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N. Luhmann: ST Ges — Lauf — -- — S. Eine Edition des Niklas Luhmann-Archivs der Universität Bielefeld in Kooperation mit dem Cologne Center for eHumanities Niklas Luhmann Systemtheorie der Gesellschaft Herausgegeben von Johannes F. K. Schmidt und André Kieserling Unter Mitarbeit von Christoph Gesigora Suhrkamp

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Eine Edition des Niklas Luhmann-Archivs

der Universität Bielefeld in Kooperation mit dem

Cologne Center for eHumanities

Niklas Luhmann

Systemtheorie der Gesellschaft

Herausgegeben von

Johannes F. K. Schmidt und André Kieserling

Unter Mitarbeit von Christoph Gesigora

Suhrkamp

N. Luhmann: ST Ges 58705 — Druck — 2017-11-2 — S. 5

Inhalt

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Teil 1Soziale Systeme: Interaktion, Organisation, Gesellschaft 19

Kapitel I Grundbegriffe der Systemtheorie . . . . . . . . . . 25Kapitel II Konstitution sozialer Systeme . . . . . . . . . . . . . 90Kapitel III Ebenen der Systembildung . . . . . . . . . . . . . . . . 170Kapitel IV Ebenendifferenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

Teil 2Gesellschaftliche Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

Kapitel I Evolutionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267Kapitel II Mechanismen soziokultureller Evolution . . 311Kapitel III Gesellschaftsformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 386

Teil 3Kommunikationsmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451

Kapitel I Grundlagen der Medienbildung . . . . . . . . . . . 456Kapitel II Medientypen und Medienprobleme . . . . . . . 476Kapitel III Lebenswelt und Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600

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Teil 4Gesellschaft als System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621

Kapitel I Intersubjektive Konstitution der Welt . . . . . 627Kapitel II Ausdifferenzierung des Gesellschafts-

systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675Kapitel III Innendifferenzierung des Gesellschafts-

systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 770Kapitel IV Die Größenverhältnisse und die Strukturen

des Systems der Weltgesellschaft . . . . . . . . . . 864

Teil 5Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 911

Kapitel I Selbstthematisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 913Kapitel II Gesellschaftstheorie als Wissenschaft . . . . . . 983Kapitel III Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1061

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1103

Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1105Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1117Ausführliches Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1127

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Einführung

Der Begriff Gesellschaft soll hier nicht nur als Sammelbezeich-nung für die Totalität sozialer Beziehungen dienen, sondernals Bezeichnung eines sozialen Systems unter anderen. In derTradition dieses Begriffs war diese Alternative offengeblieben.Die alteuropäische Tradition der politischen Gesellschaft (so-cietas civilis) hatte ihren Gesellschaftsbegriff zunächst allge-mein gefaßt (koinonía, communitas, societas) als jede Art Ge-meinschaft um gemeinsamer Vorteile willen, hatte ihn aberfür den besonderen Fall des umfassendenGesellschaftssystemsdurch einen einschränkenden Zusatz definiert: als civitas sivesocietas civilis. In der neuzeitlichen Tradition der wirtschaft-lichen Gesellschaft (bürgerlichen Gesellschaft) blieb ein An-spruch auf Totalität erhalten. Gleichwohl wurden auch hierbegriffliche Elemente, die man nicht einordnen konnte, aus-gestoßen und als ein Gegenüber fixiert – so in der Unterschei-dung von Gesellschaft und Staat oder in der Unterscheidungvon Gesellschaft und Gemeinschaft. Oder die Einschränkun-gen wurden zur Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft als ei-ner Klassengesellschaft benutzt und der Anspruch auf Tota-lität in die Zukunft einer klassenlosen Gesellschaft verlagert,das heißt: der Widerspruch von Ganzem und Teil in die Zeit-dimension verlegt und als Übergang begriffen. Welchen Lö-sungsansatz man auch wählte – und davon hing alles Weitereab –, der Gesellschaftsbegriff blieb doppeldeutig, indem er zu-gleich das Ganze und einen Teil des Ganzen vertreten mußte.

In die Prämissen der Gesellschaftstheorie war demnacheine logische Unbestimmbarkeit eingebaut gewesen (ohne

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daß man diesen Nerv jemals gezielt angebohrt hätte). DieseUnbestimmbarkeit ist nur zu rechtfertigen, wenn man in ihrein strukturelles Erfordernis der Gesellschaft selbst sieht –und nicht einfach nur einen Theoriefehler. In der Tat mußdie Gesellschaft paradox konstituiert sein, weil es sonst Un-wahrheit gar nicht gäbe. Der logische Schematismus ist selbsterst ein Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung. Ob mangerade ihm jemals die Identifikation des Gesellschaftssystemsim ganzen wird überlassen können – so wie einst der Politikund dann der Wirtschaft –, dürfte letztlich eine Frage derzunehmenden Konvergenz von gesellschaftlicher und wis-senschaftlicher Entwicklung sein. Der Gesellschaftstheoriekommt dafür die Funktion eines Katalysators zu.

Auf Aspekte dieser Unbestimmbarkeitsproblematik, diein der bürgerlichen Gesellschaft im neuartigen Primat ihrerWirtschaft und vor allem in der Form ihrer politischen Revo-lution und Instabilität sichtbar geworden war, hatte bereitsHegel reagiert durch Einbau des Prinzips der Reflexion in dieGesellschaftstheorie. Die Unbestimmbarkeit wurde damit alsSelbstbestimmung reformuliert und als historischer Prozeßbegriffen. Die Einheit von Gesellschaft und Gesellschaftstheo-rie war noch metaphysisch garantiert, aber zugleich schon,wie im vorigen Absatz angedeutet, ein Entwicklungspro-blem. So mußte die politische Revolution letztlich die Logikrevolutionieren oder zumindest auf diese Konsequenz hinzu Ende gedacht werden. Verzeitlicht wird das Problem derUnbestimmtheit (von Gesellschaft und Gesellschaftstheoriezugleich), weil es für andere Darstellungsformen zu komplexgeworden ist. Seitdem muß man Gesellschaft als Aspekt derSelbstselektion des Seins begreifen. Metaphysische Titel wie»Vernunft« oder »Materie« dienen, wie immer adaptiert, eineZeitlang noch als Garanten der Einheit von Denken und Sein(oder marxistisch: von Theorie und Praxis) und verdecken

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damit zugleich die nicht voll begriffenen Strukturproblemedieser Selbstselektion. Hinter diesen Gedanken der im Ge-sellschaftssystem zur Reflexion gebrachten Verzeitlichungkann keine Theorie der Gesellschaft zurückfallen, die derKomplexität ihres Gegenstandes gerecht werden will. Diewissenschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten liegen im be-grifflichen Material, mit dem dieses Prinzip zur Darstellungkommt – oder genauer gesagt: als sich selbst darstellend be-griffen wird. Und es ist dieser begriffliche Ansatz, der überHegel und Marx hinaus abstrahiert werden muß.

Hegel hatte sich an die im 18. Jahrhundert eingeführteDichotomie von Natur und Freiheit gehalten, und er hattebegriffen, daß sowohl Natur als auch Freiheit für die neue Ge-sellschaft Begriffe der Selbstdistanzierung von der Traditionwaren.1 Um dieser Entzweiung (und zugleich dem Primatder Ökonomie und der Nichtrestaurierbarkeit der Politik imethisch-institutionellen Sinne) Rechnung zu tragen, hatte erdie Gesellschaft auf die menschliche Bedürfnisnatur gegrün-det und gerade darin, daß sie nur dies sei, eine Bedingungder Freiheit gesehen. Damit bezeichnete der Gesellschafts-begriff die Gesellschaft indes nur noch als ein Moment deskonkreten Ganzen; ihre Abstraktion war gerade nicht dieLeitstruktur der Selbstselektion des Seins, sondern mußtein der konkreten Sittlichkeit aufgehoben werden. Im Wett-kampf dermetaphysischen Titel konnte die Gesellschaft dannauch nicht als vernünftig behauptet werden – und man sahja auch, daß sie es nicht war –, sondern eben nur als mate-riell. Da aber Vernunft und Materie letztlich nur Chiffrenfür jene Unbestimmbarkeit sind, in der Gesellschaft undGesellschaftstheorie konvergieren, blieb ein Streit auf die-

1 Daran erinnert Joachim Ritter, Hegel und die französische Revolution,Köln, Opladen 1957.

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ser Ebene ohne Bezug zum Problem. Nachdem Hegel nurden Ausweg gesehen hatte, jenseits aller Konstruktionspro-bleme des politischen Systems der bürgerlichen Gesellschaftim Staatsbegriff einen sozusagen revolutionsfreien Primatder politischen Ethik zu erneuern,2 und Marx dem nur dieVerabsolutierung eines primär ökonomisch begriffenen Ge-sellschaftssystems entgegensetzen konnte,3 ist es notwendiggeworden, die Gesellschaftstheorie neu zu begründen. Diemarxistisch konservierten Restbestände bieten dafür wenigAnregungen, wohl aber Mindestforderungen an Blickweiteund Reflexionsvermögen, die nicht unterschritten werdensollten.

Aufgenommen und kombiniert werden müssen, wennman überhaupt Wert darauf legt, an bisheriges Denken überGesellschaft anzuschließen,4 die folgenden Momente: (1) dastraditionelle Problem der Einheit des Gesellschaftssystems,das als umfassendes zugleich nur ein Sozialsystem unter an-

2 Zum Anachronismus des daran anschließenden spezifisch deutschenStaats- und Politikverständnisses vgl. Manfred Riedel, »Der Staatsbe-griff der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts in sei-nem Verhältnis zur klassisch-politischen Philosophie«, in: Der Staat 2(1963), S. 41-63.

3 In bezug darauf kann man dann auch mit Joachim Ritter (in einerDiskussionsbemerkung von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die verfas-sungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedin-gung der individuellen Freiheit, Opladen 1973, S. 60) von einer »hy-pertrophischen Verwendung des Begriffs der Gesellschaft« sprechen.Diese Hypertrophie ist aber, gemessen an dem Anspruch der Um-fassendheit, der die Tradition mit dem Gesellschaftsbegriff verbindet,nichts, was zurückzunehmen wäre, sondern nur das erst noch einzulö-sende Versprechen einer Gesellschaftstheorie.

4 Daß man darauf Wert zu legen hat, ergibt sich aus der Charakterisie-rung derWissenschaft als einer selbstsubstitutiven Ordnung, und dieseCharakterisierung ergibt sich daraus, daß die Wissenschaft selbst Teil-system der Gesellschaft ist. Dazu näher unten, Teil 5, Kap. II.

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deren ist, und (2) die moderne (bürgerliche) Fassung diesesProblems als Notwendigkeit der Selbstselektion des Gesell-schaftssystems, die (a) Reflexivität der Selbstbestimmungimpliziert als Bedingung der Möglichkeit des Wechsels der-jenigen Teilsysteme, die durch Realisierung eines funktio-nalen Primats eine Pars-pro-toto-Funktion übernehmen,und (b) eine Verzeitlichung von Komplexität erfordert indem genauen Sinne, daß durch Einbau von »historischemBewußtsein« in die Gesellschaftsstruktur Unbestimmtheitder Möglichkeiten und Bestimmtheit der Realisierungen imNacheinander kompatibel werden.

Analysiert man aus größerer Distanz, dann zeigt sich, daßjene Begriffsbildungsprobleme der Gesellschaftstheorie un-lösbar waren aus mehrfachen Gründen, die sich wechselseitigstabilisieren. Man hatte sich (1) aus plausiblen Gründen zuder Auffassung bekannt, das Ganze sei mehr als die Summeder Teile, obwohl Gesellschaftstheorien der skizzierten Arteher Anlaß gegeben hätten, die Gegenthese anzunehmen undzu sagen, das Ganze sei weniger als die Summe der Teile, es seiOrdnung als Reduktionsleistung. Man hatte, wie in bestimm-ten evolutionären Lagen von faszinierender Neuartigkeitverständlich, (2) die Gesellschaft als Ganzes durch Merkmaleihres jeweils wichtigstenTeilsystems charakterisiert und ihrenBegriff dadurch konkretisiert – zunächst als politische, dannals wirtschaftliche Gesellschaft. Dadurch blieb das Ganze mitMerkmalen infiziert, die nicht für die Gesamtheit der unterihm zusammengefaßten Elemente repräsentativ sein konn-ten. Man sah (3) die zweiwertige Logik nicht nur als begrenztfunktionsadäquaten Schematismus, sondern als Abbild ei-nes wirklichen Unterschiedes von Sein und Nichtsein undkonnte infolgedessen (4) weder selbstreferentielle Prozessenoch Intersubjektivität, noch Systeme mit strukturimmanen-tem Umweltbezug, noch Systeme mit strukturimmanentem

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Zeitbezug denken.Undmanhatte (5) zwischen verschiedenenSystembildungsebenen, vor allem zwischen Gesellschaftssy-stem und organisierten Sozialsystemen, nicht ausreichendunterschieden und infolgedessen eine Pars-pro-toto-Technik,die in Organisationen ohne weiteres möglich ist, auf das alsKorporation vorgestellte Gesellschaftssystem übertragen. Alldiese Optionen sind aus den historischen Lagen und den evo-lutionären Perspektiven vergangener Gesellschaftssystemeheraus verständlich. In all diesen Hinsichten könnte manheute anders urteilen.

Die Hauptdifferenz, die uns von den Anfängen der So-ziologie und von den Gesellschaftstheorien des 19. Jahrhun-derts, also auch von der Marxschen Theorie trennt, liegt imsystemtheoretischen Ansatz. Dieser ist nicht nur eine be-stimmte, konkurrierende Fassung der Gesellschaftstheorie.Geht man von einer Theorie sozialer Systeme aus, analysiertman von einer Begriffsebene aus, die höher aggregiert ist alsdie Theorie der Gesellschaft. Soziologie ist dann nicht mehrnur Gesellschaftstheorie (bzw., wie im Ostblock, empirischeHilfswissenschaft der Gesellschaftstheorie). Die Theorie desumfassenden Systems der sozialen Wirklichkeit ist für sie nureine Teiltheorie. Mit anderenWorten: Die Soziologie brauchtzur Integration ihrer Erkenntnisse eine andere, abstraktereSinnebene, als die Gesellschaft sie braucht zur Integration ih-rer selbst. Man muß daher, wie die Skizze verdeutlichen soll,zwischen der theoretischen (analytischen) und den gesell-schaftlichen (realen) Inklusionsverhältnissen unterscheiden –und dies, obwohl die Soziologie sich selbst als Teilsystem derGesellschaft begreifen kann.

Nur so können die »Totalisationen« der gesellschaftlichenRealität in der Theorie nochmals überboten werden, kritisiertwerden, relativiert werden und auf Variationsmöglichkeitenhingewiesen werden.

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Theorie sozialer Systeme

Gesellschaftstheorie Organisationstheorie Interaktionstheorie

Gesellschaft Organsisation Interaktion Interaktion

Eine weitere Implikation verdient besondere Hervorhe-bung: Dem (für die Soziologie) höchsten Gegenstandsbe-griff entspricht kein einheitlicher Gegenstand mehr.5 Diesystemtheoretische Soziologie setzt keine ihren analytischenBedürfnissen entsprechende Realsynthese in der sozialenWirklichkeit voraus. Sie kann, muß aber nicht notwendigihre Aussagen mit Bezug auf die Systemreferenz formulieren,die in der sozialen Wirklichkeit zur umfassenden Verein-heitlichung dient. Das heißt nicht, daß der soziologischenSynthesis im Begriff des sozialen Systems ein Gegenstandüberhaupt fehle, es fehlt nur die entsprechende Totalsyn-these. Die allgemeine Theorie sozialer Systeme bietet nichtnur ein (wohl mögliches normatives) Ideal. Sie stellt begriffli-che Minimalmittel für die Analyse eines jeden Sozialsystemsbereit. Sie kann infolgedessen auch hypothetisch formuliertwerden: Immer wenn sich soziale Systeme bilden, kommt eszur Reduktion auf Handlung, zur Bildung von Erwartungs-strukturen, zur Kommunikation, zur Orientierung an Innen/Außen-Differenzen usw.

Allerdings sind die dazu notwendigen analytischen Instru-mente Stück für Stück umstritten, und umstritten ist auch,

5 AmBeispiel der Systemtheorie von Talcott Parsons kannman beobach-ten, wie ein quasi neukantianischer Ausgangspunkt hier weitere Fra-gen abschneidet. Parsons begnügt sich mit der Feststellung, daß seinerallgemeinen Theorie des Handlungssystems ein »analytisches System«entspreche.

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ob und mit welchem Recht sie unter dem Gesichtspunkt desSystems zusammengefaßt werden können. Diese Schwierig-keiten gehen nicht zuletzt auf Gründe zurück, die in der Ge-schichte des Systembegriffs wurzeln.

Einerseits gibt es eine auf den Anfang des 17. Jahrhundertszurückreichende Tendenz, den Systembegriff auf Erkennt-nisse und Erkenntnisdarstellungen (zum Beispiel Lehrbuch-einteilungen) zu beziehen und ihn in dieser Funktion zuidealisieren.6 Die Gründe dafür scheinen teils in Krisen derTheologie, insbesondere in der Unlösbarkeit des Problemsder Glaubensgewißheit und der anschließenden Problema-tisierung von Gewißheit schlechthin, teils in Verselbstän-digungstendenzen anderer Fächer gelegen zu haben. Aufdieser Linie findet sich, wie schon angedeutet, noch heuteder »analytische« Systembegriff von Talcott Parsons,7 der

6 Vgl. dazu Otto Ritschl, System und systematische Methode in der Ge-schichte des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs und der philosophi-schen Methodologie, Bonn 1906; Alois von der Stein, »Der Systembe-griff in seiner geschichtlichen Entwicklung«, in: Alwin Diemer (Hg.),System und Klassifikation in Wissenschaft und Dokumentation, Mei-senheim am Glan 1968, S. 1-13; Mario G. Losano, Sistema e strutturanel diritto, Bd. I, Turin 1968; Hans Erich Troje, »Wissenschaftlich-keit und System in der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts«, in: JürgenBlühdorn, Joachim Ritter (Hg.), Philosophie und Rechtswissenschaft:Zum Problem ihrer Beziehungen im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1969,S. 63-88; Friedrich Kambartel, »›System‹ und ›Begründung‹ als wissen-schaftliche und philosophische Ordnungsbegriffe bei und vor Kant«,in: Blühdorn, Ritter (Hg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, S. 99-113. Bemerkenswert auch Erwin Fahlbusch, »Konfessionalismus«, in:Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. II, Göttingen 1958, Sp. 880-884, fürSystematisierungstendenzen in der Theologie nachDifferenzierung derGlaubensbekenntnisse durch die Reformation.

7 Vgl. insb. Charles Ackerman, Talcott Parsons, »The Concept of ›SocialSystem‹ as a Theoretical Device«, in: Gordon J. DiRenzo (Hg.), Con-cepts, Theory and Explanation in the Behavioral Sciences, New York1966, S. 19-40.

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in neukantianischer Manier Gegenstand und Erkenntnisidentifiziert und, dann konsequent, die systemtheoretischeAnalyse der Gesellschaft auf die These stützt, daß diese einanalytisches System sei. Diese Konzeption bleibt aber an einebestimmte erkenntnistheoretische Position gebunden, dievon manchen, etwa von Marxisten, schon auf dieser Ebenebestritten wird.

Andere Vorbehalte lassen sich zusammenfassen unterder These, daß nie die Totalität, also auch nicht die gesell-schaftliche Totalität menschlicher Interessen, sondern immernur ein Teil als System begriffen werden könnte. So formu-liert Hobbes: »By Systems; I understand any numbers ofmen joyned in one Interest; or one Business«.8 Nach Fu-sionmit der erkenntnistheoretisch-idealisierenden Strömungliegt es heute nahe, diesen Systembegriff als Kategorie fürTeile oder Aspekte des gesellschaftlichen Ganzen auf Ideenoder auf Instrumente zu beschränken und für die Totalitätdes menschlichen Lebens, die Gesellschaft im Vollsinne oderdie begriffliche Artikulation des Mündigkeitsinteresses oderder Subjektheit der Individuen andere Ausdrucksformen zusuchen.9

8 Vgl. Leviathan, Teil II, Kap. 22, zit. nach der Ausgabe der Everyman’sLibrary, London, New York 1953, S. 117.

9 So formuliert z.B. ein einflußreiches Lehrbuch, Ralph Linton, TheStudy of Man: An Introduction, New York 1936, S. 253, kurz und bün-dig: »A society is an organization of individuals; a social system isan organization of ideas.« Auch Jürgen Habermas, »Theorie der Ge-sellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinandersetzung mit Nik-las Luhmann«, hat mit einer für viele Sozialphilosophen bezeichnen-den Gleichsetzung von Individuum und Subjekt solchen Vorbehaltengegen die Auffassung der Gesellschaft als System Ausdruck gegebenim Diskussionsband Jürgen Habermas, Niklas Luhmann, Theorie derGesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?,Frankfurt/M. 1971, S. 142-290.

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In diesen Vorbehalten gegen die Systemtheorie findet diebereits analysierte Unbestimmbarkeitsproblematik erneutAusdruck, und es wiederholt sich auch die Neigung »bürger-licher« Denker, das Problem durch Dichotomisierung undDialektisierung zu lösen. Sowie einst der »Staat« und dann die»Gemeinschaft« scheint heute das »System« das erforderlicheGegenüber der Gesellschaft zu sein; zumindest formulierendiejenigen es so, die zur Systemkritik oder zur Systemüber-windung aufrufen. Dabei bleibt dunkler als je zuvor, was dennGesellschaft sei, wenn nicht System. Diese Frage wird – undwiederum haben wir ein bürgerliches Denkmotiv und bür-gerliche Reflexivität vor uns – in ein Zeitverhältnis aufgelöst:Das System ist die Gesellschaft in ihrer (kapitalistischen) Ge-genwart, die eigentliche Gesellschaft ist das, was nach derSystemüberwindung kommt.

Für ein politisches Interesse an dieser Debatte mag die Er-läuterung genügen, daß die Gesellschaft der Zukunft das vonden Systemüberwindern beherrschte System sein wird. Danngilt es, Partei zu ergreifen. Für ein wissenschaftliches Interesseist die Frage vorrangig, ob das analytische Potential der Sy-stemtheoriemit dieser Kontrastierung adäquat benutzt – odernicht vielmehr verschenkt wird.

Die These der folgenden Abhandlung ist, daß gerade derSystembegriff sich zur Lösung jenes Unbestimmbarkeitspro-blems eignet. Er postuliert – als Systembegriff –, daß dieGesellschaft die Lösung ihres eigenen Unbestimmbarkeits-problems leistet, dadurch daß sie sich als System konstituiert;dadurch daß sie durch Grenzziehung eine für sie unbestimm-bare Komplexität reduziert und, im Wissenschaftsbereichzum Beispiel, unter dem Gesichtspunkt von Wahrheit/Un-wahrheit schematisiert. Die Systemtheorie geht, mit anderenWorten, davon aus, daß ihre Gegenstände sich selbst alsSysteme organisieren, sich selbst in ihren Möglichkeiten er-

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möglichen und einschränken; und daß sie nur deshalb alsSysteme begreifbar sind.

Wir ersetzen für die Zwecke dieser Analyse jene Dicho-tomien der früh-, anti- oder sonstwie bürgerlichen Gesell-schaftstheorie durch die abstraktere, dem Systembegriff in-härente Dichotomie von System und Umwelt. Durch dieseDifferenz wird Komplexität konstituiert, die zugleich alsletzter Bezugs- und Integrationspunkt für funktionale Analy-sen dient. Im Falle sozialer Systeme haben wir es mit einerbesonderen Form der Verarbeitung von System/Umwelt-Differenzen zu tun, nämlich mit Sinn. Auf Sinn beruht dieMöglichkeit, Komplexität als unbestimmte Bestimmbarkeitzu begreifen – ebenjenes Problem, das der Tradition durchMetaphysik verdeckt vorausliegt und das explizit in die Ge-sellschaftstheorie einzuführen ist.

An diese scheinbar einfachen Ausgangspunkte10 läßt sicheine Reihe von Folgetheorien anknüpfen, deren Interdepen-denzen eine ziemlich komplexe Gesellschaftstheorie ergeben.Jeder der folgenden Teile geht von einer direkten Anknüp-fung an die Differenz von System und Umwelt aus und be-handelt sie zunächst in evolutionstheoretischer (Teil 2) und inkommunikations- und motivationstheoretischer Perspektive(Teil 3), schließlich unter dem Gesichtspunkt der Komplexi-tätssteigerung durch Ausdifferenzierung und durch Innendif-ferenzierung (Teil 4) und der dadurch ermöglichtenReflexionund Rationalisierung des Gesellschaftssystems (Teil 5). Erstim letzten Teil können wir auf wissenschaftstheoretische Pro-bleme zurückkommen. Bevor wir in diese Untersuchungeneintreten, die sich speziell auf das Gesellschaftssystem bezie-hen, müssen wir jedoch verschiedene Ebenen der Systembil-

10 Siehe dazu Teil 1, Kap. I und II.

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dung analytisch auseinanderziehen.11 Auch das geschieht inAnknüpfung an die Differenz von System und Umwelt, denndie Ebenen der Systembildung unterscheiden sich durch dieArt der Behandlung der Differenz von System und Umwelt.Eine solche Ebenenunterscheidung gibt uns zugleich dieMög-lichkeit, verschiedene Typen sozialer Systeme zu unterschei-den und zu begründen, wie eines von ihnen, die Gesellschaft,zugleich das Ganze sein kann.

11 Vgl. Teil 1, Kap. III und IV.

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Teil 1

Soziale Systeme:Interaktion, Organisation, Gesellschaft

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Die Charakterisierung eines wissenschaftlichen Unterneh-mens als Systemtheorie und die Charakterisierung ihrerGegenstände als Systeme soll und kann nicht besagen, daß ausdemBegriff des Systems alles abgeleitet werden könne, was ander Realität wissenschaftlich (hier: soziologisch) bemerkens-wert sei. Eine derart globale Bezeichnung kann ferner nicht inAnspruch nehmen, einen Satz von Hypothesen zu besitzen,die erklären und begründen könnten, warum etwas ist undnicht nicht ist. So stringente Prätentionen sind (zumindestbeim gegenwärtigen Stande des Wissens und auf eine abseh-bare Zukunft) nicht kompatibel mit der hohen Spannweitedes theoretischen Bezugsrahmens.

Angesichts dieser Diskrepanz von Präzision und Spann-weite, die als solche wiederum systemtheoretischer Analysezugänglich wäre,1 wählen wir folgende Art und Weise desVorgehens: Wir werden zunächst in einer uns ausreichenderscheinenden Abstraktionsstufe einige Angaben machenüber Systeme schlechthin. Diese Angaben müssen auf derEbene einer allgemeinen Systemtheorie kompatibel sein mitden Eigenarten von Systemen jeder Art, seien es physischeSysteme, selbstreproduktive Systeme primitivster Art, Orga-nismen, Populationen von Organismen, psychische Systeme,soziale Systeme, informationsverarbeitende Maschinen undall das mit zahlreichen Untertypen; sie bleiben deshalb hoch-gradig abstrakt und informationsarm. Dieser Nachteil kann

1 Vgl. Charles Ackerman, Talcott Parsons, »The Concept of ›Social Sys-tem‹ as a Theoretical Device«, in: Gordon J. DiRenzo (Hg.), Concepts,Theory, and Explanation in the Behavioral Sciences, New York 1966,S. 19-40.

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nicht behoben, wohl aber kompensiert werden durch Prä-zisierungsregeln, die angeben, wie man unter Verzicht aufSpannweite zu deutlicher konturierbaren Aussagen kommt.Das sind Regeln der Typenbildung. Diese können keine De-duktionsregeln sein, da der allgemeinere Begriff die dafürnötige Information nicht hergibt. Statt dessen soll hier ver-sucht werden, auf jeder Allgemeinheitsstufe, zunächst alsoauf der der allgemeinen Systemtheorie, Probleme zu formu-lieren – und offenzuhalten.

Im Problembegriff ist impliziert, daß das Problem aufmindestens eine, zumeist mehrere, jedenfalls aber nicht belie-bige Weise gelöst werden kann. Diese Vorbedingung führenwir mit Hilfe des Begriffs der Limitationalität ein. DieserBegriff, den wir weiter unten als »Kontingenzformel« desWissenschaftssystems ausführlicher behandeln werden, sollbesagen, daß durch Eliminierung einer Variante die Wahr-scheinlichkeit für andere steigt – sei es nun je nach Kontextdie Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins, der Erkenntnis,der Richtigkeit. Auf diese Voraussetzung muß sich jede Gat-tungslogik und alle Dialektik einlassen.2 Auch der »kritischeRationalismus« eines Popper kann nur unter dieser Vor-aussetzung Falsifikation als sinnvolle Eliminierungsstrategieempfehlen. Offenbar handelt es sich um Grundbedingungensinnvoller Verwendung von Negationen. Jedenfalls findet derFunktionalismus sich in der guten Gesellschaft aller seinerKritiker, wenn er sich ebenfalls darauf einläßt.

Ob Problemlösungen als sich wechselseitig limitierendeVarianten bekannt sind oder nicht, ist eine zweite Frage. IndemMaße, als die ProblemformulierungKonturenmöglicher

2 Zum Vergleich von Gattungslogik und Dialektik unter diesem Ge-sichtspunkt Hans Wagner, Philosophie und Reflexion, München, Basel1959, S. 108ff.

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Lösungen erkennen läßt,3 kann sie als Suchregel benutzt wer-den, also als Regel der Suche oder Herstellung von Lösungs-formen, die andere, funktional äquivalente Möglichkeitenneben sich haben können.

Wenn es nun ein zentrales Problem der Systembildungund Systemerhaltung gibt, und das behaupten wir, führt die-ses Verfahren zur Bildung von Systemtypen. Die primäreLeistung der allgemeinen Systemtheorie besteht dann in derAusarbeitung des Grundproblems der Systembildung – unddas heißt zugleich: in der Präzisierung von Bedingungenmöglicher Systemtypen. Dies Verfahren läßt sich wiederho-len auf verschiedenen Stufen der Konkretion. Wir werdenes zweifach anwenden: Auf einer ersten Ebene4 werden wirdiejenigen Grundbegriffe der Systemtheorie ausarbeiten, diewir benötigen, um zur Ebene der sozialen Systeme zu kom-men (und das heißt in umgekehrter Blickrichtung: um zubegründen, inwiefern soziale Systeme Systeme sind). Das Ka-pitel II behandelt sodann die Theorie sozialer Systeme inihren Grundzügen. Auf dieser Ebene können diejenigen Pro-bleme ausgearbeitet werden, die, wenn sie unterschiedlichgelöst werden, zur Bildung unterschiedlicher Typen sozialerSysteme führen. Wir benötigen diese Analyse also, um vonder Ebene sozialer Systeme imallgemeinen zudenbesonderenTypen Interaktion, Organisation und Gesellschaft zu gelan-gen, die wir in Kapitel III und IV unserer Untersuchungen

3 Mit der Formulierung »in demMaße« soll angedeutet sein, daß esmehroder weniger gut definierte Probleme gibt in dem Sinne, daß die Kri-terien der Beurteilung der Eignung oder Nichteignung von Problem-lösungen mehr oder weniger eindeutig vorformuliert sein können. Esliegt auf der Hand, daß besser definierte Probleme erst auf dem Wegeder Typenbildung gewonnenwerden können.Das schließt es aber nichtaus, auch auf der allgemeinsten Ebene für Systeme schlechthin die dortsinnvollen Klärungsmöglichkeiten auszuschöpfen.

4 Siehe Kap. I.

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behandeln werden (und das heißt in umgekehrter Blickrich-tung: um zu begründen, inwiefern Interaktion, Organisationund Gesellschaft soziale Systeme sind).

Beide Komplexe zusammen dienen einer gestuften Ein-führung in das Thema: Gesellschaftstheorie. Sie entlastenzugleich die folgenden Teile von Ausführungen, die in einenhöher abstrahierten Bezugsrahmen gehören.

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Kapitel I

Grundbegriffe der Systemtheorie

1. Komplexität

(1) Im gegenwärtigen Schrifttum sehr verschiedener Diszipli-nen wird der Begriff der Komplexität häufig, zumeist aberundefiniert gebraucht.5 Auch ohne Definition suggeriert derBegriff schon seine eigene Bedeutung. Da vieles als komplexangesehen oder bezeichnet wird, scheint ihm eine theoretischzentrale Stellung zuzukommen. Die Ausnutzung der damitverbundenen Chancen hängt aber von einer zureichendenKlärung des Begriffs und von einer Explikation und Kontrolleder im Begriffsfeld liegenden Optionen ab.6

Aus einer sehr kursorischen Einführung des Begriffs er-geben sich zunächst in den einzelnen Disziplinen oder For-schungszweigen recht heterogene Verwendungen, obwohloffenbar ein einheitliches Phänomen anvisiert wird. In der

5 Siehe z.B. Warren Weaver, »Science and Complexity«, American Sci-entist 36 (1948), S. 536-544; Helmut Klages, Jürgen Nowak, »The Mas-tering of Complexity as a Problem of the Social Sciences«, Theory andDecision 2 (1971), S. 193-212; F.A. von Hayek, Die Theorie komplexerPhänomene, Tübingen 1972; Renate Bartsch, »Gibt es einen sinnvollenBegriff von linguistischer Komplexität?«, Zeitschrift für germanistischeLinguistik 1 (1973), S. 6-31, als Beispiele für thematisch zentral gewählteVerwendungen.

6 Diese Forderung ist mit Recht auch in bezug auf meinen eigenen Be-griffsgebrauch erhoben worden. Die folgenden Überlegungen setzenzu dem Versuch an, dieser Kritik Rechnung zu tragen und Richtun-gen der Begriffserklärung anzugeben. Es liegt auf der Hand, daß dabeinicht in jeder Hinsicht Konsistenz mit eigenen früheren Formulierun-gen gewahrt werden kann.

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psychologischen Forschung über »kognitive Komplexität«7

dient der Begriff zur Bezeichnung der Struktur von Persön-lichkeitssystemen unter dem Gesichtspunkt ihrer Fähigkeit,Umweltinformationen unter differenzierten und auf einemabstraktenNiveau integrierten Kategorien zu verarbeiten undsich dadurch von allzu konkreten Umweltbindungen zu lö-sen. In der Organisationstheorie braucht man den Begriffder Komplexität als Maß für den Grad arbeitsteiliger Diffe-renzierung; er wird dann in bezug auf Rollen oder Stellenals Einheiten ausgearbeitet.8 In der Theorie soziokulturellerEvolution wird Komplexität entweder stillschweigend mit»struktureller Differenzierung« gleichgesetzt,9 oder der Be-griff bezeichnet schlicht die Evolution selbst, soweit sie mitGuttman-Skalen zu messen ist.10 Die Formalwissenschaf-ten denken bei Komplexität zumeist an die Zahl und dieVerschiedenartigkeit der Relationen, die auf Grund einer

7 Siehe nur Thomas B. Seiler (Hg.), Kognitive Strukturiertheit: Theorien,Analyse, Befunde, Stuttgart 1973, mit weiterenHinweisen auf einen sehrumfangreichen Forschungszweig.

8 Vgl. z.B. Richard H. Hall, Eugene J. Haas, Norman J. Johnson, »Orga-nizational Size, Complexity, and Formalization«,American SociologicalReview 32 (1967), S. 903-912; Frederick L. Campbell, Ronald L. Akers,»Organizational Size, Complexity, and the Administrative Componentin Occupational Associations«, The Sociological Quarterly 11 (1970),S. 435-451.

9 Kritisch dazu Anthony D. Smith, The Concept of Social Change: A Cri-tique of the Functionalist Theory of Social Change, London 1973.

10 Siehe etwa Linton C. Freeman, Robert F. Winch, »Societal Complex-ity: An Empirical Test of a Typology of Societies«, American Journalof Sociology 62 (1957), S. 461-466; Richard D. Schwartz, James C. Mil-ler, »Legal Evolution and Societal Complexity«, American Journal ofSociology 70 (1964), S. 159-169, und, etwas eingeschränkter, Mark Abra-hamson, »Correlates of Political Complexity«, American SociologicalReview 34 (1969), S. 690-701. Für diese Forschung gilt in besonderemMaße, daß die Begriffsentscheidungen in den Operationalisierungenstecken.

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gegebenen Zahl von Elementen in einem System seiner Struk-tur nach möglich sind.11 Und auch sonst stößt man häufigauf mehrdimensionale, mehrere Variable einfach addierendeDefinitionen, die das innere Gefüge des Komplexitätsbegriffsauf ein bloßes »und« reduzieren.12

Neben knappen und theoretisch unzureichenden undunabgestimmten Begriffsverwendungen dieser Art gibt esVersuche, den Begriff durch Rückzug auf eine epistemo-logische oder methodologische Ebene zu präzisieren. DiebestimmendenMerkmale liegen dann in derMessung von Be-mühungen um die Erkenntnis komplexer Sachverhalte, etwaim Aufwand an benötigter Information oder Informations-verarbeitung,13 oder in den zur Operationalisierung nötigenReduktionen. Auf diesem Wege gelangt man aber besten-

11 So z.B. Georg Klaus,Wörterbuch der Kybernetik, Berlin 1968, Stichwort»Komplexität«. Ähnlich auch Werner Fuchs-Heinritz (Hg.), Lexikonzur Soziologie, Opladen 1973, Stichwort »Komplexität, strukturelle«.

12 Siehe als Beispiele Daniel F. Berlyne, Conflict, Arousal, and Curiosity,New York 1960, S. 38ff. ; Andrew S. McFarland, Power and Leadershipin Pluralist Systems, Stanford 1969, S. 16; Gerd Pawelzik, Dialektik derEntwicklung objektiver Systeme, Berlin 1970, S. 136; Donald W. Ball,»Control versus Complexity: Continuities in the Scaling of Gaming«,Pacific Sociological Review 17 (1974), S. 167-184.

13 Siehe grundsätzlich J.W.S. Pringle, »On the Parallel between Learningand Evolution«, Behaviour 3 (1951), S. 174-215, neu gedruckt in: Gen-eral Systems 1 (1956), S. 9-110. Pringle geht vom Informationsbegriffaus. Eine Alternative dazu bieten neuere simulationstechnisch vorge-hende Versuche, die zur Rekonstruktion der Sachkomplexität erfor-derliche »computational complexity« zu messen. Siehe J. Hartmanis,J.E. Hopcroft, »An Overview of the Theory of Computational Com-plexity«, Journal of the Association for Computing Machinery 18 (1971),S. 444-475; Hannu Nurmi, »On the Concept of Complexity and itsRelationship to the Methodology of Policy-oriented Research«, SocialScience Information 13 (1974), S. 55-80; Hans W. Gottinger, »Complex-ity and Information Technology in Dynamic Systems«, Kybernetes 4(1975), S. 129-141.

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falls zu einer operativen, nicht auch zu einer theoretischenKlärung des Begriffs, die sich auf die Komplexität des Gegen-standes der Forschung beziehen müßte.

Will man all dies auf einen übergreifenden Leitgedankenbringen, so bleibt in der letztenGeneralisierungsstufe das klas-sische Problemder Einheit desMannigfaltigen zurück. »Com-plexity is only of importance if in a certain respect there isa high degree of complexity and in another respect there isunity.«14 Ein einheitlicher Begriff ist ja nur sinnvoll, wenn dieVielfalt unter irgendeinem Gesichtspunkt als Einheit behan-delt werden kann. Der Begriff der Komplexität formuliert sozunächst einmal die Intention, Mannigfaltiges unter dem Ge-sichtspunkt seiner Einheit zu sehen.15 Der komplexe Gegen-stand muß Mannigfaltiges und Einheit zugleich sein.

Mit diesem Problem hat man nun Erfahrungen, und diekönnenwir uns zunutzemachen. Schon anHand der Begriffs-geschichte von complexum, complexio kann man sehen, daßdiese Problemstellung Modalisierungen und damit Simultan-präsentation in mehreren Ebenen erzwungen hat. Dies warenin der Tradition teils möglichkeitstheoretische (complexiocontingens !), teils erkenntnistheoretische (complexe signifi-cabile !) Modalisierungen.16 Anders ließ sich die Einheit des

14 So E. Leeuwenberg, »Meaning of Perceptual Complexity«, in: Daniel B.Berlyne, Knut B. Madsen (Hg.), Pleasure, Reward, Preference: TheirNature, Determinants and Role in Behavior, New York, London 1973,S. 99-114 (111).

15 Siehe z.B. Karl Marx, »Zur Kritik der politischen Ökonomie«, in: KarlMarx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 13, Berlin 1961, S. 613-642 (632):»Das Konkrete ist konkret, weil es [sic!] die Zusammenfassung vielerBestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen«.

16 Vgl. namentlich Hubert Elie, Le complexe significabile, Paris 1937. Fer-ner Maria Elena Reina, »Il problema del linguaggio in Buridano«, Ri-vista critica di storia della Filosofia 14 (1959), S. 367-417, 15 (1960),S. 141-165 (159ff.), und, speziell mit Bezug auf das Kontingenzproblem,

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Mannigfaltigen nicht auf einen Ausdruck bringen.17 Je nachmodaltheoretischemBezugsrahmen erscheint dieser Einheits-bezug teils als konkomitierendeNotwendigkeit im kontingentZusammengesetzten,18 teils als Frage der Sicherung der kate-gorialen Übereinstimmung von Sein und Erkennen beimZugriff auf Inhaltsgesamtheiten.19 (Heutigen Vorstellungenentspräche es eher, auf eineMehrheit von »Sprachebenen« ab-zustellen.)20 Immer scheint es undiskutierte Voraussetzungder Problemstellung gewesen zu sein, daß es um die Einheitdes Komplexen selbst gehe. Genau darin wurde die dem Ge-genstand spezifische Perfektion gesehen, daß er Vielheit undUnterschiedenheit (multitudo et distinctio) zur geordnetenEinheit bringe – durch den Willen des Schöpfers oder durchdie Funktion der Vorstellung des transzendentalen Subjekts.Und zugleich war die Einheit des komplexen GegenstandesGarantie für die Entscheidbarkeit der Frage, ob Aussagensich widersprechen, also Vorbedingung des Prinzips derWiderspruchsfreiheit. Sie bot schließlich der älteren Lehreden Ausgangspunkt für kosmologische Erklärungen, überderen Grundlagen die Wissenschaft nicht voll disponierenkann.

T.K. Scott, »John Buridan on the Objects of Demonstrative Science«,Speculum 40 (1965), S. 654-673.

17 Dies Ergebnis hatten übrigens auch Spekulationen über den Begriff derEinheit selbst, die dazu führten, ihn entweder als ein transzendentesPrinzip oder als modus (!) entis zu fassen.

18 Siehe z.B. Johannes Duns Scotus, »Ordinatio I dist 39«, in: Opera Om-nia, Bd. VI, Civitas Vaticana 1963, S. 414ff.

19 Siehe etwa Mario dal Pra, »La teoria del ›significato totale‹ della pro-positione nel pensiero di Gregorio da Rimini«, Rivista critica di storiadella Filosofia 11 (1956), S. 287-311.

