus

Kreuz und Glockenturm signalisieren:

Hier ist die Seelsorge

Jedes Fenster steht symbolhaft für

ein Kirchenfest

Mitarbeitende dieser Ausgabe: Dirck Ackermann, Said AlDailami, Saara von Alten, Detlef Bald, Klaus Beckmann, Jochen Bohn, Thomas Bohrmann, Ulrich Bröckling, Veronika Drews-Galle, Uwe Hartmann, Frank Hofmann, Martin Hüfken, Alexander Liermann, Friedrich Lohmann, Herfried Münkler, Gabriele Meister, Marie-Noëlle van der Recke, Kai Samulowitz, Markus Thurau, Gerhard Wegner Redaktion: Dirck Ackermann (verantwortlich), Walter Linkmann, Hanna Lucassen, Martin Middendorf, Dorothea SiegleRedaktionsanschrift: Jebensstraße 3, 10623 Berlin Telefon: 030 310181-123 Internet: www.militaerseelsorge.de E-Mail: [email protected] für die Redaktion: Jochen Bohn, Veronika Drews-Galle, Anne Peters-Rahn, Christian Renovanz, Marcus Schaper, Hartwig von SchubertRealisierung: Gemeinschaftswerk der Ev. Publizistik gGmbHCrossmedia-Abteilung, Leitung: Dorothea SiegleEmil-von-Behring-Str. 3, 60439 Frankfurt/MainBildredaktion: Caterina Pohl-Heuser Gestaltung und Satz: Sebastian Spannring Druck: Strube Druck & Medien OHG, Stimmerswiesen 3, 34587 FelsbergVerlag: Evangelische Verlags anstalt Leipzig, Blumenstraße 76, 04155 LeipzigVertrieb:Gemeinschaftswerk der Ev. Publizistik gGmbHEmil-von-Behring-Str. 3, 60439 Frankfurt/MainMartin Amberg, Telefon: 069 580 98-223E-Mail: [email protected]: Zweimal jährlich

bildnachweiseTitel: laif, Christoph Bangert / S. 5 An-Sofie Kesteleyn / S. 7 ddp images (2) / S. 8 iStockphoto / S. 12 – 13 Reuters, Stringer / S. 14 – 15 privat / S. 16 – 19 laif, Theodor Barth / S. 21 vario images, varioBROKER, Björn Kietzmann / S. 24 laif, Jörg Gläscher; Universum Film / S. 30 Verlag Neues Leben / S. 31 picture alliance, Camera4 / S. 32 Knesebeck / S. 34 Studiocanal; Intertopics / S. 35 Intertopics (2) / S. 36 – 37 Direct Media Publishing GmbH / S. 39 Reuters, Jim Young / S. 40 picture alliance, dpa, Jan Woitas / S. 44 picture alliance, dpa, Stefanie Järkel / S. 47 Reuters, Leonhard Foeger (2) / S. 49 ddp images, Urs Flueeler / S. 51 Getty Images, The Life Picture Collection, Ralph Crane; Süddeutsche Zeitung Photo / S. 52 – 55 Walter Linkmann / S. 57 – 58 Carola Hartmann Miles Verlag / S. 60 Klaus Wagenbach Verlag / S. 61 Plainpicture, Simone Casetta; Plainpicture, Erik Asla / S. 62 – 63 EKD, Design: gobasil.com / S. 66 – 67 Fotolia, Birgit Seifert / S. 68 – 69 Walter Linkmann / S. 70 www.gotensieben.de / S. 72 epd-bild, Ralf Maro, VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Alle hier nicht genannten Autorenfotos: Archiv

Im Auftrag des Evangelischen Militärbischofs heraus gegeben von Professor Dr. Arnulf von Scheliha, Universität Münster; Professor Dr. Friedrich Lohmann, Universität der Bundeswehr München; Dr. Frank Hofmann, Andere Zeiten e. V.

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ERDie Künstlergruppe Gotensieben zeigt den gekreuzigten Jesus als

Superman, Spider-Man, The Flash, Green Lantern (im Uhrzeigersinn).

www.gotensieben.de

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LUTHERS CREDO ALS VORBILD FÜR MENSCHEN VON HEUTEALS VORBILD FÜR MENSCHEN VON HEUTE

www.eva-leipzig.de facebook.com/eva.leipzig

HIER STEHE ICH, ICH KANN NICHT ANDERS ist die journalistisch genial zugespitzte Schlusssentenz von Martin Luthers Rede am Ende des Wormser Reichs-tages 1521. Standfestigkeit und Haltung, wie sie der Reformator vorlebte, haben auch heute nichts von ihrer Bedeutung verloren, so auch für die hier vom langjährigen Chefreporter der Leipziger Volkszeitung porträtierten prominenten Zeitgenossen: den Dirigenten Herbert Blomstedt, die Holocaust-Überlebende Ruth Klüger, die Reformations-Botschafterin Margot Käßmann, den Papst-Maler Michael Triegel, den Startenor und Mäzen der Leukämieforschung José Carreras, die Olympiasiegerin Magdalena Neuner, die Politikerin Antje Hermenau, den Bergsteiger Reinhold Messner und viele andere.

Insgesamt stellt das Buch 30 zwar sehr unterschiedliche, aber letztlich auch sehr ähnliche Lebensgeschichten vor: Hier stehe ich, ich kann nicht anders.

Thomas Mayer

HIER STEHE ICH ...

30 Lebensbilder von Menschen mit Haltung

2016 | 256 Seiten | HardcoverISBN 978-3-374-04261-6 19,90 €