92
Hierarchische oder heterarchische Stadt? Metropolen-Diskurs und Metropolen- Produktion im Wien des Fin-de-siècle. Gerhard Meißl Was braucht Wien? Unter diesem Titel veranstaltete das „Illustrirte Wiener Extrablatt“ zu Ostern 1909, während einer Phase hitziger Diskussionen um diver- se Verkehrs- sowie Abriß- und Neubauprojekte in der Inneren Stadt, 1 eine Umfrage unter „hervorragenden und bedeutenden Männer des öffentlichen Lebens“. „Wien? Wir alle lieben diese Stadt aus ganzem Herzen so wie sie ist. Und die Fremden stimmen ein. Was aber braucht Wien? Ist es nicht wunderschön und groß und anmutig und voll der kostbarsten Rei- ze? Gewiß. Aber der Enthusiasmus hat auch seine Schattenseiten. Er trübt den unbefangenen Blick, nimmt der Freundschaft die Wahr- heit. Schließlich und endlich hat eine Weltstadt auch ihre Ziele, ihre Hoffnungen, ihren Ehrgeiz. Und wäre sie alles, sie möchte gerne noch mehr sein. Sie möchte im Rang und in der Bedeutung den an- deren Hauptstädten dieser Erde nicht nur gleich werden, sondern sie noch übertreffen. Das ist der Kernpunkt der Frage. Sagt uns, Ihr Männer der Kunst, der Wissenschaft, des öffentlichen Lebens in je- dem Sinne, was Euch Wien verspricht, worin es Euch enttäuscht, wo Keime zur Entwicklung sind, und wo solche verkümmern.“ Die Stadt war seit zehn, fünfzehn Jahren in einer Phase raschen Um- bruchs und ihrer Bewohnerschaft offenbar zunehmend zum Problem 284 Onlinequelle: Demokratiezentrum Wien - www.demokratiezentrum.org Printquelle Horak, Roman u.a. (Hg.), Metropole Wien. Texturen der Moderne, Band 1, WUV Verlag, Wien 2000, S. 284-375.

Hierarchische oder heterarchische Stadt? Metropolen ...Mit den 1890er Jahren, die von der Herausbildung gewaltiger groß-städtischer Ballungsräume sowie von zunehmender Modernisierung,

  • Upload
    others

  • View
    3

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Hierarchische oder heterarchische Stadt?Metropolen-Diskurs und Metropolen-Produktion im Wien des Fin-de-siècle.

Gerhard Meißl

Was braucht Wien?

Unter diesem Titel veranstaltete das „Illustrirte Wiener Extrablatt“zu Ostern 1909, während einer Phase hitziger Diskussionen um diver-se Verkehrs- sowie Abriß- und Neubauprojekte in der Inneren Stadt,1

eine Umfrage unter „hervorragenden und bedeutenden Männer desöffentlichen Lebens“.

„Wien? Wir alle lieben diese Stadt aus ganzem Herzen so wie sie ist.Und die Fremden stimmen ein. Was aber braucht Wien? Ist es nichtwunderschön und groß und anmutig und voll der kostbarsten Rei-ze? Gewiß. Aber der Enthusiasmus hat auch seine Schattenseiten. Ertrübt den unbefangenen Blick, nimmt der Freundschaft die Wahr-heit. Schließlich und endlich hat eine Weltstadt auch ihre Ziele, ihreHoffnungen, ihren Ehrgeiz. Und wäre sie alles, sie möchte gernenoch mehr sein. Sie möchte im Rang und in der Bedeutung den an-deren Hauptstädten dieser Erde nicht nur gleich werden, sondern sienoch übertreffen. Das ist der Kernpunkt der Frage. Sagt uns, IhrMänner der Kunst, der Wissenschaft, des öffentlichen Lebens in je-dem Sinne, was Euch Wien verspricht, worin es Euch enttäuscht, woKeime zur Entwicklung sind, und wo solche verkümmern.“

Die Stadt war seit zehn, fünfzehn Jahren in einer Phase raschen Um-bruchs und ihrer Bewohnerschaft offenbar zunehmend zum Problem

284

Onlinequelle: Demokratiezentrum Wien - www.demokratiezentrum.orgPrintquelle Horak, Roman u.a. (Hg.), Metropole Wien. Texturen der Moderne, Band 1, WUV Verlag, Wien 2000, S. 284-375.

geworden. Und es bestand auch durchaus keine Einigkeit, was dasProblem war und welche die Lösungsmöglichkeiten. Abgesehen vonetlichen Antworten, die sich unmittelbar aus der vom jeweiligen Tätig-keitskontext der Interviewten ableitbaren Interessenlage ergaben, fandsich eine recht eindeutige Scheidelinie. Auf der einen Seite standen je-ne, die weiterhin die Stadt nach ihrem idealisierten Bild von „Alt-Wien“ imaginierten. „Pietät für das Erbe der Vorfahren“ forderteFreiherr von Helfert, Mitglied des Herrenhauses, und für Eduard Lei-sching, Vizedirektor des Österreichischen Museums, stand fest: „WasWien braucht? Wien, das alte, schöne Wien, das uns allen ans Herz ge-wachsen ist! Man soll ihm seinen Charakter lassen, den lieben, trau-ten anheimelnden, den altwienerischen, in dem sich Mittelalter undBarockstil und Biedermeiertum so harmonisch zusammengefügt hat.“Die Kontraposition vertraten diejenigen, die sich mehr Modernisie-rungsdynamik und Offenheit für ihre Stadt wünschten. „Mehr Tempound mehr Toleranz“ monierte etwa der Naturwissenschaftler ErnstLudwig, ebenfalls ein Herrenhausmitglied, und Otto Wagner formu-lierte provokant: „Was ist dieses sakrosankte alte Kriegsministerium(eines der Hauptstreitobjekte, G.M.)? Ein alter Kasten. Wir leben fürdie Lebendigen und nicht für die Toten. Wenn die Menschen Totes se-hen wollen, so gehen sie in ein Museum. Wir wollen in einer moder-nen Stadt wohnen, die allen ästhetischen und hygienischen Anforde-rungen entspricht.“ Karl Lueger allerdings, der mit seiner christlich-sozialen Partei die Geschicke dieser Stadt seit mehr als einem Jahr-zehnt maßgeblich mitgeformt hatte, gab eine eigentümlich ambivalen-te Antwort, die seine zugleich von Modernisierung und populisti-schem Klientelismus bestimmte Linie2 aber gut charakterisierte undWiens janusköpfige Haltung zur Modernität auf den Begriff brachte:„Es ist in Wien schon vieles geleistet worden; es bleibt noch immer vie-les zu leisten übrig. Man darf nicht bequem werden. Große Werkebringen große Arbeitsgelegenheiten und Erwerbsmöglichkeiten; sie er-zeugen zufriedene Menschen. Und Wien braucht zufriedene Men-schen.“3

285

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

Grundlinien der Stadtentwicklung 1890–1914

Mit den 1890er Jahren, die von der Herausbildung gewaltiger groß-städtischer Ballungsräume sowie von zunehmender Modernisierung,Internationalisierung und Konvergenz der nationalen Ökonomien ge-kennzeichnet waren,4 wurde auch das gegenüber den westeuropäi-schen hauptstädtischen Zentren ziemlich in Rückstand befindliche Wi-en in eine beschleunigte Phase metropolitaner Entwicklung hineinge-zogen.5 Wien war auch zu diesem Zeitpunkt noch durch eine rechtklar überschaubare, dreifach gestufte und annähernd kreisförmigehierarchische Raum-Struktur charakterisiert: Im Zentrum die InnereStadt, Sitz des Hofes und zahlreicher Behörden, Standort von Banken,Firmenzentralen etc., und Oberschicht-Wohngebiet. Nach der erstenStadterweiterung von 1857 hatte die von der beginnenden Tertiärisie-rung ausgehende Verdrängungsdynamik im Ringstraßenbereich genü-gend Raum gefunden und so diese Vorrangstellung des Zentrums oh-ne radikale Eingriffe in die Altbausubstanz noch verstärkt. Jenseits desDonaukanals war der 2. Bezirk und außerhalb der Ringstraße warendie Bezirke 3 bis 9 an die Innere Stadt angelagert, mit überwiegendbürgerlicher Wohnbevölkerung, stark durchmischt mit Handels- undGewerbestandorten. Der Schwerpunkt der letztgenannten Aktivitätenlag im 6. und 7. Bezirk, wo sich seit dem 18. Jahrhundert ein häufigverlagsmäßig organisierter, netzwerkartig strukturierter Cluster vonFirmenzentralen und zuliefernden Kleinmeistern und Heimarbeiter/in-nen gebildet hatte. Auch die noch nicht sehr zahlreich vertretene In-dustrie befand sich zum guten Teil mitten im Stadtgebiet, zum Teil als„Hinterhofindustrie“ in Wohngebäude integriert. Das schon zu An-fang des Jahrhunderts immer wieder geäußerte Anliegen revolutions-ängstlicher Bürokraten und Bürger, das „gefährliche Proletariat“durch Verlegung der Fabriken aus dem Weichbild der Stadt zu ver-drängen, hatte sich also nur mit Einschränkungen durchsetzen lassen.

Als physische und zugleich administrative Stadtgrenze legte sich umden Kranz der Bezirke 3 bis 9 der Anfang des 18. Jahrhunderts er-richtete Linienwall. Die seit 1829 auf viele Güter des täglichen Bedarfs

286

G. Meißl

eingehobene Verzehrungssteuer war innerhalb der Stadt deutlichhöher, was viele Betriebe und die ärmere Wohnbevölkerung veranlaß-te, in die jenseits des Linienwalls gelegenen Vororte abzuwandern odersich gleich dort anzusiedeln, wo Grund- und Lebenshaltungskostenniedriger waren. So wurden die ursprünglich dörflichen Siedlungsker-ne im an den innerstädtischen Gewerbe-Cluster angelagerten Bereichentlang der Wien und nördlich davon bis Hernals allmählich zu einerurbanisierten Zone mit zahlreichen Klein- und Mittelbetrieben und ei-nem hohen Anteil von hier oder innerhalb der Stadt beschäftigten Ar-beiter/innen an der Wohnbevölkerung. Die landschaftlich reizvollerennordwestlich gelegenen Vororte wie Währing, Döbling oder Grinzingbehielten weitgehend ihren Charakter als Erholungszonen, wiesen we-niger Gewerbebesatz auf und wurden zu Mittel- Oberschichtwohnge-bieten. Ganz markant von Industriebetrieben und von einer dort be-schäftigten Arbeiterbevölkerung geprägte Zonen waren nur im Um-feld der Eisenbahnen entstanden: südlich im 1875 vom 4. Bezirk ab-getrennten und als 10. Bezirk konstituierten Favoriten, das damalsnoch kaum verbaut war, und außerhalb der Stadtgrenzen in Vorortge-meinden mit ursprünglich dörflichem Charakter, im Osten in Simme-ring, und im transdanubischen Norden in Floridsdorf, Jedlersdorf undLeopoldau.

Zur Kompaktheit und Homogenität des Stadtraums trug auch dasmäßige Niveau des öffentlichen Massentranports bei: die mangelndeInvestitionsbereitschaft privater Betreibergesellschaften, eine zah-lungschwächere Schichten ausschließende Tarifgestaltung, die starkePosition der um die Entwertung ihrer zentralen Grundstücke besorg-ten Hausbesitzer im Gemeinderat und die vom Interesse maßgeblicherkonservativer Kreise an der Erhaltung des Stadtbildes gespeiste Ab-lehnung der Heranführung leistungsfähiger Stadtschnellbahnen ansZentrum im Interesse des Stadtbildes bildeten eine wirksame Barrieregegenüber stärkerer räumlich-funktionaler Ausdifferenzierung sowierascherem flächenmäßigen Ausgreifen.6

Diese Konstellation eines die überkommenen Stadtstrukturen stabi-lisierenden Zusammenwirkens von wirtschaftlicher Rückständigkeit,

287

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

von Zentralitäts- und Agglomerationsvorteilen und von hegemoni-alen sozio-kulturellen Interessen dürfte mit dem Fortschreiten desStadtwachstums und der Beschleunigung des ökonomischen Wandelsin den 1880er Jahren soweit unter Druck geraten sein, daß zur besse-ren administrativen und infrastrukturellen Integration des über dieformalen Grenzen schon weit hinausgewachsenen Stadtgebietes nichtnur vom Standpunkt der Stadt selber sondern auch aus der Sicht einesGroßteils der Vorortgemeinden eine Erweiterung sinnvoll erschien.Ende 1890 wurde daher im niederösterreichischen Landtag mit großerMehrheit deren Eingemeindung beschlossen. Die Grundfläche derStadt wuchs dadurch um mehr als das Dreifache von 55,4 auf 178,1km2, und die Zivilbevölkerung vermehrte sich um fast zwei Drittelvon 817. 299 auf 1,341. 897 Einwohner (Stand Ende 1890).7 DieseRelationen machen deutlich, daß das neu zugewachsene Gebiet kla-rerweise einen wesentlich geringeren urbanen Verdichtungsgrad auf-wies als die alte Stadtregion. Für die Zeitgenossen war damit jedenfalls„Groß-Wien“ entstanden. Die ehemaligen Vorortgemeinden wurdenin die Bezirke 11 bis 19 zusammengefaßt, die sich mit dem 10. außer-halb der anstelle des Linienwalls angelegten Gürtelstraße gegenüberden nunmehrigen Innenbezirken 3 bis 9 aufreihten. Bis zum ErstenWeltkrieg kamen dann noch der 1900 auf Donau-Regulierungsgebietvom 2. abgetrennte 20. sowie 1904 der jenseits der Donau gelegene21. hinzu. Ende 1913 umfaßte das Stadtgebiet damit eine Fläche von278,1 km2 sowie eine (errechnete) Einwohnerzahl von 2,105. 964.8

Eine der ersten stadtplanerischen Maßnahmen war der 1893 be-schlossene Bauzonenplan, der im wesentlichen bisher eingetreteneEntwicklungstendenzen festschrieb: Zentrumsferne, im Umfeld derBahnen gelegene Zonen des 10., 11., 2., 19. und 20. Bezirks und (nachseiner Eingemeindung) des 21. Bezirks waren vorrangig für Industrie-anlagen bestimmt; in den stadtfernen, locker verbauten und grün-raumreichen Gebieten der Bezirke 12 bis 19 wurde die Bauhöhe aufzwei Stockwerke beschränkt; die Bezirke 1 bis 9 sowie die Außenbe-zirke in Gürtelnähe blieben Mischgebiete mit einer erlaubten Bauhöhevon vier bis fünf Stockwerken.9 Weitere bedeutende Schritte waren die

288

G. Meißl

Wienflußregulierung und der Stadtbahnbau sowie nach Beginn derchristlichsozialen Ära (1896) die Kommunalisierung und der Ausbauder Gas- und Elektrizitätsversorgung und des elektrischen Straßen-bahnbetriebes ab 1898/99.10 Alle diese Bereiche waren bisher in derHand privater Gesellschaften gewesen, und speziell die Gasversorgungund die (Pferde- und Dampf-)Straßenbahnen hatten wegen überhöhterTarife und mangelhafter Leistungen Anlaß zu ständiger Kritik gege-ben. Die Resultate des „Kommunalsozialismus“ waren unübersehbar,blieben aber weiterhin zwiespältig: Einerseits wurden durch diesenModernisierungsschub die Texturen der Stadt merklich schneller anjene der westlichen Metropolen angeglichen, andererseits wirkte dasFortbestehen des oben beschriebenen Stabilisierungs-Syndroms dieserDynamik entgegen. Die Konkurrenz einander widersprechender Stadt-Raum-Logiken mußte zu verschärften Spannungen führen.

Der Diskurs über die Stadt

Vor dem Hintergrund der tiefgreifenden regionalen und überregio-nalen Restrukturierungen eröffnete sich auch für das Reden über dieStadt und ihre räumlichen Ausprägungen ein erweitertes Feld. WiensRolle im internationalen Metropolen-Konzert, der durch die Neure-gulierungen im Innern veränderte Stadtraum und das Umgehen derWiener mit dieser Situation lieferten Anlaß für eine neuerliche Rundenun besonders heftiger Auseinandersetzungen. Ausgehend von denschon traditionellen, je nach Standpunkt positiv oder negativ besetz-ten Auto- und Hetero-Stereotypen wurde vermehrt um die Hegemoniefür die jeweils gewünschten Stadtbilder und die damit assoziierten Le-bensweisen gestritten.11

289

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

Sitte, Wagner und die Altstadt-Debatte

Einerseits begann die selbstgenügsame lokalistische Rekursivität zuerodieren, da man sich in einem vermehrten und beschleunigten Kom-munikationsfluß zunehmend mit abstrakteren, des lokalen Kontextesentkleideten Maßstäben auseinanderzusetzen hatte. Schon 1890,knapp vor der Stadterweiterung hatte sich „Wien’s Schutzgeist“ inholprigen Versen Sorgen um das abbröckelnde metropolitane Renom-mée seiner Stadt gemacht:

„Allen Deinen Schwestern auf dem ContinenteBerlin, Paris macht man – meinst Du – Complimente,So auch London, Britanniens Metropole;Um Dich – klagst Du – noch niemand freite,Dich schiebe man zur SeiteGleich ’nem verachteten Idole?“

und ihr dann mit einer langatmigen Zukunftsvision großartigenFortschritts Mut zugesprochen.12 Und 1899 konstatierte ein nach Jah-ren der Abwesenheit zurückgekehrter Beobachter des „neuen Wien“einen deutlichen Mentalitäts- und Verhaltenswandel:

„Es wird nicht mehr so viel Clavier geklimpert … Der unverschäm-te, um ein Jahrhundert nachhinkende Dilletantismus ist in Wien imAbnehmen begriffen: … Es heißt verdammt aufpassen und seine Kräf-te am rechten Fleck gebrauchen, wenn man in der neuesten Zeit mit-kommen will. Und die Wiener wollen mitkommen, sie sind ein sehrrühriges Volk geworden. Freilich gibt’s noch eine Menge Hindernisseder Entwickelung: aber wo man sie läßt, da können sie schon, dieWiener! Unsere guten Phäaken befinden sich in einem ganz merkwür-digen Umwandlungsprozeß: Die groben Sinne schleifen sich zu dünnerFeinheit ab, dafür nehmen die mageren Kenntnisse an Umfang undFülle fast täglich zu.“13

Bei der „Regulierung alter, unpraktischer und ungesunder Stadtthei-le“ trete freilich „in der Langsamkeit, Schwerfälligkeit, Unentschlos-

290

G. Meißl

senheit unserer Stadtväter ein hemmendes Element zutage“, und an-gesichts der Fortschritte in anderen Städten, z.B. Paris oder auch Bud-apest, müsse man sich hier klarmachen, „welche Gefahr des Zurück-bleibens für uns besteht“.14 Vor allem die umfangreiche Neuordnungdes Verkehrs wurde – am Beispiel von Otto Wagners Stadtbahn – mitungebrochenem Technik- und Fortschrittsoptimismus und frappierendüberheblicher Perspektive auf die Überlegenheit der Moderne begrüßt:

„Schöner als alle Wagner’schen Stationsgebäude der Stadtbahn fin-de ich seine prachtvoll kühne Brücke der Gürtelbahn bei Meidlingund die Absperrvorrichtung am Donaukanal mit den Löwen vonWeyr auf hochragenden Pfeilern. Diese beiden Werke haben mir ge-radezu die Bedeutung von Symbolen für das neue Wien gewonnen.… Da unten all das Gewimmel alter, schmutziger, halbverfallenerHäuschen, in denen die Menschen ängstlich und nothdürftig unter-kriechen und ihr armseliges Handwerk treiben. Und oben, stolz wieein Adler im Flug sich über das kriechende Gewürm hinweg-schwingt, zieht sich in weitem Bogen die mächtig gegitterte Brücke,auf colossale Quaderpfeiler gestützt, über das Thal … Dadurch wirdein Platz gebildet, der an Großartigkeit mit den schönsten amerika-nischen Anlagen wetteifern wird. Wie schön ist diese Überwindungtechnischer Schwierigkeiten! Diese Gitterträger mit ihrer großenSpannweite sind so rein und richtig in die Luft gezeichnet, die Pfei-ler sind in so vornehmen Proportionen gehalten, und durch die auf-gesetzten Pylonen mit ihrem Kranzschmuck ist ein so kräftiger Ab-schluß geschaffen, daß man sich mit den hochstrebenden Massenüber all das Kleinstadtgerümpel hinausgehoben fühlt in die weiteWelt, wo Riesenschiffe ziehen, Völkerkämpfe toben.“15

Solche Einschätzungen blieben nicht unwidersprochen, wie wir ein-gangs schon gesehen haben. Wichtigste Referenz für die Vertreter derGegenposition war Camillo Sittes „Städtebau“, der schon 1889 erst-mals erschienen war und noch vor dem Ersten Weltkrieg weitere dreiNeuauflagen erlebte.16 Sittes Ideal urbaner Ästhetik war ein explizit lo-

291

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

kalistisches, es orientierte sich an der überschaubaren Geschlossen-heit, unregelmäßigen Gewachsenheit und artisanalen Produktqualitätmittelalterlicher Plätze, wie er sie vor allem in italienischen Städtenvorfand, so z. B. mit der Piazza del Duomo in Pisa:

„Die Wirkung dieses von der Welt abgeschiedenen und doch anedelsten Werken menschlichen Geistes so überreichen Platzes ist …eine überwältigende; kaum dürfte ein nur halbwegs künstlerischempfindsamer Mensch sich der zwingenden Gewalt dieses mächti-gen Eindruckes verschliessen können. Da ist nichts, das unsere Ge-danken zerstreut, nichts, das uns an die gewöhnliche Geschäftigkeitdes Tages erinnert, da stört uns den Anblick der ehrwürdigen Dom-facade kein aufdringlicher Kramladen eines modernen Schneidersoder das Gerümpel eines Kaffeehauses nebst dem Geschrei der Kut-scher oder Dienstmänner, da herrscht Ruhe, und die Geschlossenheitder Eindrücke befähigt unser Gemüth, die hier angehäuften Kunst-werke zu geniessen, zu verstehen.“17

„Moderne Systeme“ des Städtebaus waren für ihn dagegen strengrational und schablonenhaft ausgeführt, an der „Regulirung des Stras-sennetzes“, der damit zusammenhängenden Kommunikationsdichteund der darauf reagierenden abstrakten Marktlogik der Bodenpreiseorientiert und demgemäß durch dekontextualisierte Offenheit, Bewe-gung und Unüberschaubarkeit gekennzeichnet. „Die Absicht ist dahervon vorneherein eine rein technische. Ein Strassennetz dient immernur der Communication, niemals der Kunst, weil es niemals sinnlichaufgefasst, niemals überschaut werden kann, ausser am Plan.“18

„Das Leben der Alten war eben der künstlerischen Durchbildungdes Städtebaues entschieden günstiger als unser mathemathisch abge-zirkeltes modernes Leben, in dem der Mensch förmlich selbst zur Ma-schine wird … Vor allem sind es da die Riesendimensionen, zu denenunsere Grossstädte anwachsen. … Alles dehnt sich in’s Masslose, unddie ewige Wiederholung derselben Motive allein schon stumpft dieEmpfänglichkeit so ab, dass nur ganz besondere Krafteffecte noch ei-

292

G. Meißl

nige Wirkung erzielen können. … Bei so kolossaler Häufung der Men-schen an einem Punkt steigt aber auch der Wert des Baugrundes un-gemein und liegt es gar nicht in der Macht des Einzelnen oder dercommunalen Verwaltung, sich der natürlichen Wirkung dieser Wert-steigerung zu entziehen, weshalb allenthalben, wie von selbst, Parcel-lirungen und Strassendurchbrüche zur Ausführung kommen, wodurchauch in alten Stadttheilen immer mehr und mehr Seitengassen entste-hen und eine Annäherung an das leidige Baublocksystem sich ganz imStillen vollzieht.“19

Diese Argumentationsfiguren Sittes wurden aufgenommen, als esnach Fertigstellung der großen Regulierungsvorhaben der Jahrhun-dertwende, die überwiegend im Bereich des Gürtels und der Außenbe-zirke stattgefunden hatten, rund zehn Jahre später – zur Zeit der ein-gangs präsentierten Umfrage – auch darum ging, in der Inneren Stadtoder unmittelbar angrenzend gröbere Eingriffe vorzunehmen wie etwaden Abriß des alten Kriegsministeriums am Hof, die Regulierung desStubenviertels oder den Neubau des Historischen Museums am Karls-platz. Unmittelbarer Anlaß für die Formierung einer heftigen öffentli-chen Protestwelle war aber der seit 1907 erörterte Plan der Führungeiner Straßenbahnlinie durch den 1. Bezirk, für den auch der Durch-bruch eines neuen Straßenzugs mitten durch die winkeligen Gassenöstlich der verkehrsbelasteten Kärntner- und Rotenturmstraße zur De-batte stand. Nun war für viele jenes Stadtbild zur Disposition gestellt,mit dem sie offensichtlich „ihr“ Wien verbanden, und sie suchten es inzahlreichen öffentlichen Stellungnahmen zu verteidigen, indem sie dieEinmaligkeit, die quasi-natürliche historische Gewordenheit, die fastsubjekthafte Identität dieses Wien beschworen und dagegen die scha-blonenhafte Anonymität und Auswechselbarkeit moderner Großstäd-te mit ihrem Vorrang für Verkehrsbedürfnisse und für das Diktat derBodenpreise stellten.

Als „Kardinalsätze“ wurden formuliert:

„Erhaltung des Bestehenden, weil dieses Bestehende einen durch kei-ne Nachahmung ersetzlichen Wert darstellt, der auch für das seeli-

293

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

sche Leben der Stadt, für ihre Charakteristik und ihre organischeVollständigkeit eine große Bedeutung hat. Beachtung der alten Ver-kehrs- und Verbindungswege, die eine natürliche funktionelle Rolleim Stadtorganismus bilden und in der Regel ein biologisch notwen-diges Ergebnis des städtischen Werdeganges darstellen …“20.

Immer wieder wurde hervorgehoben, daß Wien seine Besonderheitin den historischen Qualitäten der Stadtgestalt sehen müsse und nichtmit anderen Metropolen in einen Modernitätswettbewerb treten dür-fe, der seine Eigenart zerstöre und bei dem es ohnehin nicht mithaltenkönne. Und schließlich mußten auch noch die Interessen der fremdenBesucher der Stadt, die gerade das unmoderne Wien als kuriose At-traktion empfänden, zur Verteidigung der Stadt herhalten, die manwollte: „Wien ist keine moderne Stadt und wird es nie werden, und esist unfaßlich, warum man mit Gewalt jedes Charakteristikum aus demLeben schaffen und Wien nach dem Ebenbilde anderer Städte scha-blonieren will, anstatt stolz zu sein, daß Wien eine altehrwürdige Stadtmit einer historischen Vergangenheit ist.“21 Aus lauter Überzeugungvom nachhaltigen Eindruck, den die monumentale Ringstraße hinter-lasse, vergesse man zumeist,

„dem Fremden gerade das zu zeigen, was für Ausländer, besondersaber für Amerikaner (die an Wien zu fesseln man fast am meistenbestrebt ist), die größte Anziehungskraft besitzt, und zwar die altenStadtviertel Wiens mit ihren engen, winkeligen Gassen … Der ge-wisse undefinierbare Zauber, der diesen Überresten längst ent-schwundener Zeiten anhaftet, wird ganz besonders von transatlan-tischen Gästen empfunden, und sie lieben das alte Wien mehr als dasneue, denn das althistorische Gepräge, das die Innere Stadt nochaufweist, ist für sie etwas Neues, etwas, das sie nicht besitzen, dassie nicht besitzen können, weil es sich mit keinem Gelde erkaufenläßt, für dessen Besitz sie aber mit tausend Freuden horrende Sum-men hingeben würden“22.

294

G. Meißl

Und der Historiker Hugo Hassinger warnte:

„Täuschen wir uns nicht darüber: Wien wird in seinen modernenSchöpfungen auf die Dauer mit ungleich reicheren Städten, wie mitParis und Berlin, nicht gleichen Schritt halten können, und auch derAusländer kommt nicht zu uns und wird nicht kommen, um einegroßartige modernen Weltstadt von amerikanischer Betriebsamkeitzu sehen. Aber was er bei uns sehen kann, das ist eine Weltstadt, dietrotz alles eindringenden Amerikanismus und moderner Verflachungnoch immer einen wunderbaren alten Kulturbesitz in ihren histori-schen und künstlerischen Baudenkmälern, in ihren stillen Gassenmit barocken Patrizierhäusern hat, die hart neben den modernenVerkehrsadern zu finden sind.“23

Speziell die Modernität der deutschen Metropole galt als ab-schreckendes Beispiel: „Wollen wir so lange zusehen, bis unsere den-noch schöne Stadt auf das baulich gemeine Niveau Berlins herunter-gekommen ist?“24 Und auch aus Deutschland wurde dazu sekundiert:„Dieser ‚unmoderne’ idyllische Zustand ist Wiens Ruhm, ist sein un-bestrittenes und unbestreitbares Vorrecht, bei dem Vergleich unsererStädtebilder untereinander mit einem ganz besonderen Maß gemessenzu werden.“25 Ganz in diesem Sinne fragte sich daher Camillo SittesSohn Heinrich unverblümt: „Soll … Wien aufhören, ein Museum zusein?“26

Als Verursacher des Übels der Modernisierung wurden „die Fanati-ker der geraden Linie und die Verkünder der vermeintlichen Ver-kehrsbedürfnisse“27 ausgemacht. Am eingehendsten setzte sich HansTietze in seinem polemischen Essay „Das Wiener Stadtbild“ mit ihnenauseinander. Das organische Ineinanderfließen von Stadt und Vor-städten in ein einheitliches Ganzes „entspreche nicht den Ideen einerim 19. Jahrhundert übermächtigen Richtung, die in ihrem liberalenDoktrinarismus nur einen uniformen Typus einer Großstadt für wür-dig hielt. Das historisch Gewordene, das im Volk Wurzelnde war eineSache des Wissens, aber nicht der Pietät; nirgends durfte es wagen, der

295

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

protzigen Selbstgefälligkeit der Gegenwart im Wege zu stehen“. Ausdieser „von der seichten Aufklärung des 18. Jahrhunderts“ ableitba-ren Gesinnung sei der „Kampf gegen Alt-Wien“ geboren; „auf siestützt sich das ruhmredige Prahlen mit Modernität, das in allen Fra-gen der Stadtgestaltung ausschließlich das große Wort führt“ und da-zu diene, „die Umwandlung Wiens in einen traditionslosen Häuser-haufen von pseudo-großstädtischem Charakter zu rechtfertigen“. Re-duziere man die dafür ins Treffen geführten Schein-Argumente – dieForderungen der Verkehrs und der Hygiene sowie die Bedürfnisse dermodernen Kunst – auf ihr eigentliches Motiv, so gelange man „zumfesten Bollwerk“ dieses Standpunktes, zum steigenden Grundwert.

„Hier liegt der Kern der Frage und eine Tatsache, die jeden Wider-spruch abschneidet; die Heimatschutzfrage ist im Innersten ein wirt-schaftliches Problem. Das Steigen der Bodenwerte macht eine inten-sive Ausnutzung des Grundes, eine fortwährende Modernisierungund Umgestaltung des Objektes nötig. Daran scheitern alle ethi-schen und ästhetischen Forderungen; jeder Besitzer wird die mög-lichst hohe Verzinsung seines Grundes anstreben.“

Der Heimatschutz sei daher eine „sittliche Forderung“ und seinewachsende Anhängerschar stehe für eine neue Weltanschauung, „diedie Menschheit nicht mehr als ein Aggregat von Individuen ansiehtwie Aufklärung und Liberalismus, sondern der der Einzelne und jedeeinzelne Erscheinung ein dienendes, geringfügiges und doch unersetz-liches Glied einer ungeheuren Entwicklung ist. Diese größere Achtungvor dem Gewesenen und Gewordenen“ erfordere auch materielle Op-fer. Staat und Gemeinde müßten durch ihr Beispiel den „kleinlichenKrämerstandpunkt“ verlassen und durch Regelungen wie Bauordnungoder Steuererleichterungen auch die Privaten zur Beteiligung an der„Schützung und Erhaltung der Heimatstadt, der Rettung Wiens“ ver-anlassen.28

Zu den Repräsentanten eines gemäßigten Modernisierungsstand-punktes, die eine Balance zwischen den konkurrierenden Stadtbildern

296

G. Meißl

zu finden trachteten, gehörte der Stadtplaner Karl Mayreder. In sei-nem Motiven-Bericht für den Regulierungsplan der Inneren Stadt von1896 erwies er Sitte zwar hörbar Reverenz: Dieser Bezirk habe „ein hi-storisch entwickeltes Stadtbild mit vielen charakteristischen Strassenund Plätzen, nebst einer Reihe von hervorragenden Bauten“, es er-scheine bei der Regulierung daher „aus historischen und künstleri-schen Gründen wünschenswerth“, dessen „eigenartige Individualitätmöglichst zu erhalten“. Andererseits gelte: „… die Pietät, die Achtungvor der Vergangenheit, so hoch man sie auch stellen mag, wird nie dieForderungen der Gegenwart zum Schweigen bringen; sie kann nichtder einzige, sondern nur ein mitbestimmender Factor im geistigen Le-ben sein“. Als Argumente für die Regulierungen, darunter auch fürden oben so bekämpften Straßendurchbruch, führte er die „modernenVerkehrsbedürfnisse“, die Sanierung ungesunder Stadtteile und diedamit verbundenen Grundwertsteigerungen an.29 Rund ein Jahrzehntspäter mußte er aber etwas resignativ einbekennen, daß in der InnerenStadt die für eine „gedeihliche Entwicklung“ als dringend notwendigerkannten Durchbrüche, die zu den „glänzendsten Taten andererGroßstädte“ zählten, sich hier mangels eines Enteignungsgesetzesnicht durchführen ließen, und man daher Gefahr laufe, „die schlimm-sten Präjudizien für die Zukunft zu schaffen“.30 In einem Bericht anden Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Verein über die obenreferierte Regulierungsdebatte blieb er jedenfalls bei seiner Position.Der historische Baucharakter einer Stadt bilde „das monumentaleSpiegelbild ihrer kulturellen Entwicklung“ und müsse nach Möglich-keit erhalten bleiben, die Rücksichten darauf könnten aber beim „all-mählichen Umbau einer Stadt, der, wenn sie sich lebendig weiterent-wickelt, unvermeidlich ist, nicht die einzigen sein“. Eine „zielbewuß-te“ Stadtverwaltung müsse vielmehr dafür sorgen, daß neue Gebäude„der modernen Gesundheitspflege entsprechen“, von der Straße genugLuft und Licht bekämen, und daß auf Verkehrssteigerungen rechtzei-tig durch Eröffnung neuer Verkehrswege reagiert werde.31

Fritz von Emperger, ein U-Bahn-Experte mit in amerikanischenStädten erworbener Praxiserfahrung, sah sein vermutlich dort ent-

297

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

worfenes Stadtbild durch die Verteidiger Alt-Wiens viel stärker ge-fährdet, und entsprechend drastischer fiel auch seine Kontra-Stellun-gnahme aus:

„Hätten diese Anschauungen zur Zeit der Niederlegung der Wälledes alten Wien bestanden, vielleicht hätten dieselben verhindert, daßdas gewiß schöne Stadtbild mit Wall und Graben verschwunden wä-re. Wenn geistig hochstehende Männer das Gefühl für die Grenzenverlieren, wo die Achtung, die wir unserer Vergangenheit schulden,aufhört, und wo man den Bedürfnissen, welche die Gegenwart ge-bieterisch fordert, Rechnung tragen muß, dann ist dem mit bloßenWorten nicht abzuhelfen, dort kann nur die eiserne Notwendigkeitden richtigen Weg weisen, wenn es dabei auch zu spät wird. Hindernwird man damit die notwendige Entwicklung Wiens zu einer Groß-stadt nicht, aber aufhalten, erschweren, unterbinden kann man da-mit den Fortschritt auf Jahrzehnte.“32

Auch in der zur selben Zeit geführten Diskussion um eine neueWiener Bauordnung wurde der Ausschließungsanspruch dieser Stadt-bild-Rhetorik empfunden, als ein Industriellenvertreter aus deren rigi-den Bestimmungen für Industriebauten die Priorität des Schönen vordem Nützlichen herauslas, was bedeute:

„ôte toi que je m’y mette, hinaus mit der Industrie aus Wien. Ob dasfür Wien sehr wünschenswert ist und ob man da nicht ein bißchenmit der Existenz spielt, will ich dahingestellt lassen … Ich finde, daßdie Industrie in Wien überhaupt zu sehr als Luxus betrachtet wird.Es wird der Schönheitscharakter so außerordentlich betont, aberdeshalb sollte man doch der Industrie nicht solche Fesseln anlegen.In Schönheit sterben ist schön, aber zuerst muß man ein bißchen or-dentlich leben. Ich glaube, die Industrie ist gerade diejenige, die zumLeben in der Großstadt sehr viel beiträgt.“33

298

G. Meißl

Am prononciertesten wurden die mit Modernität konnotierten Ele-mente der Stadtkonstruktion – Funktionalität, Regelhaftigkeit, Wie-derholung, Offenheit, Vernetzung, Kommunikation, Verkehr, Markt-verhältnisse –, denen Sitte und die sich hinter ihm sammelnden Ver-teidiger von Alt-Wien jegliche ästhetische Qualität absprachen, vondessen Antipoden Otto Wagner zu einem Konzept modernen Städte-baus verknüpft. Schon bei seinem Projekt für den Generalregulie-rungsplan hatte er bekanntlich das Motto „Artis sola domina necessi-tas“ gewählt. Auch der oben bereits zitierte Bewunderer der Wagner’-schen Bauten hatte unter Berufung auf diesen beim Wiener Miethaus-bau eine Entwicklung weg vom Ornamentalen und hin zum Formalen,durch die Gegebenheiten der Siedlungsdichte Bestimmten konstatiert:

„Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich auch diese Neuerung auf dieschon von Hansen ausgesprochene, von den Modernen aber zumPrincip erhobene Auffassung zurückführe, daß in der modernenGroßstadt nicht das Einzelhaus mit seinen Säulen, Gesimsen, Dach-gruppen etc. die Grundlage der neuen Architektur bildet, sondern ei-ne aus diesen Elementen zusammengesetzte Einheit höherer Ord-nung: Das moderne Kunstwerk heißt – die Straße. Die einzelnenHäuser müssen in künstlerischer Beziehung zueinander stehen undsich der höheren rhythmischen Organisation unterordnen.“34