20 So definieren A. I. Berg, J. I. Tschernjak, Information und Leitung, Ber-lin 1969, S. 19: »Als ein kompliziertes System bezeichnenwir ein solchesSystem, das in mindestens zwei Sprachen ausgedrückt werden kann.«

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Bricht manmit dieser Prämisse: daß es um die Einheit desKomplexen selbst gehe und daß Komplexität etwas sei, waseiner vorauszusetzenden Einheit als Eigenschaft zugehöre,kommt viel in Bewegung. Neuere Begriffsentwicklungen undForschungserfahrungen tendieren aber deutlich dazu, dieEinheit des Komplexen nur noch als eine Art fokussierendeRelation zu denken und nicht mehr als eine Art Wesens-konzentrat. In der Philosophie kündigt sich das an in derNeigung Kants zu »sofern«-Abstraktionen.21 Wissenschaftli-che Erfahrungen, die ohne Zusammenhang damit gewonnensind, deuten in die gleiche Richtung. So lehren psychologi-sche Forschungen über kognitive Komplexität, daß System-komplexität, wie immer begriffen und operationalisiert, nursituativ eingesetzt wird oder sogar überhaupt kein prozessualwirksamer Faktor ist, sondern nur ein strukturell zur Verfü-gung stehendes Potential, das situationsweise oder sektoralmehr oder weniger stark aktiviert werden kann.22 Komple-xere Systeme haben durch ihre Struktur die Wahl, komplexoder nichtkomplex zu erleben und zu handeln; fehlt es anKomplexität, bleibt nur die Möglichkeit einfacher Umweltbe-ziehungen. Zu ähnlichen relationistischen Folgerungen siehtsich im Anschluß an Entwicklungen in der modernen Physik

21 Rüdiger Bubner,Dialektik undWissenschaft, Frankfurt/M. 1973 S. 112f.,macht in kritischen Ausführungen zu meinem systemtheoretischenKomplexitätsbegriff darauf aufmerksam, daß dessen relationale Proble-matisierung bereits bei Rickert zu finden sei. Mit Recht! Und bei vielenanderen auch!

22 Siehe z.B. Joseph S. Vannoy, »Generality of Cognitive Complexity –Simplicity as a Personality Construct«, Journal of Personality and SocialPsychology 2 (1965), S. 385-396; Harold M. Schroder, Michael J. Driver,Siegfried Streufert, Human Information Processing, New York 1967;Michael J. Driver, Siegfried Streufert, »Integrative Complexity: An Ap-proach to Individuals andGroups as Information-Processing Systems«,Administrative Science Quarterly 14 (1969), S. 272-285.

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offenbar auch die Mathematik veranlaßt.23 Auch die Einsicht,daß Komplexität ein allenfalls mehrdimensional meßbarerSachverhalt ist, besagt im Effekt, daß es nicht möglich ist,Komplexes ohne Informationsverlust zur Einheit zu aggre-gieren; man muß dann vorweg wissen bzw. entscheiden, fürwelche Zwecke man welche Aggregationsweise wählen undwelche Informationsverluste in Kauf nehmen will.

Erfahrungen und Entwicklungstendenzen dieser Art kannman heute nicht mehr ignorieren. Sie sollten aber auch nichtvorschnell einen epistemologischen, analytischen, modell-theoretischen, konstruktivistischen Relativismus stimulieren,der in bekannte Sackgassen führt und entweder Minimal-Aprioris unterstellen24 oder ganz darauf verzichten muß,Rechenschaft darüber abzulegen, in welchem Sinne sich Er-kenntnis auf Realität bezieht. Statt dessen wollen wir uns imfolgenden um ein Sachkonzept bemühen, das die angedeu-teten Probleme aufnimmt und zugleich diejenigen Theorie-entscheidungen verdeutlicht, mit denen der Begriff der Kom-plexität für andere Theoriekomplexe relevant wird.

(2)UnserAusgangspunkt ist die durchausüblicheUnterschei-dung zwischen der Zahl der Elemente eines Systems und derZahl undVerschiedenartigkeit der zwischen ihnenmöglichenBeziehungen.25 Gewiß kann man nicht einfach voraussetzen,daß es so etwas wie Elemente und Beziehungen in einem

23 Siehe Jiří Bečvář, »Probleme der Komplexität in der Theorie der Algo-rithmen und Automaten«, in: 3. Colloquium Automatentheorie Hanno-ver 1965, Basel, Stuttgart 1967, S. 142-157, in Reaktion auf die Schwierig-keit, einen festen Begriff des Elements vorauszusetzen.

24 So bekanntlich der »analytische Realismus« Talcott Parsons’. Zu denKonsequenzen vgl. Harold Bershady, Ideology and Social Knowledge,Oxford 1973.

25 Die Terminologie, in der diese Unterscheidung präsentiert wird,schwankt. Häufig unterscheidet man Größe und Komplexität. So in

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schlichten Sinne als Vorhandenes gibt. Wir werden diese An-nahme sogleich problematisieren. Unabhängig davon abergilt, was immer als Element und als Beziehung fungiere, daßbei Zunahme der Zahl der Elemente die Zahl der zwischenihnen abstrakt möglichen (denkbaren) Beziehungen überpro-portional ansteigt und sehr rasch Größenordnungen erreicht,die nicht mehr nutzbar, nicht mehr realisierbar sind.26 Ingrößeren Systemen kann dieses abstrakte Relationierungspo-

der Organisationstheorie z.B. James D. Thompson, Organizations inAction: Social Science Bases of Administrative Theory, New York 1967,S. 74; Wolf Heydebrand, Hospital Bureaucracy: A Comparative Studyof Organizations, New York 1973, S. 38ff. Klaus, Wörterbuch der Ky-bernetik, s. v. »Komplexität«, und andere Kybernetiker sprechen vonKompliziertheit und Komplexität oder von Komplikation und Kom-plexität (so Gotthard Günther, »Kritische Bemerkungen zur gegenwär-tigen Wissenschaftstheorie«, Soziale Welt 19 (1968), S. 328-341 (355)).Ähnliches meint die Unterscheidung von konstruktioneller und instru-menteller Komplexität bei AndréA.Moles, »Über konstruktionelle undinstrumentelle Komplexität«, in: Max Bense (Hg.) Grundlagenstudienaus Kybernetik und Geisteswissenschaft, Stuttgart 1960, S. 33-36, diefür die Reduktion intern möglicher Relationen auf instrumentelle Ver-wendbarkeit abstellt.

26 Sozialwissenschaftliche Auswertungen dieser elementaren mathemati-schen Einsicht sind über ein Anfangsstadium bisher nicht hinausge-kommen. Siehe z.B. V.A. Graicunas, »Relationship in Organization«,in: Luther Gulick, Lyndall Urwick (Hg.), Papers on the Science of Ad-ministration, New York 1937, S. 183-187; James H.S. Bossard, »The Lawof Family Interaction«, American Journal of Sociology 50 (1945), S. 292-294; William M. Kephart, »A Quantitative Analysis of Intragroup Re-lationships«, American Journal of Sociology 55 (1950), S. 544-549. Auchdie spätere, vor allem auf Kleingruppen und Organisationen bezogeneempirische Forschung, die mit Größe als Variable korreliert, hat esnicht zu einer Theorie gebracht, die angeben könnte, welche Struktur-veränderungen aus rein quantitativen Veränderungen ableitbar sind.Andererseits gibt es eine Fülle soziologischer Forschungen, die aus ei-ner Orientierung an diesem Grundproblem wichtige strukturelle undverhaltensbezogene Erkenntnisse gewinnen. Siehe für nur einen For-schungsbereich etwa Robert Dreeben, On What is Learned in Schools,

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tential, diese volle Interdependenz von allemmit allem, dahernur noch wie etwas weder als Ordnung noch als Chaos qua-lifizierbares Unbestimmbares fungieren: als Hintergrund mitder Funktion, Selektionsbewußtsein zu erzeugen.27 Das erfor-dert Bildung von Systemen in Systemen, die unbestimmbarGewordenes wieder selektiv bestimmen können.

Demnach ergibt sich aus Größenzunahme für jedes Systemder Zwang, aber auch die Chance, mit eigenen Möglichkeitender Relationierung selektiv zu verfahren und sich bei Bedarfzu differenzieren. Die Selektion aus eigenen Möglichkeiten istnicht per Zufall, nicht nur ad hoc möglich, wenn Systeme ent-stehen und Grenzen gegenüber einer Umwelt invariant ge-halten werden. Sie wird durch Strukturen gesteuert, die dieNichtbeliebigkeit und die Anschlußfähigkeit der Selektionengewährleisten, also trotz und durch Selektion das Entstehenvon Interdependenzen ermöglichen. Der Grundvorgang, derKomplexität ermöglicht, ist der Zusammenhang von kombi-natorischen Überschüssen und struktureller Selektion.

Diesen Sachverhalt gilt es zunächst deutlicher vor Augenzu führen. Bereits Spencer unterscheidet deutlich zwischen»growth« (als »increase of mass«) und »development« (als»increase of structure«).28 Die Schwierigkeiten und die theo-retische Weichenstellung liegen im Begriff des »increase of

Reading 1968, und Philip W. Jackson, Life in Classrooms, New York1968.

27 Zu einer darauf abgestellten Theorie des Bewußtseins siehe GotthardGünther, »Bewußtsein als Informationsraffer«, Grundlagenstudien ausKybernetik und Geisteswissenschaft 10 (1969), S. 1-6. Das Argument läßtsich transponieren auf dasVerhältnis derWissenschaft zu bewußtseins-haltigen Gegenständen.

28 Siehe etwa Herbert Spencer, The Principles of Biology, Bd. I, London1898, S. 162. Zur Problematik dieser Unterscheidung (ohne Rückgriffauf Spencer) J.D. Gould,Economic Growth inHistory: Survey andAnal-ysis, London 1972, S. 1ff.

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structure«. Wie kann Struktur zunehmen in einem ande-ren Sinne als Systemgröße? Im Anschluß an Spencer hatdie Soziologie vor allem im Bereich der GesellschaftstheorieStrukturzunahme zunächst als Zunahme struktureller Dif-ferenzierung interpretiert. Das hat sich jedoch nur begrenztbewährt. Man kann Differenzierung ohne nähere Qualifika-tion – und jede Qualifizierung würde zu sehr einschränken –kaum eindimensional messen, da es schon in der System-differenzierung unterschiedliche Typen der Differenzierung(segmentär/schichtenmäßig/funktional) gibt, die ihrerseitsmit möglicher Systemgröße korrelieren, aber sehr unter-schiedliche strukturelle Konsequenzen haben. Außerdem iststrukturelleDifferenzierung nur sehr begrenzt steigerbar.Wirwerden daher Strukturzunahme anders definieren, nämlichals Zunahme der Selektivität einer Struktur.

Bei Größenzunahme auf der Ebene der Elemente, die diekombinatorischen Möglichkeiten eines Systems überpropor-tional wachsen lassen, kommt es nämlich zwangsläufig zugrößerer Selektionsschärfe jeder bestimmten Relation undjeder strukturellen Disposition über Zulässigkeit oder Wahr-scheinlichkeit von Relationierungen nach Maßgabe engerer,systemspezifischer Bedingungen des Möglichen. Mit derpositiven Zunahme der Elemente wächst die negative, eli-minierende Selektivität in bezug auf die nichtrealisierbarenBeziehungen. Differenzierung ist, in diesem Kontext gese-hen, eine Form der Ermöglichung hoher Selektivität ; sieermöglicht beispielsweise, daß ein Richter während des Be-weistermins tatsächlich Zeugen vernimmt, obwohl er damitauf sehr viele andere Aktivitäten und Kontakte, die auchmög-lich wären, verzichten muß.

Das versteht sich nun keineswegs von selbst. Eine Stei-gerung struktureller Selektivität ist in dieser Kombinationvon Spezifikation und Negation vielmehr nur unter besonde-

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ren, zunehmend unwahrscheinlichen Bedingungen möglich.Bekanntlich profilieren Institutionen sich gegenüber zuneh-menden Möglichkeiten als Willkür; löst wachsende Prospe-rität, nicht Mangel, Revolutionen aus.29 Diese Einsicht führtzu der These, daß mit der Zunahme struktureller Selektivitätsowohl die Kontingenz als auch die Nichtbeliebigkeit der Struk-turwahl zunimmt. Da solche Strukturen wenige unter vielenmöglichen Relationen auszeichnen, wird immer deutlichersichtbar, daß sie auch anders möglich wären; und zugleichstellt genau diese Bedingung ganz spezifische Anforderun-gen an die Strukturbildung, für die nur ein sehr begrenztesRepertoire von Problemlösungen zur Verfügung steht. Umdiesen Sachverhalt formulierungsmäßig zu fassen, brauchenwir bereits eine mehrstufige Modalisierung: Es handelt sichum eine hochkontingente Reduktion der Kontingenz vonSelektionen.

Hier liegen nun Ausgangspunkte für wichtige Theoriean-schlüsse. Es läßt sich einerseits festhalten, daß eine Bereiche-rung der Möglichkeiten zugleich den dispositionellen Spiel-raum einschränkt. Dieser Befund ähnelt »Cope’s Rule«, diein etwa besagt, daß Organismen unterhalb ihrer möglichenGröße in die Evolution eintreten, dann in evolutionären undumweltspezifischen Anpassungsprozessen ihr Wachstums-potential ausschöpfen und genau dadurch evolutionsunfähigwerden, weil der Koordinationsaufwand jeder Änderung zuhoch wird.30 Der gleiche Gesichtspunkt erklärt, daß mit demAufbau selektionsscharfer Strukturen die Abhängigkeit vonder eigenen Geschichte zunimmt und das System sich sozusa-gen in seiner eigenen Geschichte festwächst, obwohl zugleich

29 Erinnert sei an Alexis de Tocqueville, L’Ancien régime et la révolution,Paris 51866, S. 249ff.

30 Siehe dazu Steven M. Stanley, »An Explanation of Cope’s Rule«, Evolu-tion 27 (1973), S. 1-26.

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ein hohes operatives Potential für interne und extern ge-richtete Prozesse zur Verfügung steht. Dieses Konzept derStrukturzunahme läßt sich ferner mit einer Theorie der Ne-benfolgen und Folgeprobleme von Komplexitätssteigerungenverknüpfen; denn es liegt auf der Hand, daß die benötigte Se-lektionsschärfe der Strukturen die Koordinationslast erhöhtund im übrigen bestimmte problematische Anforderungenan das Erleben und Handeln (oder abstrakter: an die Pro-zesse, die Relationen realisieren) stellt, die sehr leicht in Kritikumschlagen können.

Die entscheidendenVorzüge dieser gegenüber Spencer va-riierten Fassung des Begriffs der Strukturzunahme liegen aberdarin, daß sie dem Phänomen der Komplexität eine einheit-lichere Bestimmung gibt. Komplexität ist dann nicht einfachnun die Menge der strukturell ermöglichten Relationen, son-dern deren Selektivität ; auch nicht nur ein (empirisch gesi-cherter) Erkenntniszusammenhang zwischen den VariablenGröße und Strukturiertheit, sondern die Relation zwischenpositiver Bestimmung der Größe und negativer Bestimmungdes Ausscheidungseffekts der Struktur. Die Komplexität hatihre Einheit also in der Form einer Relation : in der Rela-tion wechselseitiger Ermöglichung von Elementmengen undreduktiven Ordnungen. Als Einheit eines Systems ist Kom-plexität in sich selbst relationaler Natur. Besonders demSteigerungsproblem wird man besser gerecht, wenn mandie Komplexität letztlich als eine Relation begreift, in derdas, was aufeinander bezogen wird, unterschiedliche Werteannehmen kann. Von höherer Komplexität kann man in be-zug auf Systeme dann sprechen, wenn die Selektivität dernach der Größe und der Struktur des Systems möglichen Be-ziehungen zunimmt. Das heißt: Steigerung der Komplexitäterfordert nicht nur Wachstum, sondern auch schärfere struk-turelle Selektion und damit bei deren Nachvollzug in den

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Prozessen des Systems laufende Reduktion der Komplexitätangesichts anderer Möglichkeiten. Könnte man diese Selekti-vität messen, so hätte man ein Maß für das, was der Begriffder Systemkomplexität letztlich meint: für das Bedingungs-und Steigerungsverhältnis von Mengen und Ordnungen, vonabstrakten Potentialen und selektiven Reduktionen – oderklassisch gesprochen: von Materie und Form.

(3) Hegel hatte von »Maß« gesprochen, um die Einheit quali-tativer und quantitativen Seinsbestimmungen zu bezeichnen.DasMaß hatte Hegel gedacht als die unmittelbare Einheit vonQuantität undQualität imQuantum, die sich als Einheit in ih-rer Negation durchhält und wiederherstellt.31 Wir finden unsin der Nähe dieses Begriffs. Daher lohnt ein kurzer Vergleich.Als Seinsbestimmung ist Maß ein weltbezogener Begriff, andem Seiendes, sofern es ist, nur partizipiert. Wir hatten dage-gen Komplexität mit Systemreferenz eingeführt. Systeme im-plizieren zwar Welt, und wir werden auch einen Begriff derWeltkomplexität bilden müssen; aber das Weltverhältnis derSysteme ist nicht als Sein des Seienden gedacht oder gar alsPartizipation an Realperfektion, sondern als Kontinuität inder Diskontinuität von System und Umwelt.

Der Weltbezug erfordert bei Hegel die Transformationschlechter in erfüllte, unbestimmter in bestimmte Unend-lichkeit. Das garantieren Annahmen über Dialektik – nicht:über funktionale Äquivalenzen –, die das Maßlose rein quan-titativer Vermehrung immer wieder qualifizieren, also ins

31 Vgl. Wissenschaft der Logik, Bd. 1 (in: Georg Lasson (Hg.), SämtlicheWerke, Bd. 3, Leipzig 1948), S. 336ff., unter Substitution der Kategoriedes Maßes für die Kategorie der Modalität, die seit Kant den Gegen-stand nur noch in Beziehung auf das Erkenntnisvermögen bezeichnethatte. Zugleich soll, aber das ist gedanklich nicht geleistet, der Begriffdes Maßes das alte Prinzip der Mitte zwischen Extremen aufnehmen.

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Maß bringen, und dies in unendlichem Progreß32 und so,daß dadurch die konkrete Wahrheit des »Seins« an sich ihreBestimmtheit erfährt. Diese Dialektik läßt aber keine Zeitbe-stimmung erkennen. Gerade dadurch, daß sie sich selbst alsProzeß setzt, hat sie sich dieMöglichkeit verbaut, das Zeitpro-blem zu thematisieren. Wann und wie schnell erfolgt diesesHinausgehen über das Maß und seine Wiederherstellung?In diesem Punkte wird die Dialektik des reflexionslogischenProzessierens begrifflicher Bestimmungen selbst negierbar –durch Politik. So meinte dann Lukács,33 daß es für die Opferder Quantifikation, für die Arbeiterklasse, zur Lebensfragewerden würde, diese Dialektik zu bemerken, um den Um-schlag selbst bewußt zu vollziehen. Es ist ein symptomatischesDetail, daß jetzt, nach dem Rückgriff auf Aktivität, von Maßnicht mehr die Rede ist. Die im Maß gewonnene Bestimmt-heitsleistung und Negativität wird nicht bewahrt.

Man könnte diese dialektische Politisierung der Dialektikleicht kritisieren, etwa auf die Gefahr einer regressiven Ent-wicklung mit Verlust an Differenzierung und Bestimmtheithinweisen. Aber eine Rückkehr zu Hegel wäre auch nichtohne Problem. Ein Vergleich von »Maß« und »Komplexität«

32 Vgl. Encyclopädie der philosophischenWissenschaften, § 109 (in: GeorgLasson, Johannes Hoffmeister (Hg.), Sämtliche Werke, Bd. 5, Leipzig51949, S. 122): »Das Maßlose ist zunächst dies Hinausgehen eines Ma-ßes durch seine quantitative Natur über seine Qualitätsbestimmtheit.Da aber das andere quantitative Verhältnis, das Maßlose des ersten,ebensosehr qualitativ ist, so ist das Maßlose gleichfalls ein Maß; wel-che beide Übergänge von Qualität in Quantum und von diesem in jenewieder als unendlicher Progreß vorgestellt werden können – als das sichim Maßlosen Aufheben und Wiederherstellen des Maßes.« Das Argu-ment und das Vertrauen in unendlichen Progreß beruht klar auf derPrämisse der Dialektik: daß Negation notwendig und in der Lage sei,Bestimmtheitsgewinne zu übertragen.

33 Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein: Studien über marxi-stische Dialektik, Berlin 1923, insb. S. 180ff.

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läßt dagegen erkennen, daß es andere Auswege der begriff-lichen Disposition gibt. Dazu kehren wir zur Analyse desKomplexitätsbegriffs zurück.

(4) Der Begriff des Maßes hatte einen Direktzugriff auf Weltimpliziert. Die Fassung des Komplexitätsbegriffs, die wir zu-nächst entwickelt haben, hängt dagegen ab von einer (jeweilszu bestimmenden) Systemreferenz. Sie bezeichnet System-komplexität. Durch diese Beschränkung gewinnen wir dieMöglichkeit, zwei Negationsrichtungen zu unterscheidenund mit deren Nichtidentität zu operieren, nämlich (1) diesystemimmanente Selektivität der Struktur im Verhältniszu den kombinatorischen Möglichkeiten der Elemente und(2) die Diskontinuität zwischen System und Umwelt. In die-ser Differenzierung, die mit Hilfe des systemtheoretischenInstrumentariums gewonnenwird, sehenwir einen ausschlag-gebenden theoretischen Fortschritt, der es ermöglicht, dieweltbezüglichen Aussagen, die mit dem Begriff des Maßesintendiert waren, in Aussagen über Relationierung von Rela-tionen zu transformieren.

Bevor wir dieses Ziel verfolgen, müssen wir jedoch die sy-stemimmanente Analyse von Komplexität in einer wichtigenHinsicht ergänzen und vertiefen.Wir hatten vorläufig voraus-gesetzt, daß es Elemente undBeziehungen gibt alsGegenstandselektiver Behandlung. Das, was als Element fungiert, ist je-doch nicht unabhängig von seiner selektiven Behandlungbestimmbar. Erst die Selektion für bestimmte präferentielleRelationierungen »qualifiziert« ein Element, in dem es ihmeine Umwelt gibt, in der es spezifische eigene Merkmale ent-wickeln kann. Will man erkennen, wie es sich qualifizierenläßt und welchen Widerstand es solchen Qualifizierungenoder zugemuteten Relationen entgegensetzt, muß man dasElement nicht nur als formale Identität, sondern als System-

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in-einer-eigenen-Umwelt behandeln, also die Systemreferenzwechseln. Dabei kann man auf Systeme stoßen, die sehr vielkomplexer sind (also auch: auf der Basis anderer Elementesehr viel größer sind) als diejenigen Systeme, in denen sie alsElement fungieren. Es gibt also kein Komplexitätskontinuumvom letzten Element bis zur Welt im ganzen.

Damit ist nicht gesagt, daß die Festsetzung dessen, wasals Element und was als System betrachtet wird, allein imanalytischen Interesse getroffen wird.34 DieWahl der System-referenz ist natürlich freigestellt als Aspekt wissenschaftlicherThemenwahl, aber mit dieser Entscheidung ist zugleich dar-über disponiert, was in diesem System und seinen Umweltbe-ziehungen als ein nicht weiter auflösbares Element fungiert.Es ergibt zum Beispiel für die Analyse sozialer Systeme kei-nen Sinn, die Einheit des kommunikativen Aktes weiteraufzulösen in ein System nervlicher oder gar elektrischer Pro-zesse, so wie umgekehrt von der Ebene dieser Prozesse ausdie emergenten Eigenschaften sozialer Systeme, nämlich dieüber Sinn gesteuerten Umweltbeziehungen, nicht begriffenwerden können. Jedes System hat nicht nur einen Umwelt-horizont, sondern auch einen Innenhorizont mit beliebigweiter auflösbaren Strukturen und beliebig weitertreibbarenMöglichkeiten der Analyse. Aber diese Beliebigkeit ist nurgegeben, wenn man diese Horizonte jeweils für sich betrach-tet. Werden sie relationiert, limitieren sie sich wechselseitig

34 Das dürfte auch Parsons nicht ernstlich meinen, obwohl seine Ausfüh-rungen über die Relativität der Unterscheidung von »unit« und »sys-tem« eine solche Interpretation offenlassen. Siehe z.B. The Structure ofSocial Action, Glencoe 21949, insb. S. 35 Anm. 1, S. 43ff. ; ders., Robert F.Bales, Edward A. Shils, Working Papers in the Theory of Action, Glen-coe 1953, S. 106f., 168, 172ff. Dazu auch Enno Schwanenberg, SozialesHandeln: Die Theorie und ihr Problem, Bern 1970, S. 131f. Vgl. fernerzum Problem allgemein Knut Erik Tranöy,Wholes and Structures: AnAttempt at a Philosophical Analysis, Kopenhagen 1959, S. 20ff.

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durch Begrenzung der für ein System relevanten Umwelt unddurch Festlegung der dafür relevanten, in einer spezifischenSystemreferenz nicht weiter auflösbaren Elemente.

Wir nennen diese Festlegung Bestimmung oder Konsti-tution bestimmter (bzw. bestimmbarer) Komplexität. EinSystem ist unbestimmt, wenn die Elemente nur abstrakt alsEinheiten gezählt werden und nicht bekannt bzw. dem Zufallüberlassen ist, welche Relationen hergestellt bzw. eliminiertwerden.35

Die Bestimmung erfolgt im selbstselektiven Aufbau vonSystemen, wobei mit zunehmender Größe und Abgrenz-barkeit gegenüber der Umwelt die Erhaltung von Unbe-stimmtheit zunehmend unwahrscheinlich wird und ersetztwerden muß durch strukturell garantierte Flexibilität (Unter-bestimmtheit).36 Insofern ist Komplexitätsbildung in einem

35 In diesem Sinne unterscheidet die Systemtheorie auch zwischen organi-sierter und nichtorganisierter Komplexität. Vgl. z.B. Weaver, »ScienceandComplexity«, S. 536-544,untermethodischenGesichtspunkten.Fer-ner Ludwig von Bertalanffy, »General System Theory: A Critical Re-view«,General Systems7(1962),S. 1-20(2);ders.Robots,Men, andMind:Psychology in theModernWorld,NewYork1967,S. 57f. ;WalterBuckley,Sociology andModern Systems Theory, EnglewoodCliffs 1967, S. 33, 46f.

36 Diese Vorstellung der selbstselektiven Strukturierung von Systemkom-plexität ließe sich vergleichen mit zwei Fassungen der ParsonsschenTheorie des allgemeinen Handlungssystems, nämlich(a) der Vorstellung, daß Ordnung auf der Basis von gänzlich unstruk-

turierten, chaotischen, zufälligenMotivdispositionen des Individu-ums (das so aber gar nicht Person sein kann) entstehe durch In-stitutionalisierung und Internalisierung vonWerten und Normen;und

(b) der Vorstellung der kybernetischen Kontrollhierarchie, die das Ak-tionssystembestimmt durchVermittlung vonKontrollen undKon-ditionierungen in Kommunikationsprozessen einer Mehrheit vonanalytischen Teilsystemen (Kultur, Sozialsystem, Persönlichkeit,Organismus).

Die Entwicklung der Parsonsschen Theorie von (a) nach (b) war ein

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irreversiblen Sinne historisch, ohne daß dies notwendiger-weise Strukturänderungen und Reaktivierung kombinatori-scher Potentiale ausschlösse. Der Rückgang zur Unbestimmt-heit und dieWiederholung der Geschichte ist ausgeschlossen,schon weil tieferliegende Systembildungen organischer bzw.chemischer bzw. physischer Art die Umwelt binden. So istzum Beispiel eine Neuformierung des genetischen Potentialsdurch dessen umweltbezogene Komplexität ausgeschlossen.Beim Aufbau sinnhafter Systeme impliziert dieser Prozeßselbstselektiver Bestimmung die ständige Mitpräsentation je-ner Unbestimmtheitshorizonte externer und interner Art, indie das System hineinwächst. In komplexeren Gesellschaftenentsteht so ein Weltbewußtsein, gegen das sich jede Bestim-mung als kontingente Selektion profiliert. Unbestimmtheithat dann ihre Realität nicht nur als längst vergangener An-fang des historischen Prozesses, sondern als Gegenwart, alsWelthorizont, der jede Bestimmung nach innen und nachaußen als kontingent erscheinen läßt.

(5) Daß eine rein systeminterne Betrachtung der Komplexitätnicht ausreicht, dürfte inzwischen deutlich geworden sein.Der Grund dafür ist, daß wir Komplexität als Relation, undzwar als zweiseitig variable Relation, definiert hatten, und sol-che Relationen sind in sich selbst nicht zureichend bestimmt.Es gibt weder einen festen Wert für die Zahl der Elemente

Weg der Präzisierung und des Einbaus kritisierbarer, angeblich a prioridenknotwendiger Prämissen. Der hier vorgeschlagene Begriff der Kom-plexität ist auf Grund von Erfahrungen mit der Parsonsschen Theoriezunächst formaler und voraussetzungsärmer angelegt. Das erfordert ei-nen größerenAufwand anAnschlußoperationen zu seiner Präzisierungfür spezifische Systemtypen, gibt ihm aber auch bessere Möglichkeitendes Vergleichs mit biologischen Systemen, chemischen Systemen, Ma-schinen usw.

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noch einen festen Wert für die strukturell zugelassenen Be-ziehungen. Deshalb determiniert auch die Systemgröße alleinnicht die Systemstruktur. Offensichtlich ist beides nicht un-abhängig voneinander möglich. Bekannt ist auch, daß dieFormen struktureller Selektion mit Größe variieren; daß alsoWachstum bestimmte Strukturtypen ausschließt, weil sie demDruck der Selektionsanforderungen nichtmehr genügen, undandere erst ermöglicht.37 Schon die einfache Relationierungreduziert also die völlig unbestimmteKontingenz der abstraktdenkbaren Größenverhältnisse bzw. Strukturtypen durch Be-dingungen der Kompatibilität, und diese Reduktion (alsonicht Größe allein) ist ihrerseits Vorbedingung für emer-gente, evolutionär voraussetzungsreiche Strukturen. Diesesetzen durch Wachstum erzwungene Selektivität voraus undbeziehen sich funktional, wenn nicht gar bewußt, auf diesesProblem.38 Aber damit ist die Frage nicht beantwortet, wie

37 Überlegungen dieser Art sind zum Beispiel in bezug auf die demo-graphischen Bedingungen der zivilisatorischen Entwicklung angestelltworden. Hinreichende Bevölkerungszahlen und vor allem hinreichen-de Kontaktdichte sind Voraussetzung aller zivilisatorischen Errungen-schaften, die ihrerseits dann weiteres Wachstum des Gesellschaftssy-stems nach außen (Expansion) und nach innen (Verdichtung der Kom-munikation) ermöglichen. Vgl. dazu etwa D.E. Dumond, »PopulationGrowth and Cultural Change«, Southwestern Journal of Anthropology21 (1965), S. 302-324; Robert L. Caneiro, »On the Relationship betweenSize of Population and Complexity of Social Organization«, South-western Journal of Anthropology 23 (1967), S. 234-243; Ester Boserup,»Environnement, population et technologie dans les sociétés primi-tives«, Annales E. S.C. 29 (1974), S. 538-552. Vgl. auch dies., The Condi-tions of Agricultural Growth: The Economics of Agrarian Change underPopulation Pressure, London 1965, und Brian Spooner (Hg.), Popula-tion Growth: Anthropological Implications, Cambridge (Mass.) 1972

38 SoMichael J. Harner, »Population Pressure and the Social Evolution ofAgriculturalists«, Southwestern Journal of Anthropology 26 (1970), S. 67-86, unter dem etwas einseitig betonten, aber sicher zentralen Gesichts-punkt der Knappheit. Zu dessen Konsequenzen in der Formierung von

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es zu dieser Einschränkung der kombinatorischen Möglich-keiten kommt und ob und unter welchen diskriminierendenBedingungen diese Kontingenz des Systems beim Aufbauhöherer Komplexität zunimmt oder abnimmt.

Es ist die zentrale These der neueren Theorie umweltoffe-ner Systeme, daß interne Relationen an externen Relationenausgerichtet werden. Üblicherweise wird das so verstanden,daß die Umwelt als Komplex unabhängiger Variablen gese-hen wird, die den Spielraum der Systemvariablen beschrän-ken. Das bleibt selbstverständlich richtig. Andererseits mußman auch demUmstande Rechnung tragen, daß Systeme ihreUmwelt seligieren oder gar verändern können und dadurch,bewußt oder unbewußt, diejenigen Bedingungen herstellen,denen sie sich anpassen können. Eine Person sucht Kontaktmit den Personen, an denen sie ihre Vorurteile und Reakti-onsgewohnheiten ausleben kann. Ein politisches System kannden Versuch machen, seine gesellschaftliche Umwelt so weitzu vereinfachen, daß sie mit einfachen Mitteln und letztlichmit Gewalt regiert werden kann.39 Diese zweiseitige Interde-pendenz korrespondiert mit einem asymmetrischen Verhält-nis von System und Umwelt; denn nur bei Asymmetrie kannInterdependenz entstehen.

Diese Asymmetrie von System und Umwelt kann nur mitAussagen über das System als Einheit und über dieUmwelt alsEinheit formuliert werden. Das erfordert den Begriff für die

Religionen und Moralen vgl. auch George M. Foster, »Peasant Societyand the Image of Limited Good«, American Anthropologist 67 (1965),S. 293-315 – zugleich als gutes Beispiel für die Vielzahl der mit dieserBedingung kompatiblen Strukturen.

39 Dies Beispiel bei Richard Münch, »Evolutionäre Strukturmerkmalekomplexer sozialer Systeme am Beispiel des Wissenschaftssystems«,Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 26 (1974), S. 681-714.

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Einheit des Mannigfaltigen, den Begriff der Komplexität, indoppelter Verwendung : in Anwendung auf ein jeweils gemein-tes Bezugssystem und in Anwendung auf dessen Umwelt. DieAsymmetrie von System und Umwelt läßt sich dann als Diffe-renz zweier Komplexitätsverhältnisse, nämlich als Komplexi-tätsgefälle begreifen. Die Komplexität der Umwelt ist größerals die Komplexität des Systems. Sie umfaßt mehr Elementemit schärferer Selektion dessen, was als Umwelt-des-Systemsstrukturell relevant ist. Diese Differenz der Komplexitätsver-hältnisse ist das Grundproblem der Systemtheorie, das letzteBezugsproblem aller funktionalen Analysen. Es tritt im Lay-out der hier vorgeschlagenen Systemtheorie an die Stelle deralten Problemformeln conservatio – Beharrung, Bestandser-haltung.40

Diese Doppelverwendung des Komplexitätsbegriffs stehtnicht in Widerspruch zum Erfordernis einer Systemreferenz;dies Erfordernis war nicht nur ein Hilfsmittel zur Einführungdes Komplexitätsbegriffs, eine Krücke, die wir jetzt fallen las-sen könnten. Vielmehr ist diese Doppelverwendung durchden Systembegriff selbst gefordert, wenn man Systeme hin-reichend radikal auf die Umwelt bezieht und Umwelt alsBedingung derMöglichkeit von Systemen ansieht. Ein Systemist seine Differenz zur Umwelt, ist eine grenzdefinierende,grenzerhaltende Ordnung. Zur Bestimmung der systemeige-nenKomplexität, zur Bestimmungdessen,was als nichtweiterauflösbares Element fungiert und zur Qualifizierung der Ele-mente durch strukturelle Selektion der zwischen ihnen zu

40 Zu deren Begriffs- undMetapherngeschichte Hans Blumenberg, Selbst-erhaltung und Beharrung: Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationa-lität (Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Ab-handlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse (1969), 11)Wiesbaden 1970.

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realisierenden Beziehungen – zu alldem ist der Bezug auf dieUmwelt und die Überbrückung der Komplexitätsdifferenzerforderlich.

Auch sinngemäß läßt der Komplexitätsbegriff sich auf dieSystemumwelt anwenden, wenn man ein System vorausset-zen kann. Auch die Umwelt weist, relativ auf ein bestimmtesSystembildungsniveau, Einheiten auf, die sich relationierenlassen. Auch sie wäre bei vollständiger Interdependenz, wennjederzeit alles sich auf alles bezieht und alles mit allem va-riiert, keine mögliche Umwelt für Systembildung, sondernabsolute Ordnung oder absolutes Chaos. Auch ihre Kom-plexität erfordert als offene Relation einen externen Faktorder Kontingenzverringerung. Dieser Faktor aber ist für un-sere Theorie kein transzendenter und kein transzendentaler,sondern das System, dessen Umwelt jeweils in Frage steht.Nur in der Relation auf ein System gewinnt dessen Umweltbestimmbare Komplexität. So besteht für den kranken Men-schen die Nahumwelt aus Tabletten, Tropfen und Zäpfchen,die mit bestimmten Relationen zueinander und zu ihm rele-vant bzw. irrelevant werden; nicht aber aus den physischenoder chemischen Elementen, die das Wirkungssystem die-ser Komplexeinheiten hervorbringen. Es gibt ein auf dieseKomplexitätsbestimmung abgestelltes Auflöse- und Rekom-binationsvermögen und entsprechende Entscheidungsregelnwie: Rat des Arztes, Erstattungsbereitschaft der Kassen odereinfach Erfahrung ex iuvantibus ; und all das in einemmitprä-sentierten Horizont weiterer, immer weiterer Möglichkeiten,der zur Bestimmung aber nichts mehr beiträgt und insofernwie eine Grenze fungiert.

Als Steigerungsrelation formuliert, besagt dies, daß mitder systemeigenen Komplexität die Bestimmbarkeit der Um-weltkomplexität zunehmen kann. Die Umwelt komplexererSysteme expandiert sozusagen in die Tiefe der Welt. Diese

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oft formulierte These41 setzt jedoch Asymmetrie voraus undmuß entsprechend verfeinert werden durch genauere Analyseder Mechanismen wie Generalisierung, Zentralisierung, Dif-ferenzierung, Lernfähigkeit, reflexive Leistungsverstärkung,die eine Erhöhung interner Komplexität mit einer Erhöhungder bestimmbaren Umweltkomplexität verbinden können.Und dies bedeutet zugleich, daß die theoretisch unterstellteKontinuität der Steigerbarkeit durch intern bedingte Struk-turbildungsniveaus gebrochen wird.

Jede Bestimmung von Umweltkomplexität erfolgt und giltdanach nur systemrelativ. Nur systemrelativ kann man über-haupt von Umwelt sprechen. Dieser Relativismus kann nurin Richtung auf Unbestimmtheit überwunden werden, alsoin eine Richtung, die zugleich die Differenzierbarkeit von Sy-stem und Umwelt aufhebt, weil sie die Qualifizierbarkeit derElemente und damit ihre Zurechnung zum System oder zurUmwelt gefährdet. Die letztlich unbestimmte Komplexität istdieWelt, jene Gesamtheit möglicher Ereignisse, jene Totalitätaller Innen- und Außenhorizonte, gegen die sich jede Diffe-renz von System undUmwelt und damit jede Bestimmung alskontingent profiliert. Angaben über die Komplexität derWelthaben daher eine sachbedingte Unbestimmtheit, die nicht, es

41 Siehe z.B. John Dewey, Logic: The Theory of Inquiry, New York 1938,S. 25ff. ; F.E. Emery, »The Next Thirty Years: Concepts, Methods andAnticipations«, Human Relations 20 (1967), S. 199-237 (219ff.). Spezi-ell für psychische Systeme etwa O. J. Harvey, David E. Hunt, Harold M.Schroder, Conceptual Systems and Personality Organization, New York1961; Harry Munsinger, William Kessen, »Uncertainty, Structure, andPreference«, Psychological Monographs 78 (1964), No. 9, S. 1-24; Ed-ward L. Walker, »Psychological Complexity as a Basis for a Theory ofMotivation and Choice«, in: David Levine (Hg.),Nebraska Symposiumon Motivation 1964, Lincoln 1964, S. 47-95. Sehr kritisch Uriel G. Foa,Terence R. Mitchell, Fred E. Fiedler, »Differentiation Matching«, Be-havioral Science 16 (1971), S. 130-142.

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sei denn systemrelativ,42 zu beheben ist, aber gleichwohl Rea-lität hat als Letzthorizont, der an allem, was wirklich odermöglich ist, Kontingenz erscheinen läßt.

Mit diesen Ergebnissen einer systemtheoretischen Kom-plexitätsanalyse wird es schwierig, Traditionen fortzusetzen,die eine optimal durchdefinierte Komplexität, sei es als Ma-xime der Schöpfung,43 sei es als Resultat eines welthistori-schen Prozesses, vorsehen. Die Entwicklung der Welt kannweder als Bewegung vom Einfachen zum Komplexen nochals Bewegung vomUnbestimmten zumBestimmten begriffenwerden. Unser Begriff der Komplexität ist in seiner relationa-len Struktur zu komplex, um im Einfachen sein Minimumoder seinen Gegensatz zu haben;44 es kann nur mehr oder

42 Hier wäre vor allem an die Funktion von Religionssystemen zu denken.Dazu näher Niklas Luhmann, »Religiöse Dogmatik und gesellschaft-liche Evolution«, in: Karl-Wilhelm Dahm, Niklas Luhmann, DieterStoodt, Religion – System und Sozialisation, Darmstadt, Neuwied 1972,S. 15-132.

43 Noch Leibniz hatte bekanntlich das Kriterium für die Selektion der be-sten der möglichenWelten unter demGesichtspunkt perfekter Komple-xität formuliert. Die beste Welt sei die, »qui est en même temps le plussimple en hypothèses et le plus riches en phénomènes« (Gottfried W.Leibniz, »Discours de Métaphysique«, § 6, in: Hans Heinz Holz (Hg.),Kleine Schriften zur Metaphysik, Darmstadt 1965, S. 49-172 (70)), oder,in anderer Formulierung, die, »où il y ait la plus grand variété avecle plus grand ordre« (Principes de la Nature et de la Grâce, fondés enraison, § 10, in: C. J. Gerhardt (Hg.), Die philosophischen Schriften vonGottfried Wilhelm Leibniz, Bd. 6, Berlin 1885, Neudruck Hildesheim1965, S. 589-606 (603)). Die Beziehung zwischenMengen undOrdnungwird hier noch kosmologisch gedacht, also auf ein umweltlos gedach-tesWeltsystem bezogen und zugleich als Optimierungsaufgabe, also alsForm höchster Rationalität gesehen, für deren Ausrechnung demMen-schen die Kapazität fehlt. Entsprechend werden die die Welt als ganzebetreffenden Relationen als Repräsentation gedacht – und nicht als Pro-zeß der Steigerung oder Bestimmung.

44 Siehe auch die Kritik dieses Denkschemas und seiner Anwendung auf

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weniger befriedigende Lösungen des Selektionsproblems fürunterschiedliche Größen geben. Und bestimmte bzw. un-bestimmte Komplexität bedingen sich im Bereich sinnhaftenErlebens wechselseitig, da alles Bestimmte sich in unbestimmtbleibenden Horizonten konstituiert.

Statt dessen bietet sich ein Forschungsprogramm an, dasversucht, die Entwicklung real fungierender Weltvorstel-lungen mit der Entwicklung des Gesellschaftssystems undseiner Umweltbeziehungen zu korrelieren. Im Raum des eu-ropäischen Gesellschaftssystems läßt sich ein Weltbegriffverfolgen, der mit deutlich lokalisierbaren Wendungen im4. Jahrhundert vor Christus und im 18./19. Jahrhundert nachChristus sich von einem relativ konkret gemeinten Begriff fürOrdnung zu einem universalen, »mundanen« Konzept derRealitätsgesamtheit und schließlich bis zum modernen Be-griff eines offenen Möglichkeitsraums entwickelt und damitvon Bestimmtheit zu Unbestimmtheit tendiert.45 Im glei-chen Entwicklungsgang wird das Gesellschaftssystem selbstdurch Änderung seiner Differenzierungsformen komplexer.Damit nimmt sowohl dessen Ausdifferenzierung als spezi-fisch soziales System aus der Umwelt als auch die für dieGesellschaft bestimmbare Komplexität dieser Umwelt zu mitder Folge, daß übergreifende Weltvorstellungen generalisiert

linguistische Probleme bei Bartsch, »Gibt es einen sinnvollen Begriffvon linguistischer Komplexität?«, S. 6-31.

45 Zur ersten Wende innerhalb von »kósmos« vgl. Walther Kranz, Kos-mos, Bonn 1958; A.P. Orbán, Les dénominations du monde chez lespremiers auteurs chrétiens, Nijmegen 1970, S. 1ff., mit weiteren Hin-weisen; zur zweiten Wende etwa Ingetrud Pape, »Von den ›möglichenWelten‹ zur ›Welt desMöglichen‹: Leibniz immodernen Verständnis«,in: Studia Leibnitiana Supplementa I, Akten des Internationalen Leib-niz-Kongresses Hannover 1960, Wiesbaden 1968, S. 266-287. Siche auchAlexandre Koyré,Von der geschlossenenWelt zum unendlichen Univer-sum, Frankfurt/M. 1969.

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werden müssen.46 Die heutige Weltgesellschaft hat in all die-sen Richtungen Extremwerte erreicht: Sie faßt alles sozialüber Kommunikation erreichbare Erleben und Handeln zueinem Sozialsystem zusammen, neben dem es keine anderen(unerreichbaren) Gesellschaften mehr gibt. Sie präsentiertsich im physisch-chemischen, organischen und personalenBereich eine Umwelt von äußerster Komplexität mit je teilsy-stemspezifisch relevanten Facetten. Die große, im alltäglichenLeben durchgehend brauchbare Einigungsformel dafür ist dieWeltform Raum, die die Struktur von Komplexität auf der Ba-sis der Einheit des Punktes oder der Stelle genau wiedergibt:Eine unendliche Vielfalt kombinatorischer Möglichkeiten,die aber von jedem Standpunkt aus durch Bewegung nur sehrbegrenzt, nur sehr selektiv genutzt werden kann.47

All dies läßt sich nur noch in einem Weltbegriff zusam-menfassen, der mit der Kontingenz der Realität zusammen-fällt und das Unbestimmtheitskorrelat aller Bestimmungenbedeutet. Nur in dieser Gesellschaft kann ein Begriff der Kom-plexität artikuliert werden, der alle Bestimmungen relativiertund Kontingenz nur über Relationierung von Relationenlimitiert.

46 Selbstverständlich gibt diese Skizze nur einen äußerst groben Leitfa-den. Erwähnenswert ist noch, daß man immer wieder versucht hat,den Generalisierungsdruck statt durch Ausweichen ins Unbestimmtedurch Dichotomisierungen abzufangen – etwa durch die Unterschei-dung von kósmos horatós kósmos noetós, durch pejorative Bewertung»dieser Welt«, der eine zu erwartende bessere gegenübergestellt wurde,durchUnterscheidung einer ausgedehnten und einermentalen, sie undsich selbst vorstellendenGesamtheit und schließlich durchDuplikationder Welt im Bewußtsein des transzendentalen Subjekts. Dabei bliebdann jeweils die Relation der beiden Welten das Problem.

47 Zur Begriffs- und Abstraktionsgeschichte des Raumes, die den skizzier-ten Linien etwa folgt, vgl. den knappen Überblick von Max Jammer,Das Problem des Raumes: Die Entwicklung der Raumtheorien, Darm-stadt 1960.

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(6) In ältere Vorstellungen über Weltkomplexität als rationa-bilis varietaswarenMaßstäbe der Perfektion und der Rationa-lität eingebaut, die zugleich in der FormeinesKapazitäts- oderPotenzbegriffs unter dem Titel »Vernunft« vertreten wurden.Mit den begrifflichenDispositionen, die in den vorangegange-nen Abschnitten angedeutet wurden, gehen die traditionellenPrämissen und Anschlüsse für Vernunft verloren. BesondersJürgen Habermas befürchtet, daß dies ein ersatzloser Verlust,ein Verzicht zu Gunsten rein technischer Rationalität werdenkönne.48 Aber auch technische Rationalität im Sinne einesbestimmten Anforderungen genügenden Arrangements vonZwecken und Mitteln ist auf den angegebenen Grundlagennicht leicht zu rekonstruieren – zumindest nicht ohne Einfüh-rung weiterer einschränkender Annahmen über Systemstruk-turen.49 Beide Aspekte müßten Anlaß genug sein, den Begriffder Rationalität neu zu durchdenken.

Wir greifen zunächst zurück auf die eingangs gestellteFrage, ob es um die Einheit des Komplexen selbst gehe. Wirddiese Frage im Sinne der complexio contingens gestellt – soHabermas auf dem Gebiet der Interessen und der kommu-nikativ aufgestellten Geltungsansprüche –, dann kommt esdarauf an, die Einheit in den implizierten Notwendigkeitenzu finden, diemit aller Kontingenzmitbehauptetwerdenmüs-sen; denn »si aliquod ens est contingens, ergo aliquod ens estnecessarium«.50 Die Einheit des Komplexen, die »kollektiveIdentität« wird in ihrer selbstimplikativ erfahrbaren Notwen-

48 Vgl. Jürgen Habermas, »Können komplexe Gesellschaften eine ver-nünftige Identität ausbilden?«, in: ders., Dieter Henrich, Zwei Reden,Frankfurt/M. 1974, S. 92-126.

49 HierzuNiklas Luhmann,Zweckbegriff und Systemrationalität: Über dieFunktion von Zwecken in sozialen Systemen, Neudruck Frankfurt/M.1973.

50 So zitiert Duns Scotus, »Ordinatio I dist 39 n 13«, S. 414.

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digkeit begründet.51 Nach allen Erfahrungen mit Scholastikund Transzendentalphilosophie weiß man jedoch, daß solcheDenknotwendigkeiten nicht in Richtung Erde zu bewegensind.52

Sieht man die Einheit des Komplexen als zweiseitig va-riable Relation, erfordert das andere Relationen, um denoffenen Variationsspielraum zu limitieren. Das aber heißt:Das Komplexe ist nur eine in relationaler Hinsicht bestimm-bare Einheit: ein System nur in bezug auf seine Umwelt, dieUmwelt nur in bezug auf das System. Ist Komplexität schonin sich selbst ein nur relational zu begreifender Sachverhalt,so geht es jetzt um Relationierung der Relationen. Die in sichselbst offenen Relationen zwischen möglichen Elementmen-gen und möglichen Ordnungen werden ihrerseits begrenzt(was nicht notwendig heißt: auf Notwendiges reduziert),wenn man sie auf Bedingungen der Kompatibilität mit einerUmwelt bezieht. Nicht jede denkbare Konstellation von Ele-menten und strukturierenden Ordnungen ist auch in bezugauf eine Umwelt möglich. Die Umwelt »verlangt« sozusagen,von internen Reduktionen und Mengensteigerungen in spe-zifischer Weise Gebrauch zu machen, und zwar deshalb, weildie Umwelt komplexer ist als das System.Die Komplexität derUmwelt läßt sich zu der des Systems nicht auf beliebigeWeisein Beziehung setzen, weil sie anders gebaut ist; weil sie keineGrenze hat, statt dessen aber durch Horizonte strukturiert ist,

51 Bei dieser Struktur seines eigenen Arguments dürfte Habermas sicheigentlich nicht gegen selbstreferentielle »Zirkel« im Duktus andererTheorien wenden.

52 Siehe dazu auch Willi Oelmüller, »Zu einer nichttranszendentalphi-losophischen Deutung des Menschen«, Philosophisches Jahrbuch 82(1975), S. 103-128 (105f.), und allgemeiner die immer wieder aufkom-mendenTendenzen zur »Anthropologisierung« der hier erörterten Fra-gestellungen.

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die zwischen relevanter Bestimmbarkeit und unbestimmten,als irrelevant unterstellbaren weiteren Möglichkeiten diffe-renzieren; weil sie dadurch schärfere Selektivität der für dasSystem relevanten Ereignisse und zugleich mehr Möglichkei-ten bei geringeren Anforderungen an die Gesamtordnungvorsehen kann.

Im Begriff der Komplexität ist demnach eine Strukturgegeben, die sie mit bekannten Modellen der Rationalitätvergleichbar macht. Gerechtigkeit war immer schon nichtdie bloße Maximierung einer Wertbeziehung, sondern eineBeziehung solcher Beziehungen. Auch die ökonomische Ra-tionalität ist in der Neuzeit in diesem Sinne transformiertworden; es geht ihr nicht um maximale Erträge bei derAusbeutung von Ressourcen und nicht um Minimierungdes Aufwandes eigener Mittel, sondern um eine Relationdes Vergleichs verschiedener Relationen zwischen Aufwandund Ertrag: um optimale Wirtschaftlichkeit.53 Beide Mo-delle verlagern die Formel für Rationalität auf die Ebeneder Relationierung von Relationen, wo sie mit rationalenUnentscheidbarkeiten in den Einzelrelationen kompatibelwird; denn bekanntlich ist, wie eine lange Tradition von Be-mühungen lehrt, weder das Prinzip der Gerechtigkeit nochdas Prinzip der Wirtschaftlichkeit hinreichende Bedingungfür eine Deduktion von Entscheidungen. Die gleiche Ver-schiebung mit den gleichen Folgen versucht im Bereich desKommunikationsmediums Wahrheit die funktionale Ana-lyse zu erreichen. Ihre eigene Rationalität hat sie nicht in denErklärung oder Prognose tragenden Primärrelationen kausa-ler oder korrelativer Art, sondern in einer Relation zwischen

53 Zu diesem Vergleich von Gerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit näher:Niklas Luhmann, »Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernenGesellschaft«, Rechtstheorie 4 (1973), S. 131-167.

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solchen Relationen, in ihrem Vergleich. Auch hier kann dar-aufhin das Folgeproblem rationaler Unentscheidbarkeitenausgearbeitet werden.54

Solche Koinzidenzen sind, soziologisch gesehen, kein Zu-fall, sondern Symptome für Funktionsanpassungen in gesell-schaftlichen Teilsystemen an die zunehmende Komplexitätdes Gesellschaftssystems. Eine allgemeine Theorie der Gesell-schaft oder gar eine allgemeine Theorie komplexer Systemewird heute dahinter nicht zurückbleiben dürfen, sondernwird versuchen müssen, entsprechende Rationalitätsanfor-derungen unabhängig von spezifischen gesellschaftlichenFunktionsbereichen wie Politik und Recht, Wirtschaft oderWissenschaft am Begriff der Komplexität zu formulieren.

Sicher kann das Problem nicht in der Weise gelöst wer-den, daßmannunKomplexität selbst für rational hält oder garannimmt, der Weltlauf erreiche durch Steigerung von Kom-plexität auf naturgesetzliche Weise höhere Rationalität. Mankann geringere bzw. höhere Komplexität nicht einfach mitgeringerer und höherer Rationalität gleichsetzen. Jedes Ent-wicklungsniveau von System/Umwelt-Beziehungen hat spezi-fische Chancen der Rationalität, je nachdem, wie die Komple-

54 Das geschieht in zahlreichen kritischen Äußerungen zum Wissen-schaftsanspruch des Funktionalismus, auf die an dieser Stelle nichtzureichend eingegangen werden kann. Siehe Günther Schmid, Funk-tionsanalyse und politische Theorie: Funktionalismuskritik, Faktoren-analyse, Systemtheorie, Düsseldorf 1974, mit einem umfassenden Über-blick; ferner etwa Jochen Hofmann, Die Theorie sozialer Systeme vonNiklas Luhmann inDiskussion undKritik, DiplomarbeitMünchen 1974,Ms., insb. S. 87ff. ; Klaus Grimm, Niklas Luhmanns »soziologische Auf-klärung« oder Das Elend der aprioristischen Soziologie: Ein Beitrag zurPathologie der Systemtheorie im Lichte der Wissenschaftslehre MaxWe-bers, Hamburg 1974; Helmut M. Artus, »Über die Unmöglichkeit vonSystemtheorie: Entwurf einer grundsätzlichen Kritik von Funktionalis-mus und Systemtheorie am Beispiel Niklas Luhmann«, Ms., Münster1974 [unveröffentlicht].

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xitätsdifferenz zur Umwelt behandelt wird. Das Problem derRationalität liegt letztlich in der Verknüpfung von Selektio-nen, und der Bedarf dafür variiert mit der Komplexität desSystems.

Wie seit Durkheim oft betont, sind für archaische Gesell-schaften mythische und magische Formen der Umweltbe-handlung nicht weniger rational als für komplexere Gesell-schaften Logik und Technik. Der Vergleichspunkt dürfte inder eigentümlichen Struktur von Komplexität liegen, näm-lich darin, daß Wachstum Selektionsbedarf steigert und daßdieser in einer Weise gesteuert werden muß, die zwar grö-ßenabhängig bleibt, aber durch das Wachstum allein nichtvorgeschrieben ist. Offene Relationalität ist also nur der Rah-men für Rationalitätsbedingungen. Man verfehlt das Themader Rationalität, wenn man diese Struktur verkennt. Aberdie Rahmenbedingung allein garantiert nicht, daß Strukturenund Prozesse den Titel der Rationalität verdienen. Sie ist eherein Suchmuster für das Aufspüren sinnvoller Anforderungenan und Beschränkungen auf Formeln für Rationalität.

Reformulierungen des Rationalitätsbegriffs, die hier an-schließen, müßten es sich also vornehmen, Selektionslei-stungen kritisch zu thematisieren. Das kann sowohl aufstruktureller als auch auf prozessualer Ebene geschehen undführt entsprechend zu Theorien über Systemrationalität bzw.Entscheidungsrationalität. Hoher Komplexität und struk-tureller Selektivität wird ein Rationalitätsbegriff am bestengerecht, der auf die Konsistenz zahlreicher Selektionsleistun-gen abstellt. Wenn nämlich, und das sieht man am Begriffder Komplexität, im Prozeß des Wachstums strukturell er-forderliche Selektionsleistungen sich verschärfen und dieNegierbreite aller Selektionen zunimmt, wird deren Konsi-stenz problematisch. Über Techniken der Rationalisierungmüssen dann diese durch den Strukturwandel anfallenden

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Folgen kompensiert werden, zumindest in einem Umfang,der dem System weiterhin einen Ausgleich heterogener Um-weltbeziehungen ermöglicht.55 Dafür ist nicht die Identitätdes jeweils Bevorzugten oder dessen Begründung durch im-mer gleiche Werte entscheidend, sondern die Konsistenz derNegationsleistungen: daß man nicht abweist oder verbaut,was man im nächsten Moment doch wollen möchte oderanerkennen muß.

In entscheidungstheoretischen, organisationstheoreti-schen, politologischen oder planungstheoretischen Überle-gungen deuten sich Fragestellungen bereits an, die sich hiereinbauen und auswerten ließen. Aber fertige Konzepte liegennicht vor. Wenn man von Erhöhung des Werteberücksich-tigungspotentials der Entscheidung spricht, scheint dies ge-meint zu sein. Dabei geht es letztlich umdie Frage, ob undwiesich Entscheidungen noch ermöglichen lassen, wennman dieZahl der Beschränkungen (»constraints«) erhöht, denen siegenügen müssen.56 Andere Überlegungen beziehen sich aufTechniken des gestuften Zugriffs auf große Entscheidungs-mengen durch Entscheidung über Entscheidungsprämissen.Dieser Zugriff kann in derWahl vonmit rationalem Entschei-

55 Im Vergleich zu Max Weber heißt dies, daß wir den abendländischenRationalismus nicht so sehr als motivationalen Antriebsfaktor des Um-baus zur neuzeitlichen Gesellschaft ansehen, sondern eher als Kom-pensation für zunehmende Größe und für den Übergang zu funktionalorientierter Differenzierung.

56 Für die politikwissenschaftliche Diskussion wird dies zur Schlüssel-frage einer an Reformen interessierten Demokratietheorie. Siehe z.B.Frieder Naschold, »Demokratie und Komplexität : Thesen und Illu-strationen zur Theoriediskussion in der Politikwissenschaft«, PolitischeVierteljahresschrift 9 (1960), S. 494-518; ders., »Die systemtheoretischeAnalyse demokratischer politischer Systeme: Vorbemerkungen zu ei-ner systemanalytischen Demokratietheorie als politischer Wachstums-theorie mittlerer Reichweite«, in: Probleme der Demokratie heute (Son-derheft 2 der Politischen Vierteljahresschrift), Opladen 1971, S. 3-39.

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den kompatiblen Organisationsstrukturen, aber auch in derWahl von Entscheidungsstrategien liegen.57 Er hat seine ei-gene Rationalität in dem Umfange, in dem er die Konsistenzkünftigen Entscheidens sicherstellt, ohne die Entscheidungenselbst antizipieren zu können. Die gleiche Funktion erfüllenauf ganz andere Weise Vorsichtsstrategien, wie sie besondersin der Gerichtspraxis üblich sind: Unter Entscheidungszwanggesetzt, muß man hier versuchen, den Bindungs- und Aus-schließungseffekt der Fallentscheidung zu minimieren, alsoden Anteil an Nichtentscheidung im Entscheiden zu erhöhen,um so Konsistenz mit unübersehbaren künftigen Entschei-dungsanforderungen wahrscheinlicher zu machen.58 Eineoffene Frage ist schließlich, ob nicht auch opportunistischeEntscheidungsstrategien, die sich auf einen (kontrollierten)Wechsel der Ziele, Werte, Präferenzen einstellen, Anerken-nung als rational verdienen in dem Maße, als es gelingt, denWechsel der relativen Prioritäten selbst als konsistent prakti-ziertes Verfahren durchzuführen.

57 Vgl. James G. March, Herbert Simon, Organizations, New York 1958,S. 136ff. ; Herbert A. Simon, »The Architecture of Complexity«, Pro-ceedings of the American Philosophical Society 106 (1962), S. 467-482.

58 In der juristischen Methodenlehre bleiben diese praktisch wichtigenReduktionstechniken auch heute noch zumeist unerwähnt und tretenhinter den inhaltlich-exegetischen Fragen der Normgewinnung undNorminterpretation zurück (was bedeutet, daß die Rationalitätsgaran-tie letztlich immer noch in denWerten selbst gesehen wird, die es rich-tig auszulegen und anzuwenden gilt). Siehe etwa Josef Esser, Vorver-ständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung: Rationalitätsgaran-tien der richterlichen Entscheidungspraxis, Frankfurt/M. 1970; RudolfWesterhoff,MethodischeWertung imRecht, Berlin 1974; FriedrichMül-ler, Fallanalysen zur juristischen Methodik, Berlin 1974. Ähnliches giltfür bewußt entscheidungstheoretisch formulierte Ansätze (etwa Wolf-gang Kilian, Juristische Entscheidung und elektronische Datenverarbei-tung: Methodenorientierte Vorstudie, Frankfurt/M. 1974), die von derEntscheidungsbegründung und ihrer rationalen Kontrolle ausgehen.

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Gemeinsame Komponente dieser höchst verschieden-artigen Rationalitätskonzepte ist eine Mehrstufigkeit desAnsatzes, die die Analyse befähigen soll, Kriterien der Se-lektion von Selektionen von den (wie immer lobenswerten)Selektionsintentionen zu unterscheiden, ohne diese dadurchzu »entwerten«. Das ist ein Fortschritt, zunächst ein Fort-schritt an Theoriekomplexität gegenüber Versuchen vonMaxWeber und Karl Mannheim, Formen der Rationalität nur zutypisieren und gegeneinander abzugrenzen im Sinne vonformaler/materialer oder funktioneller/substantieller Ratio-nalität.59

Wenn Konzepte der Rationalität mehrstufig gedacht sindund die in der Intention liegende Begründungsrationalitättranszendieren, lassen sie sich zurückbringen in den Kontextder soziologischen Einsicht (die Parsons Hobbes zuschreibt),daß Rationalität auf der Ebene individuellen Handelns undEntscheidens nicht zureichend gesichert werden kann, son-dern sozusagen als Qualität der Ordnung »emergent prop-erty« eines sozialen Systems ist.60 Dies gilt auch und erstrecht in Gesellschaften, die die gesellschaftsstrukturelle Re-levanz individuellen Entscheidens (individueller Glaubens-entscheidung, individueller Kapitalinvestition, individuellerWahl unter mehreren politischen Programmen und Par-teien) akzentuieren. Diese Individualisierung von Selektionenmit bleibender gesellschaftsstruktureller Relevanz ermöglichtein Abstrakterwerden der Elemente, aus denen das Gesell-

59 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 31948, z.B. S. 58f. ;Karl Mannheim, Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus,Darmstadt 21958, S. 61ff.

60 Neben dem vonHobbes gestellten Problem derMöglichkeit politischerOrdnung war die Kritik der individualistischen Prämissen der ökono-mischen Theorie rationalen Handelns für die Soziologie Anlaß eigenerTheoriebildung.

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schaftssystem gebildet wird, und damit eine Steigerung desAuflösevermögens nach innen – des Auflösevermögens inbezug auf allzu kompakte Sinnträger. Sie steigert in ihrerFunktion die Komplexität des Gesellschaftssystems. Indivi-dualisierung beruht in dieser ihrer Funktion nicht darauf,daß »vernünftige« Vorstellungen über kollektive Identität inden Köpfen der Individuen ausgebildet werden; sie macht esaber möglich, ja drängt es auf, hierin ein Problem und einDesiderat zu sehen.

Verwendet man »Komplexität« als kontextierenden Be-griff, in dessen Rahmen Rationalität sich zu profilieren hat,tritt diese individualisierende (oft auch »subjektive« genannte)Begründung von Rationalität zurück; sie wird nicht annul-liert, aber in einem Sinne aufgehoben, der sie als Antwort aufgesellschaftsstrukturelle Entwicklungen verständlich macht.Der Bezug auf Komplexität übernimmt dann zugleich dieAufklärung über Rationalität, und dies in doppeltem Sinne:(1) strukturell durch Klärung formaler Isomorphien zwischender relationalen Struktur von Komplexität und den Rationali-tätskonzepten; und (2) funktional dadurch, daß Komplexitätals Bezugsproblem dient, im Hinblick auf welches Anforde-rungen an Rationalisierungsleistungen geklärt und historischvariiert werden können.

2. Prozeß und Struktur

Wenn wir den Begriff der Komplexität anreichern durch dieZeitdimension, gewinnen wir die Differenz von Prozeß undStruktur.

Der Prozeßbegriff bezeichnet die Zeitform einer Relationin dem Sinne, daß sie Relation ist, obwohl die Elemente, dieverknüpft werden, nicht im gleichen Zeitpunkt auftreten,

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sondern eines vor (bzw. nach) dem anderen. Prozesse sindalso Relationen, die in der Lage sind, Zeitdistanzen zu über-brücken.Die in Prozessen fungierenden Elemente nennenwir»Ereignisse«. Elemente sind Ereignisse nur dank ihrer Stel-lung im Prozeß, das heißt nur mit Bezug auf das, was sich vorihnen und was sich nach ihnen ereignet. Ähnlich wie in derstatischen Betrachtungsweise Elemente keine Qualität haben,es sei denn durch selektive Realisierung einiger der zwischenihnen abstrakt möglichen Relationen, sind auch Ereignissequalitativ unterscheidbar nur im Verlauf von Prozessen, diesie als selektiv konstituieren und verknüpfen. Dabei lassensich weder Ereignisse von Prozessen noch Prozesse von Ereig-nissen trennen. Deshalb hat es keinen Sinn, die Frage weiterzu verfolgen, ob die Ereignisse oder die Prozesse das Primäresind. Entscheidend ist, daß Selektivität in einem zeitbezo-genen Sinne nur als Prozeßzusammenhang von Ereignissenkonstituiert werden kann. Dadurch wird Kontingenz als Pro-zeß an Ereignissen sichtbar.

Zeitabhängigkeit besagt, daß Prozeßrelationen vergehen.Ihr Bestand kann nur durch Wiederholung, durch Repro-duktion in einem anderen Zeitpunkte sichergestellt werden.Ereignisse sind demnach »einmalig« in einem Sinne, der ihreWiederholbarkeit nicht ausschließt, sie aber von besonde-ren Bedingungen abhängig macht. Unter systemtheoreti-schen Gesichtspunkten beurteilt, hat Prozeßwiederholungim Vergleich zu bloßem Kontinuieren die größere Anpas-sungselastizität : Durch Transformation von Bestands- inReproduktionsprobleme gewinnt ein System die Chance derWahl des Zeitpunkts und der Bedingungen und Modalitätenfür die Lösung von Systemproblemen im Hinblick auf wech-selnde Umweltlagen. Auch wenn die Wiederholung – zumBeispiel der Nahrungsaufnahme durch einen Organismus –erhaltungsnotwendig ist, erreicht das System auf diese Weise

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durch Disposition über Zeit höhere Kompatibilität mit kom-plexen Umweltzuständen. Systemkomplexität wird zum Teilin die Zeit, in die Verschiedenartigkeit des Nacheinander ver-lagert, und dadurch kann das System sich auf eine komplexereUmwelt einstellen.

Man kann Systeme als Gesamtheit all ihrer Prozesse be-schreiben. Die Prozeßlage definiert dann den jeweiligen Sy-stemzustand und ändert sich von Ereignis zu Ereignis.61 DaProzesse in Systemen sich aufeinander beziehen, also Relatio-nen bilden und im Hinblick auf Relationierbarkeit selektiertwerden, entstehen mit Systembildung abstraktere Muster derBeziehungen zwischen Prozessen (die als solche schon Rela-tionen zwischenElementarereignissen sind). Prozessewerdenzu »Mechanismen« in demMaße, als sie in solch einem Bezie-hungsgefüge für andere Prozesse verläßlich ablaufen. Die zwi-schen Prozessen bestehenden Beziehungen (die in sozialenSystemen zum Beispiel deren Erwartbarkeit gewährleisten)nennen wir Strukturen. Strukturen erfordern, da sie Prozesseüberdauern müssen, um sie auswählen zu können, andereBeziehungen zur Zeitdimension als Prozesse. Normalerweisewird gesagt, Strukturen seien im Vergleich zu Prozessen re-lativ konstant. Systemtheoretisch interessiert jedoch wenigerdie bloße Konstanz der Strukturen im Verhältnis zu den Pro-zessen, also die bloße Tatsache, daß es vergleichsweise längerdauert, bis Strukturen sich ändern. Wichtiger ist, daß genaudieser Umstand Konsequenzen hat für die Beziehungen zurZeit und für die Beziehungen zur Umwelt.

61 Sehr anspruchsvolle Systemtheorien versuchen bereits für diese Ebeneder Betrachtung formale Kalküle zu entwickeln. Vgl. z.B. Hans W.Gottinger, »Computable Organizations-Representation by SequentialMachine Theory«, Annals of Systems Research 3 (1973), S. 81-108; ders.,»Complexity and Information Technology in Dynamic Systems«, Ky-bernetes 4 (1975).

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Im Verhältnis zur Zeit bedeutet die relative Konstanz derStrukturen, daß Strukturen chronologisch sozusagen überlap-pen. Anders als Ereignisreihen erhalten sie ihren Sinn nichtaus der Sequenz, in der sie sich ablösen, sondern sie schie-ben sich übereinander, synchronisieren sich und machendadurch Gleichzeitigkeit möglich, und dies im Prinzip unab-hängig von der Länge ihrer Dauer.62 Sie unterscheiden sichvon Ereignissen durch die Bezugspunkte ihrer Selektivität.63

Dies zeigt sich auch in den Beziehungen der Differenz vonProzeß und Struktur zu der Umwelt des Systems, um dessenProzesse und Strukturen es jeweils geht. Für die Aktivierungvon Prozessen sind andere, häufigere, rascher wechselndeEreignisfrequenzen in der Umwelt erforderlich als für dieErhaltung bzw. Änderung von Strukturen. Nur wenn dieUmwelt selbst hinreichend differenzierte Frequenzen auf-weist, können sich Systeme bilden, die Struktur und Prozeßdifferenzieren und damit entsprechend unterschiedliche Er-eigniskomplexe ihrer Umwelt ansprechen und ausnutzen.Diese schon recht komplizierte Beziehung zwischen internenund externen Zeitverhältnissen ist Voraussetzung dafür, daßSysteme von Punkt-für-Punkt-Korrelationen mit Ereignissenihrer Umwelt relativ unabhängig werden. Auf der gleichenVoraussetzung beruht jeder Versuch einer teleologischenoder quasiteleologischen »Erklärung« des Systemverhaltens;er setzt nämlich zumindest dies voraus, daß Zwecke oder

62 Reinhart Koselleck, »Darstellung, Ereignis und Struktur«, in: GerhardSchulz (Hg.), Geschichte heute: Positionen, Tendenzen, Probleme, Göt-tingen 1973, S. 307-317, folgert daraus, daß Strukturen eine andere Zeithaben als Ereignisse.

63 Diese Aussage impliziert unter anderem, daß Prozesse bzw. Ereignissenicht etwa konkreter sind als Strukturen, also Strukturen auch nicht,wie oft angenommen, als Abstraktion aus Ereignissen oder als Mengeähnlicher Ereignisse begriffen werden können. Der Unterschied liegtin der Form der Relationierung von Elementen.

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sonstige Sollwerte eine geringere Zeitempfindlichkeit in be-zug auf die Umwelt haben als andere zu erklärende oder zuprognostizierende Aspekte des Systems.64

Einen weiteren Zugang zum Strukturproblem finden wir,wenn wir genauer analysieren, was als Einheit eines Prozessesgemeint sein könnte. Werden Prozesse in der angegebenenWeise als Relationen zwischen zeitverschiedenen selektivenEreignissen definiert, abstrahiert der Prozeßbegriff vom klas-sischen Merkmal der Kontiguität, vom Merkmal der konti-nuierlichen, jeweils unmerklich-unmittelbar anschließendenBewegung und damit von der Metapher des »Flusses«. Flüsseoder Bewegungen sind Prozesse besonderer Art, die für so-ziale Systeme kein ausreichendes Prozeßmodell abgeben. Aufden für soziale Systeme spezifischen Prozeßbegriff »Kommu-nikation« werden wir weiter unten65 zurückkommen. Schonhier sei aber klargestellt, daß dieser Systemtyp, der Kommuni-kation als Prozeßform verwendet und gerade dadurch höhereFreiheitsgrade in der Einstellung auf Umwelt erreicht, einenProzeßbegriff erfordert, der von Kontiguität abstrahiert undstatt dessen das abstraktereMerkmal des Zeitbezugs der Selek-tionen verwendet. Das bedeutet einerseits, daß die unmittel-bar anschauliche Verlaufseinheit nicht mehr gegeben ist unddie Prozeßeinheit nur noch mit Hilfe eines Strukturverständ-nisses identifizierbar ist. Ein Erziehungsprozeß etwa ist nurin diesem Sinne »ein« Prozeß, als er eine Vielzahl von Lern-ereignissen, die durch Ereignisse anderer Art unterbrochen

64 Diese Behandlung des Problems teleologischer Erklärung setzt sich abgegen alle Versuche, die Möglichkeit solcher Erklärung auf den Typusdes zu erklärenden Prozesses selbst, also zumBeispiel auf die konstituti-venMerkmale und immanenten Qualitäten intentionalen Handelns zugründen. So z.B. Charles Taylor, The Explanation of Behaviour, Lon-don 1964.

65 Vgl. in diesem Teil, Kap. II.8.

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werden, unter demGesichtspunkt einer Funktion zusammen-faßt. Andererseits ermöglicht genau dieser Typus intermittie-render Prozesse mehr Verknüpfung, also höhere Komplexitätin einem System, als wenn Anschlußselektionen nur sofort –oder überhaupt nicht erfolgen könnten.

Danach ist es eine in unserem Prozeßbegriff offenge-lassene Frage, wieviel Zeit von einem selektiven Ereigniszum anderen vergeht. Wir gewinnen damit die Möglichkeit,die Frage zu stellen, wie groß solche Zeitdistanzen werdenkönnen, ohne daß die Prozeßeinheit verlorengeht. Offensicht-lich gibt es in der Interaktion unter Anwesenden sehr engeGrenzen der Erträglichkeit von Pausen, in denen überhauptnichts geschieht, andererseits in Gerichtsverfahren oft sehrweite Zeitdistanzen zwischen einzelnen Terminen. Man kannferner untersuchen, wie mit zunehmender Zeitdistanz derDirektionswert abnimmt, den Ereignisse füreinander haben,und wie diesem sozusagen naturzeitlichen Bedeutungsverlustdurch Strukturierung der Prozesse entgegengewirkt werdenkann.

Für einen so gebildeten Prozeßbegriff ist demnach derStrukturbegriff ein unerläßliches Korrelat. Ohne Strukturengäbe es, läßt man das Merkmal der Kontiguität einmal fallen,keine Möglichkeit, sprunghafte Prozesse über Zeitdistanzenhinweg zu identifizieren, und erst recht keineMöglichkeit, dienoch erträglichen Zeitdistanzen zwischen den Prozeßereig-nissen zu steigern – etwa ein kirchliches Leben zu reduzierenauf Taufe, Firmung, Hochzeit und Begräbnis.

Strukturen sind Prämissen übergreifender Relationierbar-keit selektiver Ereignisse, die den Prozessen zugrunde liegen.Die Relationierbarkeit wird durch Herstellung von Beziehun-gen zu anderen Beziehungen garantiert. Strukturen beruhennicht notwendigerweise auf der Ähnlichkeit oder Wesens-gleichheit der Ereignisse. Sie garantieren nur, daß ein Ereignis

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für die Selektion anderer etwas bedeutet. Sie können währenddes Prozesses durchaus in Frage gestellt werden, also in ihrerFunktion als Struktur reflektiert werden; aber sie könnennicht ersatzlos aufgegeben werden, ohne daß der durch sieermöglichte Prozeß selbst aufhörte. Wenn etwa Geschichteals Prozeß der politischen Taten von Herrschern begriffenwird, hört sie einfach auf, wenn es keine Nachfolger und auchkeine Bemühungen um Nachfolge in der politischen Funk-tion des Herrschers gibt. Für solche Sukzession aber muß einMindestmaß an politischer Struktur vorausgesetzt werden.

Wie Parsons66 immer wieder betont hat, setzt der Pro-zeßbegriff nicht voraus, daß Strukturen ganz oder zumindestin Kernelementen unabänderlich seien. Man muß deshalbdie Unterscheidung von Struktur und Prozeß und die vonStabilität und Wandel begrifflich trennen: Prozesse könnenwiederholt, Strukturen können geändert werden. Unverzicht-bar ist nur die Funktionsbedingung von Strukturen: daß sie inProzessen, die sie strukturieren, tatsächlich zugrunde gelegtwerden. Gleichwohl reicht diese Form der Problembehand-lung nicht aus, da sie die Funktion und die Kontingenz vonStrukturen nicht hinreichend konzeptualisiert.67 Erfaßt manim Begriff der Struktur deren Funktion mit, unbestimmteKomplexität und Kontingenz auf bestimmte (oder doch prak-tisch bestimmbare) zu reduzieren, wird deutlich, daß diesnicht durch kontingenzlose und in diesem Sinne notwendigeStrukturen geschehen kann; denn diese könnten ihre eigene

66 Vgl. insb. Talcott Parsons, »Some Considerations on the Theory of So-cial Change«, Rural Sociology 26 (1961), S. 219-239.

67 Dies zeigt sich im übrigen schon daran, daß trotz dieser Konzessionin Richtung Änderbarkeit Strukturen gleichwohl durch relative (oderkurzfristige) Invarianz definiert werden. Damit wird nur das teilweisewieder zurückgenommen, was das Wesensmerkmal des Begriffs aus-machen soll.

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Negation nicht strukturieren, wären aber im sinnhaften Er-leben und Kommunizieren immer noch negierbar, und daswäre ein zu leichter Weg, Unbestimmtheit wiederherzustel-len. Die Funktion, die Strukturen zu erfüllen haben, kannnur dadurch sicher erfüllt werden, daß die Kontingenz in dieStrukturen eingearbeitet und sozusagen als ihr Funktionsmo-dus benutzt wird.

Vom vorherrschenden Strukturbegriff aus kann die Kon-tingenz der Strukturen nur begriffen werden als Möglichkeit,sie in Geltung zu setzen und zu ändern bzw. außer Geltung zusetzen. Es gibt aber zwei verschiedene Arten von Strukturkon-tingenz, und erst die genauere Analyse ihres Zusammenspielsgibt uns einen ausreichenden Einblick in das Verhältnis vonStruktur und Prozeß.

Zunächst und vor allem sind Strukturen dadurch kontin-gent, daß sie in Prozessen aktiviert bzw. inaktiviert werdenkönnen.68 In gegebenen Momenten werden sie ja nach denablaufenden Prozessen teils benutzt, teils nicht benutzt. Sokönnen nervliche Prozesse unterschiedliche Frequenzen ha-ben, die für das System organischen Informationsaustauschesetwas besagen. Eine Frequenz schließt andere aus, obwohldas System über mehr als eine Möglichkeit verfügt. So er-möglicht die Sprache es, aus einem sehr reichen Repertoirean Möglichkeiten jeweils Satzsequenzen zu bilden und da-durch Strukturen zu aktivieren bzw. zu inaktivieren, ohnedaß die Strukturen als solche zur Disposition gestellt würden.Das Prinzip der Vertragsfreiheit wäre ein weiteres Beispiel.UmAktivierungs-/Inaktivierungskontingenz zu ermöglichen,

68 Deshalb hat Talcott Parsons sich genötigt gesehen, das Problem des»latent pattern maintenance« aufzugreifen. Dessen Ausarbeitung mitHilfe von Wert- und Normbegriffen würde dann aber gerade dieserForm von Kontingenz nicht gerecht.

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muß ein System sich auf zwei Ebenen strukturieren: auf derEbene möglicher und auf der Ebene jeweils verwirklichterStrukturen. Auf beiden Ebenen muß die Komplexität limi-tiert sein, sonst ließen sie sich nicht verknüpfen, aber dieKomplexität des Möglichen kann sehr viel höher sein als dieKomplexität desWirklichen, weil sie nicht Rücksicht nehmenmuß auf das sehr begrenzte Selektionspotential in gegebenenZeitpunkten. Die Aktivierung von Strukturen ist dann selbstein Vorgang der systeminternen Reduktion von Komplexität.Erst das Zusammenspiel beider Ebenen, erst die Ausnutzbar-keit eigener Möglichkeiten ergibt diejenige Komplexität, dieein System seiner Umwelt gegenüber in die Waagschale zuwerfen hat. Sie ist, wenn überhaupt, nur relativ auf eine anzu-gebende Zeitstrecke zu messen, da sie durch einen Wechselvon Aktivierungen und Inaktivierungen fungiert.

Ein ganz anderer Modus der Strukturkontingenz liegtvor, wenn es um die Möglichkeit geht, Strukturen selbst zuschaffen, zu ändern oder von ihnen abzuweichen. Dieser Mo-dus dürfte vor allem dann in Betracht kommen, wenn denProzessen die Freiheit genommen werden soll, Strukturenzu aktivieren oder zu inaktivieren, sondern die Verwen-dung von Strukturen normiert wird. Die dann intendiertestarre Entsprechung von Struktur und Prozeß bringt dieStrukturkontingenz in zwei nun noch mögliche Fassungen:Konformität oder Abweichung des Prozesses und Erhaltungoder Änderung der Struktur. Der Bedarf für Kontingenz wirddann gleichsam in die Abweichung oder in die Strukturände-rung weggedrückt.

Überblickt man diese Mehrheit von Möglichkeiten, Struk-turen als kontingent fungieren zu lassen, nämlich Aktivie-rung/lnaktivierung auf der einen Seite und Änderung bzw.Abweichung auf der anderen, dann drängt sich die Folge-rung auf, daß kein soziales System auf eine dieser Formen

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ganz verzichten kann. Aber sie leisten Verschiedenes, und esbedürfte genauerer Untersuchung auf konkreteren Ebenender Analyse, welche Kontingenzformen in welchen Zusam-menhängen bevorzugt werden. Die Normierung von Sprachedurch Zusatzregeln guten (zum Beispiel schichtspezifischen)Sprachgebrauchs ist sicher eine späte Errungenschaft, diesich auf eine vorgegebene Aktivierungs-/Inaktivierungskon-tingenz gerade bezieht. Und ebenso ist die Normierung derVertragsfreiheit,69 der Einbau von Aktivierungs-/Inaktivie-rungskontingenz in Rechtsstrukturen, die zunächst so nor-miert sind, daß man nur befolgen oder abweichen kann. Imübrigen wird man vermuten dürfen, daß das hochgetriebeneStruktur- und Strukturänderungsbewußtsein, das die mo-derne, von Europa ausgehende Gesellschaft kennzeichnet,historisch gesehen ein Resultat eines sehr ausgeprägten re-ligiös/moralisch/rechtlichen Normativismus ist, der zumBeispiel in den eher situativ und relationistisch denkendenfernöstlichen Kulturen kaum Parallelen findet.

3. System und Umwelt

Strukturen und Prozesse werden dadurch zu Systemen, daßsie sich selbst gegen eine Umwelt von nichtdazugehörigenStrukturen und Prozessen abgrenzen. Nur durch diese Ab-grenzung entsteht Komplexität im Sinne eines limitiertenRepertoires an Relationierungsmöglichkeiten, und infolgedieser Abgrenzung entsteht Komplexität in doppelter Weise:als Systemkomplexität und als Komplexität der für das Systemrelevanten Umwelt.

69 Darauf kommenwir unten (Teil 2, Kap. III.2) unter demGesichtspunktevolutionärer Errungenschaften nochmals zurück.

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System und Umwelt werden durch Grenzen getrennt.70

Der Begriff der Grenze bezieht sich auf die Elemente, durchderen Relationierung Systeme gebildet werden. Dabei hängtdie Bestimmung dessen, was jeweils als Element fungiert, vomSystem ab, und zwar sowohl bei systemeigenen Elementenals auch bei Umweltelementen. Allerdings bleibt das Systemund wiederum in beiden Hinsichten in dieser Bestimmunggebunden an Bedingungen der Möglichkeit, die aus jeweilsunteren Ebenen der Systembildung (zum Beispiel physischer,chemischer, mikrobiologischer, organischer Art) resultierenund das limitieren, was genug Eigensystematik und Stabilitäthat, um in anderen Systemen die Funktion eines Elementeserfüllen zu können.71

Nur sekundär und nur im Zusammenhang mit der Zuord-nung von Elementen zum System oder zur Umwelt beziehtder Begriff der Grenze sich auch auf die Relationen selbst.Elemente müssen, wenn Grenzen definiert sind, jeweils demSystem oder dessen Umwelt zugeordnet werden können.Relationen können auch zwischen System und Umwelt be-

70 Theoretische Behandlungen des Begriffs der Grenze sind selten und zu-meist unbefriedigend. Für ältere Quellen siehe Guillaume de Greef, Lastructure générale des sociétés, Brüssel, Paris 1908, Bd. II und III. Fer-ner etwa Roy R. Grinker (Hg.), Toward a Unified Theory of HumanBehavior. An Introduction to General Systems Theory, New York, Lon-don 1956, insb. S. 278ff., 307ff. ; Stanford L. Optner, System Analysisfor Business Management, Englewood Cliffs 1960, S. 20ff. ; P.G. Herbst,»A Theory of Simple Behaviour Systems«, Human Relations 14 (1961),S. 71-94, 193-239 (insb. 78ff.); Gabriel A. Almond, »A Developmen-tal Approach to Political Systems«, World Politics 17 (1965), S. 183-214(187ff.); David Easton, A Framework for Political Analysis, EnglewoodCliffs 1965, insb. S. 24f., 60ff. ; Vilhelm Aubert, Elements of Sociology,New York 1967, S. 74ff.

71 Hier schließen die Ausführungen unter Abschnitt 4 über Interpenetra-tion an, die diesen Gesichtspunkt speziell für systeminterne Element-funktionen ausarbeiten.