1911 faßte Wagner dann sein städtebauliches Konzept in der Schrift„Die Großstadt“35 zusammen. Unter eindeutiger polemischer Bezug-nahme auf Sitte und seine Anhänger entwickelte er ein Stadtmodell,das er bedingungslos an den für ihn konstitutiven Elementen der mo-dernen Lebensweise wie Demokratisierung, Hebung des allgemeinenLebensniveaus, Konzentration, Wachstum, Ökonomisierung, Funkti-onsdifferenzierung und dem daraus sich ergebenden Regulierungsbe-darf für immer komplexere Kommunikationsprozesse orientierte.Zum Unterschied von Sittes Bild eines gebauten Stadtkörpers, in dasCharakteristika wie nahezu subjekthafte Identität, organisch gewach-sene Homogenität, durch mythisierende Pietät verfestigte Traditions-

299

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

verwurzelung, lokalistische Geschlossenheit und Stabilität eingeschrie-ben waren, zeichnete er daher konsequenterweise das eines dynami-schen Funktionssystems, gekennzeichnet durch Heterogenität, Offen-heit, Prozeßhaftigkeit und vernetzte, nach rationalem Kalkül organi-sierte Beziehungsmuster, aber auch durch Spielräume für nicht Vor-hersehbares.36 Zweck einer Großstadt sei, „der befriedigende Aufent-halt einer Millionenbevölkerung zu sein“. Zweifellos lebe die Mehr-zahl der Menschen lieber in einer Großstadt als in einer kleinen Stadtoder auf dem Land. „Erwerb, gesellschaftliche Stellung, Komfort, Lu-xus, eine niedrige Sterblichkeitsziffer,das Vorhandensein aller geistigenund physischen Hilfsmittel, Zeitvertreib im guten und schlechten Sin-ne und schließlich die Kunst“ seien die einander ergänzenden Triebfe-dern des Anwachsens der Großstädte. Die Kunst müsse dabei „allemEntstehenden die Weihe verleihen“ und „das Stadtbild der jeweiligenMenschheit“ anpassen. „Unser demokratisches Wesen, in welches dieAllgemeinheit mit dem Schrei nach billigen und gesunden Wohnungenund mit der erzwungenen Ökonomie der Lebenweise eingepreßt wird,hat die Uniformität unserer Wohnhäuser zur Folge“, weil vielge-schoßige Häuser den Grundkostenanteil pro Wohnung verbilligten.Überdies komme heute mehr als je der Spruch „Zeit ist Geld“ in Be-tracht, was naturgemäß zu Mehrung der Geschoßzahl im Zentrumführe. Durch die Zusammenlagerung der Häuser entstünden langeund gleiche Straßeneinfassungsflächen. „Die Kunst unserer Zeit hatdurch breite Straßen diese Uniformität zur Monumentalität erhobenund weiß dieses Motiv durch glückliche Unterbrechungen voll zu ver-werten“. In solchen Fällen könne nie von „Stadtschablone“ die Redesein. Die ökonomisch bedingte Uniformität habe leider zu Auswüch-sen zweckwidriger Ornamentierungen geführt. Ebenso abzulehnenseien absichtliche, nicht durch den Straßen- oder Verkehrsorganismusentstandene oder terrainbedingte Straßenkrümmungen und unregel-mäßige Platzlösungen, „um angeblich malerische Straßenbilder zu er-zielen“. Der Eindruck eines Stadtbildes sei von der „Mimik“ der„Großstadtphysiognomie“ abhängig:

300

G. Meißl

„Die nicht unterbrochene Kette einer mit schönen Läden (…) ge-schmückten Radialstraße, welche die Menge hastig durcheilt, ande-re Straßen, die sich für den Bummel eignen und die Spaziergängerdurch gegenseitiges Begaffen befriedigen, sowie das Prüfen des Lu-xus nach dem Maßstabe der eigenen Tasche gestatten, eine Anzahlschöner und guter Restaurants, welche leibliche Befriedigung undRuhe bringen, Plätze, auf welchen sich auf hoher künstlerischer Stu-fe stehende Bauwerke oder Monumente etc. sich dem Besucherüberraschend bieten und manches kaum zu nennende Andere; diesesind es in erster Linie, welche der Stadt die einnehmende Physio-gnomie verleihen. Kommen hiezu die besten Verkehrsmittel, eineeinwandfreie Straßenreinigung, die allen Komfort umfassende, jedersozialen Stellung Rechnung tragende Unterkunft, so sind damit dieHauptbedingungen des Großstadteindruckes für die künstlerisch in-differente Allgemeinheit angeführt.“

Das „Gerippe jeder Großstadt“ bildeten die bestehenden Verkehrs-linien, Flüsse, Terrainverhältnisse etc., die Regulierung müsse nach ei-nem zweiteiligen „System“ erfolgen: 1. Im bereits bestehenden Teil derStadt werde sie sich unter Rücksichtnahme auf Verkehrs- und sanitä-re Erfordernisse sowie ökonomische und soziale Verhältnisse daraufbeschränken, „das bestehende Schöne zu erhalten und günstig imStadtbilde zu verwerten“. 2. Der Teil der Stadterweiterung müsse sy-stematisch gestaltet werden und eine „großzügige Regelung derWohn- und Lebensweise der zukünftigen Bewohner, die Installations-möglichkeit von heute noch Unbekanntem, die Annahme von ‚Sicher-heitsventilen‘ für die Expansion der Großstadt und nicht zuletzt derenschönheitliche Ausgestaltung“ miteinbeziehen. Wagners Stadtmodellwar in konzentrische Zonen eingeteilt, durch Zonen- und Radial-straßen entstand ein Netz, das nach außen hin „unbegrenzt“, also fürweitere großstädtische Expansion offen war. Der Verkehr war im we-sentlichen durch ein in Zonen- und Radiallinien verlaufendes Schnell-bahnsystem reguliert, sodaß jeder beliebige Punkt mit einmaligen Um-steigen zu erreichen war. Die von diesem Netzsystem gebildeten Bezir-

301

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

ke waren einerseits durch ihre „Bestimmung nach Berufen (Hoch-schulen), Wohnweise, Industrie- und Handelsvierteln, Windrichtungetc.“ voneinander differenziert, andererseits hatten alle Einrichtungenwie Parks, Schulen, Ämter, Bazare, Werkstätten, Theater etc. und Ver-kehrsmöglichkeiten. Die Binnenstruktur der Bezirke war durch einstreng durchgehaltenes Block-Rastersystem bestimmt, in das auch diesieben Stockwerke hohen Mietwohnhäuser so eingepaßt waren, daßjedes mit einer Front an einen Garten, Platz oder Park grenzte und mitden andern an breite Straßen, wo die Wohnungen

„alle kulturellen Errungenschaften aufweisen, also gesund, schön,bequem und billig sind. … Der Hinweis auf Tradition, Gemüt, ma-lerische Erscheinung etc. als Grundlage von Wohnungen modernerMenschen ist unserem heutigen Empfinden nach einfach abge-schmackt. Die Anzahl der Großstadtbewohner, welche vorziehen, inder Menge als ‚Nummer‘ zu verschwinden, ist bedeutend größer alsdie Anzahl jener, welche täglich einen ‚guten Morgen‘ oder ‚wie ha-ben Sie geschlafen‘ von ihren sie bekrittelnden Nachbarn im Einzel-wohnhaus hören will.“

Westliche Vorbilder

Dieses letzte Wagner-Zitat führt uns explizit zu einer Ebene desGroßstadt-Diskurses, die mehr oder minder deutlich auch schon beimStreit um das gebaute oder zu bauende Stadtbild immer mitgedachtwurde – zum Konflikt um die großstädtische Lebensweise: Ob dieWiener in einer modernen Großstadt lebten, ob es diesbezüglich einenRückstand aufzuholen gelte oder ob diese Rückständigkeit nicht vieleher bewahrenswert sei, das wurde seit der Jahrhundertwende ver-mehrt zum Thema von Auseinandersetzungen. Ebenso ging es auchimmer um Form und Qualität des mit dieser Lebensweise konstituier-ten Stadt-Raums. Leicht möglich, daß Wagner bei seiner Charakteri-sierung der Präferenzen von Großstadtbewohnern Georg Simmels

302

G. Meißl

klassischen Essay „Die Großstädte und das Geistesleben“ im Kopfhatte, wo dieser die mit räumlicher Enge und intensiver Kontrolle ver-bundene soziale Kohärenz des Kleinstadtlebens und die von Rationa-lität und sozialer Distanz bestimmte, dafür aber mehr individuelleFreiräume zulassende großstädtische Daseinsform einandergegenüber-stellte.37 Als einer der ersten Sozialtheoretiker faßte Simmel die Kate-gorie das Raumes nicht bloß als abstrakte Vorgabe, sondern darüberhinaus als eine durch die Wahrnehmung und die „Wechselwirkung un-ter Menschen“ hervorgebrachte psycho-soziale Konstruktion auf.38

Simmel kannte zwar Wien, die Referenz für seine Analyse war abereindeutig Berlin.39 Wien wäre wohl auch keinem zeitgenössischen Be-obachter als Paradebeispiel einer modernen Metropole in den Sinn ge-kommen. Hartmut Waentig, der im selben Band wie Simmel einen Bei-trag über „Die wirtschaftliche Bedeutung der Großstädte“ lieferte,versetzte seine Leser zur Illustration des Themas nicht „nach dem stol-zen London, dem reizenden Paris, dem altväterischen Wien, dem ju-gendlichen Berlin“, sondern führte sie nach Amerika, „wo als der unü-bertroffene Meister wirtschaftlicher Organisation und Technik dasbürgerlichste aller modernen Völker seine Sitze aufgeschlagen hat“und beschrieb ihnen New York als eine verwirrende Vielfalt von City,Handels-, Gewerbe-, Industrie- und Wohnquartieren. „Und durch dasGanze ausgegossen die nimmer ruhende Flut rastlos schaffender, gie-rig genießender, reizbarer Menschen! Die Großstadt ist es, die als mo-dernste Verkörperung amerikanischen Geistes dem Fremdling macht-voll entgegentritt“. 40

Auch Alexander Dorn, ein liberaler Wiener Wirtschaftsexperte, er-zählte 1900 fasziniert und mit hörbarer Sympathie dem Publikum inseiner Heimatstadt über die während einer fünfwöchigen Reise inStädten der amerikanischen Ostküste, vor allem in New York ge-machten Erfahrungen: Über die „kolossale Bewegung“ auf denStraßen und die multiethnische Bevölkerung, die Leistungsfähigkeitder öffentlichen Verkehrsmittel, die wegen des teuren Grundes bis zu23 Stockwerke hohen „Himmelkratzer“ mit ihren elektrischen Aufzü-gen, das umfassende Warenangebot der Department-Stores, den re-

303

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

gen, schon bei Jugendlichen entwickelten Geschäftsgeist und das soweitgehend durchgesetzte „Princip der Arbeitsersparung“ … DieAmerikaner seien aber nicht nur „Ziffernmenschen“, sondern darüberhinaus auch sehr liebenswürdig und offen und mit einem ausgepräg-ten Staats- und Gemeinsinn ausgestattet. Drei Charakterzüge des ame-rikanischen Straßenbildes fielen dem Beobachter aus der Alten Weltzudem besonders angenehm auf – daß man fast nie Militäruniformenund einem geistlichen Gewand begegne, weil Militär und Klerus imdortigen Staatsleben eine viel untergeordnetere Rolle spielten, und dasBild der „freien und selbstbewussten Haltung“, das ihm die „körper-lich und geistig fast vollständig männlich“ erzogenen Frauen vermit-telten.41

Ungefähr zur selben Zeit präsentierte der Journalist Max Winter inder „Arbeiter-Zeitung“ anläßlich der Pariser Weltausstellung seinenLesern ein Bild der französischen Metropole.42 Als Sozialdemokratvermaß er Stadträume vor allem daraufhin, wieweit ihre Ausstattungmit modernen Infrastrukturen auch der Masse der Bevölkerung ver-besserte Lebensbedingungen ermöglichte, und wieweit sie frei vonvormodernen obrigkeitlichen Disziplinierungszumutungen waren. Da-nach stand für ihn fest: „In Paris ist ungemein viel zu lernen, nament-lich für die Wiener, die immer Großstädter zu sein glauben, weil sieBewohner einer großen Stadt sind. Von einer großen Stadt aber bis zueiner wirklichen Großstadt ist noch ein weiter Weg.“ Er war beein-druckt von der Leistungsfähigkeit der Pariser öffentlichen Verkehrs-mittel, von Dichte und Tempo des Verkehrs, vom guten Straßenzu-stand, der geringen Staub- und Rauchbelästigung und der bestensfunktionierenden Straßenreinigung, von den Kinderspielplätzen ab-seits des Verkehrs, jedoch auch von der Selbstdisziplin der Verkehrs-teilnehmer, der Lebendigkeit des Straßenhandels, ob nun pornogra-phische Photos oder Zeitungen feilgeboten wurden, und von dermaßvollen Präsenz der Ordnungsmacht in Gestalt von Polizisten undVorschriftstafeln. Die Wiener Zustände waren für ihn im Vergleich da-zu beklagenswert: Der zwar schwächere, aber dennoch häufigstockendere Verkehr, der oft noch durch polizeiliches Eingreifen zu-

304

G. Meißl

sätzlich behindert würde, die staubigen und schlecht gereinigtenStraßen, der Mangel an verkehrsgeschützten Spielplätzen für Proleta-rierkinder, die Rauchplage, die Behinderung des Hausierhandels imInteresse der Greißler-Klientel der christlichsozialen Stadtverwaltungund das Verbot der Zeitungskolportage, und die bis zur Vorschrift,„daß die Kleider noch vor dem Verlassen des Pissoirs zu schließensind“, reichende obrigkeitliche Regulierungswut. Zugespitzt:

„In Wien kann jeder nur dann sein Leben riskieren, wenn ihm keinWachmann zusieht – in Paris ist jeder Herr seines Lebens und eigenerHüter seiner geraden Glieder; er darf zum Beispiel von der Tramway,auch von der Dampftramway, abspringen, wenn er es trifft. … In Wi-en wird die Volksgesundheit durch Staub und Rauch vergiftet,während Paris diese Vorsorge für die Gesammtheit in umfangreichsterWeise getroffen hat. Es bedarf wohl keiner speziellen Entscheidung,welcher Schutz für die Staatsbürger der vernünftigere, bessere, wir-kungsvollere ist.“43

Daß dieses gegen das Pariser Muster so drastisch abfallende Wien-Bild nicht zuletzt der gegen die Christlichsozialen gerichteten opposi-tionellen Rhetorik Max Winters zuzuschreiben ist, und er andereAspekte seiner Heimatstadt keineswegs als rückständig, sondern alsirritierend modern empfand, lassen seine drei Jahre später notiertenImpressionen aus der Mariahilfer Straße erkennen, die er als geradezuparadigmatischen Ort der modernen Dynamik der kapitalistischenWarenzirkulation darstellt: Diese

„größte Geschäftsstraße Wiens, in der man … immer den Pulsschlagder Zeit fühlt, in der man gedrängt und geschoben wird, wenn mannicht selbst drängt oder schiebt, die jahraus, jahrein vom frühenMorgen bis spät abends nur ein Gesicht zeigt – die verzerrten Zügeder Hast, wie jede Geschäftsstraße sonst irgendwo in der Welt. DieHast des Erwerbes, die Jagd nach dem Geld gibt der Geschäftsstraßeihren Charakter. Das ist die Alltäglichkeit, dieses Lärmen und Ha-sten, dieses Stoßen und Drängen, dieser grelle Lichterglanz und die-

305

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

se schreiende Reklame. Und die bunte Menge, die die Straße füllt,die sehnsüchtig Begehrenden neben den aus dem vollen Schöpfen-den, die Lastträger neben den Nutznießern. Vor allem die Frauen,die geputzten neben den putzenden. Wie Nachtschwärmer zumLicht, so fliegen sie von Auslage zu Auslage, umschwärmen sie,drängen und stoßen sich…“44.

Dabei war in Wien die Modernisierung des Einzelhandels zu dieserZeit noch weit vom in Paris oder Berlin erreichten Niveau entfernt.Die beiden bedeutendsten Kaufhäuser der Mariahilfer Straße, Gern-groß und Herzmansky, waren weiterhin in erster Linie Textilgeschäfteund hatten bei weitem nicht die Ausdehnung und das umfassende Wa-rensortiment der riesigen Warenhäuser in den genannten Städten. DieLiberalen drängten denn auch auf eine diesbezügliche Modernisierungder Großstadt Wien und auch die sozialdemokratischen Handelsge-hilfen erwarteten sich davon mehr sowie bessere Arbeitsplätze undmokierten sich über die von den Christlichsozialen verteidigte Wiener„Rückständigkeit“.45 Die meist christlichsozialen Proponenten der In-teressen des Kleinhandels rechtfertigten sich zwar auch mit dem öko-nomischen Argument, daß die Warenhäuser in Paris und Berlin Scha-den angerichtet hätten, und wetterten mit unverhohlenem Antisemi-tismus gegen die Habsucht der Warenhausunternehmer, doch immerwieder kamen beharrliche und skurrile Verweise auf die besonderenvormodernen Qualitäten Wiens und seiner Bewohner dazu:

„Paris, das seit Jahrzehnten und Jahrhunderten der Wallfahrtsort al-ler Fremden war … Berlin ist noch lange nicht Paris und es übt trotzseines schnoddrigen Großtuns noch lange nicht jene Anziehungs-kraft, wie es das französische Sünden- und Vergnügungsbabel amSeinestrande bewirkt … Und nun gar Wien. Diese im Gegensatz zuden anderen Weltstädten so kleine, niedliche, leichtlebige Phäa-kenstadt mit ihren altväterischen Handels- und Verkehrsverhältnis-sen! Hier erscheint die Möglichkeit ausgeschlossen, sich auf ein Be-dürfnis für Warenhäuser zu berufen.“46 … „Der echte Wiener ist für

306

G. Meißl

solche Unternehmungen wie Gerngroß nicht eingerichtet.“47 …„Das Wiener Volkspublikum ist in punkto Geschmack und Behand-lung etwas Besseres gewöhnt als das Pariser, welches in dieser Be-ziehung gar nicht anspruchsvoll ist und jeden Schmarren zusam-menkauft.“48

Der uns bereits bekannte Alexander Dorn machte in seiner Funkti-on als Gemeinderat 1905 einen Vorschlag zur Dynamisierung desWiener Arbeitsalltags durch effizientere Zeiteinteilung. Namentlicham Beispiel von Paris könne man lernen, daß

„die ganze bei uns übliche, aus alten Zuständen herübergenomme-ne Tageseinteilung dem lebhaft entwickelten geschäftlichen und ge-sellschaftlichen Treiben in keiner Weise mehr entspricht. Eine durchalle Gesellschaftsschichten durchgeführte gleichmäßige Zeiteintei-lung mit Reduzierung des jetzt die beste Arbeitszeit wegnehmendenMittagessens auf ein kurzfristiges Gabelfrühstück und Verlegung derHauptmahlzeit auf die frühen Abendstunden würde einerseits fürdie Abwicklung der Geschäfte von großem Vorteile sein, anderseitsdie abendliche Geselligkeit in fruchtbarster Weise beleben.“49

Auch einem Berliner Auslagen-Dekorateur fiel das vergleichsweisebehäbige Wiener Geschäftsleben auf, als er sich hier im Herbst 1903zu Studienzwecken aufhielt. Er fand zwar viele schöne Dekorationen,doch seien die Schaufenster kleiner, da es nicht so viele moderne Häu-ser wie in Berlin gebe. Untertags pulsiere das Leben, doch viele De-tailgeschäfte machten um acht zu und gegen neun sei es in den Straßendann ziemlich ruhig. Da es außerdem nur wenig elektrische Bogen-lampen gebe, zeige sich ein „Bild, das mit dem des Berliner Nachtle-bens der Friedrichstrasse nicht konkurrieren kann. Ich glaube, in Wi-en lebt man gut bei Tag und schläft gut nachts.“50

307

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

Die Sicht aus Deutschland

Dieses wechselseitige Einander-Verstärken von vorfindbaren Unter-schieden, selbstgerechtem Festhalten am „altväterischen“ Wien undausländischen Impressionen von Wiens Rückständigkeit scheint vorallem in Korrespondentenberichten nach Deutschland immer wiederdie Zuschreibung der unernsten und behäbigen Vormodernität dieserStadt in Verbindung mit den altbekannten Topoi „Phäaken“ und „Ca-pua der Geister“ hervorgebracht zu haben, was schließlich 1907 FelixSalten zu einer zornigen Replik in der Berliner Zeitschrift „Morgen“veranlaßte. Wien werde wie „ein weitläufiges Vergnügungslokal“dar-gestellt, als

„ein Jux von einer Stadt, ein Scherz, eine Spielerei, an der sich aller-dings viele Menschen beteiligen, an die aber keiner in besonnenenStunden so recht glaubt. Solch eine Wirtschaft muß natürlich zuschmählichem Untergang führen … Aber, Wien ist eben anders. …Das Verwickelte an der Sache ist nur, daß es mit Wien stark vor-wärts geht. Es ist geradezu in einem Aufschwung. Aber davonspricht niemand, weil zu so frohen Berichten die alten Formeln nichtpassen würden…“.