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stehen. Das gleiche gilt, mutatis mutandis, für Ereignisseund Prozesse. Mit der Zuordnung von Elementen differen-zieren Grenzen zugleich Relationierungserfordernisse undRelationierungsformen. Sie schließen grenzüberschreitendeRelationen und Prozesse nicht aus, implizieren vielmehr ge-rade diese Möglichkeit. Im Grenzbegriff ist die Möglichkeitdes Transzendierens und die Realität des Jenseits vorausge-setzt.72 Ebendeshalb können Grenzen wie Filter wirken, dienur Relationen zulassen, die sich internen und externen Re-lationierungsmöglichkeiten fügen.73 Die »Offenheit« bzw.Durchlässigkeit von Grenzen hängt also ab von der Komple-xität des Systems und der Umwelt einerseits und von demAusmaß an struktureller Kompatibilität auf beiden Seitenandererseits. Theoretisch setzt der Grenzbegriff damit Dis-kontinuität und Kontinuität zugleich voraus; die Vorstellungeiner hermetisch abschließenden, nichts durchlassenden,nichts verbindenden Grenze führt ins Unmögliche. Sie wi-derspricht auch dem Begriff der Interpenetration, den wiranschließend erörtern werden. Demgemäß bezieht sich dieTheorie »geschlossener Systeme« auf Modelle, denen keineRealität entsprechen kann.

Als Systemgrenzen können nur Grenzen gelten, die durchdie Struktur des Systems selbst erzeugt werden. Roger G.Barker74 spricht glücklich von »self-generated boundaries«.Davon zu unterscheiden ist der Fall, daß Sachbereiche le-diglich ausgegrenzt werden durch Abstoßeffekte der Umwelt,

72 Siehe nur Descartes, Les Principes de la philosophie, II, 21 (Ausgabe derBibliothèque de la Pléiade, Paris 1952, S. 623).

73 Siehe etwa Optner, System Analysis for Business Management, S. 26ff. ;George J. McCall, J. L. Simmons, Identities and Interactions, New York1966, S. 26f.

74 Siehe: Ecological Psychology: Concepts and Methods for Studying theEnvironment of Human Behavior, Stanford 1968, S. 11f.

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durch Verweigerung der Aufnahme undAmalgamation. Hiergeht der Grenzbildungseffekt auf diejenigen Umweltsystemezurück, die dies bewirken, und kann nicht dem ausgegrenz-ten Bereich zugerechnet werden. Die Mülldeponie ist keinSystem. (Die Nichtzufälligkeit ihrer Zusammensetzung istnicht durch die Relationierbarkeit ihrer Elemente bestimmt.)Sehr typisch bilden sich Grenzen in der Realität durch einZusammenwirken von selbsterzeugten Diskontinuitäten mitsolchen, die auf Abstoßeffekte der Umwelt zurückgehen.Faktische Grenzen werden daher häufig aus heterogenenGesichtspunkten generiert, bleiben unklar oderwiderspruchs-voll definiert und erfordern, sollen sie ihre Funktion erfüllen,eine Abstimmung von System und Umwelt derart, daß dasSystem sich entweder in dem ihm durch die Umwelt zu-gewiesenen Raum konsolidiert mit sozusagen nachträglichselbsterzeugten Grenzen oder in die Umwelt expandiert nachMaßgabe eigener Relationierungsbedürfnisse.

Im Unterschied zu älteren Systemlehren, die die Fundie-rungsverhältnisse in den Beziehungen zwischen dem Ganzenund seinen Teilen suchten, begreift die System/Umwelt-Theorie das Umweltverhältnis als konstitutiv für die System-bildung schlechthin. Systemeunterhalten nicht nur gelegentli-che, in Anbetracht ihres »Wesens« akzidentelle Beziehungenzur Umwelt. Auch ist die Umwelt nicht nur für die Erhal-tung des Systembestandes unentbehrlich insofern, als dasSystem auf Nachschub von Energie und Information ange-wiesen ist.75 Ihre radikalste Fassung gewinnt die System/

75 Diese Auffassung wird in der sog. Theorie »offener Systeme« vertre-ten. Vgl. Ludwig von Bertalanffy, »Zu einer allgemeinen Systemlehre«,Biologia Generalis 19 (1949), S. 114-129, und zur Übernahme in die Sozi-alwissenschaften etwaDavid Easton,ASystemsAnalysis of Political Life,New York 1965; Daniel Katz, Robert L. Kahn, The Social Psychology ofOrganizations, New York 1966; Walter Buckley, Sociology and Modern

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Umwelt-Theorie, indem sie der Tatsache Rechnung trägt,daß ein System seine Identität nur im Bezug auf seine Umweltbestimmen kann. Daraus ergeben sich nicht nur für den Sy-stembegriff, sondern auch für den Umweltbegriff bestimmteKonsequenzen.

Die Umwelt kann nicht, wie es sehr oft geschieht, als einanderes, ein umfassenderes System begriffen werden, in demdas System als Teil fungiert;76 denn ein Systemkann sich zwarals Teil eines umfassenderen Systems oder auch, wenn es einsolches nicht gibt, als Teil der Welt begreifen, nicht aber alsTeil seiner Umwelt. Überhaupt vermag ein System seine ei-gene Identität nicht als »Teil von . . . « gewinnen, sondern nurin der »Abstandnahme von . . . «, in der Diskontinuität, imAn-derssein. In der hier vertretenen Systemtheorie müssen alsodie Begriffe »umfassendes System«, »Welt« und »Umwelt«sorgfältig unterschieden werden. Die Umwelt, im Hinblickauf die ein System seine Identität gewinnt, ist ihrerseits Teilder Welt und ist möglicherweise teilweise kongruent mit ei-nem umfassenderen System, das sich seinerseits im Hinblickauf die eigene Umwelt identifiziert. Sie fungiert als Umwelt je-doch nur durch Reduktionen, die das System, dessen Umweltsie ist, ausschließen und die Systemidentität in der Nichtiden-tität mit der Systemumwelt begründen. Die Umwelt hat ihreje besondere Relevanz in den Hinsichten, in denen sie dasSystem angeht bzw. nicht angeht. Die bloße Tatsache, daß esWelt oder daß es umfassende Systeme gibt, reicht demnach

Systems Theory, Englewood Cliffs 1967; F. Kenneth Berrien, Generaland Social Systems, New Brunswick 1968.

76 Vgl. die Kritik dieser Auffassung durch R.C. Buck, »On the Logic ofGeneral Behavior Systems Theory«, in: Herbert Feigl, Michael Scri-ven (Hg.), The Foundations of Science and the Concepts of Psychologyand Psychoanalysis, Minnesota Studies in the Philosophy of Science,Bd. I, Minneapolis 1956, S. 223-238 (234f.).

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nicht aus, um Systemidentität zu begründen; esmuß vielmehrzusätzlich erklärt werden, wie in einem solchen Rahmen eineNichtidentität, eine vollständige Disjunktion von System undUmwelt möglich ist.

Ebensowenig wie ein System als Teil seiner Umwelt kanndie Umwelt als Teil des Systems begriffen werden – und zwarweder in einem subjektiven Sinne als bloße Vorstellung oderbloßes Implikat systemspezifischer Operationen noch in ei-nem objektiven Sinne als Einheit des konkret Allgemeinen.Wollte man die Theorie Hegels in Systemtheorie übersetzen,kämeman zudiesem letztgenanntenErgebnis – zumindest fürden Fall des perfekten Systems konkretisierter Allgemeinheit,für den Staat. Das System wäre dann zu bestimmen nach demGrade, in demes fähig ist, seine Einheit darin zu konstituieren,daß es die Negation, nicht Umwelt zu sein, rücknegiert undso mit seiner Umwelt unter Negation der Nichtidentität eineden Bestimmungseffekt der Negationen »aufhebende« Ein-heit eingeht. Diese Identität des Nichtidentischen kann abernur am Begriff und an der Bestimmungsgeschichte, die ihndefiniert, festgehalten werden. Sie diskriminiert nichtmehr inbezug auf die selektiven Operationen, die in der Realität Ge-schichte machen. Sie negiert nämlich genau das Prinzip derDiskontinuität, das Selektion überhaupt erst ermöglicht. Dasim Verhältnis zur Umwelt Etwas-anderes-Sein-und-Bleibenist unaufgebbare Bedingung dafür, daß mit relativ einfachen,relativ voraussetzungslosen operativen Schritten bestimmteKomplexität erzeugt werden kann.77

Andererseits behält der Systembegriff einen generalisier-ten Umweltbezug, der im »System der Bedürfnisse«, im Ge-sellschaftsbegriff Hegels, nicht vorgesehen ist. Er läßt sich

77 Vgl. dazu Herbert A. Simon, The Sciences of the Artificial, Cambridge(Mass.) 1969.

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nicht reduzieren auf eine Summe von Beziehungen zwischenEinzelsystemen, die sich wechselseitig auf der Basis verschie-dener Bedürfnisse eigensinnig negieren. Wenn überhaupt,wird also im Begriff der Umwelt die Andersheit der Systeme»aufgehoben«, und dies insofern generell, als alle Systeme für-einander Umwelt sind und dies, sofern sie Sinnsysteme sind,im Prozeß ihrer Selbstthematisierung reflektieren. Damit ge-winnt die Frage Bedeutung, wie das Verhältnis der Umweltzu den Systemen, aus denen sie besteht, zu denken ist.

So wenig wie die Umwelt als umfassendes System be-griffen werden kann, so wenig ist sie ein anderes System(»eco-system«, wie man heute sagt).78 Sie ist überhaupt keinSystem und ebensowenig die bloße Menge der anderen Sy-steme. Die Umwelt hat ihre Einheit nur durch das System,dessen Umwelt sie ist. Der Einheit eines Systems korrespon-diert die Einheit einer Umwelt. Ein System hat nur eineUmwelt. Wenn wir von mehreren Umwelten sprechen, sinddamit Umweltausschnitte gemeint. Auch dann bezeichnetder Begriff nicht die Einheit eines anderen Systems oder eineranderen Systemmenge. Die Beziehungen zwischen Systemund Umwelt werden daher nicht angemessen begriffen, wennman sie als Intersystembeziehungen auffaßt.79 Zur Umweltgehören nämlich auch die für das System nichtrelevanten

78 Für diese heute verbreitete Auffassung siehe etwa Karl W. Deutsch,»On the Interaction of Ecological and Political Systems: Some PotentialContributions of the Social Sciences to the Study of Man and His Envi-ronment«, Social Science Information 13 (1974), 6, S. 5-15, sowie weitereBeiträge in diesem Heft.

79 Dieser Vorschlag findet sich bei HeinzHartmann, »Stand und Entwick-lung der amerikanischen Soziologie«, in: ders. (Hg.),Moderne amerika-nische Soziologie. Neuere Beiträge zur soziologischen Theorie, Stuttgart1967, S. 1-92 (85ff.), im Interesse der Vermeidung eines allzu diffusenUmwelt-Begriffs und besserer Möglichkeiten zu empirischer Operatio-nalisierung.

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Sachverhalte, weil sich die Grenze zwischen Relevanz undIrrelevanz in Abhängigkeit sei es von Systemänderungen, seies von Umweltänderungen verschieben kann. Zur Umweltgehören außerdem die Beziehungen, die zwischen den Bezie-hungen zu anderen Systemen gegeben sind – etwa daß sie nurkumulativmöglich sind oder einander ausschließen oder ganzbzw. teilweise füreinander substituierbar sind. Merkmal derUmwelt ist mit alldem, daß Beziehungen zu ihr stets selektiveingegangen werden unter Ausscheidung anderer Möglich-keiten. Nur in diesem Sinne und nicht etwa als bloße Mengeist die Umwelt komplexer als das System. Und gerade in die-sem Sinne von Umwelt ist ihre Nichtidentität im Verhältniszu dem System, dessen Umwelt sie ist, dialektisch nicht auf-hebbar (sondern allenfalls in der Form von Begriffsbildungnegierbar).

Wenn der Umweltbegriff nicht auf den Begriff »andere Sy-steme« zurückgeführt werden kann, heißt dies, daß erst rechtkeine einzelne Außenbeziehung, und sei sie noch so wichtig,zu dominierenden anderen Systemen oder »Bezugspersonen«dieUmwelt ganz erschöpfen kann.Die Identität eines Systemskann nicht von einem anderen abhängen, sonst wären beideein System und ununterscheidbar. Die Differenz von Umweltund Umweltsystemen ist vielmehr immer schon vorausge-setzt, wenn man von relativ starker Abhängigkeit oder vonDominieren spricht, und das Maß der Abhängigkeit bzw. Do-minanz ist der Grad, in dem ein Umweltsystem die Umweltrepräsentiert und den Zugang zu ihr vermittelt und damitIdentität zu definieren in der Lage ist. Aber man kann vonAbhängigkeit oder Dominanz nur sprechen unter der Vor-aussetzung, daß diese Beziehung kontingent bleibt, das heißtin der Umwelt noch anderen Möglichkeiten ausgesetzt ist.

Auf seiten der Umwelt eines Systems erfordern diese Ana-lysen die Einführung einer Unterscheidung innerhalb der

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Umwelt, also zwei Umweltbegriffe, nämlich (1) die für dasSystem relevante, durch es bestimmte oder doch bestimm-bare, für es phänomenale Umwelt auf der einen Seite und(2) die weitere »ökologische« Umwelt, die die Möglichkei-ten des Relevantwerdens und Bestimmens systemunabhängigkonditioniert und vom System aus nur als Welt, als Horizontweiterer Exploration begriffen werden kann.80 Die Bezie-hungen zwischen der systemspezifischen und der weiterenökologischen Umwelt können nicht nach Art einer (über-schreitbaren) Grenze begriffen werden, sondern nur nachArt eines Horizontes, der sich im Prozeß des Thematisie-rens und Bestimmens von Umwelt ebenso wie im Prozeßder räumlichen Bewegung und Weltexploration des Systemslaufend verschiebt. Die Differenz zwischen ökologischer undsystemspezifischer Umwelt bedeutet ferner, daß die system-spezifische Umwelt Merkmale hat, die nicht auf das Systemzurückgeführt bzw. aufGrund derKenntnis des Systems nichtprognostiziert werden können. Das heißt vor allem, daß dieStruktur auch der systemspezifischen Umwelt nicht als einesolche begriffen werden kann, die dem System von sich aus»entgegenkomme«, also eine natürliche Bestimmung habe,passendes Handeln des Systems zu evozieren und zu beloh-nen und unpassendes zu bestrafen.81

80 Mit einer ähnlichen Unterscheidung kritisiert Roger G. Barker, »Onthe Nature of Environment«, Journal of Social Issues 19 (1963), 4, S. 17-33, die Tendenz der Levinschen Psychologie, die Autonomie psycho-logischer Forschung dadurch zu garantieren, daß nur die psychischrelevante Umwelt in Betracht gezogen und alles, was darüber hinaus-geht, als prinzipiell chaotisch und begrifflich unvergleichbar abgewie-sen wird.

81 An dieser Stelle wird sichtbar, daß wir eine wichtige kosmologischePrämisse aufgeben, die im Naturbegriff der alteuropäischen Traditionimpliziert war. Eine Natur, die vorweg garantiert, daß alles Seiendeseine Form des Passens zu anderem finden kann, vermag als instrumen-

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Auf seiten des Systems erfordert diese radikalisierte Ver-sion von System/Umwelt-Theorie, daß alle Strukturen undalle Prozesse des Systems direkt oder indirekt auf dessen Um-welt bezogen werden. Denn das System ist seine Differenz zurUmwelt. Entsprechend muß diese Theorie zwei verschiedeneModelle für System/Umwelt-Beziehungen, die häufig in derForm entgegengesetzter, konkurrierender Theorien präsen-tiert werden,82 zusammenfügen. Das erste Modell geht voneiner strukturellen Charakterisierung aus und vergleicht Sy-stem und Umwelt unter Verwendung gleicher Begriffe. Mansagt zum Beispiel : Jedes System habe einen höheren Organi-sationsgrad als die Umwelt im ganzen (nicht natürlich: alsjedes andere System in der Umwelt). Oder: Das System habegeringere Komplexität als die Umwelt im ganzen (und wie-derum: nicht als jedes andere System in der Umwelt). Daszweite Modell stellt die Beziehungen zwischen System undUmwelt als Prozesse dar, etwa als Lernprozesse (Kybernetik)oder als Prozesse, die Input in Output transformieren, odereinfacher als die Befriedigung von Bedürfnissen, die Lösungvon Problemen, die Erfüllung von Erwartungen des Systemsdurch seine Umwelt. Solche Modelle werden als dynamischeModelle begriffen. Sie setzen voraus, daß System und Umweltmit Hilfe ungleicher Begriffe erfaßt werden.

tum Dei selbst zu belohnen und zu bestrafen, zu heilen oder krank zumachen, Erfolge und Mißerfolge vorzuzeichnen. An sie können danndirekt Moralen und Erziehungslehren angeschlossen werden. DieserNaturbegriff wird gesprengt durch das Bewußtwerden der Differenzvon System und Umwelt, die jede Passung und jede strukturelle Kom-patibilität auf Bedingungen ihrer Möglichkeit und Bedingungen ihrerevolutionären bzw. genetischen Wahrscheinlichkeit hin befragen underklären will.

82 Zum Theoriengegensatz einige Bemerkungen bei David E. Hunt,Matching Models in Education: The Coordination of Teaching Methodswith Student Characteristics, Toronto 1971, S. 6.

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Es liegt auf der Hand, daß anspruchsvollere Theorienbeide Modelle verwenden und integrieren müssen. Die Theo-rieleistung liegt in der Art, in der diese konzeptuelle Integra-tion geleistet wird. Komplizierter ausgedrückt: Die Beziehungzwischen System und Umwelt ist sowohl auf struktureller alsauch auf prozessualer Ebene zu begreifen, und zwar genaudurch die Art, in der Struktur und Prozeß aufeinander be-zogen werden. Die Differenz von System und Umwelt wirddamit durch die Differenz von Struktur und Prozeß auf bei-den Seiten erhellt ; und umgekehrt wird die Differenz vonStruktur und Prozeß konzipiert unter der Aufgabe, die Mög-lichkeit einer Differenz zwischen System und Umwelt zuerklären. Nur so kann die leidige Kontrastierung von BestandundWandel, von Statik undDynamik überwundenwerden.83

Die im folgenden skizzierten Überlegungen gewinnen ih-ren Ausgangspunkt und ihre erste Prägung durch die Art desZugriffs auf dieses noch recht unbestimmt formulierte Pro-blem, und zwar durch den Versuch, es durch theoretische Re-duktion auf eine relativ einfache Fassung zu bringen. Für denstrukturellen Vergleich von System und Umwelt verwendenwir den im ersten Abschnitt erläuterten Begriff der Komple-xität. Der Begriff ist immer dann anwendbar, wenn eineMan-nigfaltigkeit als Einheit relevant wird. Wie immer man ihngenauer faßt und operationalisiert – und das ist eine Wissen-

83 Zur Vereinfachung der Darstellung lassen wir an dieser Stelle nochaußer acht, daß auch Strukturen in ihrer eigenen Prozeßhaftigkeit ana-lysiert werden können; daß zum Beispiel Komplexität nicht nur alsGesichtspunkt des Vergleichs von System und Umwelt, sondern in bei-den Hinsichten auch als Entwicklungsvariable gesehen werden muß.Dieses Erfordernis wird uns im folgenden zwingen, einen dreifachenForschungsansatz zu verwenden – nämlich eine Strukturtheorie derSystemdifferenzierung, eine Kommunikationstheorie für den Prozeß-aspekt sozialer Systeme und eine Evolutionstheorie für das Problemstrukturellen Wandels.

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schaft für sich –, es wird herauskommen, daß die Gesamtum-welt komplexer ist als jedes einzelne System. Man kann daherdas Verhältnis zwischen Umwelt und System strukturell alsKomplexitätsdifferenz oder als Komplexitätsgefälle charakte-risieren.

Damit ist eine abstrakte Problemformel geliefert, die fürjedes System zutrifft. Sie ist deswegen nicht inhaltsleer, wieKritiker gemeint haben,84 aber natürlich kompatibelmit jederArt von System, also nicht geeignet, Aussagen über bestimmteSysteme im Unterschied zu anderen zu begründen. Sie fixierteinen fachspezifischen Sonderhorizont der Problemstellung,in dem alles, was an Systemen vorkommt, im Hinblick aufseine Funktion der Komplexitätsreduktion analysiert und imHinblick auf funktionale Äquivalente überprüft werden kann;letzteres natürlich nur, wenn zusätzlich zur abstraktestenFunktionsbestimmung jeweils Systemstrukturen angegebenund konstantgehalten werden, die ihrerseits ebenfalls auf ihreFunktion hin befragt werden könnten, denn der Begriff derfunktionalen Äquivalenz setzt zusätzlich zur Funktionsan-gabe eine Begrenzung des Möglichen, nämlich ein Verhältnisder Limitationalität unter den Äquivalenten voraus.85

Von dieser Problemformel her können nun Prozesse, dieUmwelt und System verbinden oder im System im Hinblickauf diese Differenz ablaufen, als Selektionsprozesse begrif-fen werden – sei es als Zufuhr einer begrenzten Menge vonEnergie (nicht zu wenig, nicht zu viel), sei es als Zufuhr vonInformation. Die Problemformel der Komplexitätsdifferenz

84 Zum Beispiel Rüdiger Bubner, »Wissenschaftstheorie und System-begriff : Zur Position von N. Luhmann und deren Herkunft«, in:ders.,Dialektik undWissenschaft, Frankfurt/M. 1973, S. 112-128; RainerPrewo, Jürgen Ritsert, Elmar Stracke, Systemtheoretische Ansätze in derSoziologie: Eine kritische Analyse, Reinbek 1973, S. 29ff.

85 Vgl. oben in diesem Kap., S. 22.

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dient uns mithin als Scharnier, das Strukturaspekt und Pro-zeßaspekt in System und Umwelt verbindet. Der Begriff derSelektivität bekommt dadurch eine zentrale Stellung. In allenFolgeaussagen muß daher Kontingenz mitgedacht werden.Sowohl Strukturen als auch Prozesse des Systems gewinnenihren spezifischen Sinn aus den Bedingungen, unter denenandere Möglichkeiten zugänglich sind. Das ist auch impli-ziert, wenn wir von Problem und Problemlösung sprechen;denn der Problembegriff impliziert eine Mehrheit möglicherLösungen – Problematisierung ist in diesem Sinne Über-schußproduktion – und die Bezeichnung einer Struktur alsProblemlösung impliziert, daß auch andere Lösungen mög-lich wären.

4. Interpenetration

Die beiden vorangegangenen Abschnitte geben uns die Mög-lichkeit, den Begriff der Interpenetration zu präzisieren mitdem Ziel, Voraussetzungen für eine Klärung des Verhältnis-ses von Mensch und Gesellschaft zu schaffen.

Interpenetration soll eine besondere Form des Verhältnis-ses von System und Umwelt bezeichnen. Dabei denken wirnicht an den Fall, daß verschiedene Systeme in bestimmtenZusammenhängen wie eines wirken.86 Vielmehr benötigen

86 Hierfür stellt Charles P. Loomis, Social Systems: Essays on Their Per-sistance and Change, Princeton 1960, S. 32ff., den Begriff »systemiclinkage« zur Verfügung, der vor allem der Behandlung von Konflikts-problemen dient. Siehe z.B. Charles P. Loomis, »Systemic Linkagesof El Cerrito, New Mexico«, Rural Sociology 24 (1959), S. 54-57; ders.,»Tentative Types of Directed Change Involving Systemic Linkages«,Rural Sociology 24 (1959), S. 383-390; ders., »In Praise of Conflict andIts Resolution«,American Sociological Review 32 (1967), S. 875-890; Cal-

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und rezipieren wir diesen Begriff zur Bezeichnung desjenigenFalles, daß Systeme in anderen Systemen nicht als Teilsystemefungieren, aber gleichwohl zu Prozessen beitragen, die alssystemintern angesehen werden und ohne die das höhere Sy-stem weder existieren noch verstanden werden könnte. Sosind Atome für Moleküle, Moleküle für Zellen, Neuronen fürNervensysteme, Organismen für Populationen,Menschen fürsoziale Systeme nicht eigentlich Teilsysteme, die über funk-tionale Spezifikation gebildet werden, sondern Einheiten derProduktion von systeminternen Prozessen mit der Besonder-heit, daß diese Einheiten, wenn man sie als eigene Systemeanalysiert, als Umwelt des jeweiligen Relationierungssystemsbegriffen werden müssen.

Für das Verständnis des Begriffs der Interpenetration unddamit für das Verständnis der Aufbauweise aller Systeme hö-herer Ordnung ist ausschlaggebend, daß man interpenetrie-rende Systeme und funktionale Elemente (oder »units«) unter-scheidet und begreift, daß beides erforderlich ist. Von interpe-netrierenden Systemen wird verlangt, daß sie ihre Zuständeständig wechseln und gerade dadurch das höhere System mitReaktionspotential gegenüber dessen Umwelt ausrüsten. Siekönnen ihre Zustände ständig wechseln, ohne Struktur undIdentität zu verlieren, weil sie selbst Systeme sind. Sie kön-nen aber ebendeshalb kein funktionales Element eines über-geordneten Systems sein, weil sie die dafür notwendige Stabi-

vin Redekop, Charles P. Loomis, »The Development of Status-roles inthe Systemic Linkage Process«, Journal of Human Relations 8 (1960),S. 276-283. Parsons gebraucht den Begriff der Interpenetration in etwadiesem Sinne, wenn er betont, daß Teilsysteme verschiedener Systemein der Weise interpenetrieren, daß sie »crosscut one another and con-stitute one subsystem« (Talcott Parsons, GeraldM. Platt,The AmericanUniversity, Cambridge (Mass.) 1973, S. 36). Die zugrundeliegendenVor-stellungen sind jedoch bisher nicht näher ausgearbeitet worden.

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lität nicht aufbringen.Das Relationierungsgefüge des höherenSystems, also dessen Struktur, baut sich durch Prozesse se-lektiver Reaktivierung erst auf der Grundlage eines ständigenChangierens der Zustände interpenetrierender Systeme auf.Das höhere System belegt also gleichsam die interpenetrieren-den Systememit Elementfunktionen dadurch, daß es sie nachbestimmten Regeln aktiviert.

Die Behandlung als interpenetrierendes bzw. als überge-ordnetes System ist abhängig von der Wahl einer Systemrefe-renz und von der Tiefenschärfe des analytischen Interesses.87

Die Analyse kann jedoch nicht beliebig verfahren, sondernbleibt ihrerseits an die Realstrukturen gebunden, auf diesie stößt. Bei jeder Analyse komplexer Systeme trifft manauf interpenetrierende Systeme, deren interne Prozesse mitden in dieser Systemreferenz sinnvollen Relationierungennicht mehr erfaßt werden können. Weitere Analyse würdedann nur möglich sein, wenn diese Systeme der Umwelt desSystems zugerechnet werden, weil sie andersartige (etwa: elek-trische, oder: psychosomatische) Beziehungen in der Umweltaktualisieren als das Bezugssystem selbst. Dieser Sachverhaltist die bloße Kehrseite der Tatsache, daß durch Aufbau kom-plexerer Systeme mit selektiver Relationierung auf ständigwechselnden Grundlagen »emergent properties« entstehen,nämlich für das höhere Systembildungsniveau spezifischeRelationen zwischen System und Umwelt.88

87 Vgl. dazu Talcott Parsons, Robert F. Bales, Edward A. Shils, WorkingPapers in the Theory of Action, Glencoe 1953, insb. S. 172ff., ohne Aus-wertung dieserÜberlegungen für den späteren Begriff der Interpenetra-tion.

88 Mit diesem Argument setzen zum Beispiel Parsons und Shils die Theo-rie des Handlungssystems gegen die auf elementarere Ebenen voraus-gesetzten System/Umwelt-Vorstellungen der biologischen Theorie desOrganismus ab: »The most obvious difference is the explicit concern

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Man kann auch sagen: Die Systematizität der interpe-netrierenden Systeme eines übergeordneten Systems stellteine Kontinuität von System und Umwelt her, die eine Dis-kontinuität höherer Arrangements und systemspezifischerGrenzen trägt und erst ermöglicht. Interpenetration wäre da-nach derjenige Begriff, an dem die Differenz von Kontinuitätund Diskontinuität ambivalent wird. Jedes System errichtetzwar Grenzen zur Umwelt und damit Diskontinuität, das istseine Eigenleistung im Aufbau von Komplexität ; aber diesgeschieht nur auf der Basis einer durch Interpenetration gesi-cherten andersartigen Kontinuität, die einerseits das Systemsozusagen in der Umwelt hält, andererseits aber im Systemals »nur« interpenetrierend behandelt und bei der Entschei-dung über kontingente Selektionsleistungen unberücksichtigtgelassen werden kann.

Es böte sich an, dieseÜberlegungen zu verwenden, umdenBegriff des Subjekts zu reetablieren unter Rückgriff auf diealte Vorstellung des »zugrunde Liegenden« (hypokeimenon,subiectum). Subjektität wäre danach, jeweils systemspezifischgesehen, die Funktion interpenetrierender Systeme für Rela-tionierungen, alsowahlweise Elektrizität oderMenschlichkeit.Das »Individuum« wäre eine der Inkarnationen der Subjekti-tät. Angesichts absehbarer Verwirrungen werden wir diesenVorschlag nicht weiter verfolgen; er steht hier nur als Antwortauf die oft zu hörende Frage, wo die Systemtheorie das Subjektläßt.89

of our theory with selection among alternative possibilities and hencewith the evaluative process and ultimaltely with value standards« (in:Talcott Parsons, Edward A. Shils (Hg.), Toward a General Theory ofAction, Cambridge (Mass.) 1951, S. 63).

89 Siehe nur Willi Oelmüller,Was ist heute Aufklärung?, Düsseldorf 1972,insb. S. 68ff.

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Wichtiger ist es festzuhalten, daß Interpenetration aufden einzelnen Systembildungsniveaus verschieden ausgeführtwird, und zwar deshalb, weil die Form von Selektivität vonSystemtyp zu Systemtyp variiert. Das für die Gesellschafts-theorie wichtige Verhältnis von Mensch und Gesellschaftbzw. von personalem System und sozialem System ist in ei-nem abstrakten Sinne zunächst ein Fall von Interpenetration,insofern die Person in sozialen Systemen als Bezugspunktfür ausgewählte Relationen, in ihrer Systematizität dagegenals Umwelt des sozialen Systems behandelt werden muß. Ge-nau dies nennt Simmel soziales Apriori (und sieht darin dieBedingung der Möglichkeit von Gesellschaft): »daß jedesElement90 einer Gruppe nicht nur Gesellschaftsteil, sondernaußerdemnoch etwas ist«91 und daß auch dieses »Außerdem«im sozialen Verkehr – wie wir sagen würden: als Umwelt –thematisiert werden kann. Im besonderen muß die Theoriesozialer Systeme sich dann aber damit beschäftigen, wie diesedoppelte interne bzw. externe Verwendung von Personalitätals Adresse bzw. als System der Umwelt durch den spezi-fischen Selektionsmodus sozialer Systeme, nämlich durchSinn, ermöglicht wird. Wir kommen im Anschluß an die Er-örterung des Handlungsbegriffs auf Probleme der sachlichenund der sozialen Interpenetration unter Kapitel II.4 bzw. II.5und im Zusammenhang mit der Erörterung von Systemgren-zen als Sinngrenzen unter Kapitel II.7 auf das Thema derpersonalen Umwelt sozialer Systeme zurück.

90 Der hier eingesetzte Elementbegriff weicht, wie leicht zu sehen, vonunserem Ansatz ab. Interpenetrierende Systeme und Systemelementewerden nicht unterschieden mit der Folge, daß Simmel in einer bloßen»Außerdem«-Formulierung steckenbleibt.

91 Siehe den Exkurs über das Problem: »Wie ist Gesellschaft möglich?«,in: Georg Simmel, Soziologie: Untersuchung über die Formen der Ver-gesellschaftung, München, Leipzig 21922, S. 21-30 (26).

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5. Kategoriale und forschungstechnische Probleme

Systeme können wir nunmehr definieren als strukturierteProzeßzusammenhänge, die sich gegenüber einer nichtdazu-gehörigen Umwelt abgrenzen, die also (zum Teil) anderenRegeln der Selektion folgen als die Umwelt und dadurchKomplexität reduzieren. Diese Definition des Grundbegriffsder folgenden Analysen ist bewußt selbstimplikativ gebildet.Pointierter könnte man auch formulieren: Systeme differen-zieren sich aus und identifizieren sich durchHerstellung einerDiskontinuität zwischen sich selbst und ihrer Umwelt; ihr Sy-stemcharakter ist diese Differenz.

Wir müssen diese Selbstimplikation akzeptieren und of-fenlegen, weil in den Grundfragen der Systemtheorie katego-riale Probleme auftauchen, das heißt solche, die Sachverhalteund Denkmöglichkeiten zugleich betreffen.92 Wir wollen unsnicht mit Parsons auf die neukantianische Lösung dieses Pro-blems festlegen und postulieren, daß die »an sich« unerkenn-bare Realität den kategorialen Strukturen der Systemtheorieentspricht.93 Ebensowenig wollen wir behaupten, daß der Sy-

92 Das gleiche gilt übrigens für den Begriff der Komplexität, der im übri-gen schon in der Urteilslehre der Spätscholastik diese Stellung gewon-nen hatte, seit dem 16. Jahrhundert aber vernachlässigt (vielleicht durchden Systembegriff abgelöst?) worden ist. DazuHubert Elie, Le complexesignificabile, Paris 1937.

93 Parsons hält diese Ausgangsposition, die sich am deutlichsten in derCharakterisierung von »facts« als »statements« zeigt, allerdings nichtkonsequent durch; er sabotiert sie vor allem durch die Unterscheidunganalytischer und empirischer Systeme. Siehe dazu auchMartin U. Mar-tel, »Academentia Praecox: The Aims, Merits, and Scope of Parsons’Multisystemic Language Rebellion (1958-1968)«, in: Herman Turk, Ri-chard L. Simpson (Hg.), Institutions and Social Exchange: The Sociolo-gies of Talcott Parsons and George C. Homans, Indianapolis, New York1971, S. 175-211.

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stembegriff die Synthese von Sein und Denken leistet. Diefolgenden Überlegungen laufen eher auf eine Fortentwick-lung der Marxschen Theorie hinaus mit der These, daß dieSystematizität der gegenständlichen Realität zugleich sichselbst und ihre Erkennbarkeit ermöglicht. Die im Systembe-griff erscheinende Selbstimplikation führt dann zu der These,daß das Gesellschaftssystem ein Subsystem Wissenschaft bil-det, für das die Umwelt des Gesellschaftssystems und dieGesellschaft selbst als Umwelt desWissenschaftssystems zumGegenstand werden in einer Weise, die die Wissenschaft im-mer auch auf ihre Grenzen hinweist. Begriffe instrumentierendiese Erkenntnis und erzeugen zugleich im Wissenschaftssy-stem jene formulierbaren Reflexionsprobleme, von denen wireines vor uns haben.

In einer solchen selbstreferentiellen Fassung eignet sichder Systembegriff selbstverständlich nur für metalogischeVerwendung. Die Bedingungen der Möglichkeit zweiwerti-ger, widerspruchsfreier, gegenstandsbezogener Logik müsseninnerhalb der Systemtheorie geklärt werden, und erst danachkann eine logisch einwandfreie (aber ebendeshalb auch: nurbegrenzt verwendbare) Fassung der Systemtheorie ausgear-beitet werden – zumBeispiel durch die Annahme der Umweltals Komplex unabhängiger Variablen. Will man dagegen dieErmöglichung logischer Operationen selbst noch kontrol-lieren,94 empfiehlt es sich, zunächst bei der metalogischenFassung des Systembegriffs zu bleiben.

Um gleichwohl angebbare Operationen der Bestimmungund der Reduktion völlig unbestimmter Komplexität durch-führen zu können, gehen wir davon aus, daß die Differenzvon System und Umwelt für ein System zum Problemwerdenkann. Dieses Problem hatten wir bereits abstrakt charakteri-

94 Vgl. dazu näher unten, Teil 5, Kap. II.

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siert als Relation zwischen Sachverhalten von unterschiedli-cher Komplexität, das heißt als »Komplexitätsgefälle«. DieUmwelt ist auch für jedes Einzelsystem komplexer als esselbst.95 Selektivität ist daher nicht nur eine analytische,sondern eine systemimmanente Bestimmung. Selbst wennes beliebige Möglichkeiten der Systembildung und der Ent-stehung von residualen Umwelten gäbe, ließen sich Systemund Umwelt, wenn das System irgendeine bestimmte Struk-tur gewinnt, nicht beliebig zueinander in Beziehung setzen.Jedes Verfahren der Systembildung ist, weil es eine Relatio-nierung erfordert, reduktiv und schränkt den Horizont völligunbestimmter Möglichkeiten ein. Auch Sachverhalte von be-liebiger Kontingenz ließen sich nicht beliebig zueinander inBeziehung setzen, weil jede Bestimmung die Möglichkeitender Relationierung zu anderem einschränkt.

Diese Einsicht können wir für das Prozedere der Theo-riebildung auswerten; sie orientiert als Problemformel dasSuchverhalten und die induktive Rezeptionsbereitschaft derwissenschaftlichen Analyse. Jede Systembildung läßt sichdanach abstrakt als Reduktion von Komplexität begreifen.Unter diesem letzten Bezugsgesichtspunkt sind alle Systemevergleichbar bei jedem Grad sachlicher Verschiedenheit.96

95 Diese Aussage gilt auf Grund von Annahmen über Systembildungdurch Ausdifferenzierung und unabhängig von einer genaueren Fas-sung des Begriffs der Komplexität und der Art, wie man Komplexitätmißt und wie man die Mehrheit ihrer Dimensionen zur Einheit aggre-giert.Wir nehmen an: bei jedemVerfahren derMessung und bei jedemVerfahren der Aggregation würde sich die Umwelt im Vergleich zu je-dem Einzelsystem als komplexer erweisen.

96 Dies ist, methodisch gesehen, ein Korrelat der Generalisierung des ver-gleichenden Erkennens. In dem Maße nämlich, als der Vergleich zumGrunderfordernis wissenschaftlicher Methodik schlechthin avanciert,muß er jede Art von Unterschiedlichkeit übergreifen können. Die Ge-neralisierung der vergleichenden Methode destruiert das Denken in

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Gleichwohl ist die Formel nicht inhaltsleer, weil es unter-schiedliche Ausmaße der Komplexität und des Komplexi-tätsgefälles zwischen System und Umwelt gibt, denen un-terschiedliche Strategien der Komplexitätsreduktion ent-sprechen. So stellt zunehmende Systemkomplexität zugleichzunehmende Anforderungen an die Komplexität der Umwelt.Hochkomplexe Systeme müssen zum Beispiel die Reduktio-nen ihrer Umwelt auflösen, ihre Umwelt analysieren, wennnicht gar in Unordnung bringen können, um genügend Se-lektionsfreiheiten zu haben für die Erhaltung spezialisierterUnwahrscheinlichkeiten. Je nach der dimensionalen Aufglie-derung des Problems der Komplexität (zum Beispiel schonmit der Unterscheidung von sachlicher (simultaner) und zeit-licher Komplexität) ergeben sich weitere Möglichkeiten derSpezifikation. So kann kein System ausschließlich aus Punkt-für-Punkt der Umwelt entsprechenden Prozessen bestehen,aber das Ausmaß, in dem für das Vermeiden solcher Entspre-chungen Zeit (und damit: Verschiedenheit von ZuständenimNacheinander) in Anspruch genommen wird, variiert vonSystemtyp zu Systemtyp.97

Man kann mit Fug und Recht bezweifeln, ob es je möglichsein wird, eine abstrakte (und entsprechend formalisierte)Theorie möglicher Komplexitätsverhältnisse auszuarbeiten,denn auch zum Denken hin besteht ja jenes Komplexitätsge-fälle. Als System wie als Akt ist das Denken selbst Reduktion.Jedenfalls steht uns eine solche Theorie möglicher Komple-

»Ähnlichkeiten«. Dazu (in bezug auf Descartes) Michel Foucault, DieOrdnung derDinge: Eine Archäologie derHumanwissenschaften, Frank-furt/M. 1971 (dt. Übers.), S. 83ff.

97 Vgl. dazu Talcott Parsons, »Some Problems of General Theory in Soci-ology«, in: John C. McKinney, Edward A. Tiryakian (Hg.), Theoret-ical Sociology: Perspectives and Developments, New York 1970, S. 28-68(30f.).

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xitätsverhältnisse nicht zur Verfügung. Wir müssen daher»Entscheidungen«, die im Laufe der Evolution gefallen sind,als Reduktionshilfe verwenden, und das heißt: induktiv vorge-hen und an die Systemtypen anschließen, die durch Evolutiongebildet worden sind. Innerhalb dieser Typen läßt sich danndas Problem des Komplexitätsgefälles zwischen Umwelt undSystem rekonstruieren, und zugleich läßt sich deutlicher er-kennen, wie es unter Ausschluß anderer Möglichkeiten gelöstwird.

Soziale Systeme sind ein sehr spätes Produkt der Evolution.Sie konstituieren sichüber sehr hohen Selektionsfreiheiten an-derer Systeme, die vorher ermöglicht seinmußten, und unter-liegen insofern zugleich allgemeinen und spezifischen Bedin-gungen der Systembildung. Das Problem des Komplexitäts-gefälles wird für sie durch Konstitution von Sinn zur eigenenStruktur, und das gibt ihnen dieMöglichkeit, auf das Problemals Problem schon zu reagieren. Das Problem der Selbstimpli-kation wird für sie zur Möglichkeit der Selbstthematisierung,zur Möglichkeit sinnhafter Erfassung ihrer eigenen Identitätals Selektion, die auf andere Möglichkeiten verweist. Bevorwir in die Analyse sozialer Systeme eintreten, müssen wir da-her zu klären versuchen, was vor dem Hintergrund allgemei-ner Systembildungsprobleme diese besondere StrukturformSinn besagt und was sie leistet.

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Kapitel II

Konstitution sozialer Systeme

1. Sinn

Mit dem Begriff Sinn soll eine bestimmte Selektionsweise be-zeichnet werden, nämlich eine Selektion, die das »Woraus«der Wahl präsent hält und dadurch die Möglichkeit hat, ihreeigene Selektivität zu kontrollieren. Sinn ist punktualisierterAusdruck für Komplexität, ist Reduktion und Erhaltung zu-gleich und genau dadurch für Systembildung adäquat, daßdie Totalität des Möglichen nicht aufgegeben, aber rekonstru-iert wird als dies(-und-anderes): als Selektion von Relevanz.Man kann sich vorstellen, daß diese Struktur sich einlebtals Konsequenz organisch bedingter kontinuierlicher Input-Überlastung. Sie bedarf jedoch sozialer Unterstützung bei derGenese anspruchsvollerer Formen wie bei deren Reproduk-tion.

Sinn ist in dieser Fassung des Begriffs weder ein Zeichen,wenngleich es natürlich Zeichensinn geben kann. Das un-terscheidet uns von der Semantik. Noch ist Sinn definiertals Bezugspunkt von Interpretationen, die ihrerseits als be-stimmende Aneignung durch ein Subjekt begriffen werden.Das unterscheidet uns von der Hermeneutik.98 Wir gehen

98 Zum Vorwurf eines »Kategorienfehlers« kommt es, wenn man dieseUnterscheidung nicht akzeptiert oder nicht für möglich hält und un-terstellt, der Sinnbegriff werde zugleich als objektive Selektion und alssubjektive Interpretation definiert. Vgl. die Kritik von Jürgen Haber-mas in: ders., »Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? EineAuseinandersetzung mit Niklas Luhmann«, in: ders., Niklas Luhmann,

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davon aus, daß kontrollierte Selektion aus mitgesehenen an-derenMöglichkeiten immer schon vorliegenmuß, wenn es zuanspruchsvolleren (also nicht universell praktizierten) Sinn-verwendungen kommen soll, nämlich zum Heranholen vonnicht unmittelbar Gegebenem oder nicht unmittelbar Ein-sichtigem über Zeichen oder über Interpretation. Selektionist für beides der ursprünglichere, der fundierende Prozeß.Nur die allem Sinn immanente Selektivität distanziert das Er-leben von der Welt in einer Weise, die dann benutzt werdenkann, um Sinn in der kontingenten Funktion eines Zeichenseinzusetzen. Und nur jenes Abstoßen anderer Möglichkeitenim selektiven Prozeß, das immer und auch ohne Interpreta-tion schon geschieht, bildet das Problem und die Thematikfür besondere interpretative Leistungen. Wenn Sinn als Zei-chen benutzt wird, heißt dies, daß seine Nichtidentität mitanderem und seine Verweisung auf anderes funktional wird.Wenn Sinn interpretiert wird, heißt dies, daß die selektiveliminierten anderen Möglichkeiten mitherangeholt und inder Form der Negation appräsentiert werden, um gerade inder Differenz zu ihnen den Sinn als bestimmten zu gewin-nen. Im einen Falle interessiert das Andere als Anderes, imanderen Falle interessiert es als Folie der Bestimmung desjeweils intendierten Sinnes. Im Normalfalle aber fungiertSinn ganz ohne jene Intentionalität, die für den Nachvoll-zug der Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem oderfür Interpretationen erforderlich ist. Und nur durch diesesIntentionslos-fungieren-Können ist Sinn als universeller undselbstbezüglicher Selektionsmodus überhaupt möglich.

Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Sy-stemforschung?, Frankfurt/M. 1971, S. 146ff., und Friedhelm Schneider,Systemtheoretische Soziologie und dialektische Sozialphilosophie: IhreAffinität und Differenz, Meisenheim am Glan 1976.

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Die Eigentümlichkeit sinnhafter Selektion besteht, ge-nauer gefaßt, in der simultanen Präsentation von (minde-stens) zwei Ebenen, deren eine einen Horizont von Möglich-keiten, deren andere das selektiv Realisierte bezeichnet. Aufder Ebene des Möglichen ist jeweils mehr möglich, als reali-siert werden kann, so daß die Realisation den Charakter einer(mehr oder weniger »mitgesehenen«) Selektion hat. DieseMöglichkeitsverweisungen sind für Sinnbildung konstitutivund in sinnhafter Erlebnisverarbeitung daher nicht elimi-nierbar.99 Sie sind selbstbezüglich insofern, als sie immerwieder nur auf Sinn verweisen; und dies so, daß die Verwei-sung auch als unbestimmte fungiert und auch dann, wenn fürihren Nachvollzug kein Interesse und keine Intentionalitätin Anspruch genommen werden kann. Jene Verweisungentranszendieren damit alle Kapazitätsschranken sinnverarbei-tender Prozesse, alles Erleben und alles Handeln, aber genaudies wird im Prozessieren von Sinn als Selektionsbewußtseinzum Mitfungieren gebracht. Obwohl evolutionäre Errungen-schaft und insofern kontingent erworben, setzt das erhöhteSelektionspotential, weil es die Selektivität selbst betrifft, diedarüber verfügenden Systeme unter Benutzungszwang. IhrKönnen ist ein Können-Müssen.100 Dadurch entsteht derSchein, daß alles an sich Sinn hat, obwohl es nur für sinn-konstituierende Systeme Sinn hat. Und es entsteht durch

99 Hinweise dazu in dem Sammelband George P. Adams u. a. (Hg.), Possi-bility: Lectures Delivered Before the Philosophical Union of the Univer-sity of California 1933, Berkeley 1934. Vgl. auch Max Black,Models andMetaphors: Studies in Language and Philosophy, Ithaca 1962, S. 140ff.

100 Dies schließt es aus, sich die Lebenswelt (im Sinne Husserls) als eineWelt ohne Möglichkeiten, als gänzlich kontingenzfrei vorzustellen. SoHans Blumenberg, »The Life-World and the Concept of Reality«, in:Lester Embree (Hg.), Life-World and Consciousness, Evanston 1972,S. 425-444, der jedoch für das Vorkommen von Enttäuschungen einebezeichnende, theoretisch nicht begründbare Ausnahmemachenmuß.

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Simultanpräsentation unerfaßbarer Komplexität der Scheindes Unbestimmten des in Wirklichkeit Bestimmten – einSchein, der als Unbestimmbarkeit reflektiert werden und alsHorizont der Bestimmung operative Funktionen gewinnenkann.101

Die Unbestimmtheit aller Sinnhorizonte, letztlich die Un-bestimmtheit der Welt des Möglichen, erscheint demnachnur am Sinn selbst, kommt nur am Sinn selbst zur Realität.Sie dient als Verschiebungsraum für Sinnbestimmungen. Siebegründet die Kontingenz allen Sinnes, begründet aber nichtdie Bestimmtheit bestimmten Sinnes. Daher gibt es auch kei-nen methodischen Weg, der etwa in der Form dialektischenProzessierens von Negationen vom Unbestimmten zum Be-stimmten führte. Erst recht ist dies nicht die Sinnrichtungder historischen Zeit. Vielmehr wächst mit Bestimmungenin Anbetracht von Zeit der Bedarf für Umbestimmungenund damit der Bedarf für entsprechende Unbestimmtheiten.Bestimmtes und Unbestimmtes kann, das formuliert unserBegriff der Komplexität, nur miteinander zunehmen.

Wenn Sinn zwangsläufig an diese Doppelstruktur der Se-lektion gebunden ist, heißt dies, daß sich mit aller sinnhaftenBetätigung (Erleben und Handeln) immer auch diese Diffe-renz herstellt – gleichgültig, auf welcher Ebene der Abstrak-tion und auf welcher Stufe der Reflexivität von Prozessenman

101 Solchen sinnkorrelativen Schein kann man nicht beseitigen, aberdurchschauen und als perspektivische Beschränkung sinnkonstituie-render Systeme reflektieren – was man in der Philosophie seit Leibnizund Kant an der kopernikanischen Wende zu illustrieren pflegt. Vgl.Jürgen Nieraad, Standpunktbewußtsein und Weltzusammenhang: DasBild vom lebendigen Spiegel bei Leibniz und seine Bedeutung für das Al-terswerk Goethes, Wiesbaden 1970, insb. S. 77ff. ; Friedrich Kaulbach,»Die copernicanische Wende als philosophisches Prinzip nachgewie-sen bei Kant und Nietzsche«, in: ders. u. a. (Hg.), Nicolaus Copernicuszum 500. Geburtstag, Köln, Wien 1973, S. 26-62.

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ansetzt, ja sogar bei Beschränkung auf bloßes Negieren. We-der durch Abstrahieren noch durch Rückwendung auf sichselbst, noch durch Negieren läßt die Struktur von Sinn sichtranszendieren, denn all dies sind wiederum sinnhafte Opera-tionen. Diese Bedingung gilt für den gesamten Gegenstands-bereich der Soziologie, sie gilt erst recht für diese selbst (wieübrigens für jede Wissenschaft).

Der Sinnbegriff hat damit für uns die gleiche Extensionwie der Komplexitätsbegriff. Der Komplexitätsbegriff bieteteine rationale (speziell für Zwecke des Wissenschaftssystemsgeeignete) Fassung des Sinnproblems, indem er zeigt, wieRelationierungsmöglichkeiten überproportional wachsen, sodaß sie schließlich nur noch als praktisch unbestimmbarefungieren können. Der Sinnbegriff andererseits macht ver-ständlich, wie die in den Begriffen Einheit/Komplexität nurformal angezeigte Problematik der Selbstreferenz für Systeme,die Sinn konstituieren, an jedem ihrer Einzelthemen zugäng-lich wird.102 Sinn ist insofern immer komplex, ist immerDarstellung von Komplexität, weil am Sinn die Differenz ei-nes Überschusses von Möglichkeiten und ausgewählten hierund jetzt relevanten Inhalten als Einheit fungiert. Diese Formder Repräsentation interessiert, wenn man Sinnsysteme mitanderen vergleicht, in ihren spezifischen Vorteilen und Nach-teilen.

Die Simultanpräsentation jener beiden Ebenen macht vorallem die Selektivität der Selektion bewußt und damit imPrin-zip kontrollierbar. Sinn ermöglicht es daher, auch die Selekti-

102 Daß wir gleichwohl Komplexität und Sinn begrifflich unterscheiden,gibt uns zwar nicht die Möglichkeit, »sinnlos« von Komplexität zu re-den; wohl aber die Möglichkeit, sinnhaft von Systemen zu sprechen,für die Komplexitätsverhältnisse nicht in der Form von Sinn zugäng-lich sind: von physischen Systemen, organischen Systemen,Maschinenusw.

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onsfelder noch zu wählen, weil sie mehr Möglichkeiten bie-ten – etwa die Jagdreviere zu wechseln. Dadurch wird die beigeringer Kapazität unausweichliche serielle Form der Infor-mationsverarbeitung zwar nicht aufgehoben, aber in ihrer Ef-fektivität potenziert und schneller und zufallsunabhängigergemacht.103 Das Nebeneinander kann benutzt werden, um Si-tuationen erst zu finden oder zu schaffen, in denenmanwählt.Das setzt nicht nur Stabilität, sondern auch Mitpräsentationder Stabilität des Systems in der Zeit, also ein Thematischwer-den von Zeit im Informationsverarbeitungsprozeß voraus.

Simultanpräsentation zweier Ebenen ist insofern »schwie-rig«, als sie der thematischen Konzentration bewußter Auf-merksamkeit widerspricht. Man kann nicht in einer Vorstel-lung faktisch zusammenziehen, was alles an Stelle des Baumesim Garten sein könnte, was alles mit dem Baum geschehenkönnte, welche Gründe es gibt, daß der Baum eher ist, als daßer nicht ist. Die Lösung dieses Problems liegt darin, daß Unbe-stimmtheit funktionell ausreicht, um Selektivitätsbewußtseinzu erzeugen. Beispielsweise genügt unbestimmte Negation:dies und nichts anderes. Gewonnen wird damit die Möglich-keit, dies Unbestimmte zu bestimmen, die reflektiert und imHinblick auf Prozesse mit begrenzter Kapazität operationali-siert werden kann. Unbestimmtheit der Ebene desMöglichenist, mit anderen Worten, ausreichende »take off«-Bedingungfür Prozesse der Bestimmung, die durch ihre mitbewußteSelektivität gesteuert werden können.

Selbstverständlich können diese Prozesse das Unbestimm-te nicht aufarbeiten, da sie es als Korrelat ihrer selbst laufend

103 Vgl. dazu etwa die Bemerkungen über das einheitliche Fungieren se-riell geordneter Informationsmengen im Gedächtnis bei Frederic C.Bartlett, Remembering: A Study in Experimental and Social Psychology,Cambridge 1932, Neudruck 1964, S. 201ff.

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neu konstituieren. Aber die Funktion sinnorientierter Selek-tion ist ja auch nicht, Unbestimmtheit zu vernichten, sondern,Selektivität zu verstärken, und dafür ist eine mitpräsentierteUnbestimmtheit des »Woraus« der Selektion Funktionsbe-dingung – selbst dann, wenn der Prozeß sich in Reflexionenüber das Unbestimmbare auf ebendiese Bedingung selbstrichtet.104

Die systemartikulierende Funktion dieses Selektionsmo-dus Sinn zeigt sich daran, daß er immer zugleich einen In-nenhorizont und einen Außenhorizont konstituiert, und zwarden einen nicht ohne den anderen.105 Diese Horizontstruk-tur macht es unausweichlich, daß Inneres immer auch aufÄußeres verweist und umgekehrt; daß also jede Analysesystemspezifischen Sinnes sich aus dem Unterschied zur Um-welt und aus den Beziehungen zu ihr mitbegründenmuß undumgekehrt. Die Horizontstruktur allen Sinnes erfordert dem-nach, wennman sie auf Systeme bezieht, jene Radikalisierungdes Verständnisses der System/Umwelt-Beziehung, die wiroben106 bereits vollzogen haben.

Innen- ebenso wie Außenhorizont verschieben sich indem Maße, als man sich in sie hineinbewegt; wie weit manauch kommt, sie bleiben erhalten als Anzeige der Möglich-keit weiterer Schritte. Weder nach außen noch nach innen

104 Wir werden dieses Thema weiter unten in Analysen der Horizonthaf-tigkeit aller Sinngegenstände und des Konstitutionszusammenhangesvon Welt und Gesellschaft wiederaufgreifen.

105 Die philosophische Tradition hat dieses Phänomen des Doppelhori-zontes zuerst am Fall des Raumes entdeckt, den man von jeder Raumfüllenden Stelle aus ins immer Größere und ins immer Kleinere weiter-denken kann. EdmundHusserl verdankenwir entsprechendeAnalysender Ding-Konstitution. Unter dem umfassenden Gesichtspunkt einerMehrheit von Weltdimensionen kommen wir unten (Teil 4, Kap. I.3)auf dieses Phänomen zurück.

106 Vgl. oben, Kap. I.3.

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gibt es ein »natürliches Ende« (telos) der Progressionen.Die Aussicht auf Abschluß ist kein Erfordernis des Operie-rens. Im Gegenteil : Die Unabschließbarkeit der Progressionist Bedingung der sinnhaften Selektivität aller Operationen.Doppelhorizonte sind universelles Implikat allen sinnhaftenErlebens und Handelns. Sie werden in allem Sinn mitkonsti-tuiert, sie erscheinen an allen Gegenständen, aber auch andem sinnkonstituierenden System selbst, sofern es sich selbstzu thematisieren sucht. Auch Reflexion hat kein Ende, siehört nur, wie jede Exploration, irgendwann einmal auf; aberihr Abschluß ist keine Frage der Logik oder der Ontologie,sondern eine Frage der Motivation.

Ohne diese Grundbedingung des Zugleich von Innen-und Außenhorizont aufzuheben, die Systembildungsmög-lichkeiten erst konstituiert, verwenden alle Systeme dieseDifferenz asymmetrisch in bezug auf sich selbst und auf ande-res. Sie artikulieren ihre Umwelt im Hinblick auf die eigenenStrukturen und Prozesse, durch die sie über Aufmerksam-keit disponieren. Dies geschieht jeweils systemrelativ – alsoin gewisser Weise anders, als es durch andere Systeme ge-schieht. Die Bestimmtheit der Umwelt, die zu unterscheidenist von der Bestimmtheit, die jedes System an und für sicherreicht, differiert daher für jedes System in dem Maße, alssystemspezifische Strukturen und Prozesse differieren. Diesgilt, obwohl, ja gerade weil alle Systeme für jedes von ihnenUmwelt sind.107 Ebenso und aus dem gleichen Grunde diffe-riert für jedes System die Umweltkomplexität, in Beziehungauf welche es die eigene Komplexität bestimmt.

Diese Simultaneität verschiedener System/Umwelt-Refe-renzen, die sich wechselseitig ineinander verschränken derart,

107 Daß diese Aussage im Hinblick auf Systemdifferenzierung noch modi-fiziert werden muß, sei an dieser Stelle nur angemerkt.

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daß die System/Umwelt-Differenzen anderer Systeme für je-des SystemUmwelt sind, läßt sich in der herkömmlichen Sub-jekt/Objekt-Terminologie nicht angemessen darstellen.108

Ebensowenig wäre es in dieser Terminologie möglich, vonKorrelationen zwischen der Variation von Sinnstrukturen desSystems und seiner Umwelt zu sprechen. Das transzenden-tale Subjekt etwa dupliziert nur die Welt in sich selbst, aberes kennt keine Entwicklung, die mit derjenigen der Welt inwechselseitiger Limitierung korreliert. Um von Korrelatio-nen sprechen zu können, muß man nämlich voraussetzen,daß System und Umwelt unabhängig voneinander, aber inAbhängigkeit voneinander variieren; daß also die Sinnhaf-tigkeit der Umwelt nicht eine bloße Aneignungsform desSubjekts ist, wohl aber in ihren Bestimmungen und in derStrukturierung ihrer Kontingenzen durch das System bedingtist, dessen Strukturen und Prozesse sich jeweils mit dem Sinnbefassen. Auch wenn die Umwelt eigensinnig variiert, hängtdie Tiefenschärfe, in der Sinn als identischer angesetzt wird,und damit das Auflöse- und Relationierungsvermögen abvon dem System, das jeweils Sinn zur Einheit seiner Umwelt

108 Dies jedenfalls dann nicht, wenn man »subjektiv« und »objektiv« alsdiskriminierende Prädikate verwendet und womöglich mit der Diffe-renz von System und Umwelt gleichsetzt (was im übrigen voraussetzenwürde, daß man die Differenz selbst suprasubjektiv oder supraobjek-tiv konstruieren kann). Bei solchen Voraussetzungen erscheinen dannSysteme als Subjekte, die sich ihre Umwelt qua Sinnerfassung und -in-terpretation aneignen und internalisieren und so in sich selbst die To-talität rekonstruieren, während sie objektiv und technologisch immernur partiell betreffbar sind und auch nur partiell mit der Umwelt han-tieren können. Kritiker, die diese grob vereinfachende Terminologiebeibehalten, können im hier vertretenen Sinnbegriff dann nur noch Ka-tegorienfehler, Begriffsüberlastungen oder Paradoxien feststellen. Diesgilt in charakteristischerWeise für Schneider, Systemtheoretische Sozio-logie und dialektische Sozialphilosophie.

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zusammenfaßt und das durch diese Einheit der für es mög-lichen Umwelt auf die eigene Identität als System verwiesenwird.

Sowohl die Darstellung jener perspektivischen Verschrän-kungen als auch das Auffinden von Korrelationen spren-gen einen rein subjektbezogenen Sinnbegriff. Sie erforderneinen Sinnbegriff, der genau diese systemtheoretisch ab-leitbare Relativität und Korrelativität aufnimmt, nämlich(1) Bestimmtheit und Unbestimmtheit, Identität und Ho-rizont, als komplementär voraussetzt, (2) Sinnthemen alskontingente Selektionen begreift und so (3) offen ist für Be-stimmung in unterschiedlichen System/Umwelt-Referenzen,die jeweils über Sinn füreinander zugänglich sind und so eineWelt des Möglichen konstituieren, ohne daß dies Identitätder Bestimmtheiten für alle Systeme voraussetzte.

Für alle sinnkonstituierenden Systeme ist daher in derSinnform des Seligierens impliziert ein nichteliminierbaresZugleich von Innen und Außen sowohl an sich selbst alsauch an anderem. Dieses »Zugleich« wird erfahrbar als Si-multaneität von Möglichkeiten, so daß es kompatibel ist mitGleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit von Beständen derInnenwelt und der Umwelt. Mit Orientierung von Sinn kannman also simultaneisieren, kann vergleichzeitigen, indemman für einen gegebenen Innenzustand einen adäquatenUmweltzustand sucht oder herstellt und umgekehrt; unddies wiederum: für sich selbst und für anderes. Erst auf dieseWeise wird Zeit zur Präsenz gebracht undwird damit zurDar-stellung von Komplexität im Nacheinander verfügbar. Underst auf diese Weise wird Sozialität zur Präsenz gebracht indem Bewußtsein, daß das Innen des einen Systems das Au-ßen des anderen ist und umgekehrt; und wiederum: nichtnur in der Form von Beständen, sondern auch in der Formvon Möglichkeiten des einen wie des anderen Systems.

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2. Soziale Kontingenz und Selektivität

Soziale Systeme entstehen immer dann und nur dann, wennPersonen zusammentreffen, die in Doppelhorizonten erlebenmüssen und sich daher wechselseitig selektives Erleben undHandeln zuschreiben. Dies ist bei allen menschlichen Begeg-nungen der Fall und hängt, wie gesagt, mit der sinnhaftenKonstitution menschlichen Erlebens und Handelns zusam-men. Sobald Gegenstände oder Ereignisse, und sei es in dereinfachsten Wahrnehmung, bewußt erfaßt werden, tritt einHorizont der Verweisung auf andere Möglichkeiten mit inFunktion, gegen den sich das Erfaßte als so-und-nicht-andersprofiliert. Der Zugang zu anderem ist dabei unabwerfbar mit-gegeben, mitpräsentiert; er kann nicht schlechthin, sondernnur in bestimmten Hinsichten negiert werden. Durch solcheVerweisungen hängt die Welt in sich zusammen und wirdErleben und Handeln zum Prozeß, der eineMöglichkeit nachder anderen ergreift unter Auswahl aus einer Vielzahl weite-rer Möglichkeiten.109 Das Erleben von Sinn ist daher immerschon selbst selektiv und eröffnet zugleich Zugang undZwangzu Anschlußselektionen.

Dieser Zusammenhang von Sinn und Selektivität ließesich phänomenologisch durch Prozeßanalysen (etwa im An-schluß an das Kapitel »Die sinnliche Gewißheit« in Hegels

109 Vgl. auch Jürgen Frese, »Sprechen als Metapher für Handeln«, in:Hans-Georg Gadamer (Hg.),Das Problem der Sprache: VIII. DeutscherKongreß für Philosophie, Heidelberg 1966, München 1967, S. 45-55: »DerSinn eines Aktes ist das als eine bestimmte Situation gegebene Ensem-ble der Möglichkeiten, an diesen Akt weitere Akte anzuschließen; d.h.Sinn eines Aktes ist die Mannigfaltigkeit der Anschließbarkeit, die ereröffnet. Das ist gleichbedeutend mit: Der Sinn eines Aktes ist sein Be-zug auf eine oder mehrere Stellen in dem System, in dem er sich alsFunktion erfüllt« (51).

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Phänomenologie des Geistes)* oder durch Gegenstandsanaly-sen imSinne der PhänomenologieHusserls ausarbeiten. Auchsystemtheoretische Parallelen liegen in Ansätzen vor.110 Wirsetzen solche Ausarbeitungs- und Erläuterungsmöglichkei-ten an dieser Stelle voraus. Für eine Theorie sozialer Systemeinteressiert der besondere Fall, daßmehrere Personen als selb-ständige Selektionszentren einander begegnen und beachten.Dann ergibt sich für jeden Beteiligten die Notwendigkeit,die Selektivität der anderen bei der Steuerung der eigenenSelektionen zu berücksichtigen. Es entstehen also nicht nurWechselwirkungen in demSinne, daß dasVerhalten des einenzur Ursache wird für das Verhalten eines anderen und umge-kehrt. Nicht die reine Faktizität, sondern die Selektivität desFaktischen kommt zum Tragen: daß dies-und-nicht-jenesgeschieht, daß Regungen unterdrückt, Fragen in einem be-stimmten Sinne beantwortet, Wünsche abgelehnt, Initiativenunterlassen werden.

Im Anschluß an Talcott Parsons, aber unter Abwandlungder von ihm gemeinten Bedeutung, kannman diese Grundbe-dingung, aus der soziale Systeme entstehen, als doppelte Kon-tingenz111 bezeichnen. Kontingenz soll dabei nicht nur heißen,daß Partner im Befriedigungswert ihres Handelns voneinan-

* Vgl. G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Berlin 21841, S. 71-82.110 Vgl. Donald M. MacKay, Information, Mechanism andMeaning, Cam-

bridge (Mass.), London 1969; Niklas Luhmann, »Sinn als Grundbegriffder Soziologie«, in: Habermas, Luhmann, Theorie der Gesellschaft oderSozialtechnologie, S. 25-101.

111 Vgl. Parsons, Shils (Hg.), Toward a General Theory of Action, S. 16;ders., The Social System, Glencoe 1951, S. 10, 36ff., und als vielleichtdifferenzierteste Darstellung, die das Problem der Interpretation derKontingenz herausstellt, ders., »The Theory of Symbolism in Relationto Action«, in: Parsons, Bales, Shils, Working Papers in the Theory ofAction, S. 31-62 (35ff.), oder als eine spätere Formulierung ders., »In-teraction I. Social Interaction«, International Encyclopedia of the SocialSciences, Bd. 7, New York 1968, S. 429-441 (436f.).

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der abhängen, sondern auch, daß ihr wirkliches bzw. ihr mög-liches Verhalten jeweils auch anders möglich ist. Wir greifendabei auf den alten modaltheoretischen Begriff des »contin-gens« als negierte Notwendigkeit zurück.112 Doppelte Kontin-genz in diesem modaltheoretischen Sinne ist mit jeder sozia-len Situation gegeben – sowohl wenn die Beteiligten ihr Han-deln voneinander abhängig machen oder machen sollen, alsauch, wenn sie genau dies verweigern. Kontingenz ist Bedin-gung der Möglichkeit für Abhängigkeit und Unabhängigkeitinnerhalb eines Systems. Abhängigkeit ist also nicht gleichbe-deutendmit Kontingenz, sondern ist schon eine Option ange-sichts von Kontingenz.

Nimmt man doppelte Kontingenz in diesem Sinne, mußman beachten, daß für jeden der Partner – wir sprechen künf-tig vereinfachend von Ego und Alter – Kontingenz sich ver-doppelt : Ego sieht sein eigenes Verhalten und das des Alter alskontingent, und ebenso siehtAlter sein eigenesVerhalten unddas des Ego als kontingent.113 Auf beiden Seiten werden also

112 Vgl. u. a. Martha Freundlieb, Studie zur Entwicklung des Kontingenz-begriffs, Würzburg 1933; dies., »Zur Entstehung des Terminus ›con-tingens‹«, Philosophisches Jahrbuch 47 (1934), S. 432-440; AlbrechtBecker-Freyseng,Die Vorgeschichte des philosophischen Terminus »con-tingens«: Eine Untersuchung über die Bedeutung von »contingere« beiBoethius und ihr Verhältnis zu den Aristotelischen Möglichkeitsbegrif-fen, Heidelberg 1938; Heinrich Barth, Philosophie der Erscheinung: EineProblemgeschichte, Teil I, Basel, Stuttgart 21966, S. 326ff. ; Hans Blu-menberg, »Kontingenz«, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart,Bd. III, Tübingen 31959, Sp. 1793f. ; Heinrich Schepers,Möglichkeit undKontingenz: Zur Geschichte der philosophischen Terminologie vor Leib-niz, Turin 1963, und ders., »Zum Problem der Kontingenz bei Leibniz:Die beste der möglichen Welten«, in: Collegium Philosophicum: Stu-dien J. Ritter zum 60. Geburtstag, Basel, Stuttgart 1965, S. 326-350.

113 Auf diese Komplikation zielt auch Parsons, »Interaction I. Social Inter-action« mit der Formulierung, »that each actor is both acting agent andobject of orientation both to himself and to the others« (436).

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laufend je zwei (oder mehr) selektive Prozesse ins Auge ge-faßt und recht oder schlecht kontrolliert. Damit entsteht dasProblem, wie und in welchem Sinne eine solche zweifach ge-doppelte Selektivität noch koordiniert werden kann.

Von sehr verschiedenen Ausgangspunkten her haben sichbisher vor allem Psychologen mit diesem Problem oder mitEinzelaspekten dieses Problems befaßt; es wurde dabei vonder Struktur und der Kapazität einzelner psychischer Systemeher gesehen.114 Genaueres Zusehen führt aber auf eine sehr

114 Ein vollständiger Überblick über alle direkt oder indirekt relevantenAnsätze ist hier selbstverständlich nicht möglich, zumal eine umfas-sende theoretische Behandlung der Einstellung auf doppelte Kontin-genz auch in der Psychologie fehlt. Zur Illustration seien hier nur einigeBeispiele für die Verschiedenartigkeit der Ausgangspunkte erwähnt:(1) James Olds, The Growth and Structure of Motives: PsychologicalStudies in the Theory of Action, Glencoe 1956 – eine explizite Behand-lung des Problems der Umweltkontingenzen im Hinblick auf Anforde-rungen an Generalisierung von Motiven. Daran ließe sich anschließeneine Interpretation des Begriffs der Libido bei Freud. (2) Robert B. Za-jonc, »The Process of Cognitive Tuning in Communication«, Journalof Abnormal and Social Psychology 61 (1960), S. 159-167 – eine Theo-rie kognitiver Anpassung in Prozessen selektiver Kommunikation mitunterschiedlichenKomplexitätsanforderungen an Sender und Empfän-ger. (3) O. J. Harvey, David E. Hunt, Harold M. Schroder, ConceptualSystems and Personality Organization, New York, London 1961 – eineTheorie kognitver Komplexität psychischer Systeme, die Hypothesenüber Korrelationen zwischen hoher kognitiver Komplexität und Fähig-keit der Verarbeitung von Umweltkontingenzen nahelegt. (4) Jack W.Brehm, A Theory of Psychological Reactance, New York, London 1966 –eine zusammenfassende Behandlung der Reaktionsweisen auf erlebteFreiheits-(= Selektions-)Einschränkungen. (5)HaroldH.Kelley, »Attri-bution Theory in Social Psychology«, in: David Levine (Hg.),NebraskaSymposium onMotivation 1967, Lincoln 1967, S. 192-238 – eine Theorie,die ihren Ausgangspunkt in Unterschieden der Zurechnung von Selek-tionen (bei Kelley: »dispositional properties«) hat und in der weiterenForschung zu einem wichtigen Verbindungsstück zwischen kognitiverPsychologie und motivationaler Psychologie geworden ist.

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viel generellere Struktur, die wir unter demGesichtspunkt dernicht oder weniger kontingenten Beziehung zwischen Kontin-gentem begreifen müssen. Wir stoßen damit auf einen Sach-verhalt, für den auf der Basis von Freiheit die Kantische Theo-rie der Moral und des Rechts das Modell geliefert hat.115

Selbst Beliebiges könnte nicht beliebig kombiniert werden.Sobald Kontingentes zu anderem in Beziehung gesetzt wird,reduzieren sich seine anderen Möglichkeiten auf das, was mitdieser Beziehung noch kompatibel ist. Durch Relationierungwerden die »an sich« vorhandenenMöglichkeiten desAnders-seins beschränkt. Dies gilt, wie immer man jenes »An sich«interpretiert, für alle vorkonstituierten Kontingenzen, gleich-gültig, wie sie zustande gekommen sind undwovon sie abhän-gen.116 Jede Relationierung von Kontingentem wirkt mithinselbstselektiv in bezug auf die eigenen Möglichkeiten. Sie istnotwendig weniger beliebig als die Kontingenzen, die sie auf-einander bezieht; sie zügelt sie durch Bedingungen der Ver-knüpfbarkeit. Dies gilt auch dann, wenn die Beziehung selbstkontingent gewählt ist, und selbst dann, wenn ihre Funktionfür die Reduktion des Kontingenten reflektiert und als Ge-

115 Zugleich impliziert die Kantische ebenso wie unsere Fragestellung eineUmkehrung des scholastischen Problems der complexio contingens. Esgeht nicht um den Einsatz von Kontingenz bei der Verknüpfung dernotwendig-einfachen Termini (vgl. z.B. Johannes Duns Scotus, »Ordi-natio I dist 39 n 7 und 13«, in: Opera Omnia, Bd. VI, Civitas Vaticana1963, S. 406f., 414f.), sondern umgekehrt um die Reduktion der ur-sprünglichen Kontingenzen durch Relationierung. Infolgedessen giltauch nicht »ex multis contingentibus non potest fieri unum necessa-rium« (Thomas von Aquino, Summa contra Gentiles, III. 86), sonderndas Umgekehrte: Nur so kann, wenn man einmal von einer Art supra-modalen Notwendigkeit der Kontingenz selbst absieht, Notwendiges(oder sagen wir: erschwert Negierbares) als System entstehen.

116 Das Argument präjudiziert mithin, zur Vermeidung von Mißverständ-nissen sei dies noch angeführt, nichts in der Frage des Ursprungs, desAnfangs der Welt oder des letzten Grundes der Freiheit.

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sichtspunkt der Ermöglichung gesteigerter Kontingenzen be-nutzt und gerechtfertigt wird117 – so zum Beispiel in dem wei-ter unten118 zu erörternden Konzept der »Stelle«.

Unsere These ist, daß hier die Ausgangsbedingungenfür die Bildung und die Funktion sozialer Systeme lokali-siert sind. Unter den angegebenen Bedingungen doppelterKontingenz entstehen mit jeder Aufnahme von Kontakt Be-ziehungen zwischen Selektionsleistungen in demSinne, daß derMöglichkeitsraum einer Selektion durch bereits erfolgte oderantizipierte andere Selektionen konstituiert und reduziertwird. Beim Zusammentreffen mehrerer Partner bilden diesedaher zwangsläufig ein System im Sinne einer Interdepen-denz ihrer Möglichkeitsräume und ihrer Selektionen. Selbstschärfste wechselseitige Negation setzt eine Überschneidungund wechselseitige Bestimmung des Möglichen voraus.119

Es ist wichtig, die Zwangsläufigkeit zu erkennen, die darinliegt. Sie beruht auf der Existenz eines Überschusses an Mög-lichkeiten, der mit allem intersubjektiv konstituierten undapperzipierten Sinn gegeben ist. Niemand kann alle seineMöglichkeiten realisieren (niemand kann zugleich in all dieRichtungen laufen, in die er laufen könnte), zumal jeder Se-lektionsschritt neue Möglichkeiten eröffnet. Man muß anSelektionen anknüpfen, um überhaupt wählen zu können –sei es an schon erfolgte, sei es an antizipierte. Es ist nicht

117 Die logische Struktur dieses Arguments erfordert mithin eine Relati-vierung des Begriffs der Kontingenz auf (möglicherweise verschiedene)Bedingungen der Möglichkeit.

118 Siehe dazu Teil 2, Kap. III.2(c).119 »In certain contexts, two such characters may confront each other as

bluntly as yes and no, thus ›negating‹ one another. But they can do soonly insofar as they share some field in common, thus overlapping ina Realm of Maybe«, formuliert Kenneth Burke, »A Dramatistic Viewof the Origins of Language«, The Quarterly Journal of Speech 38 (1952),S. 251-264, 446-460; 39 (1953), S. 79-92, 209-216 (91).

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möglich, Entscheidungen zu treffen, ohne Entscheidungenzu akzeptieren. Bis zu einem gewissen Grade muß man daherhinnehmen, was andere gewählt haben, einfach weil anderegewählt haben. Das Bewußtsein kann seine eigene Selektivi-tät nur in bezug auf Selektionen anderer organisieren. DieUnmöglichkeit der Wahl aller Möglichkeiten macht eineIsolierung und Autarkie einzelner Selektionen unmöglich.Selektivität steht, einmal konstituiert, unter Organisations-zwang.

Erst innerhalb von zwangsläufig konstituierten Sozial-systemen kann sich dann das engere Problem der Abstim-mung von Selektionsleistungen im Interesse der Fortsetzungdes Systems unter für alle erträglichen Bedingungen stellen.Der organisch nicht ausreichend koordinierte Überschußan Selektionsmöglichkeiten bildet die Voraussetzung für dieEntstehung eines neuen Systemtyps »soziales System«, indem dann sehr unterschiedliche Anspruchsniveaus in bezugauf Koordination, Integration, Wertkonsens gebildet wer-den können – und irgendwelche Anspruchsniveaus in dieserHinsicht sich einspielen müssen. Der Überschuß an Möglich-keiten zwingt mithin, wo immer soziale Kontakte stattfinden,zu abgestimmter Selektivität und damit zur Konstitutionneuartiger Reduktionsweisen. Unter dieser Voraussetzungsetzt jeder »Zufall« einer sozialen Begegnung einen Prozeß»selektiver Akkordierung«120 in Gang, der situationsweiseabgebrochen oder fortgesetzt werden kann, bei Fortsetzun-gen aber zwangsläufig unter Bedingungen operiert, die erauf angebbare Weise selbst konstituiert. Aus Zufall entstehtsomit wie durch Katalyse eine überlagernde Ebene der In-

120 Diese Formulierung auf Grund von Beobachtungen im besonderenMi-lieu der Verwaltung bei Fritz MorsteinMarx,Das Dilemma des Verwal-tungsmannes, Berlin 1965, S. 198.

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teraktion, die als mindestes Geschichte erzeugt, nämlich dieGeschichte dieser Interaktion – Sozialsystemgeschichte.121

Mit einer eigenen Geschichte erzeugt das so entstehende Sy-stem zugleich eigene Relevanzen und grenzt sich gegenübereiner Umwelt ab. Was so entsteht, ist jedenfalls eine Diskon-tinuität zwischen System und Umwelt – konkret begriffenzunächst vielleicht nur als hier und dort, dieses und jenes, wirund andere.

Diese genetische Hypothese, wonach unter den angegebe-nen Bedingungen in Zufallssituationen zwangsläufig Systemeentstehen, läßt sich auch als funktionaler Zusammenhang for-mulieren und dadurch präzisieren. Im Übergang von einergenetischen zu einer funktionalen Betrachtungsweise wirdpostuliert, daß Zufall der Entstehung nicht auch Zufall derErhaltung ist, daß vielmehr in der Erhaltung eines Sozialsy-stems mit doppelkontingenter Selektivität ein Problem liegt,an dessen Lösung ein Interesse besteht. Dabei bezieht sich dasErhaltungsproblem nicht ausschließlich auf die Struktur desjeweiligen Sozialsystems – so die sogenannte strukturell-funk-tionale Theorie –, sondern vorgängig auf die Erhaltung jenerdoppelkontingenten Selektivität. Denn darin liegt die Bedin-gung der Regenerationsfähigkeit sozialer Systeme.122 Über dieErhaltung doppelkontingenter Selektivität kann im Prinzipdie Neuerzeugung des Systems, also die Auswechselbarkeit je-

121 Hierzu und zum späten, voraussetzungsvollen Charakter von »Welt-geschichte« Niklas Luhmann, »Weltzeit und Systemgeschichte: ÜberBeziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesell-schaftlicher Systeme«, in: Peter Christian Ludz (Hg.), Soziologie undSozialgeschichte (Sonderheft 16 der Kölner Zeitschrift für Soziologie undSozialpsychologie), Opladen 1973, S. 81-115.

122 Mit der Formulierung »Bedingung der Regenerationsfähigkeit sozialerSysteme« ersetzen wir die im 19. Jahrhundert übliche, von Marxistennoch heute benutzte Vorstellung von der »Reproduktion«, die auf denGattungsbegriff Menschheit bezogen war.

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der Struktur ermöglicht werden. Multizentrische Freiheit derSelektion ist eine gleichsam substrukturelle Vorbedingung,die imSystemals strukturelle Errungenschaft erhaltenwerdenkann und zugleich die Regenerationsfähigkeit des Systems,also die Bedingungen ihrer eigenen Erhaltung fundiert.123

3. Handlung als Reduktion

Ein erster Schritt zur Systembildung besteht – für psychischeSysteme ebenso wie für soziale Systeme – in der Reduktionauf Handlung. Das ist zunächst nur eine tautologische Be-stimmung, denn unter Handeln soll hier und im folgendenjeder sinnorientierte selektive Prozeß verstanden werden,sofern er einem System zugerechnet wird.124 Handlungensind in diesem Verständnis mithin nicht natürliche Vor-gegebenheiten der Systembildung, gleichsam Material, daszur Kombination von Systemen verwendet oder auch als un-brauchbar verworfen werden kann.125 Vielmehr ist Handlungohne Zurechnung auf Systeme gar nicht denkbar, die Frage»wer handelt?« muß schon in der Vorstellung des Handelnsmitbeantwortet sein; und umgekehrt erfordern Systembil-

123 Auf die Bedeutung von Sprache (bzw. Erhaltung von Sprache) als ei-ner Bedingung der Regenerationsfähigkeit sozialer Systeme, die sichaus diesen Überlegungen ergibt, soll an dieser Stelle nur hingewiesenwerden. Mehr dazu unten in Teil 2, Kap. II.2.

124 Auf die Problematik des Zurechnens kommen wir unten im Zu-sammenhang der Theorie generalisierter Kommunikationsmedien (inTeil 3, Kap. II) ausführlich zurück.

125 Einen solchen Handlungsbegriff hatte die frühe Theorie der bürger-lichen Gesellschaft zugrunde gelegt. Vgl. dazu Friedrich Jonas, »ZurAufgabenstellung dermodernen Soziologie«,Archiv für Rechts- und So-zialphilosophie 52 (1966), S. 349-375 (363ff.). Er hing zusammenmit derInterpretation von Kontingenz als (natürlicher) Freiheit.

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dungen eine Klärung der Zurechnungsfrage, um selektiveProzesse entweder im System oder in der Umwelt verankernzu können.126

Ein über Zurechnung definierter Handlungsbegriff setzteinen Gegenbegriff voraus, nämlich einen Begriff für Selek-tionen, die nicht dem System, sondern der Welt zugerechnetwerden. Wir wollen weltzugerechnete Selektionen Erlebennennen.127 Reduktion auf Handlung erfordert somit eine

126 In der Parsonsschen Theorie des Handlungssystems wird dieses Pro-blem durch Verlagerung auf die analytische Ebene »gelöst«, nämlichdadurch, daß Parsons System durch Handlung definiert und bei derDefinition des Handlungsbegriffs einen nur analytischen Begriff des»actors« einführt, dem keine Realität entspricht. Real findet sich jederHandelnde immer in einer Situation, und nur Beziehungen zwischenHandelnden-in-Situationen können als Systeme behandelt werden. Sobesonders klar in: »An Approach to Psychological Theory in Terms ofthe Theory of Action«, in: Sigmund Koch (Hg.), Psychology: A Studyof a Science, Bd. III, New York u. a. 1959, S. 612-711 (614): »The actoris not conceived as one system which acts in relation to a situation (orenvironment) which is then treated as another system; actor and situa-tion together constitute the system of reference. This is as much thecase for a psychological system, as a system, as for the other types.«Deshalb ist Parsons genötigt, zwischen Situation und Systemumweltbegrifflich zu unterscheiden, und genau darin sieht er einen Fortschrittim Vergleich zu älteren behavioristischen Organismus/Umwelt-Kon-zepten. Offen bleibt dabei der Realitätsbezug der Identität dessen, wasParsons »actor« nennt. Einen Ausweg aus diesem Problem suchen wirmit der These der Simultankonstitution von System und Handlung.Ähnliche Schwierigkeiten mit einem systemfrei konzipierten Hand-lungsbegriff tauchen auf, wenn man nach der Identität (Einheit) einerEinzelhandlung fragt. Auch hier ist es kein befriedigenderAusweg, demForscher die Festlegung des »unit act« im analytischen Interesse zuüberlassen – siehe außer Parsons z.B. GeorgKarlsson,Adaptability andCommunication in Marriage, Totowa 21963, S. 14ff. –, da ja auch dieHandelnden selbst wissen müßten, wann eine Handlung anfängt bzw.aufhört.

127 Vielleicht befremdet an dieser Definition neben der formalen Gegen-überstellung, die bereits Kritik gefunden hat (Habermas, »Theorie der

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Differenzierung vonErleben undHandeln durch unterschied-liche Zurechnungen und unterschiedliche Folgenanknüpfun-gen. Sie ist außerdem darauf angewiesen, daß im sozialenVerkehr ein ausreichender Zurechnungskonsens laufend her-gestellt werden kann.

Dies vorausgeschickt, läßt sich nunmehr zeigen, daß dieZurechnung als Handlung in bestimmter Weise »verdient«wird, und zwar dadurch, daß die Handlung Komplexitätreduziert. Sie ordnet ihren eigenen Sinn – anders als dasErleben den erlebten Sinn – einem System (oder auch meh-reren Systemen zugleich) zu. Damit erfüllt das Handeln inder Bestimmung des eigenen Sinnes jene doppelrelationaleFunktion, jenes Relationieren von Relationen, das wir im Ab-schnitt über Komplexität128 erörtert hatten. Jede Handlungist gehalten, aus den Möglichkeiten des Systems, dem sie sichzuordnet, auszuwählen; das heißt insbesondere: qualifiziertesElement zu sein, das sich auf eine oder einige andere Hand-lungen im System bezieht, nicht aber auf alles, was möglichist. Diese Selbstrelationierung des Handelns erfordert immereine Art Kompromiß mit der Umwelt des sozialen Systems,zumindest mit der eigenen psychischen Struktur der Per-

Gesellschaft oder Sozialtechnologie?«, S. 202ff. ;Werner Loh,Kritik derTheorieproduktion von N. Luhmann und Ansätze für eine kyberneti-sche Alternative, Frankfurt/M. 1972, S. 48ff., 66ff.), die Definition vonErleben durch Selektion – statt etwa durch Rezeption. Dafür ist bestim-mend, daß wir nur Ereignisse, nicht Bestände für erlebbar halten, alsonur Veränderungen (einschließlich Sedimenten von Veränderungen),an denen die Kontingenz noch ablesbar ist. Ferner muß beachtet wer-den, daß die Begriffe System undWelt nicht (wie System und Umwelt)wechselseitig exklusiv sind. Wir halten damit dieMöglichkeit offen, daßein System sich selbst erlebt, wenn und soweit es in der Lage ist, seine Se-lektionen alsWeltgeschehen zu objektivieren. Dazu näher unten, Teil 3,Kap. II.2.