Mit offensichtlicher Befriedigung illustrierte er am Beispiel der er-folgreichen Wahlrechtsdemonstration der österreichischen Sozialde-mokratie, daß Wien zum Unterschied von Berlin Raum für das Frei-werden der heterogenen Kräfte der Moderne verfügbar habe:

„Daß bei uns zweimalhundertfünfzigtausend Arbeiter mit aufgeroll-ten roten Fahnen über die Ringstraße ziehen durften, ohne daß un-ser Bürgertum die Fraisen, und ohne daß unser Militär Marschord-nung bekam, während in Berlin das bloße Gerücht von einem beab-sichtigten Umzug der Sozialisten hinreichender Anlaß war, den Lust-garten wie die Linden mit Garderegimentern und mit Kanonen zusperren, regt unsere Besserwisser zu keinem Vergleich an.“51

308

G. Meißl

Der Herausgeber der „Morgen“, Werner Sombart, nahm Saltens Po-lemik zum Anlaß für eine von diesem überhaupt nicht intendierte Ab-rechnung mit der Moderne,52 deren auf die Metropolen konzentrierteAusdifferenzierungsprozesse er zum Unterschied von Simmels ambi-valenter Einschätzung rein negativ zeichnete. Auf Wien projizierte ersein Gegenbild. Diese Stadt war für ihn ein organisches, homogenesGanzes, harmonisiert und stabilisiert durch die Kohärenz einer in derTradition verwurzelten Kultur, die den Einklang von Natur, gebauterUmwelt und Bewohnerschaft gegenüber den inhumanen Fragmentie-rungs- und Mobilisierungszumutungen der modernen Zivilisation be-wahrte.53 Auch er habe noch vor zehn Jahren Wien dafür geringge-schätzt, daß es „kein Nachtleben und keine Stadtbahn hatte und nichtalle Jahre um 100.000 Einwohner zunehme“. Heute sehe er:

„Alles, worauf der Berliner stolz sein kann, hat New York in zehn-fachem Umfange: es ist dreimal so groß, es wächst noch rascher an,es hat zehnmal so viel Verkehr, zehnmal soviel Theater, seine Re-staurants und Vergnügungsparks sind zehnmal so groß, sein Lärmzwanzigmal lauter, seine Entfernungen sind noch weiter. Und was istNew York? Eine Wüste. Ein großer Kulturkirchhof. Soll dieMenschheit auf ihm endigen?“

Wien sei dagegen „Kultur, Ganzheit, Ausgeglichenheit.“ Die alteStadt sei voll Harmonie – „in jedem Stein ein Lied, in jeder Straßen-krümmung, in jedem rebenumrankten Hof, in jedem Palazzo ein me-lodisches Tonstück“. Freilich sah er auch Wien schon vom Einbruchder Moderne bedroht: Wer von Schönbrunn auf die Stadt schaue,müsse feststellen, „wie sich ein greuliches modernes Proletariervierteldazwischenschiebt und alle feinen Empfindungen verletzt.“ Dennoch:der Wiener sei „ein Mensch. Nicht das Teilstück eines Menschen, daswir in Norddeutschland so häufig finden. Auch der Berufsmenschnoch mit Sinn für das Leben.“ Noch pointierter zivilisationsabge-wandt, ganz anders als beim oben vorgestellten Wiener Alexander vonDorn, war die Perspektive, mit der Sombart – sichtlich als Mann von

309

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

den modernen Frauen irritiert – auf die Städterinnen blickte: Wien sei„eine der ganz wenigen Städte, die Frauen, besondere ursprünglicheFrauen hat, Frauen, die man schmecken kann, die etwas Eigenes ansich tragen, wie eine schöne Blume, wie ein schönes Tier.“ Mit einemWort: Wien war für ihn „die regulative Kulturidee“, das „Symbol des-sen, was wir zu erhalten, was wir wiederzugewinnen trachten müssen.… An Wien erstarken wir wieder, wenn wir von Ekel über die moder-ne menschliche Entwicklung erfüllt werden.“54

Ein solches Wien-Bild, noch dazu gezeichnet von einem so renom-mierten Nicht-Wiener, muß im Lager der Verteidiger Alt-Wiens begei-stert aufgenommen worden sein. In die von ihnen herausgegebeneStreitschrift, die ihre zentralen Stellungnahmen in der oben beschrie-benen Auseinandersetzung dokumentierte, wurde jedenfalls SombartsArtikel als eine Art programmatische Einleitung aufgenommen.55 An-läßlich der Wiener Tagung des Vereins für Sozialpolitik im Jahr 1909,als diese Diskussion schon im Abebben war, nahm Sombart den Fadenunter Zuhilfenahme der Dorf-Metapher nochmals auf, um noch poin-tierter die lokalistische, vormoderne Homogenität dieser Stadt und ih-rer Bewohnerschaft als besonderen Wert hervorzustreichen

„Was ist der Zauber, den Wien auf jeden ausübt? Daß wir in Wiennoch lebendige, organisch gewachsene Menschen finden. Der Reizder Stadt liegt darin, daß es eigentlich keine Stadt ist. Wenn heutzu-tage die Anschauung nicht herrschen würde, die Bezeichnung Dorfsei etwas minderwertiges, möchte ich sagen, der Reiz der Wiener-stadt liegt darin, daß es seiner ganzen Anlage nach ein Dorf ist. …Hier sind Menschen, sonst eine Seltenheit, Naturmenschen, organi-sche Gebilde, nicht irgendwelche Spezialisten, Berufsausübler, son-dern ganze Lebewesen.“56

Auch für den in Wien als Literat und Journalist tätigen RheinländerFranz Servaes,57 der die Stadt einer „Freundin in Berlin“ näherbringenwollte, gab letztlich das Lokale den Ausschlag: Trotz des Vorrangs desgermanischen Elements sei Wien von einer „seltsam durcheinander-

310

G. Meißl

wogenden Rassenvermischung“ charakterisiert, dennoch sei darausschließlich, „als wundersam anziehende Einheit, das ‚echte Wiener-tum‘ hervorgegangen.“ Gegenüber dem „Genius der Rasse“ habe sichhier „der Genius des Ortes stärker (oder doch zumindest ebenbürtig)erwiesen …“. Die „Wiener Rasse“ habe sich „kraft jahrtausendealterBodenständigkeit … derart zäh festgesetzt und nachhaltig durchge-drückt …, daß sie alle Aggregatkörper … sich amalgamiert und nachihrem Ebenbilde umformt.“58 Wien sei keine moderne Stadt im ei-gentlichen Wortsinn. Es dürfe zwar nicht aufhören, zu lernen und sichzu modernisieren, sein im Vergleich zu Berlin „bedächtigeres Tempo“sei aber im Wesen der Stadt begründet und kein Nachteil. Epigram-matisch könne man sagen: „Berlin will ‚werden‘ … Wien aber soll Wi-en bleiben.“ Berlin müsse in kultureller Hinsicht vorangehen, probie-ren, anpacken, Wien dagegen mit „seiner altbefestigten erlauchtenKultur“ habe guten Grund zur Skepsis und solle nur „das bereits Kul-turgewordene übernehmen“, es sei in der kulturellen Entwicklung derdeutschen Lande Nachhut und verantwortungsvolle Bewahrerin.„Darum ist Wien also im Gesamtbereiche der deutschen Kultur Ber-lins wichtiges und fruchtbringendes Gegengewicht. Seine Aufgabe ist… ein Damm und Bollwerk wider den eindringenden Amerikanismuszu sein.“59

Ganz ähnlich waren die Schlußfolgerungen des aus Berlin stammen-den Walther Brecht, eines mit Hugo von Hofmannsthal befreundetenund von 1913 bis 1925 in Wien tätigen Literaturwissenschafters in ei-nem Vortrag über „österreichische Geistesform und österreichischeDichtung“ 60, nur argumentierte er zwiespältiger. Obwohl für ihn das„alte Land- und Volkswien“ mit seiner bodenständigen deutschenKultur und Sprache ungebrochene Beharrungs- und Integrationskraftbewies, konnte er nicht umhin, quer dazu eine weitere Geschichte zuerzählen, in der immer wieder die der spezifischen räumlich-histori-schen Konfiguration Wiens immanenten Heterogenitäten und Wider-sprüchlichkeiten, Paradoxa und Ambivalenzen in den Blick kamen,Elemente also, die zunehmend als unabdingbare Ingredienzien des

311

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

Projekts Moderne angesehen werden.61 Die Lage der Stadt an der Do-nau und am Kreuzungspunkt uralter Handelswege habe zu immerneuen Kulturerfahrungen und janushäuptiger Entwicklung führenmüssen. „Die Vermittlung westlichen Besitzes, römisch-christlich-ger-manischen Kulturgutes nach dem Osten, die Vermittlung östlicherGeistes- und Seelenströmungen nach dem Westen, das war diesemLand und dieser Stadt von vornherein als Aufgabe gegeben.“ Dem-gemäß sah er „viele verschiedene ‚Wien‘„, wo sich „ein höheres undniederes Element einander gegenüberstehen, ein fremdes, jeweils mo-dernes und ein altes, bodenständiges, volksmäßiges; zunächst ganzfremd, bewegen sie sich doch aufeinander zu und durchdringen sich intausend Modifikationen“. Die Nationalitätenproblematik illustriere„die so oft erlebte Notwendigkeit der halben Lösungen, einer Balance„im Labilen“ und eine eigentümliche Ironie und „fast unheimlicheFähigkeit, alle 52 Seiten einer Sache auf einmal zu sehen und zu ver-stehen, aber auch ebensogut ihr Gegenteil …“. Und wenn er der Vor-liebe für das Abstrakt-Erdachte, dem Ordungssinn und Staatsbewußt-sein bei den Preußen auf österreichisch-wienerischer Seite das orga-nisch Gewachsene, die Abneigung gegen Organisation und den – imSinn eines lokalistischen Partikularismus verstandenen – Individualis-mus gegenüberstellte, so konterkarierte er solche dichotomischen Ty-pisierungen im nächsten Atemzug schon wieder mit Äußerungen wie:

„So ist der Österreicher, um den Alt und Neu in seiner Architekturganz anders herumstehen wie um die meisten Reichsdeutschen undin dessen seelischer Welt soviel Altertümlichkeit lebt neben eben ein-geführtem Modernsten, gleichzeitig alt und jung (zugleich auch älterund jünger als wir) … Gerade deswegen wird er vom Reichsdeut-schen oft nicht verstanden.“ Abschließend nahm er allerdings nurden einen, die organizistische Homogenität betreffenden Erzähl-strang wieder auf und meinte, Österreich (und damit Wien) sei „dasLand der älteren Form deutscher Kultur … größerer Naturnähe inallem Leben, im Geistigen und Seelischen, in Brauch und Sitte, ge-

312

G. Meißl

genüber dem neuen Deutschland mit seiner ungeheuren und unge-heuer rasch vom Alten wegführenden Entwicklung.“

Es könne „dem Reich gerade soviel geben als von ihm nehmen. Undhöchst Wertvolles, anderswo in der deutschen Welt kaum noch soVorhandenes: organische Kultur, das Heil gegen die Mechanisierung.“

Die Wiener Sicht

Es waren offenbar nicht selten reichsdeutsche Nichtwiener, derenUnbehagen an der Moderne im hektischen Aufsaugen alles Neuendurch ihre Metropole Berlin den Kristallisationspunkt fand,62 denendiese „physiognomielos(e), traditionsarm(e)“ und mit „amerikani-sche(m) Gepräge“ versehene Stadt63 Orientierungsprobleme bereitete,und die daher für sich Alt-Wien als ruhenden vormodernen Gegenpolund oft darüber hinaus auch als Hort bewahrenswerter Traditionender deutschen „imagined communitiy“64 aufbauten. Die Vermutungliegt nahe, daß sie dabei in einer gesamtdeutschen Raumlogik dachtenund gegenüber ihrer Reichshauptstadt, deren Modernität ihnen als hi-storischer Ausgangspunkt für die Konstruktion einer Nation denkbarungeeignet erschien, quasi eine ausgleichende „Metropolarisierung“im Spannungsfeld von Vorwärts- und Rückwärts-Orientierung, vongeschichtsloser Weltstadt und der gesuchten geschichtsträchtigen undhomogenen nationalen Identität vornahmen. Mit dieser Imaginationeines Ideal-Wien wurde der Blick auf die reale Stadt mit ihren über-kommenen und im Übergang zur Moderne neu aufgetretenen sozia-len, ethnischen, räumlichen Differenzierungen und Bruchlinien aller-dings oft wider besseres Wissen verstellt.65 Wiener dagegen oder über-haupt Österreicher, wenn sie sich nicht bloß als Verteidiger des Alther-gekommenen begriffen, und die häufig im gegenüber dem mächtigenNachbarn typischen Zwiespalt zwischen Hinwendung und Distanzie-rung wohl nicht nur ein deutsches sondern auch ein österreichischesRaum-Konstrukt im Kopf hatten, wo der Donau-Metropole im Habs-

313

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

burgerreich die Berlin-Rolle zugedacht wurde, verlegten dieses Span-nungsfeld viel stärker in den Binnenraum ihrer Stadt hinein. Auch fürsie war Wien wesentlich durch seine Geschichte geformt, deren Folgenaber bestenfalls als ambivalent angesehen wurden.

Zwei Wiener, die ausdrücklich an der in der Donaumetropole ge-hegten Bewahrungssucht und Immobilität und der damit einhergehen-den ontologisierenden Überhöhung der Kultur Alt-Wiens beißendeKritik übten und sich dabei an der Offenheit und InnovationsfähigkeitBerlins orientierten, waren Karl Kraus und Egon Friedell. Schon 1907hatte sich Kraus im Rahmen einer abschätzigen Beurteilung des „Mor-gen“ durch das „trostlose Geschwätz der Herren Sombart und Saltenzum Lobe Wiens … gelangweilt“ gefühlt und dazu angemerkt: „… alsob die Tadler Wiens es nicht gerade um seiner Vorzüge willen tadel-ten“.66 Und ein paar Jahre später meinte er unter eindeutiger Bezug-nahme auf die Altstadt-Debatte ironisch: „Ich muß den Ästheten eineniederschmetternde Mitteilung machen: Alt-Wien war einmal neu.“ 67

und weiter:

„Es gibt ein Zeitgefühl, das sich nicht betrügen läßt. Man kann aufRobinsons Insel gemütlicher leben als in Berlin; aber nur, solange esBerlin nicht gibt. 1910 wird’s auf Robinsons Insel ungemütlich. Au-tomobiltaxameter, Warmwasserleitung und ein Automat für einge-schriebene Briefe beginnen zu fehlen, auch wenn man bis dahin kei-ne Ahnung hatte, daß sie erfunden sind. Es ist der Zeit eigentümlich,daß sie die Bedürfnisse schafft, die irgendwo in der Welt schon be-friedigt sind.“

Kraus’ Denken war zwar vor 1914 zunehmend von Fortschritts-skepsis geprägt,68 er schätzte aber offensichtlich die Funktionalitätmoderner urbaner Infrastrukturen und die davon und von der Mo-derne überhaupt eröffneten Individualisierungsspielräume, und litt da-her unter dem hartnäckigen Festhalten an der Konstruktion einer be-sonderen, traditionsverhafteten Identität Wiens: „Die Großstadt soll

314

G. Meißl

der Individualität eine Umgebung sein. Aber wehe, wenn sie selbst In-dividualität hat und eine Umgebung braucht.“69

Gegen dieses Wien-Bild und den hermetischen Kulturbegriff, aufden es rekurrierte, polemisierte auch Egon Friedell in „Ecce poeta“,seiner Hommage an Peter Altenberg. Ihn störte die Tendenz, „dieseStadt mit dem Begriff ‚alte Kultur‘ zu assoziieren und sich vorzustel-len, sie bilde in unserer Welt eine Art Enklave jener versunkenen Le-bensschönheit, nach der so viele Menschen sich zurücksehnen.“ Erentwickelte ein prozessuales Kulturverständnis, wo es darum ging,sich auf das höchste Modernisierungsniveau der Zeit, also auf dieamerikanische Zivilisation voll einzulassen, wenn er sie dann auchdurch eine diffus bleibende idealisierende Bezugnahme auf Europa(und seine Tradition?) wieder überwunden haben wollte.

„Es ist nichts als Zeitverschwendung, wenn man von historischenPhantomen wie ‚Athen‘, ‚Florenz‘ oder ‚Weimar‘ träumt. Diese Kul-turen waren gerade deshalb so groß, weil sie aus der unmittelbarstenGegenwart des Tages entstanden waren. Heute sind sie tot undgehören bestenfalls ins Museum. Es gibt nur eine einzige Kultur, mitder wir rechnen dürfen: die um 1910. Alles andere ist Selbstbetrug.Wir dürfen nur fragen: haben wir heute schon eine Kultur, die unse-rer Zeit entspricht, eine Kultur, die nicht im Widerspruch steht mitAutomobil, Torpedoboot, Bogenlampe, Untergrundbahn? Ja odernein? Jede anderer Fragestellung ist unehrlich. … Wir haben nochkeine Kultur. Aber wir wollen lieber keine haben als eine, die wirnicht selbst gemacht haben. Was sollten wir mit ‚alter Kultur‘ an-fangen? Es sind Leichengewänder, die nicht für uns geschnitten wur-den. ‚Alte Kultur‘ ist gut für Aufsatzthemen, aber im lebendigen Le-ben hat sie nur den Zweck, Keime zu unterdrücken. Es gibt nichtSchädlicheres und Entwicklungshemmenderes als die ewigen La-mentationen über die Amerikanisierung Europas. Der Amerikanis-mus ist die Krise der modernen Kultur, so wie der Naturalismus dieKrise der modernen Kunst war. Eine Krise muß man aber durchste-hen. Die Kultur der Zukunft wird den Amerikanismus überwinden

315

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

müssen, gewiß; aber auf der Basis des Amerikansimus, aus demAmerikanismus heraus. Erst müssen wir Amerikaner werden, dannkönnen wir wieder daran denken, ‚gute Europäer‘ zu werden. Aberdie Uhr zurückdrehen, von Vergangenheit träumen, die es nichtmehr gibt, die Forderungen der Zeit einfach von sich weisen: – aufso bequeme Art wird nicht Kultur gemacht.“

Schlichtweg modell- und damit für Wien vorbildhaft sah er diesenProzeß in der deutschen Metropole realisiert, die sich ohne an der Ver-gangenheit maßzunehmen als Avantgarde der Modernität versteheund eine perfekt funktionierende und hochproduktive, wenngleichnoch seelenlose Großstadtmaschine repräsentiere:

„Berlin verdient gerade darum die höchste Bewunderung, weil esseine Aufgabe als deutsche Reichshauptstadt so richtig erfaßt hat:die Aufgabe, ein Zentrum der modernen Zivilisation zu sein. Berlinist eine wundervolle Maschinenhalle, ein riesiger Elektromotor, dermit unglaublicher Präzision, Schnelligkeit und Energie eine Füllevon komplizierten mechanischen Arbeitsleistungen vollbringt. Es istwahr: diese Maschine hat vorläufig noch keine Seele. Das Leben Ber-lins ist das Leben eines Kinematographentheaters, das Leben einesvirtuos konstruierten homme-machine. Aber das genügt fürs erste.Berlin ist in den Flegeljahren einer kommenden Kultur, die wir nochnicht kennen, und die sich erst herausarbeiten muß. Die Berliner Ge-schmacklosigkeiten sind wenigstens moderne Geschmacklosigkei-ten, und die sind immer noch besser als die geschmackvollste Un-modernität, weil in ihnen Entwicklungsmöglichkeiten stecken“70

Eine Art Abrechnung mit der Habsburgermetropole war HermannBahrs 1907 erschienene Schrift „Wien“, die allerdings aus dem Kon-text seiner zunehmenden Hinwendung zur Authentizität der Provinzund seiner hier eben zu Ende gegangenen wenig anerkannten und vonpersönlichen Fehden begleiteten Arbeit zu verstehen ist.71 Der Textwirkt angesichts des Selbstverständnisses seines Autors als Wegberei-

316

G. Meißl

ter der Moderne durchaus zwiespältig und mutet zum Unterschiedvon manchen reichsdeutschen Oden an Alt-Wien streckenweise wieein Pamphlet aus der Provinz gegen die Oberflächlichkeit der Metro-pole an. Bahr entging darüber hinaus auch nicht der zeitgeistigen ras-sistischen Begrifflichkeit. Seine Hauptangriffspunkte waren die wiene-rische Anpassungswilligkeit und Untertanenmentalität sowie die Do-minanz des Schauspielerisch-Formalen gegenüber dem Substantiel-len.72 Unter dem auf Wiener Boden zusammengerührten Gemisch vonVölkern war eines, das ihm als besonders maßgeblich für diese Stadterschien: „Kelten. Also selbst nicht starke Menschen, nicht eigenwil-lig, nicht eigensinnig, aber von einer merkwürdigen Kraft für das An-dere … Immer bereit, abzuweichen, auszuweichen, anzunehmen, ein-zunehmen, einzugehen, aufzugehen. … Kein Charakter, alles Figur. Esist ein Volk, das nur Form enthält. Es ist ein Volk, das sich immergleich spiegeln muss. Es ist das Volk der grossen Schauspieler.“ DieseDisposition habe sich unter der Herrschaft der Habsburger vertieft,zumal angesichts ihrer in der Gegenreformation geübten Methode„mit der Furcht selig zu machen“, und durch die Wirkung des Ba-rocks, die Auflehnung gegen Unterdrückung durch den Verweis aufden leeren Schein dieser Welt abzubiegen, dann aber erst recht zu ge-nießen wie ein Künstler, „der weiss, dass es nur ein Spiel ist, und dochauch weiss, dass dies Spiel sein einziger Ernst ist.“ Ebenso sei in Öster-reich und Wien der Liberalismus nicht Ausdruck der Bedürfnisse desBürgertums wie sonst überall, nicht „Gesinnung“, sondern nur „Mo-de“. Er sei „im Salon“ geblieben, seine Sprache sei daher auch vomVolk nicht verstanden worden. Deshalb sei der Liberalismus auchgleich zerronnen, „als einer kam, der mit dem Wiener wienerischsprach, Wiener Gedanken in Wiener Worten. Das war der Zauber Lu-egers.“73 Die ganze Widersprüchlichkeit von Bahrs Argumentation tratin seinem Urteil über die assimilationswilligen Wiener Juden zutage,die für ihn geradezu als Quintessenz des perhorreszierten Wieneri-schen figurierten. Während „der wirkliche Jude keine Macht über dieWiener Stadt“ habe, da sie „seinen Fleiss, die Betriebsamkeit, den Le-bensernst“ nicht möge, sei ihr „der Jude, der es nicht mehr sein will,

317

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

der Verräter seiner Rasse, der sie verlässt, der Schauspieler einer frem-den (…) verwandt.“ Der Wiener „findet an ihnen sich selbst“, mankönne sagen, „dass er durch und durch verjudet ist. Er war es schon,bevor noch der erste Jude kam.“74

Bahrs Einschätzungen waren stark vom 1879 verstorbenen natio-nalliberalen österreichischen Feuilletonisten Ferdinand Kürnbergerbeeinflußt, der gleich ihm den Wienern ihre Substanzlosigkeit, Vor-dergründigkeit und Unverbindlichkeit vorgeworfen hatte, und den erseitenlang äußerst beifällig zitierte.75 Während Bahr aber immerhinauch historischen Kontingenzen Wirkkraft einräumte, basierte Kürn-bergers Wien-Bild auf einem rein dichotomischen Entwicklungs-Sche-ma, das durch eine Kombination aus räumlichen, ethnischen und so-zio-kulturellen Kategorien bestimmt war: Synonyma für die niedrigeEbene waren Asien, Slawen, Unkultur, Nomadentum, Klientelwesenmit „weiblichen“ Charakteristika wie Sinnlichkeit, Unstetheit, Nach-giebigkeit, Verspieltheit, Subjektivität, Aufgehen in persönlichen Be-ziehungen; für die höhere Ebene standen Europa, Deutsche, Kultur,Seßhaftigkeit, Stadt, Staat, charakterisiert durch „männliche“ Eigen-schaften wie Ernst, Härte, Konsequenz, Objektivität, Sachbezogen-heit. Unausgesprochen formulierte er damit den – letztlich uneinlös-baren – Anspruch der klassischen Moderne nach Definition, Regel-haftigkeit, Eindeutigkeit, und nach Exklusion aller Unregelmäßigkei-ten und Ambivalenzen.76 Wien, das diesem Postulat in seinen Augenüberhaupt nicht genügte, sah sich daher aus dem Zentrum nationalerIdentitäts-Konstruktion an die Peripherie versetzt: Österreich und sei-ne Hauptstadt wurden von Kürnberger eher der unteren Ebene zuge-ordnet und in der durch ständigen Fluß des Austausches noch mehrdestabilisierten Übergangszone vom „ohnedies mit altem Celtenblutinfiltrirte(n)“77 Süddeutschland zu Asien verortet. Zwar wurde damitzurecht der – für Bahr offenbar auch noch gut dreißig Jahre später be-stehende – Wiener Rückstand zum weiter westlich schon erreichtenRationalitäts- und Modernitätsniveau diagnostiziert, gleichzeitig je-doch die in der hiesigen Situation liegenden Chancen zum offenerenUmgang mit den Paradoxa und Ambivalenzen der Moderne ignoriert.

318

G. Meißl

Was jedem Nichtösterreicher so unverständlich an Österreich sei, das„ist das Asiatische in Österreich: das Nomadisch-Zerstreute, Schwei-fende, Fahrige unserer vielen unkultivirten Ost-Völker, welche, kaumseßhaft am Orte, im Geist und Gemüth noch lange nicht ruhen undsitzen gelernt haben, wie das sitzende Städtevolk der Deutschen. …Auf einem uralten Untergrund celtischen Leichtsinns das Alluviumslavischer und ostländischer Liederlichkeit im lebendig-fluthendenStrom, im täglich-stündlichen Grenzverkehr, im unaufhörlichen78

Empfangen und Aufnehmen; voilà l’Autriche! Das ist Österreich!“Anders als Brecht, der bei den Deutschen Verständnis für die Mehr-

fach-Codierung des Wienerischen zu wecken versuchte, rieb sichKürnberger vehement daran, besonders „an einem der undeutschestenZüge Wiens“, der Gemütlichkeit:

„Gemüthlich nennt ihr das? Feig ist es, schlaff, schlotterig, wasch-lappig … Mangel an Muth, Männlichkeit, Wehrhaftigkeit, Mangelan Kern, Härte, Festigkeit, an Prall und Gegenprall. Alles Fladen,nichts Stahl und Stein! Euer ewiges Bedürfniß, liebenswürdig zu seinund den Charmanten zu spielen und gute Gesichter zu zeigen, undvon Freundlichkeit, Nachgiebigkeit, Gefälligkeit, Wohldienerei undLieb-Kinderwesen zu überfließen, das ist der slavische Blutstropfenin Euch, die Buhlerei, die wollüstelnde Sinnlichkeit, das Weibertem-perament, die Weiberschwachheit und Weiberweichheit. Ein weibi-sches Volk seid ihr, kein männliches. Nennt euch nicht Deutsche.Der Deutsche kann Nein sagen, der Deutsche stellt seinen Mann.Nichts ist euch unmöglicher. Stirn an Stirn hat kein Wiener je neingesagt. Er hat vertröstet, hingehalten, Ausflüchte gemacht und dann– sich ergeben. … ‚Raus schmeißen‘ hat Berlin groß gemacht; ‚Manmag sich nicht scheren!‘ wird das Fatum von Wien werden!“

Eng mit dem Habitus der Gemütlichkeit hing für ihn auch die Dif-ferenz zwischen den von engen persönlichen Beziehungsnetzen kon-textualisierten Wiener Kommunikationsformen und der davon abstra-hierenden deutschen Sachbezogenheit zusammen.

319

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

„Deutsch ist der Vortritt der Sache vor der Person, die selbstloseHingebung der Person an die Sache, das Verschwinden und Aufge-hen des persönlichen Momentes im Interesse und im Dienste der Sa-che. Just umgekehrt herrscht bei uns wie bei allen Ostvölkern dieNeigung vor, alles Persönliche zuerst und zumeist zu berücksichti-gen, die Person beständig vor die Sache und über die Sache zu stel-len. Wie bis an die Halden der Türkenschanze die asiatische Step-penflora reicht, so reicht in unsern Geist jener asiatisch-slavischeGeist hinein, welcher, schwach zur Staatenbildung und auf der nied-rigen Stufe von Stamm und Familie befangen, so schwer über dasPersönlich-Sinnliche hinauskommt, so unempfindlich für die com-pacte, aber geisterhafte Solidarität der Dinge ist, dagegen soüberempfindlich für Person und Persönchen im Einzelnen, ihre Ein-flüsse, Anreizungen, Velleitäten, Suchten und Hänge. Die wichtig-sten und festesten Dinge beständig aufzulösen und umzumodeln,nach persönlichen Witterungsverhältnissen das Große klein und dasKleine groß, das Etwas zu nichts und das Nichts zu Etwas, zu Viel,zu Allem zu machen, diese ganze erzundeutsche Art, die objektiveWirklichkeit zu einem phantastischen Schattenspiel des persönlich-willkürlichen Beliebens herabzuwürdigen – ist leider die österreichi-sche.“

Diese bei aller Ähnlichkeit der verbalen und nonverbalen Kulturaufbrechenden Differenzen in der Wahrnehmung und Deutung derWirklichkeit machten auch die Kommunikation und den Umgang mit-einander schwierig, wie ihm mancher deutsche Bekannte klagte, demes in Wien ursprünglich gefallen habe: „Aufschriften, Denkmäler, Bau-art, Straßen und Straßenpolizei, öffentliche Reinlichkeit, Ansprache,Geselligkeit, Theater, Kunst, Industrie, Literatur, – jeder Pflastersteinund jeder Athemzug Deutsch! Nur liebenswürdiger, farbenreicher, le-bendiger, kurz charmant!“, der aber bald darauf desillusioniert einbe-kannt habe:

320

G. Meißl

„Mit jedem Tage komme ich mir fremder vor in Eurem deutschenWien. Es ist eben alles anders hier als bei uns. Will ich mich unter-halten, so werde ich überschwemmt mit Genüssen und kann mir ineiner Woche Blasirtheit fürs ganze Leben holen, aber will ich Ge-schäfte machen, so mach’ ich in einem Vierteljahre nicht, was ich‚bei uns‘ in einem Tag fertig bringe. Kein Mensch ist zu Hause, keinMensch hält Wort, kein Mensch erinnert sich heute, was er gesterngesagt hat; worauf ich Schwur und Handschlag habe, das ist ver-gessen, und was gegen die Abrede ist, das ist geschehen. … Wasdraußen fix und fest ist, das ist hier lose und locker, und was wirleicht und beweglich haben, das rührt sich hier nicht vom Flecke.“

Dieses emphatische Einfordern der objektiven Abbildung der Wirk-lichkeit durch die Sprache war es wohl auch, das Wittgenstein seinem„Tractatus“ ein Kürnberger-Zitat voranstellen ließ. Der spätere Witt-genstein der sich aus komplexen kulturellen Praktiken entfaltendenSprachspiele79 hätte vermutlich den typisch wienerischen Unschärfenmehr Verständnis entgegengebracht. Diese sollten freilich nur zum Teilauf ein aus dem hiesigen ethnisch-kulturellen Gemisch herrührendes„postmodernes“ Gespür für das Andere zurückgeführt werden, zu-gleich waren sie ein Relikt vormoderner Homogenität, wo die Ratio-nalität eines sich ausdifferenzierenden Teilsystems – wie die des obenangesprochenen ökonomischen – noch stärker vom gesamtgesell-schaftlichen Umfeld her kontextualisiert war, was die Kommunikati-on für Außenstehende schwierig machte. Wahrscheinlich war es gera-de jene spezifische hybride Gemengelage zwischen Vormoderne undModerne, zwischen lokalistischer Kohärenz und überregionalem Aus-tausch mit Räumen unterschiedlichster zivilatorischer Niveaus, dieWien ausmachte. Kürnberger mußte jedenfalls – mit bitterem Sarkas-mus gleichwohl – zugeben, daß dieses Wien irgendwie funktionierte:Es am deutschen Maß zu messen, hieße es „arg mißverstehen“ undihm „wirkliches und unverdientes Unrecht thun … Dagegen wird Al-les licht und klar, faßlich und verständlich, gerecht und billig, wenn SieWien nehmen als das, was es ist, – eine Europäisch-Asiatische Grenz-

321

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

stadt!“ Und auch Bahr konnte nicht umhin, Spannungen zwischen derWiener Scheinwelt und realen Fortschritten zu registrieren: schließlichseien „auch ein wirklicher Liberalismus“ und „das Bürgertum“ ent-standen. „Es wurde mächtig, es hatte Bedürfnisse, wirkliche Forde-rungen, nirgends ausgedacht, sondern in den Banken, im Handel, inden Fabriken erwachsen. … Und dabei wächst die Stadt und wirdstark und überall ist Kraft. Sie darf es nur nicht zeigen. Der alte Scheinliegt auf ihr und drückt.“80

Gegen Ende des Ersten Weltkrieges erschien ein an der Idee einesdeutschen Mitteleuropa orientierter kulturgeschichtlicher Vergleichvon Wien und Berlin, zu dem der zum Anhang Hermann Bahrszählende Journalist Willi Handl den Wien-Teil beitrug.81 Obwohl dar-in viele von Bahrs kritischen Befunden Aufnahme fanden, wurde letzt-lich ein positives Wien-Bild gezeichnet, und es kam wieder zur ver-trauten Rollenverteilung für „Wien, als die Hauptstadt deutscherSchönheit und Anmut, neben Berlin, als der Hauptstadt deutschenDenkens und deutscher Kraft“. Oder einfach: „Österreichische Naturund preussischer Geist.“ Dementsprechend wurde Wien gegenüberdem nüchtern-modernen, selbstbewußt expandierenden Berlin als ur-alt gewachsene und in ihrer Vergangenheit befangene Stadt imaginiert.

Bemerkenswert war das Aufeinanderbeziehen der gesellschaftlichenund der stadträumlichen Entwicklung.82 Der große Erfolg der christ-lichsozialen Bewegung unter Karl Lueger über den bürgerlichen Libe-ralismus wurde auf ihre Verwurzelung im mittelalterlich-ständischen,barocken und romantischen Wien zurückgeführt. Er werde „andau-ern, solange die Wiener ihr schönes Barock und all das Krumme undSchiefe in der Stadt nicht im Abstand, als die Zeichen einer weitablie-genden Vergangenheit, betrachten, sondern in sich tragen als einen le-bendigen Teil ihrer selbst, als den immer frischen Antrieb ihrer ro-mantischen Gefühlsgewohnheiten.“ Auch die soziale Gliederung seiunter diesen Umständen „hinter der Reife modernen grossstädtischenLebens“ zurückgeblieben, aufgrund der Rückständigkeit der wirt-schaftlichen Verhältnisse sei die Polarisierung in Bürgertum und Pro-letariat weniger fortgeschritten, das „kleinbürgerliche Wesen“ greife

322

G. Meißl

„mit seinen sachlichen Interessen, seinem Geist und seinem Gefühlüberall bestimmend in das Leben der Stadt ein“. Auch die Stadterwei-terungen von 1857 und 1892 wurden in diesem Zusammenhang gese-hen – sie seien vor allem „aus Gründen der Verschönerung“ erfolgt.„Man brauchte um so mehr Platz, je stattlicher man werden wollte,während anderwärts die Gemeinden umso stattlicher werden, je mehrPlatz sie brauchen.“ Dadurch sei eine anderswo kaum vorfindbaregeographische, gesellschaftliche und geschichtliche Übersichtlichkeitdes baulichen Zuwachses entstanden. „Der Kreis der proletarischenund bäuerlichen Vororte hat sich nun ziemlich fest um die bürgerlichund aristokratisch besiedelten inneren Teile gelegt. Trotz des unauf-hörlichen Durcheinanderflutens, das der Bedarf erzwingt und mancheNeuerung fördern will … erhält sich doch in grossen Zügen jene ört-liche Scheidung der Gesellschaftsklassen.“83

Schließlich sah sich Handl aber doch genötigt, seiner Erzählung vomhomogenen, geordneten Alt-Wien eine unerwartete Wende zu gebenund von einer Stadt mit Differenzen und Spannungen, mit innerenGrenzziehungen gegenüber Anderen zu berichten: „Aber dahinter istschon zuviel dringendes Bedürfnis nach Neuem hervorgekommen,halten sich zu viel Kräfte bereit, die sachliche Notwendigkeit des Au-genblicks zu verwirklichen; jeder genügend starke Anstoss kann diezögernde Entwicklung zur modernen Grossstadt beschleunigen undvollenden.“ Mit dem Aufschwung der Arbeiterbewegung unter VictorAdler habe ein „Kampf der Wiener um Wien“ begonnen, es stehe„Demokratie gegen Demokratie, katholisch-konservatives Volk gegensozialistisch-revolutionäres Volk, die tüchtige Praxis einer romantischgesehenen Ständeordnung gegen das idealistische Verlangen nach ei-ner sachlich gegründeten Weltordnung in bedeutungsvollem Ringen.“Trotzdem insistierte er auf der in der Tradition ruhenden BesonderheitWiens, wo die überkommenen stadträumlichen und sozialen Struktu-ren zur Deckung kamen und einander stabilisierten. Wenngleich beiden Reichsratswahlen von 1911 viele Bürgerliche zum Sieg der Sozial-demokratie über die Christlichsozialen beigetragen hätten, seien diemeisten Anhänger der letzteren in den Innenbezirken und in den agra-

323

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

rischen westlichen Außenbezirken ihrer Partei treu geblieben. „Aufdem Boden mittelständischer Fürsorge, im Dunstkreis der katholi-schen Romantik, finden städtisches und ländliches Bedürfnis müheloszu einander.“ Die stärksten Wurzeln für diese „ungewöhnliche – man-cher meint: unnatürliche – städtisch-agrarische Einheit, die man nunfür ein Glück oder einen Nachteil halten mag,“ verortete er „in deminnigen Verhältnis Wiens zu seiner Landschaft; tief eingesenkte seeli-sche Tatsachen erhöhen und umkleiden überall die wirtschaftlichenKräfte.“ Der in den letzten Jahren unübersehbare und beschleunigteAufbruch in eine moderne metropolitane Urbanität und die damit ver-bundene Generierung neuer oder Dekontextualisierung altbekannterRäume konnte aus einer Perspektive ungebrochener Naturverbunden-heit und Vergangenheitsverhaftung des „richtigen“ Wienertums nuraufgesetzt wirken.