128 Vgl. oben, Kap. I.1.

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son des Handelnden, die auch über andere Möglichkeitenund Handlungsbereitschaften verfügt, zumeist aber auch mitStrukturen der physisch-organischen Umwelt, mit zeitlichenBeschränkungen, mit weiteren externen Sozialsystemen usw.Handeln wird, mit anderenWorten, identifizierbar und zure-chenbar dadurch, daß es sowohl internen als auch externenBedingungen der Möglichkeit genügt.

In sozialen Systemen ergibt sich die besondere Lage, daßmit einer Mehrheit von psychisch schon konstituierten Zu-rechnungseinheiten zu rechnen ist. Das Handeln des Alter ist,gerade wenn es ihm zugerechnet wird, für Ego bloß Erlebenund umgekehrt. Ego kann sich selbst mithin durch Zuschrei-bung von Handlung an sein Gegenüber Alter von Selektions-verantwortung entlasten und damit zugleich die effektive Se-lektionsleistung des Partners überschätzen. In der psycholo-gischen Forschung hat man denn auch festgestellt, daß Beob-achter zur »overattribution« von Handlung neigen, nämlichhäufiger internal zuschreiben als Handelnde in bezug auf sichselbst.129 Dasmagmehrere, teils kognitive, teils motivationaleGründe haben. ImErgebnis wird jedenfalls der Kausalkontextmöglicher Zurechnungen durch solche Reduktion auf Hand-lung erheblich vereinfacht.

Dieser Effekt der Überschätzung der Handlungsförmig-keit selektiver Prozesse verstärkt sich, wird nämlich wechsel-seitig forciert, wenn es zur Interaktion kommt. Dann sindbeide Seiten als Beobachter und als Verhaltende beteiligt. Eswird auf beiden Seiten zugleich erlebt und gehandelt, abergerade dieses Zugleich setzt die Differenzierung von Erleben

129 Vgl. zusammenfassend Edward E. Jones, Richard E. Nisbett, »TheActor and the Observer: Divergent Perceptions of the Causes of Behav-ior«, in: Edward E. Jones u. a. (Hg.), Attribution: Perceiving the Causesof Behavior, Morristown 1971, S. 79-94.

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und Handeln voraus.130 Eben deshalb kann man sich dar-auf beschränken, das Handeln zu regulieren und das Erlebengleichsam folgen zu lassen. Eine für Systembildung ausrei-chende Reduktion liegt bereits darin, daß man das selektiveGeschehen multizentrisch verorten, es Personen als Selek-tionszentren zurechnen, es daher auch erwarten und mitFolgen verknüpfen kann. Konstitutionsbedingung ist hiernur die Möglichkeit, Selektionen als Handeln behandeln zukönnen. Ein soziales System braucht nicht selbst als Zurech-nungseinheit zu fungieren, nicht selbst handlungsfähig zusein. Andererseits gibt es durchaus handlungsfähige Sozial-systeme. Wir wollen sie im Anschluß an Parsons Kollektivenennen. Aber das ist ein Unterfall, der nur unter besonderenBedingungen realisiert werden kann. Ein Kollektiv liegt nurvor, wenn Handlungen (nicht notwendig: alle Handlungenim System) dem sozialen System selbst und nicht nur den teil-nehmenden Personen zugerechnet werden können, und dassetzt besondere Vorkehrungen über Zurechnungskonsens,Bindungswirkungen, praktisch also Organisation und einMindestmaß an Wertkonsens voraus.131 Die alteuropäische

130 Daß unter der Voraussetzung von Reflexivität die Verhältnisse nochkomplizierter werden, daß man miterleben kann, wie andere das ei-gene Handeln erleben, dann auch das eigene Handeln erleben kann,sei vorerst nur angedeutet. Daß daraus kein Einwand gegen die Unter-scheidung hergeleitet werden kann, sollte klar sein.

131 Bei Parsons schwanken die Definitionen von »collectivity« zwischenWertkonsens und Handlungsfähigkeit. Vgl. z.B. The Social System,S. 41, 96ff., einerseits und Talcott Parsons, Neil J. Smelser, Economyand Society, Glencoe 1956, S. 15, andererseits. Diese Mehrdeutigkeit ineinem engeren Begriff für »verdichtete« soziale Systeme findet sich be-reits bei Robert Park, an denParsons vermutlich anschließt. Vgl. RobertPark, »Reflections on Communication and Culture«,American Journalof Sociology 44 (1938), S. 187-205, und ders., »Symbiosis and Socializa-tion: A Frame of Reference for the Study of Society«, American Journalof Sociology 45 (1939), S. 1-25.

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Tradition hatte ihren Begriff der Gesellschaft auf das Faktumpolitischer Organisation gestützt und deshalb Handlungsfä-higkeit der Gesellschaft unterstellen können. Genau dies istjedoch schon für die bürgerliche Gesellschaft und erst rechtfür das heutige Gesellschaftssystem fragwürdig geworden.132

Um die Frage der Handlungsfähigkeit sozialer Systeme for-mulieren zu können, brauchen wir einen »weicheren«, nichtschon definitionsmäßig auf Handlungsfähigkeit festgelegtenBegriff des sozialen Systems. Er bezeichnet dieNotwendigkeit,bei Eintreten in Situationen mit doppelkontingenter Selekti-vität sich durch Prozesse selektiver Akkordierung von einerUmwelt nichteinpaßbarer Möglichkeiten abzusetzen.

Im Anschluß an diese Klärung der Relevanz des Handelnsfür den Aufbau sozialer Systeme können wir die oben133 abge-brochenen Überlegungen zur Interpenetration von Personenin soziale Systeme wiederaufnehmen und fortsetzen. Wir se-hen nun deutlicher, daß die Reduktion auf Handlung Zurech-nungsadressen erfordert und Personen in dieser Funktion inAnspruch nimmt, ohne sie damit als psychische Systeme totalzu inkorporieren. Daß dies geschieht, um soziales Handeln zuermöglichen, gibt uns den Leitfaden für die beiden folgendenAbschnitte; und zwar werden wir uns zunächst der sachlich-inhaltlichen Bestimmung des Handelns (4) und sodann unterdem Titel Moral (5) der spezifisch sozialen Ordnung seinerSelektivität zuwenden.134

132 Das betont in einer Kritik der Gleichsetzung von »society« und »col-lectivity« bei Parsons auchM.H. Lessnoff, »Parsons’ SystemProblems«,The Sociological Review 16 (1968), S. 185-215 (186).

133 Vgl. Kap. I.4.134 Die Unterscheidung von Sachdimension und Sozialdimension wird

erst später eingehend erörtert werden können, weil dies Vorklärun-gen über Weltkonstitution durch Gesellschaft voraussetzt. Vgl. unten,Teil 4, Kap. I.2 und I.3.

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4. Wert, Programm, Rolle, Person

In der Frage, wie es zur selektiven Bestimmung des sachli-chen Sinnes von Handlungen kommt, genügt es nicht, diekonkreten Merkmale aller vorkommenden Handlungen zu-sammenzustellen und zu häufig vorkommenden, allgemeinenoder gar notwendigen Wesensmerkmalen zu aggregieren.Man muß vielmehr verschiedene Ebenen der Sinnbestim-mung unterscheiden, die in je verschiedener Weise Aspektedes Handelns festlegen und, zumindest in komplexeren Sozi-alsystemen, normalerweise nicht alle zugleich benutztwerden.In dieser Auffassung konvergieren eine Reihe neuerer Theo-rieansätze, allerdings mit erheblichen Divergenzen in derDefinition der Ebenen selbst.135 Unser Vorschlag ist, nachMaßgabe von Graden der Abstraktion Werte, Programme,Rollen und Personen im Sinne von biographisch bestimmten,gelernten Verhaltensprämissen zu unterscheiden undmit die-sen Begriffen Ebenen angemessener Negierbarkeit und damitmöglicher Bestimmbarkeit zu bezeichnen. Der Unterschiedder Ebenen liegt dann darin, daß die Negation auf der einenEbene entsprechende Kontrastbegriffe erfordert (Werte erfor-dern zum Beispiel Unwerte, aber nicht Unpersonen)136 und

135 Talcott Parsons unterscheidet bekanntlich im Rahmen des Konzeptesder Kontrollhierarchie »values, norms, collectivities, roles«. Vgl. z.B.»Durkheim’s Contribution to the Theory of Integration of Social Sys-tems«, in: Kurt H. Wolff (Hg.), Emile Durkheim 1858-1917, Columbus1960, S. 118-153 (122ff.). Neil J. Smelser, Theory of Collective Behavior,New York 1963, S. 34ff., unterscheidet »values, norms, mobilizationinto organized roles, situational facilities«. TheodoreM.Mills,The Soci-ology of Small Groups, Englewood Cliffs 1967, S. 57ff., unterscheidet»values, goals, norms, emotion, behavior«.

136 Siehe dazu die Ausführungen über »levels of contrast« am Beispiel vonKrankheitsterminologien bei Charles O. Frake, »The Diagnosis of Dis-

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daßNegationen auf der einen Ebene nicht ohne weiteres auchNegationen auf der anderen Ebene implizieren. Zwischen denEbenen bestehen dann nur limitationale Verhältnisse in demSinne, daß die Negationen der einen Ebene nur deren Hand-lungsaspekte bestimmen und zugleich einschränken, welcheBestimmungen auf den anderen Ebenen dann noch möglichsind.

Werte sind abstrakte Gesichtspunkte des Bevorzugensvon Handlungen. In sozialen Situationen fungieren sie, wenninstitutionalisiert, als fraglos voraussetzbare Prämissen derKommunikation, für die man Übereinstimmung auch bei un-bekannten Kommunikationspartnern unterstellen kann. Dasmuß auf doppelte Weise bezahlt werden: mit Lockerung desHandlungsbezuges undmit Verzicht auf Konsistenzkontrolleim Verhältnis der vielen Werte zueinander.137 Handeln kanndeshalb einem Wert genügen und andere Werte verletzen.Die »Wertordnung« schließt das nicht aus. Deshalb kannman unter Berufung auf Werte allein keine Handlungsselek-tion begründen.

Programme formulieren mit Hilfe von Zwecken oder Be-dingungen Regeln für die Bestimmung der Richtigkeit oderBrauchbarkeit des Handelns. Sie erreichen durch die Prä-tention, Wertungsdiskrepanzen zum Ausgleich zu bringen,größere Konkretheit, allerdings unter Verzicht auf universelleVerwendbarkeit und unter Verzicht auf natürlich-fragloseGeltung. IhreGeltungwird, wenn bestritten, auf Entscheidun-gen zurückgeführt, hat also denModus der Positivität. Die fürdiese Ebene der Programme geltende allgemeine Wertidee,die die für Werte selbst nicht erreichbare Konsistenz des Ne-

ease Among the Subanun of Mindanao«, American Anthropologist 63(1961), S. 113-132.

137 Dazu näher Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, S. 33ff.

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gierens ihrerseits bewertet, ist die Idee der Gerechtigkeit.138

Das erklärt ihre seit Aristoteles vieldiskutierte Ausnahmestel-lung, ihre Funktion des Maßes im Reich der Werte, die siegerade als Wert wiederum nicht erfüllen kann.

Rollen sind nochmals konkreter zugeschnittene Hand-lungsbestimmungen, die auf das mögliche Verhaltensreper-toire einer Einzelperson in standardisierten sozialen Situa-tionen bezogen sind. Die Bedeutung gerade dieses Identi-fikationsgesichtspunktes ist maßlos überschätzt worden.139

Nur ein geringer Bereich des Alltagsverhaltens ist tatsächlichrollenspezifisch festgelegt. Es handelt sich keineswegs, wiebesonders Parsons gemeint hat, um die universale Kategorieder Interpenetration, umden Elementbegriff sozialer Systemeschlechthin.140 Aber Rollen bieten, ähnlich wie Programme,eine Chance zu weitgehender struktureller Differenzierungund zugleich einen Fixpunkt für die Rekrutierung und Mo-bilisierung von Personen, der für den strukturellen Aufbaubesonders der modernen Gesellschaft unentbehrlich ist.141

Personen schließlich sind, wenn man von ihrem Charak-ter als Systeme eigener Art abstrahiert, im Kontext sozialerSysteme Komplexe von biographisch aufgebauten, gelerntenVerhaltensprämissen, die für andere Teilnehmer an sozialerKommunikation zum Orientierungsfaktor werden. Personensind in diesem Sinne zunächst ein sachlicher Orientierungs-

138 Hierzu auch Luhmann, »Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der mo-dernen Gesellschaft«.

139 Einen Eindruck von der kulturellen Variationsbreite des Ausmaßes derFestlegung durch Rollenerwartungen vermittelt John F. Embree, »Thai-land – a Loosely Structured Social System«,AmericanAnthropologist 52(1950), S. 181-193.

140 Siehe namentlich Parsons, The Social System, z.B. S. 25f., 38ff.141 Zur Besonderheit von Rollen, die als Stellen im Hinblick auf die Mobi-

lisierung der Personen und der Programme rationalisiert werden, sieheunten, Teil 2, Kap. III.2(c).

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faktor, der sowohl die Kommunikation mit ihnen als auchdie Kommunikation über sie limitiert und dadurch zur Hand-lungsbestimmung beiträgt.

DieOrientierungsfunktion von Personalität erfordert kon-krete Stereotypisierungen, die das psychische System, das ge-meint ist, wie ein Korsett einfassen können; vorliegende Er-fahrungenmit bestimmten Personen gerinnen zur Regel, undweder Fremdeinschätzung noch Selbsteinschätzung könnenunter dem Zwang, eigene Selektionen einzuschließen, das ge-nau undwirklichkeitsgerecht erfassen, was an systematisierterpsychischer Wirklichkeit vorliegt.142 Diese Festlegung durchdas, was die Person zu zeigen gelernt hat, ist nicht zu verwech-seln mit der Festlegung durch Rollen. Sie erfordert gerade Di-stanz von und Spielraum in Rollen,143 wirkt dann aber sehrviel drückender und verpflichtender, weil individueller zuge-schnitten und mit eigener Beteiligung zustande gekommen.

Die Spezifikation dieser Ebenen ist, wie einleitend ange-deutet, vor allem eine solche möglicher Negationen. DieseSpezifikation orientiert, ohne festzulegen: Man kann denWert der Gesundheit zurücksetzen oder die Rolle als Mutterablehnen. Jede solcher Negationen führt dann aber in einensehr begrenzten Optionsraum, dessen Antizipation denWertbzw. die Rolle schützen und halten kann (aber nicht muß).Und obwohl Gesundheit oder Mutter keine Person ist, läßt

142 Siehe hierzu auch den Begriff des »Individualitätsmusters« bei Hein-rich Popitz,Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischenTheorie, Tübingen 1967, S. 15f. Zum Grade der Selbstbindung an dieeigene Biographie und zu Dispositionsfreiheiten in Ausnahmesituatio-nen vgl. auch Erving Goffman, The Presentation of Self in Everyday Life,Garden City 21959, insb. S. 218ff., und Sherri Cavan, Liquor License: AnEthnography of Bar Behavior, Chicago 1966.

143 Dazu als Forschungsüberblick Lothar Krappmann, Soziologische Di-mensionen der Identität, Stuttgart 1971, S. 133ff.

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Bejahung ebensowieVerneinung dieserGesichtspunkte nichtmehr beliebig viele Möglichkeiten offen, Person zu sein.

Auf allen diesen Ebenen, also auch durch das Person-sein, werden nur Verhaltensprämissen festgelegt und nichtdie Handlungen selbst. Die konkreten Handlungen werdenerst in der Situation »ausgehandelt«, und dabei kann dieSituation Verstöße gegen die Prämissen nahelegen. Werte,Programme, Rollen und Personen präformieren die Sinn-haftigkeit eines Handlungsrahmens in zumeist normativeroder quasinormativer Weise, aber sie schließen weder je fürsich noch insgesamt abweichendes Verhalten zwingend aus –ganz abgesehen davon, daß es zumindest in allen komple-xeren Gesellschaften auch Sinngebung für abweichendesVerhalten durch »subkulturelle« Werte, Programme, Rol-len oder Persontypisierungen (»Stigmatisierungen«) gibt.144

Diese Feststellung ist nur ein Korollarium der These, daßpersonales und soziales System nicht kongruent, sondernwechselseitig füreinander Umwelt sind. Werte, Programme,Rollen und Personen leisten nur die Interpenetration zure-chenbaren Handelns in das soziale System, nicht aber ohneweiteres auch die volle »Sozialisation« bzw. soziale Integrationder psychischen Systeme in dem Sinne, daß diese dann dasentsprechende Verhalten ohne weiteres als eigenes wollen.145

144 Unsere Analyse führt uns demnach nicht zu der gelegentlich vertrete-nen Auffassung, daß die Grenzen des sozialen Systems auf der Schnitt-linie zwischen konformem und abweichendem Verhalten verliefen. Soz.B. Kai T. Erikson, »Notes on the Sociology of Deviance«, Social Prob-lems 9 (1962), S. 307-314 (309); ders.,Wayward Puritans: A Study in theSociology of Deviance, New York u. a. 1966, insb. S. 9ff.

145 Hier liegt eine grundsätzliche Differenz zur Parsonsschen Theorie. FürParsons ist die Hierarchie von Wert/Norm/Kollektivität/Rolle nichtnur eine solche der Sinnbestimmung des Handelns, sondern damit zu-gleich, ja unterschiedslos, auch die Sozialisation psychischer Systemeselbst mit der Folge, daß Sozialisationseffekte überschätzt oder jeden-

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Und auch diese Aussage müssen wir nochmals einschrän-ken. Weil nämlich sachlicher Sinn Handlungsselektionennicht determiniert, wird selbst dann, wenn man die situativin Frage kommenden Werte, Programme, Rollen und Perso-nen kennt oder zu kennen meint, immer noch eine zweite,spezifisch soziale Sinndimension relevant. Sie bezieht sich aufdas Problem doppelter Kontingenz und steckt in der Frage,zu welchem Erleben und Handeln der jeweils andere sichin einer solchen Lage faktisch motivieren läßt. Erst in die-ser Dimension wird Freiheit thematisch – auch und geradedann, wenn man Zwang auszuüben versucht. Die Interpene-tration über sachlich-sinnhafte Identifikationsgesichtspunktebesagt nämlich nur, daß nach Maßgabe des Abstraktionsgra-des der jeweils gewählten Sinnebene Wahlfreiheiten möglichsind; erst in der Sozialdimension werden sie als Verhaltens-kontingenz des jeweils anderen zugeschrieben und konkretin Anspruch genommen. Und beides ist Voraussetzung fürInterpenetration. Und beides führt nicht zu einer sozialenDetermination oder Inkorporation psychischer Systeme.

5. Moral

Der Begriff der Interpenetration auf der Basis der bleibenden(nicht: aufgehobenen!)Unterscheidung personaler und sozia-ler Systeme einerseits und die Unterscheidung von sachlich-sinnhafter und sozial-kontingenter Interpenetration anderer-seits bieten uns den Ausgangspunkt für eine soziologischeBehandlung von Moralen. Im Gegensatz zur Durkheim-Parsons-Tradition grenzen wir den Moralbegriff deutlich

falls in ihremErklärungswert für den Bestand komplexer Sozialordnun-gen überschätzt werden.

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ab sowohl gegen Prozesse der Sozialisation, mit denen so-ziale Systeme, und dies keineswegs nur als Moralen, sondernzum Beispiel auch als Sprachen, die Strukturbildung in psy-chischen Systemen beeinflussen; und ferner gegen diejeni-gen Sinnstrukturen wie Werte oder Normen oder Rollen,die Handlungsintentionen inhaltlich vorprägen, um sie zudifferenzieren und situativ anwendbar zu machen. Wir be-ziehen den Begriff der Moral statt dessen auf die spezifischeFunktion, Interpenetration personaler in soziale Systeme insozialer Hinsicht, also mit Rücksicht auf doppelkontingenteSelektivität, zu ermöglichen.

Sobald Ego und Alter aus welchen (zufälligen) Gründenimmer in eine Beziehung mit doppelkontingenter Selektivi-tät geraten, sich wechselseitig Handlungen zurechnen undinfolgedessen jeweils füreinander Alter Ego sind, wird für dieOrientierung in diesem Selektionszusammenhang und fürdessen Fortsetzung die Frage relevant, wie die Beteiligten jefür sich ihr Ego-und-Alter-und-Alter-Ego-Sein integrieren.Mead hatte diesen Prozeß »taking the role of the other« ge-nannt.146 Jeder ist gehalten, die Selektivität des anderen indie eigene Identitätsformel einzubauen, denn nur so kann erseine Operationen in dieser Beziehung fortsetzen. Das kannauf sehr verschiedene, sehr individuelle Weise geschehen jenach den Ausgangsbedingungen in der psychischen Struk-tur und ihrer persönlichen Geschichte. Zugleich ist aber dieFrage, wie der einzelne dieses Problem löst, von eminent so-

146 Siehe George H. Mead,Mind, Self and Society from the Standpoint of aSocial Behaviorist, Chicago 1934, insb. S. 254, 354ff. ; ders., The Philoso-phy of the Act, Chicago 1938, passim. Vgl. auch Ralph Turner, »Role-Taking: Process Versus Conformity«, in: Arnold M. Rose (Hg.), Hu-man Behavior and Social Process: An Interactionist Approach, Boston1962, S. 20-40. Inzwischen hat sich in der Soziologie jedoch ein anders-artiges Verständnis des Rollenbegriffs durchgesetzt.

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zialem Interesse. So ist es nahezu unvermeidlich, daß darüberdirekt oder indirekt kommuniziert wird.

Das Problem ist aber infolge der perspektivischen Ver-schränkung für Kommunikation, ja zumeist sogar für Be-wußtseinsleistungen viel zu komplex. Es wird für die Beteilig-ten so nicht zugänglich. Viel mehr als die einfache Relativitätvon Ich/Du-Bezeichnungen, die klarstellt, daß jeder weiß, wergemeint ist, kannman einemnormalenKommunikationspro-zeß nicht zumuten. Daher wird über die Integration der wech-selseitig verschränkten Perspektiven und Identitäten nur invereinfachter Form kommuniziert. Als Indikator für einen ak-zeptierbaren Einbau des Ego als Alter und als Alter Ego in dieSichtweise und Selbstidentifikation seines Alter dient der Aus-druck von Achtung und die Kommunikation über Bedingun-gen wechselseitiger Achtung. Das Gelingen perspektivischintegrierter Kommunikation wird mit Achtung entgolten,was durchaus kompatibel sein kann mit Vorteilen und mitNachteilen auf der Ebene der Interessen.147 Ego achtet Alterund zeigt ihmAchtung, wenn er sich als Alter imAlter wieder-findet, wiedererkennen und akzeptieren kann oder doch ent-sprechende Aussichten zu habenmeint.Mit Hilfe einer derartvereinfachtenKommunikation überAchtung kannman dannneue Ebenen der Subtilität erreichen, kann direkt sagen oderauch andeuten oder erraten lassen, welches Erleben und Han-deln Achtung einträgt und mit welchen Graden der Relevanz,der Dauer, Gewöhnlichkeit oder der Außergewöhnlichkeit.

147 Anders ein in der angelsächsischen Literatur verbreiteter Moralbegriff,der bei gelungener reziproker Gratifikation von Interessen ansetzt unddann nicht mehr verständlich machen kann, wie es zu altruistischenMoralen oder gar zur Moralisierung von Ungleichverteilungen kom-men kann. Ein typisches Beispiel: Alvin W. Gouldner, The ComingCrisis of Western Sociology, London 1971, insb. S. 266ff., trotz einer ein-gehenden Erörterung der soziologischen Kritik des Utilitarismus!

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Moral ist danach für Personen ebenso wie für soziale Sy-steme verfügbar nur auf Grund eines Mindestmaßes an Kom-petenz zur Herstellung und gedanklichen Kontrolle von Rela-tionen zwischen kontingenten Sachverhalten. Diese Einsichtin »kognitive«, wenn nicht »rationale« Gehalte der Moral istnamentlich durch die neuere Entwicklungspsychologie geför-dert worden.148 Sie läßt sich sehr gut mit einem funktionalenMoralbegriff in Einklang bringen, der zugleich Nebenbedeu-tungen und Fehlassoziationen im Bereich der Begriffe »ko-gnitiv« und »rational« eliminiert und das zu lösende Problemschärfer fixiert.

Die Gesamtheit von Bedingungen wechselseitiger Ach-tung oder Nichtachtung macht die Moral einer Gesellschaftaus. Über Moral reduziert ein Sozialsystem mithin für sichselbst die Komplexität doppelter Kontingenz in einer Weise,die imVerhältnis zurUmwelt personaler Systeme scharf selek-tiert. Die dabei thematisierten Achtungsbedingungen könnenmehr oder weniger erwartbar vorformuliert sein. Sie brau-chen dann nicht fallweise im Interaktionskontext erfunden,entwickelt und plausibel gemacht zu werden. Sie können stan-dardisiert und aufgezeichnet werden. Sie können gruppen-spezifischen Konsens erreichen, aber auch gesellschaftsweitinstitutionalisiert sein und dann auch für Kommunikationmit Unbekannten gelten. Sie sind in dieser formulierten Fas-sung selbst wieder mögliche Themen der Kommunikation,schließlich sogar Themen »praktischen« Philosophierens.Derart verfestigte, tradierbare Sinnkomplexe einer vertexte-

148 Vgl. im Anschluß an Jean Piaget, Le jugement moral chez l’enfant, Paris1927, Lawrence Kohlberg, »Stages of Moral Development as a Basis forMoral Education«, in: C.M. Beck u. a. (Hg.),Moral Education: Interdis-ciplinary Approaches, Toronto 1971, S. 23-92; ferner David P. Ausubel,»Psychology’s Undervaluation of the Rational Components in MoralBehavior«, in: Beck u. a. (Hg.),Moral Education, S. 200-227.

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ten Moral dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daßes letztlich die kommunikative Verwendung ist, die einemSinngehalt oder Zeichen eine moralische Qualität verleiht,es gleichsam als Indikator für den Indikator kompatiblerEgo/Alter-Integrationen fungieren läßt. Moral ist ein Pro-zeß. Wir werden daher bevorzugt von »Moralisierung« vonThemen, Symbolen, Strukturen sprechen, um das Ausmaßzu bezeichnen, in dem Sinngehalte zur Kommunikation oderMetakommunikation der Bedingungen menschlicher Ach-tung verwendet werden.149

Wenn Themen in dieser Weise im Kommunikationspro-zeß als Achtungsbedingungen fungieren, ist zu erwarten, daßein Zusammenhang besteht zwischen der Form, in der Egound Alter sich wechselseitig auffassen, und der Form des mo-ralischen Urteils. Ein solcher Zusammenhang läßt sich in derTat aufdecken, und zwar nicht nur als schlichter Bedingungs-,sondern als Variationszusammenhang. Einfache Moralen be-urteilen die Tat als solche. Ihre Themen sind Tatbilder, diemoralisch qualifiziert werden. Der Schritt zu komplexeren, ra-tionaleren Moralen liegt im Übergang von solchen einfachenRelationen zur Form der Relationierung von Relationen. DieTatbilder werden aufgelöst in Relationen zwischen Intentionvon Verhalten. Das moralische Urteil bezieht sich auf dieseRelation, es relationiert diese Relation in Richtung auf Ach-tungserweis oderAchtungsentzug.Dabei wird unterstellt, daßIntention und Verhalten unabhängig voneinander variierenkönnen; daß die Intention ohne entsprechendes Verhaltenvorkommen, aber auch dem Verhalten die Intention fehlenkann. Die Erscheinungstypik der Intentionen bzw. Verhal-tensweisen wird durch Relationierung selektiv behandelt, dasheißt abstrahiert. Nur der Fall der Entsprechung zählt. So-

149 Vgl. für weiterführende Analysen unten, Teil 3, Kap. II.12.

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bald das moralische Urteil mitsamt seinen Konsequenzenauf einen solchen Grundtatbestand bezogen wird, muß dermoralische Code selbst abstrahiert werden. Er bezieht sichdann, wie der klassische Kanon der Ethik lehrt, auf ein freigewähltes, intentionales Handeln.

Erst mit dieser Relationen relationierenden Form vonMoral wird eine Reflexion auf die Bedingungen der Morali-tät, wird eine moralische Theorie möglich. Im Unterschiedzu den »kleinen Traditionen« der Volksmoral entsteht die»große Tradition« der literarisch formulierten Ethik, die sichin einer vom faktischen Verlauf des moralischen Urteilensmehr oder weniger abgehobenen Weise mit kosmologischen,religiösen und politischen Symbolbeständen verbindet. Ge-gen sie kann mit innovativem Anspruch auf eine neue Moralrebelliert werden. Im Anschluß daran läßt sich auch einereine Gesinnungsethik formulieren, die den relationalen Be-zug auf Verhalten wieder negiert. Da aber Intentionen undGesinnungen, die sich im Handeln nicht äußern, erfragt wer-den müssen, bleibt sie Stückwerk ohne soziale Relevanz. Diebloße Absicht, den Heldentod zu sterben, sein Vermögen andie Armen zu verschenken oder das Haus des Nachbarn an-zuzünden, gibt allenfalls Anlaß, vorläufige, aber suspendiertemoralische Urteile zu bilden und für den Fall in Aussicht zunehmen, daß ein entsprechendes Verhalten erfolgt.

Mit diesen Ausführungen ist ein Moralbegriff skizziert,der in einigen Punkten von üblichen Moralvorstellungen ab-weicht. Es lohnt sich daher, einige weitere Aspekte dieserKonzeption im Verfahren der Kontrastierung zu verdeutli-chen. Zunächst und vor allem: Moral wird hier nicht aufder Basis eines Normbegriffs definiert als ein Bestand vonNormen besonderer Art.

Moralische Sinngehalte sind, wenngleich keine Moralganz ohne Normen auskommen wird, nicht notwendig nor-

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mativ abgefaßt; sie werden nicht notwendigerweise als kon-trafaktische Verhaltenszumutungen abgefaßt, die auch imEnttäuschungsfalle durchgehalten werden sollen.150 Einebesonders hohe Korrelation von normativer Erwartungs-form und Moralisierung ist zwar gerade für die europäischeTradition bezeichnend gewesen. Aber es gibt nicht nur mo-ralfreie Normen, sondern auch moralische Gesichtspunkte,die nicht die Form von Normen annehmen. So werden im-mer auchmeritorisch formulierte Gesichtspunktemoralisiert,nämlich Möglichkeiten, sich durch »supererogatorische« Lei-stungen Achtung zu verdienen, deren Realisierung nichterwartet werden kann und die, wenn sie ungenutzt bleiben,auch nicht enttäuschen.151 Ein Grundmotiv dafür scheint dieMöglichkeit zu sein, durch Vorleistung zu Dankbarkeit zuverpflichten.

Während die genaue Form der Symbolstruktur von Mo-ralen wechseln oder auch unklar bleiben kann, ist für Moralimmer ein hohes Maß an Normalisierung erforderlich, unddaran hängen implizite, nicht kommunikationsbedürftigeSanktionen. Die Differenz von normalem/anormalem Ver-halten betrifft nicht die bloße Häufigkeit der Fälle und auchnicht die Proportion der Verteilung auf normal und anor-mal im Rahmen eines bestimmten Verhaltenstyps. Gewiß

150 Zu diesemNormbegriff näher Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, Bd. I,Reinbek 1972, S. 40ff.

151 Der Begriff der »opera supererogationis« entstammt theologischen Tra-ditionen, die an Interpretationen des Todes Jesu anknüpfen. Für neuereBehandlungen des Verhältnisses von supererogatorischen Leistungenund normativ regulierterMoral vgl. RoderickM. Chisholm, »Superero-gation and Offence: A Conceptual Scheme for Ethics«, Ratio 5 (1963),S. 1-14; Michael Stocker, »Supererogation and Duties«, in: Nicholas Re-scher (Hg.), Studies in Moral Philosophy: Essays, Oxford 1968, S. 53-63;Joel Feinberg,Doing and Deserving: Essays in the Theory of Responsibil-ity, Princeton 1970.

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wird Normalität und Anormalität nur an bestimmten Ver-haltensweisen erkennbar; es ist zum Beispiel normal, daßman im Winter seine Wohnung heizt, um nicht zu frieren,und man würde es als anormal empfinden, wenn Leute lieberfrieren als heizen. Die Etikettierung als normal/anormal hataber nicht den Sinn, diese Häufigkeit festzustellen und dasVerhalten ihr zuzuordnen; sie regelt vielmehr Vermutungenfür andere Fälle. Wer sich in einer Hinsicht anormal verhält,wird dies vermutlich auch in anderen Hinsichten tun – essei denn, daß er Gründe produzieren kann, die den Bereichseiner Anormalität einschränken.152 Normalität/Anormalitätist mithin ein Schema der Generalisierung quer zu den Situa-tions- und Verhaltenstypen, ein Schema der Generalisierungvon Erwartungen. Normalisierung stützt nun wie durch eineArt Terrainvorbereitung Moralisierungen – aber nicht durchKongruentsetzung der beiden Schematisierungen, sondernin der Weise, daß das vom Normalen aus gesehen Anormaleentweder Mißachtung (Unfähigkeit, Delinquenz) oder Hoch-achtung (Heldentum, Askese) einträgt und darüber dieMoralentscheidet. Im Kontrast dazu erscheint dann das Normaleals gut und als »gewöhnlich«.153

152 Siehe hierzu das Beispiel der Versuche zur Normalisierung von Sym-ptomen psychischer Erkrankungen bei Charlotte G. Schwartz, »Per-spectives on Deviance: Wives’ Definitions of Their Husbands’ MentalIllness«, Psychiatry 20 (1957), S. 275-291. Vgl. auch Fred Davis, »Devi-ance Disavowal: The Management of Strained Interaction by the Vis-ibly Handicapped«, Social Problems 9 (1961), S. 120-132.

153 Strenggenommen führt diese Analyse bereits über die allgemeine Theo-rie sozialer Systeme hinaus. Erst in hochkulturellen Gesellschaftsord-nungen scheint es zu einer nennenswerten Inkongruenz von Norma-lisierungen und Moralisierungen und zu einer entsprechenden Am-bivalenz der Bewertung des Normalverhaltens als einerseits gut undin Ordnung und andererseits nur normal, nur gewöhnlich zu kom-men.

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Weiter ist zu beachten, daß die Funktion und die Re-duktionsleistung von Moralisierungen zunächst nicht in derMotivation zu moralischem im Gegensatz zu unmoralischemVerhalten besteht, sondern in der Orientierung an der Dis-junktion von Moral und Unmoral.154 Daß man überhauptauf Achtungsbedingungen achtet, strukturiert die Situation,wie immer man sich dann konkret verhält. Dies festzuhaltenist gerade für eine Gesellschaftstheorie wichtig, weil Form-veränderungen der Moral im Laufe der gesellschaftlichenEvolution sicher nicht als zunehmendmoralisches oder als zu-nehmend unmoralisches Verhalten begriffen werden können– die Menschen werden nicht immer besser, aber auch nichtimmer schlechter –, sondern nur als zunehmende Ausdif-ferenzierung, Generalisierung und Spezifikation derjenigenBedingungen, von denen Achtung undMißachtung abhängiggemacht wird.155

154 So auch einer der wichtigsten Beiträge zu einer soziologischen Theo-rie der Moral: Jan J. Loubser, »The Contribution of Schools to MoralDevelopment: AWorking Paper in the Theory of Action«, Interchange1 (1970), S. 99-117, insb. S. 99, 103. Auch hier finden wir übrigens jeneEigentümlichkeit wieder, die uns schon amBegriff der Komplexität auf-gefallen war: daß der Moralbegriff eigentlich nicht als Gattungsbegriff– Loubser sagt »generic term« – zu Moral und Unmoral interessiert,sondern als Relation (hier: Disjunktion) zwischenMoral undUnmoral,die beide erst von der Relation zwischen ihnen ihre Qualität erhalten.

155 Die auf Parsonsschen Grundlagen entwickelte Moraltheorie vonLoubser muß entsprechend relativiert werden. Sie bezeichnet diejenigeKombination von »pattern variables«, die noch möglich, aber zuneh-mend schwierig zu erreichen ist, wennman wechselseitige Achtung un-ter Menschen mit den Orientierungsrichtungen »quality« (nicht: »per-formance«) und »diffuseness« (nicht »specificity«) sicherstellen will,zugleich aber in der modernen Gesellschaft eine durchgehende mora-lische Integration nur erreichen kann, wenn die Orientierung im Hin-blick auf die Gefühlslage neutral (nicht affektiv) und universalistisch(nicht partikular) ausfällt.

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Ferner kappen wir die begriffliche Assoziation von Moralund Konsens. Eine normativeMoral muß sozusagen Konsensmitnormieren; denn es hat keinen Sinn, die Befolgung einerNorm zu verlangen, der zuzustimmen man nicht gehalten ist.Gehtmandagegen vonBedingungenwechselseitigerAchtungaus, dann ist die Nichtidentität der Selektionsstandpunkteund Perspektiven konstitutiv in die Moral eingebaut. MitAchtung wird nicht Konsens honoriert – das wäre überflüssigund banal –, sondern der gelungene Einbau des jeweiligenAlter in die operative Identität des eigenen Ich. Dieser Begriffder Moral läßt mithin die Frage des Umfangs erreichbarenKonsenses offen. Man kann sehr wohl verstehen und achten,ohne selbst die entsprechenden Meinungen oder Handlungs-weisen zu akzeptieren. Moral ist ein für alle Schattierungenvon Konsens und Dissens empfindliches Instrument, aberkompatibel mit Situationen, in denen Konsens oder Dissensgegen Null tendieren.

Gegenüber einer vorherrschenden, allzu friedlich gestimm-ten Moralauffassung fallen somit eher die »polemogenen«,156

Streit entfachenden Züge der Moral ins Auge. Wenn schonAnsatzpunkte für Konflikte vorhanden sind, tendiert eineMoralisierung zur Generalisierung des Konfliktsstoffs (wäh-rend die Bezugnahme auf Recht ihn einschränkt).157 Denndie Frage der Achtung auch nur als Frage zu stellen treibtdie Probleme auf die Spitze und tendiert zum Konflikt. Sie

156 Vgl. Julien Freund, Madrider Vortrag [Druck: Julien Freund, »Ledroit comme motif et solution des conflicts«, in: Luis Legaz y Lacam-bra (Hg.), Die Funktionen des Rechts. Vorträge des Weltkongresses fürRechts- und Sozialphilosophie,Madrid, 7.IX.-12.IX.1973 (Beiheft 8 des Ar-chivs für Rechts- und Sozialphilosophie), Wiesbaden 1974, S. 47-84].

157 Siehe als ein anschauliches Beispiel Troy Duster, The Legislation of Mo-rality: Law, Drugs, and Moral Judgment, New York, London 1970.

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bezieht das jeweilige Thema auf personale Identität, die wie-derum mit anderen Themen verwachsen ist. Deshalb wähltder moralische Impuls zumeist denWeg der indirekten Kom-munikation, der bloßen Anspielung, des Wissenlassens, daßbei bestimmtenThemenAchtungsfragen involviert sind. Eineoffene Moralisierung, die im gleichen Zuge auch die Bedin-gungen der Selbstachtung festlegt und den Sprecher engagiert,ist immer auch ein (mehr oder weniger gewagtes) Konflikt-angebot.

Ebensowenig wie Normativität und Konsens impliziertunserMoralbegriff Gleichheit derjenigen, die einander Bedin-gungen wechselseitiger Achtung zuflaggen. Es gibt durchaushierarchisch strukturierte Moralen, die die wechselseitigeAchtung auf Über- bzw. Unterordnung gründen, und zwarnicht nur auf einem entsprechendenArrangement von Stellenund Aufgaben, sondern auf einer Über- bzw. Unterordnungder Personen selbst.158 Diese identifizieren sich selbst dannals jemand, der seinen Alter über bzw. unter sich hat, undmachen Achtungserweise abhängig davon, daß der anderesich dem im Selbstidentifikationsprozeß zugewiesenen Rangentsprechend verhält. Es gibt dann durchaus moralische Ar-gumente gegen denHerrn, der sich gemeinmacht. Daß solcheKommunikationsmoralen vorkommen, kann nicht gut be-

158 Zu hierarchischmoralisierter Kommunikation siehe auf Grund literari-scher QuellenHughDalziel Duncan,Communication and Social Order,NewYork 1962. Eine der wichtigsten Fragen in diesemZusammenhangbleibt, ob man unsere christliche Tradition zu der empirischenAussageverallgemeinern darf, daß hierarchische Kommunikation immer dieMetakommunikation einer die Hierarchie transzendierenden Gleich-heit, also eine Art transzendentale Egalisierung der Partner voraussetzt,oder ob dies nur ein Erfordernis der Perfektion und Selbstbegründunghierarchischer Kommunikation ist.

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strittenwerden,159 dasGleichheitspostulat kann deshalb nichtempirisch, sondern nur normativ eingeführt werden, setztalso einen normativen Moralbegriff voraus.

Andererseits hat unser Moralbegriff Merkmale, die ihnim Vergleich zu den Moralvorstellungen heutiger Morali-sten nicht nur ausweiten, sondern auch einengen. WährendNormen zu gelten beanspruchen, ob man sie befolgt odernicht, kommt es auf Achtung mehr oder weniger an – je nachMaßgabe näher zu erforschender Umstände. Sicher ist eineIntegration des Alter in die jeweils fungierende Ich-Formelam wichtigsten und unentbehrlichsten in der unmittelbarenInteraktion unter Anwesenden. Hier wird sehr rasch sichtbar,ob die Integration gelingt oder nicht, und die Reaktion daraufbestimmt denweiterenVerlauf der Interaktion. Entsprechendist die Interaktion abhängig von laufendem Achtungserweisund laufender Metakommunikation über Achtung. Selbst imInteraktionssystem eines physischen Kampfes bringt mannoch zum Ausdruck, ob man den Gegner als kräftig undgeschickt achtet oder nicht. Für interaktionsferne Sozialbe-ziehungen gilt dies dagegen nicht in gleichem Maße. Hierlockert sich das Erfordernis, die räumliche und zeitliche Un-mittelbarkeit derMoral, sie verliert ihre Zwangsläufigkeit undgewinnt dafür an Reichweite unter Einbeziehung von Abwe-senden und von noch unbekannten Situationen. ImAnschlußan diese Überlegungen werden wir weiter unten Thesen zumGestaltwandel der Moral im Laufe der gesellschaftlichen Ent-wicklung formulieren.160

159 Eine ganz andere Frage ist, wieweit solche Moralen auch zur gesamtge-sellschaftlichen Legitimation des Weltbildes und der Rechtfertigungs-mythen herrschender Schichten führen. Dies ist vermutlich in jeweilssehr viel geringerem Umfange der Fall gewesen.

160 Vgl. Teil 1, Kap. IV.3; Teil 3, Kap. II.12.

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6. Generalisierung von Verhaltenserwartungen

Ist gewährleistet, daß Selektionen die Form autorisierten, zu-rechenbaren Handelns annehmen, sind in sozialen Systemenweitere Ordnungsleistungen möglich, die der Erhaltung dop-pelkontingenter Selektivität dienen. Das Strukturproblemkann auf die Ebene generalisierter Verhaltenserwartungenund Erwartungserwartungen verlagert werden, die Diffe-renz zwischen System und Umwelt kann als Sinngrenze zurRegelung eines Komplexitätsgefälles benutzt werden, undSystemprozesse können zu Kommunikationsprozessen wer-den, die (absichtlich oder unabsichtlich) über Selektioneninformieren, wenn vorausgesetzt werden kann, daß alldemein letztlich klärbarer Handlungsbezug zugrunde liegt. Wirwenden uns zunächst dem Strukturproblem zu.