„Wien ist nun doch schon so weit, dass ihm vor der hochbegabtenFülle, die der Übersicht und des hellen Raumes zur Entwicklung be-gehrt, ein wenig bange wird. In seiner Nervosität darüber möchte esnun auch, mit hastiger Gewaltsamkeit, modernste Grossstadt spie-len, richtet da und dort Betriebe nach Berliner Muster ein, machtLokale auf, die mit allerhand Ausstattung und Komfort prunkenund wirft sich auf einen vorläufig noch recht naiven Fremdenfang.Die alten Einrichtungen von echtester Wiener Gemütlichkeit, wieHeurigenschenken, Volkssängerei und sogar das Café sind zum Teilso verwildert und überlaut geworden, dass dem richtigen Wiener derguten Überlieferung kaum mehr wohl darin werden kann.“84

Einer der pointiertesten und in Bezug auf sein Modernitäts-Konzept– ein wenngleich simplifizierter Georg Simmel könnte dafür Pate ge-standen sein – elaboriertesten Metropolen-Vergleiche stammte vomWiener Schriftsteller Alfred Fried, der nach langjähriger Berlin-Erfah-rung im Jahr 1908 zum Ergebnis kam, daß Wien und Berlin aufgrundunterschiedlicher geographischer und historischer Bedingungen „in je-der Beziehung zwei grundverschiedene Städte“ seien.85 Hergeleitet aus

324

G. Meißl

den kontrastierenden klimatisch-historischen Milieus von fast medi-terraner Lebensart gepaart mit jahrtausendealtem Kulturerbe auf dereinen und nordischer Kargheit und Nüchternheit sowie noch jungerGeschichtsmächtigkeit auf der anderen Seite konstruierte Fried aus ei-ner Fülle von Alltagsbeobachtungen immer wieder um den Kernsatz„Der Wiener hat Kultur, der Berliner ist zivilisiert“ oszillierende undhäufig klischeehaft zugespitzte Gegensatzpaare von Vormoderne undModerne: In Wien das rituell stabilisierte Verharren einer Stadt undihrer Bewohner im Traditions-Raum, lebensweltlich und lokalistischintegrierte Kontextualität und Homogenität, geruhsamer Lebensge-nuß, in Berlin die begierige Hinwendung zum Neuen, Öffnung und ge-zielte Produktion des Stadt-Raums, Ausdifferenzierung und Individu-alisierung, ökonomisches Kalkül und Diskontierung der Zukunft,rastloser Schaffensdrang.

„Das Hasten und Schieben, das dem Berliner Straßenverkehr dieSignatur aufprägt, ist in Wien völlig unbekannt. In Berlin meint manimmer, es sei Alarm geblasen worden; ‚alles rennet, rettet, flüchtet‘.In Wien meint man, einer Operette zuzusehen, in deren Hintergrun-de sich die Statisten mit ungelenken Händen bewegen; ‚Volk, Edel-leute, Dienerschaft‘86 … In Wien sieht es immer so aus, als wenn dieLeute spazieren gehen würden. … Der Wiener hat eben Zeit. … Istder Berliner ein verschämter Bummler, so ist der Wiener eher ein ver-schämter Arbeiter. … Während in Berlin nämlich die Unterwerfungunter die Vorschriften der Mode ein Mittel zum Hervorstechen ist,so ist sie in Wien ein Mittel zum Verschwinden in der Masse. … DasIndividuum opfert seine Toilette der Gesamtheit, es kleidet nichtsich, sondern die Stadt …“.

Ein ganz entscheidendens Differenzierungskriterium war für Frieddie Relation zum Neuen, Unbekannten – hier durch materialen undmentalen Ballast beschwert ein Festhalten am Gewohnten, Irritationdurch Änderungen, deren Bewertung nach dem unmittelbarem Nut-zen, dort ein Stadtraum und seine Bewohner mit Offenheit für Inno-

325

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

vationen, deren bewußtes Generieren, die Spekulation auf daraus er-wachsende zukünftige Potentiale. „Das charakteristische Merkmal desöffentlichen Lebens beider Städte bildet der Misoneismus der Wienerund der Philoneismus der Berliner… Dem Berliner wird das Neue nurimmer eine Vervollkommnung, einen Ausbau, eine Erweiterung seinerjungen Stadt bedeuten, dem Wiener wird es als eine Störung, als Um-sturz erscheinen und stets einen Kontrast zu seinen Einrichtungen bil-den.“ Im „buckligen, krummen, engen Wien, das nichts weniger alsein Kind des technischen Jahrhunderts ist und mit den Ablagerungender Zeiten über und über angefüllt ist“, seien neben den materiellenauch „die psychischen Hindernisse der Traditionen, der Gewohnhei-ten, wie der geistigen Trägheit“ zu überwinden. Der Berliner „vermagdas Neueste in seiner psychischen Bedeutung zu erkennen, währendder Wiener bei einer Neueinführung stets die sofortige Wirkung be-rechnet, und wenn er diese nicht ersehen kann, die Sache aufgibt …“.Der größere Unternehmungsgeist des Berliners mache ihn wirtschaft-lich erfolgreich, während „die Kurzsichtigkeit des Alters“ den Wienerzurückhalte, Kapital und Arbeit aufs Spiel zu setzen. Entsprechend seies mit der Stadtentwicklung: „Dem Berliner ist der Verkehr Selbst-zweck, oder das Mittel zu einem sich erst durch den Verkehr heraus-bildenden Zweck.“ Man führe daher Straßenbahnlinien ihn noch un-bebaute Gegenden. „In Wien wartet man erst die Häuser ab. … DerWiener kalkuliert noch immer umgekehrt; er weiß nicht, daß seineMethode, statt Bedürfnisse zu wecken, diese im Keim erstickt oderzum mindesten erlahmen macht.“ Weitere Charakteristika des Man-gels an innovatorischer Dynamik waren für Fried etwa die Aufma-chung der Geschäfte, die „in Wien noch immer in einem Lokalidiomfrüherer Zeiten auf die Sinne und Instinkte des kaufenden Publikumseinzuwirken“ suchte, die Unterschätzung des Telephons, weil manglaubte, „daß zu Übermittlung eiliger und wichtiger Nachrichten Ge-schäftsboten und Dienstmänner zur Verfügung stünden, die viel billi-ger wären“ und als „wunder Punkt des Wiener Großstadtlebens“ dermit den Verkehrsmängeln und der frühen Haustorsperre zusammen-hängende „fast völlige Mangel eines regen Nachtlebens“.

326

G. Meißl

Alles in allem kam Fried zu zwiespältigen Ergebnissen. Gegenüberdem Berliner, der auch sein Vergnügen gleichsam unter Leistungsdruckorganisierte, war nämlich für ihn der Wiener, „der das Leben leichterauffasst, dem es mehr Genüsse und Befriedigung bietet, … der Glück-lichere“. Und auch die Wiener Gemütlichkeit sah er in viel günstige-rem Licht als etwa Kürnberger und mit ihm Bahr. Er wendete –höchstwahrscheinlich in Kenntnis des ein Jahr zuvor erschienenen Bu-ches – die dort kritisierte Ungenauigkeit und Konfliktscheu ins Positi-ve, um sie dann in sein Kontrast-Schema einzupassen. Sie war für ihndie in der alten Wiener Kultur wurzelnde Kompromißfähigkeit der In-dividuen und Gruppen, „die Fähigkeit, das starre Recht der Personvon Fall zu Fall modifizieren zu können, zum Zwecke einer höherenHarmonie des Ganzen“, gleich „einem elastischen Puffer, der beimZusammenprall der Interessen den Stoß abschwächt und ihm seine er-schütternde Wirkung raubt.“ Die Berliner Individualisierung und or-ganisierte Ausdifferenzierung bedeute dagegen „einen ständigenKriegszustand der Gesellschaft“, sie führe „zu einer erhöhten gegen-seitigen Erbitterung der Personen, Stände, Klassen und Parteien, wiesie in Wien niemals möglich wäre“.87 Den ablaufenden sozialen Pro-zessen wurde er mit der behaupteten Reibungsarmut der „imaginedcommunity“ Wien ebensowenig gerecht wie mit dem Berlin-Szenarioeiner durch Isolierung und Fragmentierung verallgemeinerten und ver-stetigten Konfliktsituation, ein Blick auf das von seinem ZeitgenossenEmile Durkheim entwickelte Konzept der „organischen Solidarität“moderner hoch-arbeitsteiliger Gesellschaften88 hätte ihm wahrschein-lich eine adäquatere Sichtweise ermöglicht. Wie wir sahen störte Friedallerdings der wienerische „Misoneismus“, der den Unternehmungs-geist, den Verkehr und die Stadtentwicklung so hemmte, und er plä-dierte für eine stärkere Orientierung am Berliner Vorbild: „Die Ver-kehrspolitik, das Verständnis für das Neue und seine Ausnützung, dasließe sich nach Wien übertragen …“. Schließlich schlug er eine ArtQuadratur des Kreises vor, indem die für Wien sprechende Logik derMenschen und die in Berlin besser entfaltete Logik der Sachen einfachaddiert werden sollten: „Von Wien die Menschen nehmen und von

327

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

Berlin die Einrichtungen, dann kann man in beiden Städten seelig wer-den.“ Damit widersprach er freilich den Befunden seines eigenen Tex-tes, wo er immer wieder die prozessuale Relationalität des Stadtraumsund seiner darin agierenden Bewohnerschaft exemplifiziert hatte.

Bei den hier vorgestellten Diskursbeispielen, die sich ohne Fragenoch beträchtlich vermehren ließen,89 ging es offensichtlich nicht nurum mehr oder weniger realitätsnahe Repräsentationen von konkretenStädten, sondern mindestens genauso um Wunsch- oder Zerrbilderdavon, die die jeweiligen Teilnehmer entwarfen, um ihre Positionengegenüber der Moderne zu beziehen. Das Wien der Jahrhundertwen-de war allem Anschein nach ein bestens geeigneter Ort, um solche Po-sitionskämpfe auszutragen – noch traditionsverhaftet genug, um denBewahrern des Überkommenen als verteidigungswürdige Bastion zugelten und von den Modernisierungswilligen als Hort altväterisch-bornierter Abschließung angesehen zu werden, zugleich aber schonsoweit auf dem Weg in die Modernität, um den einen Anlaß fürSchreckensszenarien zivilisatorischer Verwüstungen unter Menschenund gebauter Umwelt zu liefern, und die andern zu Entwürfen für einFortschreiten in dieser Richtung zu inspirieren.90 Immer wieder findensich Passagen, die die Lebensweise der Bewohner und den Stadtraumals einander strukturierend darstellen. Wenn es gelänge, einige syste-matische Anhaltspunkte für diese Verläufe zu finden, könnte man ver-suchen, diese zum Entwurf eines etwas unbefangeneren Wien-Bildesheranzuziehen. Im folgenden soll daher die Diskursebene verlassenwerden, um anhand einiger Indikatoren die materialen Auswirkungender Diffusion der Moderne in der Donaumetropole etwas genauer zuvermessen und dann im Feld zwischen den diskursiv vorgenommenenPolarisierungen die Umrisse der „realen“ Stadt zu skizzieren.

Die Ausdifferenzierung einer Metropole

Die Emergenz jener Daseinsweise, die wir als Moderne bezeichnen,kann als spezifische Konstellation einander verstärkender soziokultu-

328

G. Meißl

reller, ökonomischer, wissenschaftlich-technischer und politischer In-novationen beschrieben und erklärt werden.91 Maßgebliche Elementedieses Prozesses – ohne den Anspruch, mit der Reihung Prioritäten zusetzen – waren die verstärkte Individualisierung bei gleichzeitig ver-mehrter räumlicher und funktionaler Mobilität von Menschen in im-mer größeren und komplexeren sozialräumlichen Gebilden, die Aus-differenzierung von Teilfunktionen bei gleichzeitig gestiegenem Bedarfzu integrativer Systembildung, die Ausbildung neuer leistungsfähige-rer Technologien und Medien der Produktion und Kommunikation,die gesteigerte und beschleunigte Produktion und Zirkulation von In-formationen (die eben referierten Diskurspartikel waren zugleich Be-standteil dieses Prozesses und Reaktion darauf) sowie von Sachgüternund die Ausdehnung des Raumes der diesbezüglichen Kommunikati-onsvorgänge. Zusammengenommen führte dies zu tiefgreifenden Neu-strukturierungen – zu einem Aufbrechen relativ stabil gewesenerkleinräumiger Homogenitäten, zur Konstituierung labiler und kom-plexer Großraumstrukturen mit einem inhärenten Widerspruch zwi-schen dem umfassenden Geltungsanspruch überregionaler Planungs-rationalität und dem heterogenen Eigen-Sinn lokaler und funktionalerTeil-Logiken, zur prinzipiell prekären Existenz des modernen Indivi-duums angesichts der in Auflösung befindlichen traditionellen lebens-weltlichen Kontexte und der Unterwerfung unter dekontextualisierte,abstrakte Zwänge, bei gleichzeitig vermehrten Chancen zur nun frei-lich stärker umkämpften Re-Kontextualisierung heterogener sozial-rä-umlicher Milieus. Brennpunkte dieser Entwicklungen waren diegroßen Städte, wo die Stränge der überregionalen Kommunikation zu-sammenliefen, die zugleich dominierende zentrale Orte der Konstruk-tion, Produktion und Diffusion der genannten Innovationen waren,und in deren Mikrokosmos sich die neue sozialräumliche Komplexitätreproduzierte. Diese Geschichte kann hier natürlich nicht in aller Brei-te am Beispiel des Fin de siècle-Wien erzählt werden, es soll aber ver-sucht werden, anhand einiger für die anvisierten Verläufe kennzeich-nender Daten einigermaßen präzise Anhaltspunkte für die geändertenBeziehungen der Stadt zu ihrem großräumigen Umfeld, die Herausbil-

329

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

dung ihrer metropolitanen Physiognomie und die Wandlung der Le-bensverhältnisse ihrer Bewohnerschaft zu liefern.

Überregionale Netze

„Trotz seines guten Wassers kann Wien nur 252 ankommende Zü-ge verzeichnen, während auf den großartigen Pariser Bahnhöfen innormalen Zeiten täglich 844 Züge einlaufen – trotzdem Paris ein soschlechtes Wasser hat.“92 Wiewohl sich Max Winter in seinem Metro-polenvergleich von 1900 derart mokierte, schlug sich die wachsendeüberregionale Attraktivität Wiens auch in einem Ansteigen des Frem-denverkehrs nieder, das vor allem die überragende Rolle der Habs-burgerresidenz als Zentrum für die österreichische Reichshälfte derMonarchie erkennen ließ. Zwischen 1892 und 191193 stieg die Zahlder pro Jahr in Hotels und Gasthöfen angekommenen Fremden von306. 934 auf 589. 216, also um fast das Doppelte. Mehr als die Hälf-te davon kam jeweils aus Österreich (eine regionale Unterteilungfehlt), mit einer in diesem Zeitraum überdurchschnittlichen Steige-rungsrate von 121%, rund ein Fünftel stammte aus Ungarn, mit einemdeutlich schwächeren Zugewinn von 60%, und etwa ein Viertel kamaus dem Ausland, wobei der Anstieg immerhin 62% betrug.

Die süffisante Bemerkung Winters weist uns auch auf den Eisen-bahnverkehr als Indikator für den Rang einer Stadt als Knotenpunktim Netz der anschwellenden Personen- und Güterströme hin. Leiderläßt die Datenlage keine die Jahre 1890–1913 umfassende Statistikder Hauptbahnhöfe zu, sodaß im folgenden die Verkehrsbewegung amSüdbahnhof – immerhin einer der bedeutendsten Bahnhöfe Wiens –zur Illustration der Gesamtentwicklung herangezogen werden muß. 94

Nehmen wir die gut 50%ige Bevölkerungszunahme zwischen 1890und 1913 als Bezugsgröße, so läßt Abbildung 1 erkennen, daß im sel-ben Zeitraum die Verkehrsleistung am Südbahnhof bei den (ankom-menden und abfahrenden) Personenzügen ungefähr ebenso wuchs, beiden Eilzügen, dem Eilgut und den abreisenden Personen (die anreisen-

330

G. Meißl

331

Ab

bild

un

g 1

: B

efö

rder

un

gsl

eist

un

g d

er S

üd

bah

n 1

890–

1913

012345678 1890

1895

1900

1905

1910

ange

k. F

rach

tgut

(100

.000

t)

Per

sone

nzüg

e (1

0.00

0)

abge

r. P

erso

nen

(1.0

00.0

00)

dav.

Eilz

üge

(1.0

00)

als

Eilg

. ang

ek. L

eben

sm.(

10.0

00t)

ange

k. E

ilgut

(10

.000

t)

abge

s. F

rach

tgut

(100

.000

t)

abge

s. E

ilgut

(10

.000

t)

Que

lle: S

tatis

tisch

es J

ahrb

uch

der

Sta

dt W

ien

1890

- 1

913

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

den wurden nicht vollständig registriert) aber auf das Doppelte undteilweise noch weit darüber anstieg. Ähnliche Durchschnittsraten sindauch – aufgrund der freilich nur fragmentarisch ausgewiesenen Daten– für die anderen Bahnhöfe anzunehmen. Nur beim ein- und abge-henden Frachtgut ist keine Zunahme festzustellen, für alle Bahnhöfekann hier – wegen der bruchstückhaften und offenbar uneinheitlichenDatenerhebung aber nur mit großer Vorsicht – beim Eingang auf eineknapp 50%ige und beim Ausgang auf eine gut 10%ige Steigerung ge-schlossen werden. Die markant überproportionale Zunahme der als„eilig“ kategorisierten Mobilität deutet darauf hin, daß beschleunig-ter Transport von Menschen und Gütern wegen des damit verbunde-nen Zeitgewinns und/oder der in gleicher Zeit erzielbaren Über-brückung größerer Distanzen zunehmend wichtig wurde.95 Die an-schwellenden, schnelleren und immer weiter vernetzten Personen- undWarenströme erforderten zur besseren Koordinierbarkeit auch eineverstärkte Abstraktion von lokal kontextualisierter Heterogenität.Während Österreich-Ungarn wie andere europäische Staaten beimZugs- und Telegrammverkehr schon Anfang der neunziger Jahre derinternationalen Zeitzonenregelung beigetreten war, blieb der Konti-nent freilich noch lange als Mosaik von Lokalzeiten bestehen, zu des-sen Homogenisierung erst knapp vor dem Ersten Weltkrieg intensivereAnstrengungen unternommen wurden.96

Ein weiteres die Moderne mitkonstituierendes Element war die Aus-weitung und Intensivierung der Informationsströme, was an der Ent-wicklung des Nachrichtenverkehrs veranschaulicht werden kann (vgl.Abbildung 2). Wie schon beim Bahnverkehr wird auch hier die Maß-zahl der Bevölkerungsentwicklung durch die Steigerung bei den an-kommenden und abgesandten Briefen und den ins Ausland gehendenund von dorther kommenden Zeitungen deutlich übertroffen. Nochviel markanter ist aber die Zunahme beim Briefverkehr mit dem Aus-land, bei den Expreßbriefen, und hier speziell beim Auslandsverkehr.Vor allem in den letzten Jahren vor 1914 hat das Ausmaß und dasTempo der überregionalen Zirkulation von Informationen offenbarneue Dimensionen erreicht. Einen entscheidenden Beitrag zu dieser

332

G. Meißl

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

333

Abbildung 2: Brief- und Zeitschriftenverkehr 1890–1913

0

2

4

6

8

10

12

14

1890 1895 1900 1905 1910

Expreßbr. ins Ausl.(10.000)

Expreßbr. aus Ausl.(10.000)

Briefe ins Ausl.(10. Mill.)

Briefe ins Inl.(100 Mill)

Briefe aus Ausl.(10 Mill.)

Expreßbr. aus Inl.(100.000)

Briefe aus Inl.(100 Mill.)

Zeitungen und Zeitschriften

0

1

2

3

4

5

6

7

1890 1895 1900 1905 1910

ins Ausl.(Mill.)

aus Ausl.(Mill.)

Quelle: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1890–1913

Briefe

Entwicklung lieferte die Durchsetzung der modernen Kommunikati-onstechnologien, und auch hiefür gingen von den Metropolen und dendort konzentrierten Leitungsfunktionen die maßgeblichen Impulseaus, wie es Waentig in seiner bereits erwähnten Schilderung NewYorks beschrieb: „Den ‚ticker‘ vor Augen, das Ohr am Telephon, alsoüberwacht der ‚captain of industry‘ von seinem in die Wolken ragen-den New Yorker office aus den Gang der Ereignisse und sendet auf ei-genen Drähten mit Blitzesschnelle seine Befehle auch in die fernstenWinkel des äußersten Westens. Und vollzieht sich bei uns, wenn auchin kleinerem Maßstabe, nicht dieselbe Entwicklung?“97 Abbildung 3veranschaulicht diesen Verlauf für das von Waentig wie gesagt 1903als „altväterisch“ angesehene Wien, und auch beim nationalen und in-ternationalen Telegrammverkehr, bei den Telefonanschlüssen sowieden urbanen und interurbanen Gesprächen ist eine merkliche Be-schleunigung des Aufwärtstrends nach der Jahrhundertwende erkenn-bar.

Prominente Analysen der Spätmoderne sprechen von „time-space-distanciation“ (Giddens) bzw. „time-space-compression“ (Harvey).Das erste meint ein zunehmendes „disembedding“, ein Herauswach-sen und Herausholen unserer raumzeitlichen Bedingungen, Erfahrun-gen und Handlungen aus engen lokalistischen in immer abstraktereund ausgedehntere Zusammenhänge, das zweite meint ein raumzeitli-ches Zusammendrücken, ein Verknüpfen, Vereinheitlichen, Beschleu-nigen dieser verschiedenen, bisher weitgehend voneinander unabhän-gigen Strukturen und Abläufe. Bei den beiden Termini handelt es sichm.E. um zwei Seiten derselben Medaille: – um fortschreitende Einbin-dung kontextualisierter lokaler in dekontextualisierte überregionaleVerhältnisse – das Englische umschreibt dies einprägsam durch dieAblösung von „place“(Ort) durch „space“ (Raum) – und andererseitsum den mit dieser Vereinheitlichung einhergehenden Trend zu zeitli-cher Koordinierung und Beschleunigung. Diese Befunde sind zwar aufdie letzten zehn, zwanzig Jahre gemünzt, der massive Veränderungs-schub der Raum-Zeit-Beziehungen und -Erfahrungen der vergangenenJahrhundertwende98 berechtigt aber durchaus zu einer – natürlich hi-

334

G. Meißl

335

0

50

100

150

200

250

1890 1895 1900 1905 1910

Mio. Gespräche

Tsd. Anschlüsse

Telefon

Abbildung 3: Telefon- und Telegrammverkehr 1890–1913

0

500.000

1.000.000

1.500.000

2.000.000

2.500.000

3.000.000

3.500.000

4.000.000

4.500.000

1890 1895 1900 1905 1910

abges. Telegramme

dav. internationale

angek. Telegramme

dav. internationale

Interurban-Telefonate

Telegramme und Interurban-Telefonate

Qelle: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1890–1913

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

storisch adaptierten – Übernahme dieser Terminologie. Und auchWien war – das illustrieren die oben beschriebenen Verläufe – zu derZeit, als es von Sombart noch beschwörend als „Dorf“ imaginiertwurde, schon mit zunehmenden Tempo vom vormodernen Ort zummodernen Raum unterwegs.

Intraurbane Netze

Die Stadt war aber nicht bloß ein Knotenpunkt im sich ausdifferen-zierenden Raum der Moderne, die dabei ablaufenden Prozesse setztensich auch in den Stadtkörper hinein fort bzw. gingen teilweise von hieraus. Was beim Aufwärtstrend des urbanen Telefonverkehrs nur imganzen illustriert werden konnte, soll nun anhand einiger weitererNetze in seinen Auswirkungen auf den städtischen Binnenraum sicht-bar gemacht werden.

Wie Abbildung 4 zeigt, war die Entwicklung des Straßenbahnver-kehrs bis in die zweite Hälfte der 1890er Jahre stagnierend verlaufen.Seit der Vorbereitung der Kommunalisierung und dem Beginn derElektrifizierung 1897 setzte aber ein sprunghafter Aufschwung desNetzausbaus und vor allem der Beförderungsleistung ein, der nach1903, als die Elektrifizierung im wesentlichen abgeschlossen war unddie Übernahme des Großteils des bisherigen Netzes durch die Ge-meinde erfolgte, in eine langsamere aber kontinuierliche Aufwärtsent-wicklung überging. Zur signifikanten Verbesserung des Massentrans-ports trug auch der 1901 abgeschlossene Bau der Wiental-, Gürtel-und Donaukanallinie der dampfbetriebenen Stadtbahn bei. In densechzehn Jahren vom Beginn der Elektrifizierung bis zum Vorabenddes Weltkriegs stieg die Netzlänge nahezu auf das Doppelte, die Zahlder beförderten Personen dagegen auf fast das Viereinhalbfache. DerVergleich der Mobilitätsziffern (Fahrten pro EinwohnerIn und Jahr)von von Berlin, Paris und Wien – wobei die Daten von Paris nicht diebanlieues beinhalten – läßt erkennen, daß sich Wien 1890 auf einemwesentlich niedrigeren Niveau befand, die Beschleunigung der Dyna-

336

G. Meißl

337

Abbildung 4: Entwicklung des öffentlichen Massenverkehrs 1890–1913

0

50

100

150

200

250

300

350

400

1890 1895 1900 1905 1910

bef. Personen(Mio.)

Netzlänge(km)

Netzlänge und beförderte Personen bei Straßenbahn und Stadtbahn

Fahrten pro Einwohner/in mit öffentlichen Verkehrsmitteln

0

50

100

150

200

250

300

1890 1895 1900 1905 1910

Berlin

Paris

Wien

Straßenbahn, Stadt- bzw. Schnellbahn, U-Bahn, OmnibusBerlin: Groß-Berlin; Paris: intra muros; Wien: heutige Stadtgrenze.

Quelle: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien; Bendikat, Nahverkehrspolitik.

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

mik seit der Jahrhundertwende hielt aber durchaus mit jener der bei-den anderen Metropolen mit. Wiens Straßenbahnsystem war zum En-de unserer Beobachtungsperiode ziemlich ebenbürtig, die Defizite la-gen im Fehlen einer U-Bahn und in der relativ geringen Kapazität derStadtbahn und des Omnibus-Netzes.99

Zweifellos wurde mit dem Aufschwung der Straßenbahnen dieraum-zeitliche Integration des Wiener Stadtgebietes beträchtlich vor-angetrieben.100 Das Netz dehnte sich in bisher noch wenig erschlosse-ne Stadtrandzonen aus, das Funktionieren des nun weit komplexer ge-wordenen Systems verlangte nach stärkerer Koordinierung der Fahr-pläne und Umsteige-Möglichkeiten. Diese Entwicklung forderte allenBeteiligten Anpassungsleistungen ab, freilich mit ambivalenten Konse-quenzen. Bei zugleich steigender Mobilität und zunehmender Dichtewar die Fähigkeit zur Balance von regelkonformem Verhalten und Fe-xibilität gefragt. Die urprünglich zur Steuerung der Elektro-Triebwä-gen wegen ihrer Fachkenntnisse herangezogenen Mechaniker erwiesensich als ungeeignet, und man griff auf die Kutscher des Pferdebetrie-bes zurück, die aufgrund ihrer Erfahrungen offensichtlich besser mitden Unwägbarkeiten des Straßenverkehrs zurechtkamen.101 Um dieEinhaltung des rigideren Zeit-Regimes zu sichern, wurden ab 1910 anden Strecken zahlreiche Fahrzeit-Kontrolluhren installiert, bei denendie Fahrer ihre Durchfahrts-Zeitpunkte zu markieren hatten. Kam ei-ner zu früh zur Kontrollstelle, wartete er freilich häufig die korrekteMarkierungszeit ab.102 Die Einschätzung der mit der deutlich höherenGeschwindigkeit des neuen Verkehrsmittels verbundenen Risiken – dieElektrische war mit zehn bis zwölf Stundenkilometern unterwegs unddamit gut doppelt so schnell wie die Pferdetramway – bereitete an-fänglich sowohl den Fahrern und Passagieren wie auch den Passantengroße Schwierigkeiten, was zu zahllosen, nicht selten tödlichen Unfäl-len beim Auf- und Abspringen und beim Überqueren der Gleise vorden herannahenden Fahrzeugen führte.103 Nach einigen Jahren der Ge-wöhnung und mit dem Anbringen besserer Sicherheitsvorrichtungenging die Zahl solcher Unfälle zurück. Im Jahr 1912 lancierten die„Städtischen Straßenbahnen“ eine große Unfallverhütungs-Kampa-

338

G. Meißl

gne, zu der der renommierte Graphiker Fritz Schönpflug mit einer Pla-katserie beitrug, die in karikaturhafter Zuspitzung den souverän re-gelgemäß agierenden Tramway-Passagier als jugendlich-eleganten undironisch-distanzierten Urbanen imaginierte, man fühlt sich dabei anSimmels „Blasiertheit“ des Großstädters erinnert,104 während die sichregelwidrig Benehmenden als überforderte, z. T. dickliche und tölpel-haft-hinterwäldlerisch anmutende Kleinbürger in Szene gesetzt wur-den. Mit der Ablösung der bisherigen – zu Zeiten eines noch niedrige-ren Alphabetisierungsgrades eingeführten – bunten Figurensymboleals Linienkennzeichen durch ein System von Ziffern und Buchstabenwar schon 1907 ein bedeutender Schritt aus der kleinräumigen Ver-trautheit in die höhere Abstraktheit und gößere Fließgeschwindigkeiteines metropolitanen Kommunikationsraums vollzogen worden. Dieverwirrende Vielfalt der 68 verschiedenen Symbole hatte die Orientie-rung erschwert und das Umsteigen verlangsamt, bei Auskünften anFremde waren zusätzliche Vermittlungsprobleme entstanden.105

339

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

340

ABBILDUNG 5 a: STRASSENBAHNVERKEHR UNDSTANDORTE VON FILIALNETZEN 1903

8

Lebensmittel

Banken

Nähmaschinen

Teppiche

Wäschereien

Grenze zu denArbeiterbezirkenim N, W und S

Zahl der an einem Werktag-Morgeneinen Streckenabschnitt währendeiner Stunde passierenden Wagen

Quelle: Entwicklung der Strassenbahnen, Lehmann 1904

Kartografie: Christina Unger, Hans-Michael Putz

G. Meißl

341

ABBILDUNG 5 b: STRASSENBAHNVERKEHR UNDSTANDORTE VON FILIALNETZEN 1913

8

Grenze zu denArbeiterbezirkenim N, W und S

Zahl der an einem Werktag-Morgeneinen Streckenabschnitt währendeiner Stunde passierenden Wagen

Quelle: Entwicklung der Strassenbahnen, Lehmann 1914

Kartografie: Christina Unger, Hans-Michael Putz

Lebensmittel

BankenNähmaschinen

TeppicheWäschereien

Schuhe

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

Abgesehen von den schon erwähnten drastischen regionalen Dispa-ritäten des Liniennetzes war 1903 noch ein extreme Konzentration derWagen-Frequenzen auf die Ringstraße zu registrieren, auch davon aus-gehende Ausfallstraßen wie die geschäftsreiche Mariahilfer Straßeoder die in den gutbürgerlichen 18. Bezirk führende Währinger Straßefielen diesbezüglich schon deutlich ab (vgl. Abbildung 5a). Die dichtbesiedelten und rasch wachsenden Arbeiter-Bezirke 10, 11, 16, 17 unddas noch nicht zu Wien gehörige transdanubische Gebiet106 waren1903 noch kaum erfaßt. Beim Strukturmuster von 1913 (vgl. Abb. 5b)fällt die nun doch deutlich bessere Vernetzung der Stadtrandgebieteauf, auch Transdanubiens (hier allerdings zum Teil wegen der Kom-munalisierung 1903 noch nicht erfaßter privater Linien). Hinsichtlichder Verkehrsfrequenz ist neben ihrer generell starken Zunahme vor al-lem der Aufholprozeß der großen Ausfallstraßen gegenüber der Ring-straße unübersehbar, aber immerhin auch deutliche Zuwächse in Ar-beitergegenden wie der Gudrun- und der Favoritenstraße (10. Bezirk),der Meidlinger Hauptstraße (12. Bezirk) oder der Jörgerstraße (17.Bezirk). Ein Grund der Belebung des Straßenbahnverkehrs in solchenGebieten war die nach 1903 erfolgte Einführung eines verbilligtenFahrscheins für vor 7,30 Uhr angetretene Fahrten, der offensichtlicherstmals auch die Arbeiterschaft vermehrt zur Benützung der Straßen-bahn im Berufsverkehr veranlaßte. Die Einführung dieser Ermäßigunghatte übrigens eine analoge Verschiebung der Frequenzkurve im Ta-gesablauf bewirkt: Statt der Nachmittagsstunden war nun der Morgendie Zeit der höchsten Verkehrsdichte.107 Für die Rückfahrt am Abendgab es keine Billig-Fahrscheine, weil man offensichtlich „Trittbrett-fahrten“ von Nicht-Berufstätigen verhindern wollte.108 Da die starkeVerschränkung von Innenbezirken als Arbeits- und (vor allem angren-zenden) Außenbezirken als Wohnort zahlreicher Arbeiter/innen wei-terbestand, könnte zudem auch das vor der Jahrhundertwende kon-statierte Interesse der innerhalb des Gürtels situierten Geschäftsleute(einer christlichsolzialen Klientel) an der Abschöpfung der Kaufkraftder nach Arbeitsende über den Gürtel nach Hause strömenden Ar-beitsbevölkerung109 dafür maßgeblich gewesen sein. Andererseits dürf-

342

G. Meißl

te auch auf Seite der Arbeiterschaft, zumal der qualifizierten, weiter-hin starke Nachfrage nach dem keineswegs durchgängig teureren, je-denfalls aber viel reichhaltigeren Konsum- und Unterhaltungsangebotder Innenbezirke bestanden haben, sodaß viele nicht in die Stadtrand-zonen hinauszogen. 1901 konstatierte beispielsweise anläßlich einesArbeitskonflikts im transdanubischen Zweigwerk der im 3. Bezirk ge-legenen Wiener Zentrale von Siemens & Halske das zuständige Ge-werkschaftsblatt: „Ein großer Theil der Arbeiter, die ihr Kulturlebendurch Hinausziehen in die Einöde Leopoldau nicht herabsetzen woll-ten, wohnen in den verschiedensten Bezirken Wiens …“.110

Auch wenn es – wie zur Bestätigung der oben zitierten BemerkungFrieds – 1911 in einem Gemeinderats-Antrag auf Errichtung einer Li-nie entlang des Handelskais im 2. und 20. Bezirk hieß, es müsse „mitdem vom Grunde aus verfehlten Systeme, Bahnen selbst in von Naturaus begünstigten Gebieten erst dann zu bauen, wenn deren Rentabi-lität schon von vornherein völlig sichergestellt erscheint, endlich ein-mal gebrochen werden“111, verlief die Durchdringung und Umformungdes Stadtraums im Zusammenhang mit dem Ausbau der Straßenbahenunsystematisch und kontroversiell. Nur einige Beispiele: Eine 1906 be-antragte Verbindung ins erst vor kurzem emergierte Stadlauer Indu-striegebiet, in das fast die Hälfte der Beschäftigten, darunter vermut-lich überdurchschnittlich viele qualifizierte, aus zentraleren Stadtteileneinpendeln mußte,112 wurde 1910 hergestellt,113 und die wiederholt ge-forderte Anbindung von Kaiser-Ebersdorf ans Zentrum des 11. Be-zirks114 erfolgte immerhin noch 1913. Die Erschließung der industrie-reichen Leopoldauer Straße geschah aber erst 1917, während die obenmonierte Aufwertung der Handelskai-Zone und die Weiterführungder Linie in der Triester Straße aus dem Zentrum des 10. Bezirks überden Wienerberg bis an die Stadtgrenze überhaupt dem „Roten Wien“vorbehalten blieben. Speziell im letzteren Fall kumulierten sich die ri-giden Ausschließungseffekte mangelnder Verkehrsanbindung einer pe-ripheren Zone: Tausenden Industriebeschäftigten wurde dadurch derArbeitsweg erschwert, und für die rund 5.000 Bewohner/innen derZiegelwerks-Siedlung war wiederum eine „entsprechende Erziehung“

343

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

ihrer Kinder und die Teilnahme am Kulturleben der Hauptstadt nahe-zu unmöglich, außerdem mußten sie eine ungünstigere Lebensmittel-versorgung in Kauf nehmen (absurderweise war für Einkäufe im na-hegelegenen Inzersdorf noch Verzehrungssteuer zu entrichten!).115