Die Verlagerung des Strukturproblems auf die Ebene gene-ralisierter Verhaltenserwartungen oder Erwartungserwartun-gen erbringt einen größeren Reichtum an Ordnungsmöglich-keiten und wird damit zur Grundlage des Aufbaus komplexerSysteme und des Ablaufs entsprechender Kommunikati-onsprozesse.161 Bei Systemen, die sich durch Erwartungenstrukturieren, kann die Struktur nicht mehr als bloße Häu-figkeitsverteilung162 oder gar als Kausalbeziehung faktischerVorkommnisse ausgedrückt werden. Über Erwartungen kann

161 Die folgenden Ausführungen bringen eine abstraktere Fassung einesfrüheren Entwurfs. Siehe Niklas Luhmann, »Soziologie als Theorie so-zialer Systeme«, in: ders., SoziologischeAufklärung 1: Aufsätze zur Theo-rie sozialer Systeme, Opladen 31972, S. 113-136 (120ff.).

162 Einen Strukturbegriff, der auf Häufigkeitsverteilungen abstellt, bevor-zugt z.B. Peter M. Blau, »Structural Effects«, American SociologicalReview 25 (1960), S. 178-193; ders., Exchange and Power in Social Life,New York u. a. 1964, z.B. S. 13 oder S. 254, mit dem Argument, daßes in Sozialordnungen auch andere Regelmäßigkeiten gäbe als die, die

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das System sich auch auf bloße Möglichkeiten einstellen, underwarten kann man auch, daß etwas nicht geschieht. DurchVirtualisierung und durch Negation wird für den Prozeß derselektiven Abstimmung ein größerer thematischer Einzugs-bereich gewonnen. Ego kann zum Beispiel anbieten, einebestimmte Möglichkeit nicht zu verwirklichen, damit Altereine bestimmteMöglichkeit verwirklicht. EineVerständigungdarüber setzt voraus, daß beide beides und anderes erwartenkönnen.

Diese Steigerung sachlicher Kombinationsmöglichkeitenhängt offensichtlich zusammenmit der Ausdehnung des Zeit-horizontes, genauer gesagt: mit der Aufnahme nichtaktuellerZeiträume in die gegenwärtige Struktur. In der Struktur ei-nes sozialen Systems werden Vergangenheit und Zukunft»vergegenwärtigt«, das heißt zur Gegenwart gemacht. Indiesem Sinne ist sowohl gemeinsame Erinnerung als auchgemeinsame Erwartung ein je gegenwärtiges Funktionser-fordernis. Es gibt keine funktionsfähigen sozialen Systemeohne ein Minimum an Erinnerung und Erwartung, unddies setzt wiederum eine bewußte Verfügung über Nega-tionen voraus, nämlich die Fähigkeit, sich gegenwärtig anetwas zu orientieren, was (gegenwärtig) nicht gegeben ist.Die strukturelle Stabilisierung eines Sozialsystems erstrecktsich mithin auch auf seine gegenwärtige (erinnerbare) Ver-gangenheit und seine gegenwärtige (erwartbare) Zukunft –was nicht auch heißt: auf vergangene bzw. zukünftige Ge-genwarten.163 Damit wird unter anderem die Möglichkeit

in Erwartungen, Normen oder Werten zum Ausdruck kommen. Dassoll natürlich nicht bestritten werden. Wir sehen jedoch, da wir denStrukturbegriff auf Reflexionsmöglichkeiten im System selbst beziehenwollen, davon ab, jede Regelmäßigkeit als Struktur zu bezeichnen.

163 Zu dieser Unterscheidung und zur in ihr vorausgesetzten Reflexivitätvon Zeitbestimmungen Luhmann, »Weltzeit und Systemgeschichte«.

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normativer (kontrafaktischer und insofern zeitfester) oderkognitiver (lernfähiger und insofern zeitlich anpassungsfähi-ger) Stabilisierung von Erwartungen gewonnen.164

Diese ausweitenden Generalisierungen in sachlicher undzeitlicher Hinsicht erfordern korrespondierende Problemlö-sungen in der Sozialdimension. Sie lassen sich als Komplexi-tätsgewinne nur halten und ausbauen, wenn die Erwartungenin sozialer Hinsicht reflexiv werden, wenn also Egos Erwar-tungen sich nicht nur auf das Verhalten, sondern auch auf dieErwartungenAlters erstrecken können, und dies nicht nur aufdessen Erwartungen im allgemeinen, sondern auch und spe-ziell auf dessen Erwartungen in bezug auf das Verhalten vonEgo selbst. Nur unter dieser Voraussetzung, daß jeder erwar-ten kann, was andere von ihm erwarten, läßt sich eine sach-lich und zeitlich ausgeweitete Selektivität sozial abstimmen:Nur so hat die Antizipation genug reduzierende Kraft, indemsie dem eigenen Verhalten nicht nur am unsicheren, durchdie Freiheit des Gegenhandelns anderer unberechenbaren Zu-kunftserfolg Grenzen setzt, sondern zusätzlich auch an dengegenwärtig erwartbaren Erwartungen der anderen. Und nurso kann die Komplementarität des Erwartens verschiedenarti-ger Verhaltensweisen von Ego und Alter (im Unterschied zubloß gemeinsam-gleichartigem-gegenwärtigem Handeln) si-chergestellt werden.165 »Kategorisch« kann dannnur noch ein

Angemerkt sei noch, daß die Verfügung über Leistungen dieser Art,nicht aber auch die Verfügung über das Bewußtsein von Leistungendieser Art oder gar über eine entsprechende theoretische Konzeptionzu den Konstitutionsvoraussetzungen sozialer Systeme gehört.

164 Zu dieser Unterscheidung näher Luhmann, Rechtssoziologie, S. 40ff.165 Der Sache nach war dies ein Zentralthema der Freiheitsphilosophie des

deutschen Idealismus – nicht zufällig in einer Zeit, in der die bürgerli-che Gesellschaft organisierte Arbeit und Tausch in neuen, abstrakterenFormen integrieren mußte. In der Soziologie wird dieses Problem der

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Imperativ sein, der die Erwartungsposition anderer einnimmtund generalisiert.

In dem Maße, als dieses Potential zur sachlichen, zeitli-chen und sozialen Generalisierung von Verhaltenserwartun-gen Informationen über eine mit dem System nicht identi-scheUmwelt ausgesetzt wird,166 entstehen bestimmte System-strukturen, die dieMöglichkeiten selektiver Akkordierung be-grenzen und bestimmen. Auf Grund dieser Entstehungsweisesind solche Strukturen selbst immer schon Selektion mit derFunktion, weitere Selektionen zu steuern.Das Systemoperiertseiner Umwelt gegenüber mithin in der Form doppelter Selek-tivität durch Struktur und Prozeß. Es kann seine Selektivitätder Umwelt gegenüber dadurch immens verstärken, sich alsoeiner komplexeren Umwelt aussetzen. Im System selbst kanndie Selektivität der Struktur zunächst in bloßem Erleben – daßes so und nicht anders ist – registriert werden. Eine Selektionvon Strukturen durch systemeigeneHandlung, also zurechen-bare Strukturselektion etwa in der Form von Rechtsetzung,erfordert besondere Vorkehrungen, die nicht für soziale Sy-steme allgemein vorausgesetzt werden können.

Komplementarität des Erwartens verschiedenartigen Verhaltens heutevor allem im Anschluß an Formulierungen von Parsons diskutiert.Vgl. Parsons, The Social System, S. 38ff. ; ders., Shils (Hg.), Toward aGeneral Theory of Action, S. 14ff. Vgl. dazu Johan Galtung, »Expec-tations and Interaction Processes«, Inquiry 2 (1959), S. 213-234; AlvinW. Gouldner, »The Norm of Reciprocity: A Preliminary Statement«,American Sociological Review 25 (1960), S. 161-178; ferner z.B. RagnarRommeveit, Social Norms and Roles: Explorations in the Psychology ofEnduring Social Pressures, Oslo 1955, S. 44ff. ; John P. Spiegel, »TheResolution of Role Conflict Within the Family«, Psychiatry 20 (1957),S. 1-16; Siegfried F. Nadel, The Theory of Social Structure, Glencoe 1957,S. 50ff.

166 Dazu näher im folgenden Abschnitt 7.

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Was im Vorstehenden zunächst als funktionale Struk-turerfordernisse167 dargestellt worden ist, werden wir imFolgenden unter dem Gesichtspunkt von Dimensionen derSteigerungsfähigkeit der Komplexität sozialer Systeme behan-deln, also als Variablen, die in sozialen Systemen verschie-dener Art sehr verschiedene Werte annehmen können. NurNullwerte dieser Variablen wären, so lautet die Hypothese,mit dem Bestand sozialer Systeme unvereinbar. Eine nur ru-dimentäre Verwirklichung liegt bei jedem sozialen Systemimmer schon vor. Es hängt im einzelnen von den Anforde-rungen der kommunikativen Prozesse und damit letztlichvon den Anforderungen der Umwelt und für den besonderenFall des Welt konstituierenden Gesellschaftssystems von derevolutionären Lage des Systems ab, in welchem Maße Erwar-tungen auf diesen Dimensionen generalisiert werden. DieserÜbergang von der »Erfordernis«-Sprache zur »Variablen«-Sprache ist notwendig, um Aussagen über die Struktur sozia-ler Systeme mit Aussagen über kommunikative Prozesse undüber System/Umwelt-Beziehungen verbinden zu können.

7. Abgrenzung der Umwelt

Die bisherige Darstellung hatte sich auf die Selektionsvor-gänge konzentriert, die ein soziales System konstituieren.Aber wieso und in welchem Sinne konstituieren sie ein Sy-stem?

Die Systembildung beruht darauf, daß Selektionen nichtbeliebig aufeinander bezogen werden können und daß des-

167 Zur Rolle dieser Vorstellung in älteren strukturell-funktionalen An-sätzen vgl. etwa D.F. Aberle u. a., »The Functional Prerequisites of aSociety«,Ethics 60 (1950), S. 100-111, und dieAusarbeitung beiMarion J.Levy, Jr., The Structure of Society, Princeton 1952.

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halb, immer wenn eine solche Beziehung sich herstellt, zu-gleich einUnterschied zwischen SystemundUmwelt entsteht.Zur Umwelt gehören nicht die nichtrealisierten Möglich-keiten der Verknüpfung von Elementen des Systems selbst,wohl aber die Systemeigenschaften der Selektionsträger – alsozum Beispiel zur Umwelt organischer Systeme die chemi-schen Eigenschaften von Molekülen, die diese in bestimmterWeise »bindungsfähig«machen; zurUmwelt sozialer Systemedie psychischen Eigenschaften personaler Systeme. Systeme»bestehen« also nicht aus der Gesamtheit ihrer Existenzbedin-gungen. Ihre Erhaltung ist stets eine Frage der Reproduktionvon kontextualisierten Selektionsleistungen. Somit bleibenSysteme stets riskierte Leistungen. Sie bestehen letztlich ausSelektionen. Deren Relationierung differenziert ein Systemaus, wann immer und wie immer sie zustande kommt. Sieschafft damit eine Situation, in der ihre eigene Reproduktionangewiesen ist auf bestimmte Bedingungen imVerhältnis vonSystem und Umwelt.

Wie in Kapitel I.1 und I.3 ausgeführt, läßt ein Verhältnisvon System und Umwelt sich durch zwei allgemeine Merk-male charakterisieren: durch Diskontinuitäten und durch einKomplexitätsgefälle. Von Diskontinuität wollen wir sprechen,wenn und soweit Grenzen gezogen sind, die Strukturen oderProzesse unterbrechen, so daß das, was im System gilt odervor sich geht, nicht ohne weiteres auch in der Umwelt giltoder vor sich geht – und umgekehrt.168 Diskontinuität heißt,

168 Schwieriger ist es, positiv zu definieren, was Kontinuität heißen soll.Aristoteles (Metaphysik, 1069 a 5-8) hatte auf Verbundensein und Zu-sammengehaltensein durch ein und dieselbe Grenze abgestellt. Wederin der philosophischen Diskussion noch in der politischen Theorie istman auf dieser Basis zu einer klaren begrifflichen Fassung des Pro-blems der Kontinuität und des Problems der Grenze gekommen. Zurphilosophischen Diskussion vgl. Arthur O. Lovejoy, The Great Chain

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mit anderenWorten, daß es bloßer Zufall ist, wenn in Systemund Umwelt dasselbe gilt oder geschieht, und daß Einschrän-kungen des Zufalls daher entweder systeminterne oder, fürdie Umwelt, systemexterne Strukturen sein müssen.169 AlsKomplexitätsgefälle wollen wir die Tatsache bezeichnen, daßdie Umwelt immer komplexer ist als das System selbst, dasheißt Bestände und Ereignisse produzieren kann, für die esim System keineÄquivalente oder keine Entsprechungen gibt.Ein solches Komplexitätsgefällemit derMöglichkeit, daßUm-weltereignisse im System keine Entsprechung finden,muß fürdas System in spezifischen Hinsichten zum Problem werden.Strukturen und Prozesse des Systems lassen sich deshalb alsReaktionen auf dieses Problem funktional analysieren.

Schon diese sehr allgemeinen Überlegungen ergeben ersteAnhaltspunkte für eine Theorie sozialer Systeme. Diskon-tinuität und Komplexitätsgefälle schließen es aus, daß einSystem sich durch Punkt-für-Punkt-Reaktionen auf Ereig-nisse der Umwelt erhalten kann. Anstelle dessen kann einSystem Reaktionsmuster sachlich generalisieren, das heißt inverschiedenen Situationen gleiche Muster anwenden, undes kann zeitbrauchende Prozesse der Problemlösung an-setzen, wenn gesichert ist, daß das System durch kritischeEreignisse nicht sofort ganz funktionsunfähig wird. Fernergewinnen unter der Bedingung von Diskontinuität Gren-zen selbst eine ursächliche Funktion und ermöglichen eine

of Being: A Study of the History of an Idea, Cambridge (Mass.) 1936.Zur gesellschaftlich/politischen Behandlung (bzw. Nichtbehandlung)des Problems vgl. Guillaume de Greef, La structure générale des socié-tés, 3 Bde., Brüssel, Paris 1908.

169 Talcott Parsons hat in einer Vorlesung einmal definiert: »Boundary isthe dual fact that (1) it is simply chance, if it happens that interior andexterior facts coincide, and (2) that the internal state is stable, independ-ent of variations between internal and external states.«

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Selektion von Ursachen bzw. Wirkungen, indem sie für Pro-zesse unterschiedliche Angriffspunkte bieten.170 Darüberhinaus verändert jedoch die für soziale Systeme charakteri-stische Kondition doppelkontingenter Selektivität nicht nurdie Funktion von Strukturen, sondern auch die Funktion derUmweltgrenzen des Systems.

Eine weitere Klärung können wir durch einen Vergleichder Begriffe Horizont und Grenze gewinnen. Der Horizont-begriff bezeichnet ein Erlebniskorrelat, das die in allem Sinnimplizierten Weiterverweisungen ins Endlose abschneidetund es erlaubt, Unbestimmtes als bestimmt oder doch be-stimmbar zu behandeln.171 Horizonte sind unbesetzbar undunüberschreitbar, weil sie sich mit jeder Annäherung ver-schieben. Genau das unterscheidet den Horizont von derGrenze. Grenzen werden standort- und bewegungsunab-hängig festgelegt, so daß man sich ihnen nähern und sie

170 Vgl. MagorohMaruyama, »The Second Cybernetics: Deviation-Ampli-fying Mutual Causal Processes«, General Systems 8 (1963), S. 233-241.

171 Vgl. andeutungsweise bereits oben in diesem Kapitel den Abschnitt 1.Phänomenologische Analysen des Horizont-Phänomens hat EdmundHusserl angeregt. Siehe Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phä-nomenologischen Philosophie: Buch 1: Allgemeine Einführung in diereine Phänomenologie, Den Haag 1950, insb. S. 57ff. ; ders., Erfahrungund Urteil : Untersuchungen zur Genealogie der Logik, Hamburg 1948,S. 26ff. Vgl. ferner Helmut Kuhn, »The Phenomenological Concept of›Horizon‹«, in: Marvin Farber (Hg.), Philosophical Essays inMemory ofEdmund Husserl, Cambridge (Mass.) 1940, S. 106-123; C.A. van Peur-sen, »L’horizon«, Situation 1 (1954), S. 204-234; Carl F. Graumann,Grundlagen einer Phänomenologie und Psychologie der Perspektivität,Berlin 1960, insb. S. 66ff. ; Ludwig Landgrebe, Der Weg der Phänome-nologie, Gütersloh 1963, S. 41ff., 181ff.Daß im Horizontbegriff eine Stellungnahme zum Kontingenzproblemliegt, wird im übrigen bereits bei Husserl deutlich. Vgl. die Beilage»Das Problem derMöglichkeit derWirklichkeit derWelt«, in: EdmundHusserl, Erste Philosophie (1923/24): Teil 2: Theorie der phänomenolo-gischen Reduktion, Den Haag 1959, S. 380ff.

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überschreiten kann. Sie werden gegen die Bewegung identischgehalten, nicht als ihr Korrelat erlebt. Grenzstabilisierung(»boundary maintenance«) dient demnach nicht der Verhin-derung von Überschreitungen, sondern ihrer Ermöglichung,ihrer Markierung, ihrer Regulierung. Ein System bildet underhält Grenzen zur Umwelt, um im Hinblick auf eigene Pro-bleme Prozesse kontrollieren zu können, die System undUmwelt verbinden.

Soziale Systeme müssen ihre Grenzen außerdem benut-zen, um ihre eigene, ungewöhnlich hohe, multizentrischeKontingenz zu regulieren. Sie sind deshalb nicht ausreichendcharakterisiert, wennman sie –wieüblich und an sich richtig –nach dem Vorbild organischer Systeme als »offene« Systememit selektiv durchlässigen Grenzen beschreibt. Die Erhaltungdoppelkontingenter Selektivität setzt vielmehr voraus, daßPersonen, die als hochautonome psychische Systeme Umweltdes einzelnen Sozialsystems sind und bleiben, partiell, nämlichmit Teilen ihres Erlebens undHandelns, in das System inkorpo-riert werden.172 Dies ist ein Sonderfall von »Interpenetration«im oben173 erörterten Sinne.

Personen gehören zur Umwelt eines jeden Sozialsystemsallein schon deshalb, weil ihr Erleben und Handeln durchkein soziales System voll zu regulieren ist.174 Darauf sind so-

172 ln Parsons’ Systemtheorie läuft dieses Problem unter dem Titel »Insti-tutionalisierung«. Vgl. Parsons, The Social System, S. 36ff.

173 Siehe Kap. I.4.174 Allenfalls für das Gesellschaftssystem könnte man daran denken, diese

These zu bestreiten. Aber auch hier ist evident, daß es zwar eine durch-gehend nachweisbare gesellschaftliche Verursachung allen sinnhaftenErlebens und Handelns gibt, aber keine vollständige gesellschaftlicheKontrolle. Das hängt mit der Tatsache zusammen, daß komplexe Ver-hältnisse aus genetisch einfachen Bedingungen entstehen können. AlsGrund für die Gegenmeinung wird denn zumeist auch kein Argument,sondern nur ein Interesse angegeben – das Interesse an einer humane-

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ziale Systeme weder strukturell noch ihren Prozessen nacheingestellt, ihr kommunikativer Apparat wäre dafür viel zuschwerfällig. Soziale Systeme entstehen überhaupt erst aufder Basis der Nichtidentität von Personen, und diese Basisläßt sich nicht durch Identifikation mit dem Sozialsystemaufheben. Die Ordnungsform sozialer Systeme beruht auf derNichtidentität der Personen untereinander und mit dem Sy-stem. Sie setzt ebendeshalb eine Form von Inkorporation vonselbstselektiver Umwelt in das System voraus, für die es inorganischen und auch in psychischen Systemen keine Paral-lelen gibt. Das ist nur eine andere, konkretere Formulierungfür das Problem doppelkontingenter Selektivität.

Unter diesen Umständen müssen Systemgrenzen Sinn-grenzen sein; sie müssen in der Abgrenzung des Systems dasSelektionspotential sinnhafter Orientierung einsetzen kön-nen; sie müssen durch Simultanpräsentation von Innen undAußen aus dem weiten Bereich des überhaupt Möglicheneinen engeren Bereich des im System Möglichen heraus-schneiden. Die Systemgrenze trennt dann Außenhorizontund Innenhorizont als unterscheidbare Regionen der Ver-weisung auf weitere Möglichkeiten und unterscheidbareRichtungen weiterer Exploration. Aber sie verbindet zu-gleich auch Innen und Außen, indem sie durch ihren Sinnals Grenze beide Bereiche füreinander zugänglich macht, in-dem sie die Bedingungen des Überschreitens mitdefiniert.

Damit ist nicht ausgeschlossen, daß Systemgrenzen anphysischen Sachverhalten festgemacht und verdeutlicht wer-den, etwa als territoriale Grenzen. Funktional gesehen sind

ren Gesellschaft der Menschen. Man kann jedoch bestreiten, daß dieseVorstellung einer umfassenden Vergesellschaftung des Menschen sei-nen Möglichkeiten gerecht wird, und man kann sich fragen, was dieVorstellung einer solchen Versklavung soll, wenn dann doch der Auf-stand gepredigt wird.

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das jedoch nur Vorstellungshilfen, denn auch solche Gren-zen fungieren nicht durch ihre physischen, sondern durchihre symbolischen Qualitäten. Nur so wird zum Beispiel dasRisiko interpretierbar, auf das politisch konstituierte Gesell-schaften sich einlassen mußten, wenn sie ihre Grenzen vonunwirtlichen, mehr oder weniger unbewohnten Gebieten auflinear gezogene, leicht überschreitbare Trennlinien umstellenmußten.175

Erreicht wird durch sinnförmige Grenzkonstitution eineUniversalisierung der Beziehungsmöglichkeiten und in die-sem Sinne eine permanente »Gefährdung« der Grenzen.Obwohl Innen und Außen auf der Basis von (wie auch immerbestimmten) Elementen unterscheidbar bleiben und dieseUnterscheidung für jedes System konstitutiv bleibt, gewinntals Sinn jedes Umweltelement ein mögliches systeminternesKorrelat, kann also auf das System selbst bezogen werden;so wie umgekehrt jedes Systemelement extern relationierbarwird. Für sinnhaft konstituierte psychische Systemeheißt dies,daß alles, was im Bereich der phänomenalen Umwelt dieserSysteme auftaucht, Anlaß geben kann zu erleben, daß man eserlebt, also Anlaß geben kann, einen systeminternen Zustandbewußtzumachen und daran Konsequenzen anzuschließen.Für soziale Systeme heißt dies, daß alles, was ihre Teilneh-mer erleben, mögliches Thema der Kommunikation werdenkann, weil es als Sinn schon auf diese Möglichkeit verweist.Und auch hier ist die Aktivierung interner kommunikativerProzesse das Vehikel, externe Elemente in interne Selektions-

175 Untersuchungen darüber gibt es für das mittelalterliche Frankreichund für die Feudalreiche des alten China. Siehe Jean-François Lema-rignier, Recherches sur l’hommage en marche et les frontières féodales,Lille 1945; Roger Dion, Les frontières de la France, Paris 1947; HansStumpfeldt, Staatsverfassung und Territorium im antiken China: Überdie Ausbildung einer territorialen Staatsverfassung, Düsseldorf 1970.

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sequenzen zu überführen. Sinn schließt aus, daß es hierfürprinzipielle Unmöglichkeitssperren gibt, es sei denn solche,die sich aus jener weiteren, jenseitigen Umwelt ergeben, diefür Sinnsysteme nicht bzw. noch nicht relevante Umweltist.176 Sinngrenzen garantieren, daß trotz dieser universellenRelationierbarkeit interner und externer Sinnelemente dieDiskontinuität von System und Umwelt erhalten bleibt unddie Grenze selbst eine Filterfunktion ausüben kann. Gegeneine solche Universalisierung möglicher Relationierungen ge-winnenGrenzen,wenn sie definiert werden können, schärfereSelektivität.

Im Vergleich zu allen anderen Systemen erreichen sozialeSysteme ein Höchstmaß an Verschachtelungsfähigkeit. MitVerschachtelung ist gemeint, daß die Elemente der Systemeteilweise sich überschneidendeMengen bilden. Psychische Sy-steme binden sich, obwohl bereits Sinnsysteme, immer nochan die Einheit eines Organismus und grenzen sich durchMiterleben »ihrer« organischen Prozesse gegen die Umweltab. Dadurch sind sie gegeneinander exklusiv. Sozialsystemekönnen sich dagegen durchdringen und teilweise überschnei-den. Es gibt zum Beispiel Interaktionssysteme im Verkehrzwischen Organisation und Publikum, bei denen das Han-deln in der einen Rolle der Organisation zugerechnet wird,das Handeln in der anderen Rolle dagegen nicht und beideRollen in ihrer Komplementarität gleichwohl ein eigenes In-teraktionssystem bilden. Auch komplexe Interaktionssysteme

176 Vgl. zu diesem doppelten Umweltbegriff oben, Kap. I.3. Hier ließe sichder von Parsons mit Bezug auf MaxWeber (?) benutzte Begriff der »ul-timate reality« anwenden zur Bezeichnung jener noch transzendentenUmwelt, in die hinein Sinnkonstitution expandieren kann. Vgl. dazuauch Robert N. Bellah, »The Place of Religion in Human Action«, Re-view of Religion 22 (1958), S. 137-154, mit der Unterscheidung einessoziologischen und eines theologischen Grenzbegriffs.

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können sich in der Weise zerlegen, daß unter Anwesendenmehrere Systeme zugleich gespielt werden (der Verliererder Skatrunde bestellt als Kunde beim Kellner das Bier). Esgibt multinationale Konzerne, internationale Konferenzen,Verkehrssysteme, die unter verschiedenen Rechtssystemenoperieren, Familienbetriebe, die zugleich familiale und öko-nomische Funktionen erfüllen, usw.

Solche Tatbestände werden oft kritisch gegen die System-theorie oder gegen den Grenzbegriff eingewandt; sie setzendiese Begriffe jedoch voraus. Verschachtelung ist nur mög-lich, wenn für jedes der beteiligten Systeme eine eindeutigeSystem/Umwelt-Differenz feststellbar ist. Es muß, mit an-deren Worten, nur für jedes Einzelsystem klar sein, welcheElemente zum System und welche Elemente zur Umwelt ge-hören. Unter dieser Voraussetzung systemspezifischer Grenz-und Umweltdefinitionen ist akzeptierbar, daß die Grenzenverschiedener Systeme einander überschneiden und es Ele-mente (Ereignisse, Handlungen, ja sogar Rollen) gibt, diemehreren Systemen zugleich angehören. Das ist keine theo-retische Unmöglichkeit, wohl aber unter Umständen eineoperative Schwierigkeit für die Systeme selbst, vor allem einProblem der Wahrnehmung von Grenzen und des Konsen-ses darüber177 sowie eventuell ein Problem der Entscheidungzwischen konfligierenden Loyalitäten.

In dem Maße, als innerhalb von Systemgrenzen ein en-gerer Bereich des hier Möglichen (bzw. Unmöglichen) be-stimmbar wird, übernimmt die Systemreferenz die Funktioneiner »Bedingung der Möglichkeit/Unmöglichkeit« – eineFunktion, die bisher eigentlich nur in erkenntnistheoreti-

177 Siehe dazu Donald T. Campbell, »Common Fate, Similarity, and OtherIndices of the Status of Aggregate Persons as Social Entities«, Behav-ioral Science 3 (1958), S. 14-25, als eine der wenigen expliziten Behand-lungen des Problems.

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schen Zusammenhängen diskutiert worden ist.178 Dadurchwerden systeminterne Möglichkeiten/Unmöglichkeiten inAbweichung von der Umwelt bestimmbar, gegen sie variier-bar. Im System gilt eine »Sonderwelt« des Möglichen, dieenger, vielleicht in spezifischen Hinsichten aber auch wei-ter ist als das, was in der Umwelt möglich ist. Bedingungder Bestimmbarkeit dieses inneren Möglichkeitshorizontesist jene Zurechenbarkeit von Selektionen, die wir oben179

als Reduktion auf Handlung charakterisiert hatten. DieseReduktion konstituiert Handlung als Element des Systems,indem sie sie zugleich qualifiziert, typisiert und erwartbarmacht unterAbschöpfung jener unfaßbaren Fülle vonRelatio-nierungsmöglichkeiten, die zwischen Handlungen zunächstvorstellbar wären. Handlung ist demnach in jenem doppelbe-zogenen Sinne Reduktion von Komplexität, den wir erörtert

178 Dies seit Kant, der erstmalig alle Modalitäten auf Erkenntnisvermö-gen als Grund ihrer Bedingtheit bezogen hatte. Vgl. insb. Kritik derreinen Vernunft, B; Kritik der Urteilskraft, § 76. Danach ist nicht nurdas Mögliche/Unmögliche bzw. das Notwendige/Kontingente im altenSinne einer Seinsweise problematisiert, vielmehrModalität im Sinne ei-ner Form der Erlebnisverarbeitung als bedingt postuliert. Daraus folgt,daß es keine Begründungen mehr geben kann – es sei denn solche, dieals reflexiver Prozeß ihre eigenen Bedingungen mitsetzen. Diese Ein-sicht sprengt die Grenzen einer Erkenntnistheorie, die auf erkennbareBedingungen der Erkenntnis rekurriert. Als Antwort darauf haben He-gel und Marx den reflexiven Prozeß – sei es als Bewußtsein, sei es alsMaterie – absolut gesetzt. Dahinter kann keine Wissenschaft zurück-fallen, die mit Modalkategorien arbeitet. Und eine Gesellschaftstheo-rie kommt darüber nur hinaus, wenn es ihr gelingt, das Problem derReflexivität aufzunehmen und ihm eine adäquatere Lösung zu geben.Diese Absicht steht hinter der These, daß Systemreferenzen als »Be-dingung der Möglichkeit/Unmöglichkeit« und ebenso als »Bedingungder Notwendigkeit/Kontingenz« fungieren. Daß auch die marxistischeDiskussion in diese Richtung geht, zeigt Gerd Pawelzig, Dialektik derEntwicklung objektiver Systeme, Berlin 1970.

179 Vgl. in diesem Kapitel in Abschnitt 3.

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hatten:180 Sie ist Selektion aus systemeigenen Möglichkeitenmit Hilfe einer Relationierung auf Umwelt, die als Relationie-rung ihrerseits Selektion aus Möglichkeiten der Umwelt ist –hier in erster Linie natürlich aus denjenigen Möglichkeiten,die von der Struktur des psychischen Systems des Handeln-den her möglich sind.

Den Prozeß, der dies in sozialen Systemen typisch leistet,hatten wir selektives Akkordieren genannt. Er bringt dasHan-deln auf erwartbare Formen – in dem, was er möglicherweiseselektiert, ebensowie in dem,woraus er selektiert, und in dem,was er möglicherweise nicht selektiert. Zugleich ermöglichtdiese Reduktion auf Handlung, über Erwartungsfestlegung zudefinieren, welche Handlungen zum System gehören, und ineiner Restkategorie Umwelt all das zusammenzufassen, wasnicht zum System gehört. Selektives Akkordieren dient demErzeugen und Testen der spezifischenMöglichkeiten undUn-möglichkeiten des Systems und enthält eben damit dasjenigeSelektionsprinzip, dessen Realisierung in sozialen Systemenals Möglichkeiten ermöglichende Bedingung fungiert, ohnedamit jenen weiteren Horizont des in der Umwelt Möglichenauszuschließen.181 Ebendeshalb lassen sich System und Um-welt nur durch Sinngrenzen abgrenzen, die Verweisungennach innen mit Verweisungen nach außen verknüpfen.

Mit dem Begriff soziales System soll nach alldem einSinnzusammenhang von Handlungen bezeichnet werden,die, durch wechselseitige Erwartbarkeit verknüpft, aufeinan-der verweisen, ihre Selektivität wechselseitig bestimmen unddadurch von einer nichtdazugehörigen Umwelt abgrenzbar

180 Vgl. oben, Kap. I.1.181 Der Vergleichspunkt im Bereich der transzendentalen Erkenntnistheo-

rie wären die von Kant unterstellten Erkenntnisvermögen (als Bedin-gung nicht nur möglicher Erkenntnis, sondern auf nicht ganz geklärteWeise zugleich als Bedingung der Erkenntnis des Möglichen).

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sind. Ähnlich wie bei der Erörterung des Strukturproblemssozialer Systeme müssen wir auch ihr Umweltverhältnis ab-schließend als Variable kennzeichnen. Das Ausmaß, in demzwischen System und Umwelt Kontinuitäten bzw. Diskonti-nuitäten bestehen, kann sehr verschieden sein. Wir sprechenvon Graden der Ausdifferenzierung sozialer Systeme182 undsehen darin einen Schlüsselbegriff der Gesellschaftstheorie.

8. Kommunikation

Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Einsicht,daß das Sinnerleben mehrerer Personen unaufhebbar diver-giert – und zwar originär divergiert und nicht erst als Folgevon Kommunikationsfehlern. Diese Divergenz ist Bedingungder Möglichkeit von Kommunikation, und erst vor diesemHintergrund läßt sich die Funktion eines operativen Partial-konsenses verstehen.

Um dieses Divergieren und damit die doppelkontingenteSelektivität sozialer Beziehungen überbrücken zu können,nehmen alle Prozesse, die soziale Systeme bilden, die Formvon Kommunikation an. Damit soll gesagt sein, daß sie dieBeteiligten über Selektionen im Systemoder in derUmwelt in-formieren. Beide Begriffe, Information und Kommunikation,müssen auf unsere Problemstellung eingestellt und deshalbkomplizierter als üblich gefaßt werden. Sie bezeichnen im fol-genden nicht einfach Daten bzw. Datentransport. Vielmehrsoll mit Information die durch die Selektivität von Ereignis-sen ausgelöste Selektion von Systemzuständen bezeichnet

182 Buckley, Sociology and Modern Systems Theory, S. 42, spricht auch von»varying degrees of systemness« bzw. von »varying degrees of entitiv-ity«. In der Sache stimme ich zu und vermeide diese Ausdrucksweiselediglich aus sprachlichen Gründen.

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werden183 und mit Kommunikation der Prozeß, der dies,absichtlich oder unabsichtlich, mit personalen Ausdrucks-mitteln bewirkt.

Die Komplikation dieser Begriffsbildung liegt auf zweiEbenen. Zunächst kommt es zur Information nur bei min-destens zweifacher Selektivität184 : Ein Ereignis – es fängt anzu regnen –, das auch anders ausfallen könnte, wird wahr-genommen durch jemanden, der auch anderes wahrnehmenkönnte. Diese zweifache Selektion ist nicht, wie ältere Wahr-heitslehren suggerieren könnten, bloße Faktenverdoppelungdurch Abbildung (die zudem mißlingen kann); sie verwirk-licht vielmehr eine punktuelle, momentane Synchronisationunterschiedlicher Möglichkeitshorizonte. Das Ereignis, daß esregnet, wählt aus anderen »andere Möglichkeiten« aus alsmeine Wahrnehmung: Statt des Regens könnte die Sonnescheinen, statt der Wahrnehmung des Regens könnte ich le-sen. Genau darin besteht die Funktion von Information, daß

183 Gegenüber der vorherrschenden Beachtung nur der Selektivität vonNachrichten (Ereignissen) war es bereits ein Fortschritt, daß man aufdie Selektion von Systemzuständen bzw. die Änderung von Systemzu-ständen abstellte. So z.B. DonaldM.MacKay, Information, Mechanismand Hearing, Cambridge (Mass.) 1969; Harold M. Schroder, Michael J.Driver, Siegfried Streufert, Human Information Processing, New York1967. Zu einer befriedigenden Darstellung von Informationsprozessenkommt man jedoch erst, wenn man beide Selektivitäten in ihrer Unter-schiedlichkeit berücksichtigt.

184 Diese zweifache Selektivität kann bereits imWahrnehmungsprozeß (inallerdings engen Grenzen) verlängert werden, und zwar durch Wahr-nehmung von Kausalität. Man nimmt dann nicht nur die Selektivitätdes Ereignisses, sondern zugleich die Abhängigkeit der Selektivität desEreignisses von einemanderen (wahrnehmbaren oder nichtwahrnehm-baren) selektiven Ereignis wahr. Vgl. als Ausgangspunkt zahlreicherpsychologischer Forschungen Albert Michotte, La perception de la cau-salité, Louvain 21954 (zuerst 1943), und Fritz Heider, »Social Perceptionand Phenomenal Causality«, Psychological Review 51 (1944), S. 358-374.

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sie solche Differenzen – nicht nur der Sinngehalte, sondernihrer Kontingenz und Selektivität – überbrückt.185

Man kann diesen Informationsbegriff auf organische oderauf maschinenprogrammgesteuerte Prozesse beziehen. Beisinngesteuerter Information kommt hinzu, daß das Worausder Selektion und damit auch die Selektivität der Informa-tion mitpräsentiert wird – zumindest in der rudimentärenForm einer Verweisung auf unbestimmt bleibende andereMöglichkeiten. Damit sind zugleich Freiheiten fundiert, In-formationen nicht zu akzeptieren.

Diese Informationsfunktion wird durch Kommunikationverstärkt und auf Fälle übertragen, in denen sie sich nichtdurch Wahrnehmung gleichsam von selbst ergibt. Von Kom-munikation wollen wir nur dann sprechen, wenn Ego eineeigene Information auf Alter überträgt, sei es absichtlich, seies unabsichtlich. Dies kann eine Umweltinformation, aberauch eine Selbstinformation des Ego sein – etwa die Mit-teilung einer Wahrnehmung oder eines Entschlusses oderder Selbstwahrnehmung eines eigenen Zustandes. Es genügtaber nicht, daß Ego für Alter einfach Information ist, etwamitbestimmten überraschendenMerkmalen imWahrnehmungs-feld von Alter auftaucht. Vielmehr kommt Kommunikationnur zustande, wenn der Empfänger die Möglichkeit hat, dieInformation selbst und das Verhalten, durch das sie kom-muniziert wird, zu unterscheiden.186 Das bedeutet vor allem,

185 Diese Fassung des Informationsbegriffs präzisiert und problematisiertzugleich die häufig formulierte Ansicht, daß die Information trotzÜbertragung identisch bleibt. Vgl. etwa KarlW. Deutsch, Politische Ky-bernetik: Modelle und Perspektiven, Freiburg (Brsg.) 1969, S. 133ff.

186 Auch Fachleute für Sprach- und Kommunikationswissenschaft sehendie Notwendigkeit, entsprechend zu differenzieren. Vgl. z.B. W. Bar-nett Pearce, »Consensual Rules in Interpersonal Communication:A Reply to Cushman and Whiting«, The Journal of Communication

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daß der Zeitpunkt der beiden Selektionen differieren kann;und ferner für die soziale Beziehung, daß die Differenz demKommunizierenden Möglichkeiten der Manipulation187 unddem Empfänger Möglichkeiten der Kontrolle an die Handgibt; und schließlich: daß der Empfänger die Möglichkeithat, den sachlichen Sinn von Mitteilung und Mitteilungsver-halten getrennt zu negieren. All das zusammen ergibt einenAbstand zum unmittelbaren Informationsdruck der Welt:Man ist zwar dem kommunikativen Verhalten relativ un-mittelbar ausgesetzt, hält dafür aber die Welt auf Distanz.Wenn schon Information eine mindestens zweistellige Selek-tivität ist, dann Kommunikation eine mindestens dreistellige:Ego informiert Alter über ein selektives Ereignis, das für Egoselbst schon Information ist.188 Kommunikation ist mithinein Prozeß, der auf Selektionen selektiv reagiert: ein Prozeßder Selektivitätsverstärkung. Ein solcher Prozeß impliziert

23 (1973), S. 160-168, mit Hinweisen auf die (nicht ganz deckungsglei-chen) Unterscheidungen von »performative« und »constative utteran-ces« (Austin), »signification« und »significance« (Morris) und »con-tent« und »relationship levels« (Watzlawick/Beavin/Jackson). Nur soläßt sich erklären, daß es nahezu informationslose Kommunikationgibt und andererseits nahezu kommunikationslose Übermittlung wich-tigster Informationen. Zu Anforderungen an die Analyse des Kom-munikationsprozesses, die daraus folgen, vgl. auch Keith R. Stamm,W. Barnett Pearce, »Communication Behavior and CoorientationalRelations«, The Journal of Communication 21 (1971), S. 208-220.

187 Siehe hierzu den Essay »Expression Games«, in: Erving Goffman, Stra-tegic Interaction, Philadelphia 1969, S. 1-82 (1ff.).

188 Um eine genaue Abgrenzung von bloß informativem und kommunika-tivem Verhalten bemüht sich auch Donald M. MacKay, »Formal Anal-ysis of Communications Processes«, in: R.A. Hinde (Hg.), Non-verbalCommunication, Cambridge 1972, S. 3-25.MacKay stellt auf erkennbareBeteiligung einer evaluativen Funktion im Kommunikanten ab. Das istein etwas engerer Begriff. Wenn Evaluation erkannt und dem Kommu-nikanten zugerechnet wird, ist der Empfänger immer auch in der Lage,zwischen Information und Verhalten zu unterscheiden.

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Kontingenz, sowohl in seinen Themen als auch in seinenPersonen; und er produziert Kontingenz, wenn er nur langegenug läuft, so daß seine Implikationen bewußt werden. Erproduziert damit im Laufe der gesellschaftlichen Evolutionschließlich unsere voll kontingente, theologisch so schwierigeWelt.

Erst mit Hilfe dieser etwas komplizierten Vorstellung vonSelektionsverschachtelungen lassen sich die evolutionärenund systembezogenen Vorteile kommunikativer Beziehun-gen deutlich machen. Es handelt sich in der unmittelbarenKommunikation um eine Beziehung, die sich selbst immernur auf Beziehungen bezieht: um eine Relationierung von Re-lationen. Erst die Unterscheidung der Information von demsie übermittelnden Verhalten macht es möglich, zwischendiesen beiden Selektionen Beziehungen herzustellen und inbezug auf diese Beziehung dann kritisch sich einzustellen,also nochmals auf Distanz zu gehen. Erst in dieser Distanzkann die Möglichkeit der Abwendung und des Ablehnensabstrahiert werden zur Freiheit des Negierens trotz faktischvorliegender Kommunikation.

Dreistufige Selektionsverkettung mit selektivem Verhal-ten zu Selektionen setzt die Konstitution von Sinn voraus.Nur an identisch gehaltenem Sinn wird Information undinformierendes Verhalten differenzierbar und aufeinanderbeziehbar. Nur an Sinn kann man Eigenbeiträge ablesenund zugleich verknüpfen mit Anschlüssen an die objektivgesicherte Welt. Nur Sinn macht Selektionsfehler anderererkennbar und korrigierbar – im Unterschied zum Signal-austausch in Tierpopulationen, der prompt funktioniert.Kommunikation dieses anspruchsvollen Stils kann mithinnur zusammen mit Sinnkonstitution entstehen, wobei manannehmen darf, daß der kommunikative Prozeß die Evolu-tion führt; daß die Elaboration des Kommunikationsnetzes

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für zunehmend anspruchsvolle Selektionsverhältnisse Sinn indemMaße konstituiert hat, als sie ihn für Integrationszweckebrauchte.

Was kann aber die übliche Formulierung »Informations-übertragung« bedeuten, wennman davon ausgehenmuß, daßbeide Partner einer Kommunikationsbeziehung durch Sinnverbunden sind, also beide selektiv erleben bzw. handeln? Die-sen Punkt müssen wir mit der nötigen Tiefenschärfe klären,weil die für Späteres wichtige Unterscheidung von Spracheund Kommunikationsmedien daran anknüpft.

Als Informationsempfänger – und wir gehen davon aus,daß der Empfang nicht schon an Übertragungsstörungenoder Unverständlichkeit scheitert – übernimmt Alter die Se-lektionsleistung von Ego zunächst unverbindlich, sozusagenin hypothetischer Form. Er transformiert sie in die Form einerMöglichkeit, zu der er noch ja oder nein sagen kann. DieseModalisierung entsteht erst durch Kommunikation, näm-lich dadurch, daß man mit fremder Selektion konfrontiertwird.189 Sie ist als Technik der Absorption von Risiken zubegreifen: Alter profitiert von fremder Erfahrung, von frem-den Selektionsleistungen, indem er sie in der gerafften Formeiner Information zu sich nimmt. Er braucht die originäre Se-lektion nicht zu wiederholen, sie wird ihm fertig angeboten.Das ist die Grundlage der immensen Wirklichkeitserweite-rung durch Kommunikation,190 die Grundlage für »vicarious

189 Vgl. dazu René Spitz, Nein und Ja: Die Ursprünge der menschlichenKommunikation, Stuttgart 1957, mit der wichtigen These, daß das zu-gleich das Entstehen einer neuen Organisationsebene für die eigeneErfahrung bedeutet.

190 So z.B. Donald M. MacKay, »The Informational Analysis of Questionsand Commands«, in: Colin Cherry (Hg.), Information Theory: FourthLondon Symposium, London 1961, S. 469-476 (471), neu gedruckt in:ders., Information, Mechanism and Meaning, S. 94-104.

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learning«191. Andererseits ist ebendamit gegenüber originärerInformationsaufnahme und Entschlußfassung ein gesteiger-tes Risiko verbunden. Die eigene Freiheit, anzunehmen oderzu verwerfen, die sich an diesem Risiko ausbildet, dient (wieselten auch immer sie als Wahl faktisch bewußt wird undausgeübt wird) der Kontrolle dieses Risikos.

Kommunikation führt daher zunächst nur zur Übertra-gung von Sinn als einer (und genau das ist ja Sinn!) verkürztangebotenen Selektionsmöglichkeit; sie führt nicht ohne wei-teres auch zur Reproduktion von Selektionsleistungen. ZurReproduktion kommt es erst, wennAlter die Selektionsoffertesich zu eigenmacht, indem er sie als Prämisse eigener weitererSelektionenübernimmt.Und erst durchAnschlußselektionenentstehen die soziologisch so wichtigen Bindungseffekte.

Selbstverständlich braucht die Unterscheidung von Emp-fang und Annahme nicht in jedem Fall bewußt durchgeführtzu werden. Daß sie auch unscharf funktioniert, ist eine Be-dingung ihrer Entwicklung ebenso wie ein Erfordernis derPraktikabilität. Unterscheidungsschärfe wird durch Zuwen-dung von Aufmerksamkeit erzeugt, und die hängt ab vonsituativen Interessenlagen.

DieMöglichkeit für Alter, jene Unterscheidung von vorge-schlagener und akzeptierter Selektion durchzuführen, kannerst mit der Verwendung von Sprache zusammen entwickeltwerden. Die Sprachform von Kommunikationen drängt esgeradezu auf, die bloße Mitteilung von der Sache selbst zuunterscheiden; die bloße Möglichkeit dieser Unterscheidung,die, wie oben gesagt,mit jeder Kommunikation verbunden ist,

191 Für Forschungsübersichten siehe Albert Bandura, »Vicarious Pro-cesses: No Trial Learning«, in: Leonard Berkowitz (Hg.), Advances inExperimental Social Psychology, New York 1965, S. 1-56; Justin Aron-freed, Conduct and Conscience: The Socialization of Internalized Con-trol over Behavior, New York 1968, S. 76ff.

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wird zurWahrscheinlichkeit, wird geläufig.192 Sprache legt esnahe, die Selektionssequenz des Kommunikationsprozessesum eine wichtige Stufe zu erweitern.

Kommunikation kann zwar in gewissem Umfange in derunmittelbaren Interaktion unter Anwesenden auch durchWahrnehmung des Wahrnehmens erbracht werden: Altersieht, daß Ego vor dem Hund erschrickt. Dazu bedarf esgewisser Gemeinsamkeiten der Situationsdefinition, nichtnotwendig einer ausgebildeten Sprache. Sprache dient jedochder Durchführung von Kommunikation unter anspruchsvol-leren Voraussetzungen. Sie benutzt ein ausWahrnehmungenherausdestilliertes Repertoire von Zeichen, mit dem sie dieunterschiedlichen und unterschiedlich bleibenden Selekti-onshorizonte der Beteiligten zunächst auf die gemeinsameFormel des sprachlich Möglichen bringt und sie so nicht nur,wie in der Information, punktuell, sondern auch strukturellintegriert. Dadurch wird zusätzlich zur mehrfachen Selektionim Fluß der Informationen, also in der Verkettung von Ereig-nissen, noch eine Funktionsverdoppelung von strukturellerund prozeßmäßiger Selektion erreicht: Der Informationspro-zeß kommt erst auf Grund einer Vorauswahl des sprachlichMöglichen zum Zuge. Er informiert unmittelbar nur nochüber Wort- und Satzselektionen und nur mittels dieser überdie Welt.193

192 Im Anschluß daran werden wir unten in Teil 2, Kap. II die evolutionä-ren Funktionen der Sprache und der Kommunikationsmedien, die dieReproduktion von Sinn steuern, unterscheiden können.

193 Anzumerken bleibt, daß Sprache nicht nur kommunikative (Informa-tionen übermittelnde), sondern als Ausdrucksverhalten auch direktinformierende Funktionen übernehmen kann. So kann zum Beispielunabhängig vom Informationsgehalt schon die Wortselektion oder dieArt sprachlicher Präsentation Beachtung finden oder zur Überzeugungbeitragen: Frisch gesagt, ist halb gewonnen. Außerdem führt Sprachezu einer immensen Erweiterung der Gedächtnisfunktion. Und beides,

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Sprache besteht aus Symbolen und aus Regeln zu ihrerKombination. Jede sinngemäße Verwendung sprachlicherMittel stellt Relationen sprachlicher Art (Sätze) her, bei de-nen vorausgesetzt und per Voraussetzung produziert wird:daß (1) die Relata auch anders verwendetwerden könnten unddeshalb daß sie (2) jeweils nur selektiv und in diesem Sinne ab-strakt benutzt werden.Diese relationaleGebrauchsweise (undnicht etwa schon die bloße Zeichenfunktion der Symbole)distanziert den Sprechkontext von seiner unmittelbaren Um-welt undmacht eine weitere Umwelt bedeutsam, indem sie anden Symbolen Kontingenzen erscheinen läßt, die auf jeweilsnicht vor Augen Liegendes verweisen. Solche Verweisungenlassen sich dann mit weiteren Symbolen zusammenfassen,neu formieren oder weiterbilden, und im Anschluß darankönnen besondere Symbole für Abwesendes, für immer Ab-wesendes, für Unanschauliches entwickelt werden. Letztlichberuht diese Umwelterweiterung auf relationaler Binnense-lektivität und erzeugt dann einen Informationsdruck, demdie Sprache durch Abstraktion auch der symbolischen Mittelzu entsprechen hat.

Die wichtigste Funktion der Sprache liegt in dieser Mög-lichkeit, durch Relationierung von Symbolisierung auch Ab-wesendes in den Kommunikationsprozeß einzuführen. Mankann über räumlich und zeitlich Entferntes reden, über Ver-gangenes und über Zukünftiges, über bloß Mögliches undüber Nichtwirkliches. Auf diese Weise wird zum Beispieldie Zeitpunktunabhängigkeit der Außenkoordination desSystems gewonnen: Man kann lange nach dem Ereignis re-agieren, sozusagen mit Verzögerung lernen, und man kann

Bereicherung von Ausdrucksmöglichkeiten und Erweiterung von Ge-dächtnisleistungen, wirkt wiederum auf den Kommunikationsprozeßzurück.

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vor dem Ereignis reagieren, kann sich auf das Ereignis vor-bereiten. Dadurch wird das soziale System unabhängig vonPunkt-für-Punkt-Korrelationen mit der Umwelt. Intern ent-steht damit die Möglichkeit der Bildung langer Selektions-ketten, die das Erleben und Handeln auf räumlich-zeitlichentfernte Ziele hin koordinieren. Die Ketten werden außer-dem unterbrechungsfähig: Man sitzt nicht kontinuierlich ander Arbeit für ein einziges Ziel, sondern verfolgt mehreresimultan. Schließlich kann man auch auf vorgestellte Mög-lichkeiten reagieren – zum Beispiel um zu verhindern, daß sieWirklichkeit werden, oder um sich vorzubereiten für den un-gewissen Fall, daß sie Wirklichkeit werden. Für all dies stellterst die Sprache soziale Koordinationsfähigkeit bereit.

Allerdings nicht ohne Kosten und nicht ohne spezifischeFolgeprobleme. Die wichtigste Hypothek besteht darin, daßSprache wegen ihrer hohen Komplexität und Indirektheit aufabsichtsvolle Verwendung angewiesen ist. Sie ist notwendigHandlung dessen, der kommuniziert, nicht nur Erleben des-sen, der eine Kommunikation empfängt. Will man sich derdamit gegebenen Zurechnung und ihren Konsequenzen ent-ziehen, muß man unter Ausnutzung der Sprache selbst dieeigentliche Absicht verschleiern, ohne damit die Absichtlich-keit des Sprachhandelns ablegen zu können. Wie unklar im-mer die Absicht, im sozialen Verkehr wird sie unterstellt, unddiese Unterstellung leitet nicht nur die Reaktion auf gespro-cheneMitteilungen, sondern sie wird auch antizipiert und beider Vorauswahl dessen, was man gefahrlos sprechen kann, inRechnung gestellt. Die Zurechnung auf Absicht hat schon alssolche und vor aller expliziten Normierung eine Funktionsozialer Kontrolle. Mit dieser Zurechnung auf Absicht, dieFolgen hat, verbindet sich eine über die Leiblichkeit hinausge-hende Individualisierung der Kommunikationspartner. DerKommunikationsprozeß basiert auf organisch vorgegebener

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Individualisierung, aber er konstituiert erst die biographische,moralische, reflexiv thematisierbare Identität der Beteilig-ten.194 Schließlich ermöglicht die Unterstellung von Absichteine verdichtete Integration des Kommunikationssystems:Wer absichtlich angesprochen wird, kann die eigene Situationals mitgemeint in die des anderen hineininterpretieren. Zu-rechnung auf Absicht, was immer das psychologisch seinmag, ist mithin eine wesentliche Voraussetzung für die Bil-dung komplementärer Erwartungen. Wenn es Absicht nichtgäbe, müßte man sie erfinden.

Wir können an dieser Stelle keine zu unserem Informati-onsbegriff passende Sprachtheorie ausarbeiten. Festzuhaltenbleibt jedoch, daß Sprache weder in der Lage ist noch dieFunktion hat, die Identität oder Gleichheit von Erleben undHandeln verschiedener Personen zu bewirken. Sie dient derKoordination selektiver Prozesse, und ihre Leistung bestehtgerade darin, hohe Unterschiede der Selektivität zu ermögli-chen und zu überbrücken. Die Mitteilung »es regnet« kanndann informieren über den Wunsch: Lege die Zeitung wegund hole die Liegestühle aus dem Garten herein! Durchstrukturelle Vorselektion eines Sprachcodes und durch Re-duktion von Kommunikation auf das Sprachlich-Möglichewird mithin die Komplexität von noch abstimmbaren nicht-identischen Selektionen immens erweitert. Damit werdenMöglichkeiten für intersubjektiven Konsens und Dissens,für Verständigungen und für Mißverständnisse zugleich ver-mehrt. Wir werden sowohl in der Evolutionstheorie als auch

194 Mit dieser Auffassung hängt zusammen, daß wir den Begriff »Mensch«,der diese Selbstidentifikation, dieses »An und für sich Sein«, ein-schließt, nicht als theoretischen Grundbegriff verwenden können, alsoGesellschaftstheorie auch nicht als Theorie der Gattungsgeschichte derMenschheit formulieren können.

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in der Theorie der Kommunikationsmedien auf diesen Punktzurückkommen.

Bei Informationsübermittlungen ist es häufig wichtig zuwissen, wer informiert ist und wer kommuniziert. Es müssendaher Zurechnungsfragen geklärt sein bzw. geklärt werdenkönnen.195 Kommunikation ist zwar nicht notwendig, aberzumeist absichtliches Handeln, so daß nicht nur das In-formiertsein, sondern auch die Kommunikation selbst alsHandlung zugerechnet werden kann. Das heißt: Die Reduk-tion auf Handlung muß als Möglichkeit bereitstehen, damitsich Kommunikation entwickeln kann, so wie andererseits,genetisch gesehen, zurechenbare Kommunikation Prototypfür Handlung gewesen sein mag.

Kommunikation in dem hier angedeuteten außersprachli-chen wie sprachlichen Sinne ist der Prozeß, in dem selektiveEreignisse in einer für soziale Systeme adäquaten Weisedurch Verkettung dynamisch werden. Durch Kommuni-kation können Selektionsketten gebildet werden, die ausUmweltereignissen und Systemereignissen und in beiden Fäl-len aus »natürlichen« Informationen und kommuniziertenInformationen zusammengesetzt sind. Kommunikationspro-zesse können somit Spezialsysteme undUmwelt verknüpfen –mag nun mit der Umwelt kommuniziert, im System überdie Umwelt kommuniziert oder schließlich mit der Umwelt

195 Hierfür ist übrigens die im folgenden (s. Kap. III) zu entwickelndeTypenunterscheidung sozialer Systeme von Bedeutung: Während imeinfachen Kontakt von Angesicht zu Angesicht normalerweise nichtzweifelhaft sein kann, wer kommuniziert (sondern höchstens: mit wel-chem Sinn und mit welcher Absicht), ist für organisierte Sozialsystemedie Zurechnung von Kommunikationen ein Problem. Eine besondereErörterung des Problems der Authentizität bzw. Authentifikation vonKommunikationen findet sich daher hauptsächlich in der organisati-onswissenschaftlichen Literatur. Vgl. z.B. Chester I. Barnard,The Func-tions of the Executive, Cambridge (Mass.) 1938, S. 180f.

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über das System kommuniziert werden. Im Unterschied zueiner verbreiteten Auffassung setzen wir nicht voraus, daßKommunikationen innerhalb des Systems häufiger sind alsmit der Umwelt;196 nicht einmal, daß sie leichter und wirk-samer abgewickelt werden können.197 Der Zusammenhangvon Systembildung und Kommunikation ist funktional zusehen, und die Funktionalität ergibt sich aus dem Problemder sinnorientierten, doppelkontingenten Selektivität. EineErhaltung dieser Bedingung als Entstehungs- und Regene-rationsprinzip sozialer Systeme setzt neben der Reduktionauf Handlung, der Strukturgeneralisierung und der sinnge-steuerten Abgrenzung gegen eine Umwelt die durch all diesmitgetragene Prozeßform der Kommunikation voraus.

Weil Kommunikation (mindestens) zwei Selektionsakteverbindet und deren Kontingenz durch Beziehung auf denjeweils anderen einschränkt, führt sie zwangsläufig zur Struk-turbildung,198 nämlich zu einer Ausgrenzung unbestimmterMöglichkeiten im Hinblick auf bestimmte. Die Genesis vonStruktur ist weder dem einzelnen Selektionsakt noch dem ein-zelnen Selektionshorizont allein zurechenbar. Sie kann undsie wird normalerweise den Bewußtseinshorizont der Betei-ligten überschreiten. Sie führt auf diese Weise zum Aufbaukomplexer Systeme mit hohen Gehalten an unvermeidbarerLatenz, zu Sinngehalten, die sich der vollen Aktualisierung im

196 Vgl. z.B. John B. Knox, The Sociology of Industrial Relations, New York1955, S. 133.

197 So z.B. Deutsch, Politische Kybernetik, S. 283. Vgl. auch Robert K. Mer-ton, »Insiders and Outsiders: A Chapter in the Sociology of Knowl-edge«,American Journal of Sociology 78 (1972), S. 9-47, für wissenschaft-liche Kommunikation.

198 Dieses Prinzip – »any communication process, once initiated andmain-tained, leads to the genesis of social structure« – hat Klaus Krippendorf,»Communication and the Genesis of Structure«, General Systems 16(1971), S. 171-185, herausgearbeitet.

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Bewußtsein und im Kommunikationsprozeß entziehen. Ob-wohl alle Struktur aus Kommunikationsprozessen entsteht,heißt das nicht, daß sie durch Kommunikationsprozessethematisierbar oder kontrollierbar wäre; das Gegenteil istwahrscheinlich. In der Entstehungsweise liegt keine Garantieder Re-Aktualisierbarkeit.

Rückblickend können wir von hier aus erkennen, wes-halb Strukturen sozialer Systeme für die Beteiligten die Formgeneralisierter Verhaltens- oder Erwartenserwartungen an-nehmen.199 Durch Generalisierung und Reflexivität kanndieses Problemunvermeidlicher Latenz inAnnäherung gelöstbzw. entschärft werden. Mit der Form der Generalisierungund des Rechnens mit bloßen Möglichkeiten wird erreicht,daß eine Struktur sich ins reflexive (und sich somit als un-terschiedlich bewußtmachende) Bewußtsein der Beteiligtenannähernd adäquat übersetzt. Diese können ihr Erleben undHandeln auf diese Weise an Strukturen orientieren. So er-reicht das soziale System über Strukturbildung doppelteSelektivität : zunächst die Selektion der Struktur selbst auseiner unbestimmt hohen Zahlmöglicher Verhaltenskombina-tionen und sodann die strukturabhängige (aber keineswegs:strukturell determinierte) Selektion des Verhaltens selbst.

Eine weitere Konsequenz jener Grundvoraussetzung dop-pelkontingenter Selektivität ist die prinzipielle Unwieder-holbarkeit und Irreversibilität aller Kommunikationspro-zesse.200 Dadurch, daß eine Selektion zur Prämisse für anderewird, wird der Kommunikationsprozeß von selbst asym-metrisch, wie immer gleichberechtigt und »zwanglos« die

199 Vgl. oben in diesem Kapitel, Abschnitt 6.200Dies betont z.B. auch Dean C. Barnlund, »A Transactional Model of

Communication«, in: Kenneth K. Sereno, C. David Mortensen (Hg.),Foundations of Communication Theory, New York u. a. 1970, S. 83-102(92f.).

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Beteiligten zu kommunizieren meinen. Kommunikations-prozesse strukturieren sich selbst durch die Geschichte ihresVerlaufs, und sie können sich gegen die Gefahr des Festfah-rens in immer engeren Themen nur schützen durch die mitallem Sinn gegebene Möglichkeit der Re-Thematisierung ver-gangener Strukturbildungsleistungen, eine Möglichkeit, dieindes Zeit und Aufmerksamkeit und gegebenenfalls auchDurchsetzungskraft erfordert, also nur begrenzt aktualisiertwerden kann. Wiederholungen und problematisierende Re-Thematisierungen sind nicht prinzipiell unmöglich, setzenaber als Normalleistungen besondere Systemstrukturen vor-aus, die ihre Wahrscheinlichkeit erhöhen.

9. Konflikte

Die komplizierte Darlegung eines auf doppelkontingenter Se-lektivität aufgebautenKommunikationsbegriffs zahlt sich aus,wenn wir gleich im Anschluß daran zwei Themen erörtern,die noch in den Zusammenhang einer allgemeinen Theoriesozialer Systeme gehören, nämlich Konflikte und reflexiveProzesse (10). Beide Themen behandeln wir nicht polemischals Alternativen zur Systemtheorie, wie das in literarischenKontroversen zuweilen geschieht (Konfliktstheorie versusSystemtheorie; kritische Theorie versus Systemtheorie),201

201 Vgl. z.B. Ralf Dahrendorf, »Out of Utopia: Toward a Reorientation ofSociological Analysis«, American Journal of Sociology 64 (1958), S. 115-127; auch in ders., Pfade aus Utopia: Arbeiten zur Theorie und Me-thode der Soziologie, München 1967; Lewis A. Coser, Theorie sozialerKonflikte, Neuwied 1965, Neudruck 1972 (dt. Übers.); Irving L. Ho-rowitz, »Consensus, Conflict and Cooperation: A Sociological Inven-tory«, Social Forces 41 (1962), S. 177-188; Randall Collins, »A Com-parative Approach to Political Sociology«, in: Reinhard Bendix (Hg.),

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sondern sehen in ihnen strukturell besonders wichtige Son-derformen der Kommunikation in Systemen. Erst der soebendargestellte Kommunikationsbegriff erschließt den Zugangzu dieser Auffassung.

Kommunikation kommt nur bei nichtidentischer Selekti-vität zustande und kann nur bei nichtidentischer Selektivitätfortgesetzt werden; sie ist damit schon strukturell gegen volleHarmonie, sei es als Vorbedingung, sei es als Resultat, ge-schützt. Sie hat weder das Ziel noch die Funktion, Konsensherzustellen, verläuft andererseits normalerweise aber auchnicht streitig. Sie verbindet unterschiedliche Selektionsakte,stellt Selektionssequenzen her. In ihre Prozeßstruktur ist dieMöglichkeit der Negation uneliminierbar eingebaut; ein Ne-gationspotential ist schon mit der bewußten Nichtidentitätselbst gegeben und ist überdies, wie wir gesehen haben, einnotwendiges Korrektiv der Kettenbildung.

Diese Nichtidentität ist Grundbedingung der MöglichkeitvonKonflikten, aber nicht selbst schon einKonflikt. VonKon-flikten wollen wir nur dann sprechen, wenn die Reproduktionvon Selektionsleistungen verweigert und diese Verweigerung ih-rerseits zum Gegenstand der Kommunikation gemacht wird.Konflikte setzen mithin das Verstehen einer angetragenen Se-lektionsleistung voraus, sie setzen ferner die Fähigkeit voraus,Zumutung und Annahme zu unterscheiden, und sie treten

State and Society, Boston 1968, S. 42-67; T.B. Bottomore, »SociologicalTheory and the Study of Social Conflict«, in: John C. McKinney, Ed-ward A. Tiryakian (Hg.), Theoretical Sociology: Perspectives and De-velopments, New York 1970, S. 137-153. Dazu kritisch: A.L. Jacobson,»ATheoretical and Empirical Analysis of Social Change and Social Con-flict Based on Talcott Parsons’ Ideas«, in: Herman Turk, Richard L.Simpson (Hg.), Institutions and Social Exchange: The Sociologies ofTalcott Parsons and George C. Homans, Indianapolis, New York 1971,S. 344-360.

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dann aktuell auf, wenn über die Verweigerung der Annahmekommuniziert wird.

Diese den Konflikt aktualisierende Kommunikationbraucht nicht notwendig Sprachform anzunehmen, obwohldas naheliegt. Sie kann auch in einem für beide Seiten be-wußten Wahrnehmen absichtlicher Verweigerung, also etwatätlichen Ungehorsams oder Unglaubens, liegen.202 Entschei-dend ist, daß die Verweigerung als zurechenbarer selektiverAkt rückkommuniziert wird und damit für das soziale System,in dem dies stattfindet, Geschichte macht.

Keineswegs impliziert dieser Konfliktsbegriff, daß einKonflikt sich immer unter Inanspruchnahme von Machtabspielt. Diese oft vertretene Auffassung203 ist viel zu eng.Die Verweigerung der Reproduktion von Selektionsoffertenkann sich im Bereich eines jeden gesellschaftlichen Kom-munikationsmediums abspielen, kann etwa auch zu einemWahrheitskonflikt führen, indem jemand bestreitet, daß eineInformation stimmt, oder zu einem Liebeskonflikt, indem je-mand sich selbst dem anderen verweigert und ihn doch liebt.Überhaupt brauchen Konflikte durchaus nicht in dieser Forman bestimmten gesellschaftlichen Kommunikationsmedienorientiert zu sein; Konflikt ist gegenüber derart spezialisier-ten Ausprägungen ein sehr viel allgemeineres alltäglichesPhänomen.

Es ist üblich, manifeste und latente Konflikte zu unter-scheiden. Diese Unterscheidung kann jetzt präzisiert werden.

202 Gerade ein demonstrativer Tatkonflikt, mit dem die Sprachebene alsnutzlos mitverweigert wird, hat oft eine besondere Schärfe. Sie kannzum Beispiel auch die Konfliktform dessen sein, der sich argumentativvon vornherein unterlegen fühlt und Angst davor hat, »überredet« zuwerden.

203 Vgl. z.B. KurtHolm,Verteilung undKonflikt: Ein soziologischesModell,Stuttgart 1970.

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Eine rückkommunizierte Annahmeverweigerung kann mit-samt ihren Folgen für das System antizipiert und ebendeshalbvermieden werden. Orientiert ein soziales System sich ansolchen Vermeidungsantizipationen, handelt es sich, je nach-dem, um einseitig oder beidseitig latente Konflikte.204 Latentbleibt zum Beispiel ein Konflikt, wenn Ideologen wissen, daßihreWahrheitsprätention nicht akzeptiert wird, den Partnernaber die Sprache oder der Mut für eine offene Annahmever-weigerung fehlt; oder wenn aus Furcht vor Ungehorsam garnicht mehr befohlen wird. Ehen stecken voller latenter Kon-flikte dieser Art, auch museumsreife Kunstrichtungen oderKirchen, die es nicht wagen, den Glauben ihrerMitglieder aufdie Probe zu stellen.

Konfliktswahrscheinlichkeiten hängen ab von System-größe und Komplexität. Wenn es in einem System Personen,Gärten und Schweine gibt, wächst mit der Zahl der Perso-nen, die Gärten und Schweine haben, dieWahrscheinlichkeit,daß die Schweine des einen den Garten eines anderen ver-

204 Ich vermeide damit bewußt einen sehr weiten Begriff von latentemKonflikt, der auf die bloße Existenz struktureller Widersprüche, unter-schiedlicher Wertungen oder divergierender Aktivitäten abstellt, alsoauf Bedingungen, die in jedem Sozialsystem gegeben sind. So z.B.Lars Dencik, »Plädoyer für eine revolutionäre Konfliktforschung«, in:Dieter Senghaas (Hg.), Kritische Friedensforschung, Frankfurt/M. 1971,S. 247-270 (254). Diese Begriffsbildung ist vor allem deshalb unzweck-mäßig, weil man als Soziologe weiß, daß die Themen offener Konfliktesolchen latenter Problemlagen keineswegs zu entsprechen brauchen.Zweifel an dem Nutzen einer solchen Unterscheidung äußert auchHans Jürgen Krysmanski, Soziologie des Konflikts: Materialien undMo-delle, Reinbek 1971, S. 222. Für die Bezeichnung des allgemeinen Tatbe-standes struktureller bzw. prozessualer Inkompatibilitäten stehen imübrigen andere Ausdrücke wie »strains«, »tensions«, Spannungen zurVerfügung, deren Benutzung man kaum – wie Coser, Theorie sozialerKonflikte, S. 19ff. – als Ausweichen vor dem Konfliktsproblem deutendarf.

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wüsten.205 Es steigt der »Irritationskoeffizient« des Systems,das Verhältnis von Konfliktswahrscheinlichkeit und Größe,wenn nicht darauf abgestellte strukturelle Korrekturen ein-springen, die entweder mögliche Relationen verhindern oderverhindern, daß sie Konfliktform annehmen. Mit zunehmen-der Größe und Komplexität können Konflikte nicht mehrdem Zufall ihrer Entstehung überlassen, sie können erst rechtnicht unterdrückt werden, sondern müssen ihrerseits selek-tiv behandelt werden.206 Wir werden noch sehen,207 daß dieSelektion von Konflikten für ernsthafte Durchführung undEntscheidung dann nicht mehr den Interaktionssystemenüberlassen bleiben kann.

Im Unterschied zur großen, dramatischen Attitüde man-cher Konfliktstheorien setzt dieser Konfliktsbegriff im Klei-nen und Okkasionellen an: in der laufenden selektiven Nicht-akkordierung. Konflikte werden damit als gleichsam zufälligauftretende, zumeist folgenlose Phänomene angesehen, dienach den ersten Kommunikationsschritten in sozialen Sy-stemen selektiver Behandlung unterliegen, sei es, daß sie ba-gatellisiert und absorbiert,208 sei es, daß sie generalisiert undverstärkt werden.Dieses Konzept bietet einenAusgangspunkt

205 Dieses Beispiel bei Roy R. Rappaport, Pigs for the Ancestors: Ritual inthe Ecology of a New Guinea People, New Haven, London 1967, S. 116f.

206Siehe als einen ersten Ansatz die Unterscheidung von Bagatellkonflik-ten und ernsten Konflikten bei den Tsembaga nach Rappaport, Pigs forthe Ancestors, S. 119ff.

207 Vgl. in diesem Teil das Kap. IV.208Hierzu gibt es Forschungen über Formen der Entschuldigung oder der

Rechenschaftslegung und über Bedingungen ihres Konflikte bereini-genden Erfolgs. Vgl. insb. Marvin B. Scott, Stanford M. Lyman, »Ac-counts«, American Sociological Review 11 (1968), S. 46-62; Elaine Wal-ster, Ellen Berscheid, G. William Walster, »The Exploited: Justice orJustification«, in: JacquelineMacaulay, LeonardBerkowitz (Hg.),Altru-ism and Helping Behavior: Social Psychological Studies of Some Antece-dents and Consequences, New York, London 1970, S. 179-204; PhilipW.

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für die Ausarbeitung spezieller Konfliktstheorien, etwa vonTheorien über konfliktverstärkende soziale Bewegungen209

oder von Theorien über interaktionelles Verhalten in aufStreit spezialisierten Sozialsystemen. Auf dieser Grundlagekann der Konfliktsbegriff in die Evolutionstheorie eingear-beitet werden. Konflikte sind vor allem als Komponenten derevolutionären Mechanismen für Variation und für Selektionzu berücksichtigen.210 Schließlich ermöglicht es diese Kon-zeption, im Ausgang von Interaktionssystemen zu klären,daß und wie die Freisetzung und Hemmung von Konfliktenauf den einzelnen Ebenen der Systembildung variiert. Daswird dann die Hypothese stützen, die wir im Abschnitt 2 desKapitels IV dieses Teils ausarbeiten wollen: daß mit zuneh-mender Ebenendifferenzierung das Konfliktspotential einerGesellschaft steigt.

10. Reflexivität

Doppelkontingente Selektivität ermöglicht Konflikte, formu-liert und absorbiert ihr strukturelles Risiko in Kommunika-tionsprozessen, die Ablehnungen thematisieren, mit denenman dann irgendwie fertig werden muß. Den gleichen Aus-gangspunkt haben Prozesse, die wir unter dem Begriff derReflexivität zusammenfassen wollen. Es liegt deshalb nahe, inder Notwendigkeit der Unterdrückung oder Absorption vonKonflikten einen wichtigen Anlaß zur Ausbildung reflexiverMechanismen zu sehen, deren Funktion dann freilich nicht

Blumstein u. a., »The Honoring of Accounts«, American SociologicalReview 39 (1974), S. 551-566.

209Vgl. als ein theoretisch durchdachtes Beispiel Smelser, Theory of Collec-tive Behavior.

210 Vgl. unten, Teil 2, Kap. II.

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an den Entstehungsanlaß gebunden ist und sich nicht in derRegelung von Konflikten erschöpft, sondern weit darüberhinausgreift.

Unter der strukturellen Bedingung doppelkontingenterSelektivität kann jeder Teilnehmer sich zu Selektionen se-lektiv verhalten und ist damit in der Lage, die Selektivitätvon Selektionen zu thematisieren. Er kann Selektionen durchZurechnung im System »lokalisieren«, kann sie im Interesseanderer Möglichkeiten negieren, und die Sprache gibt ihmdazu die Möglichkeit, über das Gesprochensein des Gespro-chenen wieder zu sprechen. Diese Möglichkeit beruht unteranderem darauf, daß man anderen gegenüber größere Nega-tionsfreiheiten hat als gegenüber sich selbst.211 Nur in bezugauf andere (und in bezug auf sich selbst nur, wenn man sichin der Reflexion objektiviert) kann man erlebten oder han-delnd intendierten Sinn negieren, obwohl er intendiert war.Diese Möglichkeit ist, wenn es überhaupt zur Kommuni-kation kommt, als Möglichkeit nicht eliminierbar, sondernallenfalls unterdrückbar. Ein System, in dem unter der Be-dingung doppelkontingenter Selektivität kommuniziert wird,kann deshalb prinzipiell nicht ausschließen, daß der Kom-munikationsprozeß sich auf sich selbst bezieht: auf seinenAnfang und sein Ende, auf seine Vergangenheit und seineZukunft, auf seine Themen, auf die Beiträge der Teilnehmeroder gar auf die Einheit (Identität) des Kommunikationssy-stems.212 Bei einer Kommunikation über Kommunikation

211 Vgl. dazu Niklas Luhmann, »Über die Funktion der Negation in sinn-konstituierenden Systemen«, in: HaraldWeinrich (Hg.), Positionen derNegativität, München 1975, S. 201-218, Wiederabdruck in: Niklas Luh-mann, Soziologische Aufklärung 3: Soziales System, Gesellschaft, Orga-nisation, Opladen 1981, S. 35-49.

212 Eine gute Behandlung dieses Problems unter dem Titel »formulations«ist: Harold Garfinkel, Harvey Sacks, »On Formal Structures of Practical

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wird deren Thema (vorläufig) neutralisiert und statt dessendie Kommunikation selbst unter dem einen oder anderenGesichtspunkt zum Thema gemacht. Diese Möglichkeit soll– als ein Fall der allgemeineren Form der Selbstreferenz –Reflexivität der Kommunikation genannt werden.

Gesichtspunkte reflexiver Thematisierung von Kommu-nikationen sind stets selektiv, nie total auf die thematisierteKommunikation bezogen. Sie erfassen Äußerlichkeiten oderGründe für Selektionen, Zulassung von Teilnehmern oderAbgrenzungmöglicher Themen, Zeit- oderRaumbestimmun-gen oder was sonst unter Steuerungsgesichtspunkten relevantwird – aber nie alles auf einmal. Totalthematisierung würdevielmehr die Differenz zwischen der Kommunikation als Pro-zeß und der Kommunikation, über die kommuniziert wird,zum Verschwinden bringen, man könnte dann wieder nureinfach kommunizieren. Reflexivität führt aus der Totalitätdes unmittelbar-gemeinsamen Kommunizierens hinaus undkann sie dann nur in der Form der Identifikation wiederher-stellen – als Thematisierung des Systems, das kommuniziert.

Auf konkreteren Stufen der Analyse könnte man für be-stimmte soziale Systeme (bzw. für Typen sozialer Systeme)näher ausarbeiten, welche Funktionen solche Reflexivität hat,auf welche Aspekte des Kommunikationsprozesses sie sichvorzugsweise bezieht, aus welchen Anlässen und mit welchenFolgen für die Fortsetzung der Kommunikation sie faktischvorkommt. Solche Fragenmüssenwir hier zurückstellen. Vonallgemeiner Bedeutung ist jedoch die Tatsache, daß unterden angegebenen Bedingungen die Möglichkeit des Refle-xivwerdens kommunikativer Prozesse als Möglichkeit nicht

Actions«, in: John C. McKinney, Edward A. Tiryakian (Hg.), Theoret-ical Sociology: Perspectives and Developments, New York 1970, S. 337-366.

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eliminiert werden kann. Ob sie und in welchen Hinsichtensie in faktischer Kommunikation realisiert wird oder nicht –sie ist und bleibt eine wirkliche Möglichkeit. Sie gehört alsMöglichkeit zur Struktur sozialer Systeme. Ihr Ergreifen wirdlaufend nahegelegt – zum Beispiel durch die Grenze zur Um-welt mit der Möglichkeit, das System von außen zu sehen;durch den sprachlichen Gebrauch von sogenannten »index-ical expressions« wie »ich«, »du«, »hier«, »gestern«, »bald«,die nur aus der Kommunikationslage heraus verständlichsind und diese appräsentieren; oder auch durch Zurechnun-gen und Adressierungen kommunikativer Akte. Sie ist einAspekt dessen, was wir oben213 Regenerationsfähigkeit sozia-ler Systeme genannt hatten.

Die Bedeutung dieser Möglichkeit läßt sich an einem Son-derproblem von erheblicher Tragweite illustrieren. Nichtselten wird in sozialen Interaktionen der Selektivität desanderen dadurch Rechnung getragen, daß man ihm eineAlternative zur Auswahl vorschlägt und implizit oder ex-plizit andere Möglichkeiten ausschließt. Der andere kannsich dann auf diese Alternative einlassen und wählen; oderer kann gerade die Alternative als solche zur Diskussion stel-len. Jeder Alternativenkonstruktion kann mithin im weiterenVerlauf der Interaktion die Basis wiederum entzogen wer-den.214 Vorgeschlagene Selektionsbeschränkungen bleibenmithin bestreitbar – und dies auch und vielleicht gerade dann,wenn ihr Konstruktionsprinzip oder ihr Grund kenntlich ge-macht wird. Binäre Schematismen von Dauergeltung (zumBeispiel zweiwertige Logik, Recht/Unrecht, Eigentum/Nicht-

213 Vgl. Kap. II.2 (S. 107).214 Vgl. dazu (und zugleich zur Tragweite dieses Problems der Alternati-

venkonstruktion)GeorgeA. Kelly, »Man’s Construction ofHisAlterna-tives«, in: Gardner Lindzey (Hg.), Assessment of Human Motives, NewYork 1958, S. 33-64.

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eigentum) müssen deshalb »höher abgesichert« und relativkontextfrei institutionalisiert werden, so daß ein Interesse aneinem Bestreiten der Disjunktion selbst (im Unterschied zueinem Interesse an Wahrheit, an Recht, an Eigentum) sichnicht so leicht formieren und verständlich machen kann.

Dieses Beispiel zeigt zweierlei : die spezifischen Chancenreflexiver Kommunikation bei derWiederherstellung von Be-weglichkeit, beim Gegenwirken gegen den historischen Pro-zeß der Sedimentierung von Sinn, und die spezifischenAnfor-derungen an Strukturen, die einer solchen Dauerreflexivitätgewachsen sind. Auch dies scheint, wie im Falle von Strukturund Umweltabgrenzung, nicht nur ein Erfordernis, sondernzugleich eine Variable sozialer Systeme zu sein. Ihr Potentialfür Reflexivität ist strukturabhängig und wiederum struktur-formend und kann in sehr verschiedenen Ausprägungen vor-liegen. Über das bloße Aufzeigen dieses Problems kommenwir an dieser Stelle daher nicht hinaus. Alles Weitere hängtzu sehr davon ab, auf welcher Ebene der Systembildung einsoziales System sich realisiert.

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Ausführliches Inhaltsverzeichnis

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Teil 1Soziale Systeme: Interaktion, Organisation, Gesellschaft . 19

Kapitel I – Grundbegriffe der Systemtheorie . . . . . . . . . . . . 251. Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252. Prozeß und Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593. System und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684. Interpenetration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805. Kategoriale und forschungstechnische Probleme . . . . . 85

Kapitel II – Konstitution sozialer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . 901. Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 902. Soziale Kontingenz und Selektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . 1003. Handlung als Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1084. Wert, Programm, Rolle, Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1145. Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1196. Generalisierung von Verhaltenserwartungen . . . . . . . . 1317. Abgrenzung der Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1358. Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1469. Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16010. Reflexivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Kapitel III – Ebenen der Systembildung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1701. Interaktionssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1742. Organisierte Sozialsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1843. Gesellschaftssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

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Kapitel IV – Ebenendifferenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2011. Evolutionäre Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2022. Konfliktspotentiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2203. Generalisierung der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2304. Soziale Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2385. Interdependenzen und Übergänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2446. Systemtheoretische Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

Teil 2Gesellschaftliche Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

Kapitel I – Evolutionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2671. Alte Konzeptionen und neue Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . 2672. Systemtheoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2743. Variation – Selektion – Stabilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . 2864. Neutralisierung von Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2955. Steigerung der Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

Kapitel II – Mechanismen soziokultureller Evolution . . . . 3111. Soziokulturelle Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3112. Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3173. Variation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3224. Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3355. Stabilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3466. Differenzierung der evolutionären Mechanismen . . . . 3607. Diffusion und Expansion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3668. Devolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

Kapitel III – Gesellschaftsformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3861. Gesellschaft als selbstsubstitutive Ordnung . . . . . . . . . . 3862. Errungenschaften und Überleitungen . . . . . . . . . . . . . . . 391

(a) Kollektiv bindende Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . 398

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(b) Professionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403(c) Stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407(d)Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411

3. Strukturelle Kompatibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4144. Kriterien der Typen- und Epochenbildung . . . . . . . . . . 4205. Archaische Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4266. Hochkulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4327. Weltgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441

Teil 3Kommunikationsmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451

Kapitel I – Grundlagen der Medienbildung . . . . . . . . . . . . . 4561. Kommunikation, Selektionsübertragung,

Selektivitätsverstärkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4562. Symbolische Generalisierung und

Institutionalisierung binärer Codes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461

Kapitel II – Medientypen und Medienprobleme . . . . . . . . . 4761. Erleben und Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4762. Medientypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487

(a) Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489(b) Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499(c) Eigentum/Geld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506(d)Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514

3. Problemstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5184. Symbiotische Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5225. Selbstbefriedigungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5366. Konvertibilität der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5417. Kettenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5488. Reflexivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5579. Nebencodes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571

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10. Kontingenzformeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57811. Perfektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58912. Moralisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595

Kapitel III – Lebenswelt und Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6001. Lebenswelt – Entwicklung zur Reflexivität . . . . . . . . . . . 6002. Technisierung und Rationalisierung –

Transformation der Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6063. Kommunikationsmedien als Technik . . . . . . . . . . . . . . . . 613

Teil 4Gesellschaft als System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621

Kapitel I – Intersubjektive Konstitution der Welt . . . . . . . . 6271. Phänomenologie und Gesellschaftstheorie . . . . . . . . . . . 6272. Welt als Sinnhorizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6313. Dimensionen der Welt: sachlich, zeitlich, sozial . . . . . . 6554. Intersubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669

Kapitel II – Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems 6751. Vorbemerkungen zur Theorie der System-

differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6752. Aggregation und Koordination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6953. Ausdifferenzierung in einer selbstkonstituiertenWelt? 7074. De-Sozialisation der Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7105. Gesellschaft als spezifisch soziales Handlungssystem 7186. Umweltlage der Weltgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7387. Auflösevermögen, Selektionsvermögen, Komplexität 760

Kapitel III – Innendifferenzierung des Gesellschafts-systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 770

1. Schichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773

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2. Funktionale Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7853. Funktion, Leistung, Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8024. Nebenfolgen funktionaler Differenzierung . . . . . . . . . . . 816

Kapitel IV – Die Größenverhältnisse und die Strukturendes Systems der Weltgesellschaft . . . . . . . . . . . 864

1. Wachstum und Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8642. Selbstlimitierung durch Größe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8713. Massenkommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8834. Komplexität der Weltgesellschaft:

Geschichte und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 903

Teil 5Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 911

Kapitel I – Selbstthematisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9131. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9132. Rückprojektion funktionaler Primate . . . . . . . . . . . . . . . . 9233. Leitfaden der Negation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9424. Selbstthematisierung durch Gesellschaftstheorie . . . . . 9485. Weltgesellschaft als System: Theoriegeschichtliche,

systembezogene und reflexionslogische Abgrenzungen 9606. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 978

Kapitel II – Gesellschaftstheorie als Wissenschaft . . . . . . . . 9831. Gegenstandsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9832. Bedingungen der Möglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9913. Selbstreferentielle Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10004. Limitationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10075. Funktionale Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10176. Funktion und Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1027

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7. Funktionale Äquivalente und Bezugsprobleme:Risiken der Auflösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1047

Kapitel III – Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10611. Negation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10622. Handlungsrationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10713. Systemrationalität und Weltrationalität . . . . . . . . . . . . . . 10794. Mehrheit von Systemreferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10885. Konsistenz und Aufschub von Negationen . . . . . . . . . . . 1097

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1103

Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1105Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1117