Trotz aller regionalen Asymmetrien vermittelt das Bild von 1913aber größere Ausgewogenheit als das von 1903. Auch in den Außen-bezirken hatten sich mittlerweile offenbar regionale Subzentren mitteilweise autonomer Attraktivität sowohl am Arbeits- wie auch amKonsum-Markt gebildet, wie etwa die Frequenz-Konzentration im Be-reich Gudrunstraße-Favoritenstraße (10. Bezirk) oder MeidlingerHauptstraße (12. Bezirk) erkennen läßt, wo in beiden Fällen die Ver-kehrsdichte hin zum Stadtzentrum wieder abnahm (vgl. Abb. 5b). Diezunehmende Diversität ist auch aus der Entwicklung der Grundpreiseabzulesen: Nach der Eingemeindung kam es zu einem überproportio-nalen Ansteigen in den Außenbezirken bei gleichzeitigen Wertzuwäch-sen im Zentrum, dessen Agglomerationsvorteile nun umsomehr nach-gefragt wurden.116 Ausgehend von der Hypothese, daß sich die fort-schreitende Orientierung des Stadtraumes an kapitalistischer Logikauch in entsprechender Hinwendung zu solchen Attraktionsknotenniederschlagen müßte, und daß die innerstädtischen Verkehrsflüssehiebei eine entscheidende Rolle spielen, kann die Verortung der Stand-ortwahl für die Filialnetze einiger Handels- und Dienstleitungsunter-nehmungen im eben beschriebenen Massenverkehrsnetz Hinweise aufdas Entwicklungsniveau dieses Prozesses liefern.117

Die Standorte der Lebensmittelkette und die Bankfilialen waren1903 noch ganz auf die Innenbezirke orientiert (vgl Abb. 5a). Diestrichliert abgegrenzten klassischen Arbeiterbezirke (10.,11. und 12.im Süden, 16. und 17. im Westen, 20. und 21. im Norden) waren nochkaum erfaßt. Noch völlig in den Innenbezirken konzentriert sind dieNähmaschinen- und die Teppich-Geschäfte sowie die Wäscherei-Filia-len, bis auf einen Wäscherei-Standort in Floridsdorf, wo die Firma auchihre Zentrale hatte. Bis 1913 war analog zum Straßenbahnverkehr beiden Lebensmittelgeschäften und Banken die Penetration zentrumsfer-nerer Zonen, auch in Arbeiterbezirken, deutlich weiter fortgeschritten,

344

G. Meißl

und auch die beiden 1903 noch nicht existenten Schuhhandels-Kettenverfolgten eine ähnliche Standortpolitik. Das seit 1903 stark expan-dierte Nähmaschinen-Filialnetz hatte nun seine Schwerpunkte über-haupt eher in Arbeiterwohngebieten. Hier spiegelt sich einerseits dieum den Produktions-Cluster um den 7. Bezirk etablierte Verlags-Be-kleidungsproduktion wider, andererseits sicherlich die Nähtätigkeitder Frauen vor allem in Arbeiterhaushalten. Ganz anders die Filial-Verteilung bei der Wäscherei- und der Teppichfirma. Für die hier an-gebotenen Dienstleistungen und teuren Güter waren offensichtlichauch 1913 Standorte in Bezirken mit überwiegender Arbeiter-Bevöl-kerung uninteressant. Eine andere Wäscherei-Kette ging sogar soweit,diese Bezirke auch verbal aus ihrem Wien zu exkludieren, indem siewarb: „Filialen in allen Bezirken“, obwohl sie in den meisten Arbei-terbezirken keinen Standort hatte.118 Alles in allem zeigt der durch Ver-kehr und Ökonomie dynamisierte Stadtraum ein diversifizierteres Bildmit Schwerpunktzonen auch in Arbeiterbezirken. Vor allem der Kep-lerplatz in Favoriten (mit zwei weiteren Bankfilialen), und der Flo-ridsdorfer Spitz hatten deutliche Anzeichen eines Subzentrums be-kommen, aber auch der gürtelnahe Bereich des 16. und 17. Bezirks so-wie die Wallensteinstraße im 20. Bezirk wiesen ähnliche Texturen auf.Die Topographie der Wiener Kinos, deren Zahl nach 1910 vor allemin den Außenbezirken stark zugenommen hatte, fügt sich in diesesMuster recht gut ein. Die rund 150 Kinos von 1914 wiesen nebenKonzentrationen in der Inneren Stadt und im Prater (2. Bezirk) vor al-lem in der Gewerbe- und Geschäftsregion des 6. und 7. Bezirks und inden anschließenden Außenbezirkszonen eine hohe Standortdichte auf,aber auch der Bereich des Keplerplatzes und Floridsdorf zeigten Häu-fungen.119

Zur Vervollständigung des Bildes der Verteilung des innerstädtischenMassenverkehrs muß noch die (in Abb. 5a und b nicht erfaßte) Stadt-bahn mitbetrachtet werden. Sie brachte, wie schon aus der Linienbe-zeichnung ersichtlich, eine überdurchschnittlich gute Erschließung desWientals bis an den westlichen Stadtrand, sowie des Gürtels und desDonaukanals bis an den nördlichen Stadtrand. Vor allem die Wiental-

345

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

linie dürfte überwiegend bürgerlichen Schichten zugute gekommensein. Sie hatte den Effekt, daß sich die südwestlich gelegenen Stadt-randbereiche des 13. Bezirks „nun erst als Wohnviertel für diejenigenentwickeln können, die durch ihre beruflichen Verpflichtungen unter-tags im Stadtinnern beschäftigt sind und ein eigenes bürgerliches Heimin gesunder, nicht zu teuerer und doch leicht erreichbarer Lage besit-zen wollen.“120 Generell überwogen aber ihre Nachteile wie unzurei-chende Ausdehnung des Netztes, lange Intervalle, niedrige Geschwin-digkeit und starke Verschmutzung durch den Dampfbetrieb, sodaß ihrBeitrag zur Lösung der Wiener Verkehrsprobleme eher marginalblieb.121 Alfred Fried, der an diesem „gernegroßstädtischen Institut“wegen seiner mäßigen Leistungen kein gutes Haar ließ, untermalte sei-ne Kritik mit einem bezeichnenden Erlebnis: Im September 1907 seiihm mittags in einem Stationsgebäude der Gürtellinie ein Herr entge-gengekommen und habe ihm mit einem Blick auf die hinter ihremSchalter dösende Kassierin zugelispelt: „I will s’ net wecken!“122

Ein weiteres Netz, das durch die Kommunalisierung sprunghaft anIntegrationskraft gewann, war das der städtischen Starkstromversor-gung. Seit Ende der 1880er Jahre waren in Wien drei von privaten Ge-sellschaften geführte elektrische Kraftzentralen entstanden. Mit demBeschluß zur Kommunalisierung und Elektrifizierung der Straßenbah-nen war aber auch der Bau eines großen städtischen E-Werks erforder-lich geworden. Der Gemeinderat entschied sich dann auch noch fürden Bau einer zweiten, kleineren Zentrale für die Lichtversorgung unddie Kraftversorgung gewerblicher Nutzer. Beide nahmen 1902 den Be-trieb auf, und bis 1914 wurden auch sämtliche privaten Zentralen vonder Gemeinde übernommen.123

Die in Tabelle 1 a wiedergegebene Verteilung zeigt die Situationknapp nach Beginn der Betriebsaufnahme der Städtischen E-Werke.Die Motoren waren noch – in Abhängigkeit vom bisherigen Standortund von der Leistungsfähigkeit der Zentralen – ganz stark auf die Re-gion der Innenbezirke konzentriert. Das galt sowohl für den gewerb-lichen Bereich124 wie auch besonders für den nichtgewerblichen. Ausdem letzteren wurden hier die Standorte von Aufzügen ausgewählt,

346

G. Meißl

347

Tab

elle

1 a

: An

Kra

ftze

ntra

len

ange

schl

osse

ne E

lekt

rom

otor

en 1

902

Bez

irk

Mas

chin

enin

d.B

ekle

id. I

nd.

Ges

. Gew

erbe

Auf

züge

Mot

oren

insg

es.

Mot

.PS

Mot

.PS

Mot

.PS

Mot

.PS

Mot

.PS

132

39,3

41,

716

487

9,6

316

946,

492

32.

716,

02

2570

,514

10,5

106

362,

750

231,

834

71.

171,

53

1810

2,6

2315

,110

739

9,2

3516

0,2

287

835,

94

2158

,118

8,8

7714

3,2

5818

5,9

204

478,

15

1429

,916

9,5

8920

2,7

1135

,013

631

2,3

63

1,0

3142

,026

838

4,2

6823

3,1

480

803,

87

1535

,928

55,6

381

487,

147

177,

363

01.

018,

08

3843

,96

10,5

7710

7,1

1743

,417

431

0,1

942

50,5

76,

696

145,

241

149,

523

958

7,6

108

18,5

56,

021

45,8

850

,042

111,

511

00,

00

0,0

00,

00

0,0

00,

012

00,

03

3,0

1738

,00

0,0

1951

,313

23,

12

0,4

1843

,80

0,0

2245

,814

26,

55

6,0

3411

3,8

00,

035

113,

915

24,

52

1,0

1950

,80

0,0

3570

,016

318

,06

4,4

3515

4,4

13,

547

162,

917

1730

,43

21,0

3911

3,1

824

,580

237,

818

1832

,59

10,3

3674

,94

12,5

5394

,919

35,

00

0,0

1887

,02

5,5

3118

9,9

200

0,0

21,

010

36,0

00,

010

36,0

Wie

n26

355

0,1

184

213,

41.

612

3.86

8,4

666

2.25

8,6

3.79

49.

347,

0

Que

lle: S

tati

stis

ches

Jah

rbuc

h de

r St

adt

Wie

n 19

02

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

die ein extrem segregiertes Muster nach dem Rang als Geschäftszoneund dem Niveau der Wohlhabenheit aufweisen. Fast die Hälfte davonbefand sich im noblen 1. Bezirk, in der City, vermutlich in Amtsge-bäuden, Banken, Hotels, Bürohäusern und großbürgerlichen Wohn-häusern. Bereits viel weniger gab es im restlichen inneren Stadtbereich,wo – in Anbetracht der Größenverhältnisse – die Bezirke 4, 6 und 7herausragten, und in den Außenbezirken befanden sich charakteristi-scherweise fast keine. Auffällig sind diesbezüglich nur die zum sonsti-gen Typus des Bezirks nicht „passenden“ Zahlen im 10. und 17. Be-zirk. Dies war durch die Strukturen des Netzausbaus bestimmt.125 Diesbestätigt sich durch einen Blick auf die Verteilung der gewerblichenMotoren in den Außenbezirken. Nicht die Zentren des großindustri-ellen Maschinenbaus wie der 10., 11. (noch ohne einen einzigen Mo-tor!) und 20. Bezirk waren hier die bestversorgten, sondern die an diegewerbereiche Innergürtel-Zone des 6. und 7. Bezirks angrenzenden,also der 14. bis 18.

Von der markanten Zunahme der Elektromotoren im Zuge des städ-tischen Netzausbaus bis 1913 einmal abgesehen, zeigt deren Vertei-lung in Tabelle 1 b auch kräftige Verschiebungen. Der Rückstand derAußenbezirke im Bereich der gewerblichen Motoren ist deutlich redu-ziert, und im Bereich der Maschinenindustrie ist eine Angleichung andie Standortstruktur der Großindustrie erfolgt. Die meisten und/oderstärksten Motoren (mit durchschnittlich bis zu 10 PS und darüber) be-finden sich hier nun im 10., 11., 20. und 21. Bezirk. Mehr und deut-lich kleinere Motoren (mit durchschnittlich einem PS und darunter)befinden sich aber noch immer in den Innenbezirken. Besonders gutsichtbar wird dies in der Bekleidungsindustrie, wo sich gut ein Viertelder Motoren im 6. und 7. Bezirk befinden. Die bei beengter räumli-cher Situation durch die Elektrizität verbesserten und vom Gewerbeauch genützten Mechanisierungsoptionen lassen sich gut am 1. Bezirkbelegen, der trotz rückläufiger Bedeutung im güterproduzierenden Ge-werbe eine relativ hohe Zahl an kleinen Motoren aufweist. Anderer-seits zeigen sich die mit dem Elektromotor verbunden Expansions-möglichkeiten für das vernetzt im Verlagsystem produzierende Beklei-

348

G. Meißl

349

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

Tab

elle

1 b

: An

Kra

ftze

ntra

len

ange

schl

osse

ne E

lekt

rom

otor

en 1

913

Bez

irk

Mas

chin

enin

d.B

ekle

id. I

nd.

Ges

. Gew

erbe

Auf

züge

Mot

oren

insg

es.

Mot

.PS

Mot

.PS

Mot

.PS

Mot

.PS

Mot

.PS

115

715

0,1

193

100,

31.

256

2.44

2,0

998

3.98

9,4

3.70

29.

246,

62

9219

1,5

146

267,

51.

305

4.36

8,5

199

875,

51.

926

6.09

9,8

322

445

6,8

171

98,3

1.60

14.

876,

136

01.

489,

02.

335

6.99

2,0

412

023

2,0

7341

,159

91.

109,

627

91.

089,

71.

112

2.44

7,5

515

736

5,3

155

134,

71.

213

3.04

2,6

6322

5,5

1.40

73.

335,

06

165

228,

432

530

2,9

1.72

62.

579,

724

795

1,8

2.20

73.

676,

97

173

294,

559

781

7,5

2.31

44.

041,

727

61.

184,

42.

845

5.37

8,9

813

315

3,7

117

63,0

774

1.45

2,4

164

595,

71.

102

2.18

7,6

915

918

1,6

128

97,8

1.04

32.

177,

028

81.

185,

41.

649

3.77

6,4

1027

21.

870,

394

83,6

1.48

98.

285,

540

180,

91.

670

8.61

6,0

1159

895,

228

75,2

336

3.01

6,0

14,

038

13.

742,

512

4919

5,7

233

195,

21.

026

2.82

6,2

2310

4,3

1.15

12.

980,

813

108

304,

520

624

1,1

999

2.67

0,9

4117

5,6

1.22

43.

447,

414

7921

0,7

143

136,

388

52.

013,

69

31,0

975

2.08

6,7

1544

97,9

117

134,

648

687

4,4

934

,756

399

8,6

1613

942

3,2

334

248,

61.

504

3.15

8,8

1140

,71.

666

3.65

0,0

1713

742

7,1

171

130,

183

81.

853,

113

33,8

990

2.03

0,9

1879

88,6

182

118,

365

497

3,7

6115

8,4

861

1.47

3,6

1940

230,

163

57,9

427

1.46

5,3

4415

8,7

600

1.97

0,8

2024

51.

876,

111

024

5,6

781

4.01

8,5

2597

,288

64.

311,

521

921.

015,

222

18,8

565

5.14

3,0

413

,273

77.

281,

4St

rb.

00,

00

0,0

2.90

275

.810

,00

0,0

2.90

275

.810

,0W

ien

2.72

39.

888,

43.

608

3.60

8,3

24.7

2311

38.1

98,5

13.

155

12.6

18,8

32.8

9116

1.54

0,7

1 In

klus

ive

2.90

2 M

otor

en d

er S

tädt

isch

en S

traß

enba

hnen

mit

75.

810

PS.

Que

lle: S

tati

stis

ches

Jah

rbuc

h vo

n W

ien

1913

dungsgewerbe ganz signifikant an dem vom 12. bis zum 18. reichen-den Außenbezirks-Cluster, der sich nun an die Standort-Massierungenim 6. und 7. Bezirk angelagert hat. Das eklatante Übergewicht des 1.Bezirks bei den Aufzügen besteht zwar weiter, die Innenbezirke habenaber – charakteristischerweise bis auf den eher proletarischen 5. –ihren Rückstand verkürzt. Hier schlagen offenbar ebenso Effekte desAusuferns der City wie höheres Qualitätsniveau des bürgerlichenWohnhausbaus zu Buche. Der nach wie vor drastische Abfall zu denAußenbezirken hängt wohl auch mit der vom Bauzonenplan verord-neten niedrigeren Gebäudehöhe zusammen, jedenfalls fällt aber auf,daß die eher bürgerlichen Bezirke 13, 18 und 19 besser mit Aufzügenausgestattet waren.

Die durch die Kommunalisierung wesentlich beschleunigte Diffusi-on der neuen Technologie Elektrizität ist auch aus den Übersichtenüber die Verbreitung von Lampen nach ihrer Verwendungsart abzule-sen. Darüber hinaus ermöglichen diese Daten auch einen vertieftenEinblick in die funktionale Differenzierung des Stadtraums, da aus derZahl der Lampen mit einiger Berechtigung auch der jeweilige regiona-lisierte Stellenwert der einzelnen Verwendungsarten abgeleitet werdenkann. Wieder zeigt sich 1902 (vgl. Tabelle 2 a) noch eine enorme Kon-zentration auf den 1. Bezirk, wo fast zwei Fünftel aller Glühlampenund ein gutes Drittel der Bogenlampen angeschlossen sind. Mit deut-lichem Abstand folgen die restlichen Innenbezirke, wobei der 5. typi-scherweise am weitaus schlechtesten ausgestattet ist. In den Außenbe-zirken ist das Versorgungsniveau nochmals beträchtlich niedriger, nurdie bürgerlichen Bezirke, der 13. und der 18. und 19. ragen heraus.126

Am eklatantesten war die Konzentration auf den 1. Bezirk bei denZentren der öffentlichen und privaten Herrschaft und Kontrolle, denÄmtern, Banken, Firmenbüros etc., wo mehr als zwei Drittel der Lam-pen hier installiert waren. Etwas weniger dominant, aber mit etwa derHälfte des Anteils immer noch überragend war die City als Brenn-punkt der Luxuskonsums und der Hochkultur im Bereich der Ge-schäfte sowie der Gast- und Kaffeehäuser und der Theater und Verg-nügungsanstalten. Bei den Geschäften kamen ihr der 2. Bezirk (wo be-

350

G. Meißl

351

Tab

elle

2 a

: Ver

wen

dung

sart

der

an

die

Kra

ftze

ntra

len

ange

schl

osse

nen

Lam

pen

1902

Am

tsge

bäud

eB

anke

nG

esch

äfte

.G

ast-

The

ater

Stra

ßen

Kan

zlei

enL

ager

h.K

affe

ehäu

ser

Ver

gnüg

unga

nst.

Woh

nhäu

ser

SPlä

tze

Insg

esam

tB

ezir

kB

GB

GB

GB

GB

GB

GB

G1

194

32.7

642.

502

42.3

1849

35.

826

213

18.5

2634

93.4

6233

233.

768

213.

409

226

1.98

228

08.

890

281

3.48

846

06.

380

1728

.596

362

1.26

256

.976

320

3.86

712

93.

260

540

785

2.25

60

29.8

770

5333

544

.768

414

1.18

614

74.

882

2070

09

331

732

.463

05

299

43.7

535

032

531

2.36

99

222

626

15.

398

00

549.

867

68

1.85

741

35.

300

351.

268

804.

224

1217

.350

00

707

36.1

077

287

971

38.

316

2768

84

334

1816

.328

00

924

31.7

168

276

410

12.

957

3134

01

743

4111

.980

02

203

18.6

819

212.

298

155

4.30

352

1.18

211

4.56

012

27.4

160

1440

847

.337

1015

403

81.

068

420

516

234

191.

165

02

107

3.98

111

00

00

00

00

020

00

07

343

120

370

00

250

00

661

00

211.

149

130

600

00

00

00

6.94

70

049

7.39

014

029

80

280

00

00

808

00

108

1.99

015

314

10

72

8012

450

945

00

147

2.66

016

019

514

90

780

00

837

00

371.

862

177

121

3988

931

164

1023

41.

938

00

973.

596

180

141

1367

63

406

120

5.08

00

038

6.73

319

04

030

60

258

724

11.1

300

016

11.9

1220

00

00

00

00

016

80

00

191

0. A

ngab

e0

00

00

00

00

00

01.

148

1.28

3W

ien

312

47.1

464.

536

85.7

1899

314

.738

921

37.7

6616

929

2.74

969

101

9.73

554

5.70

4

B =

Bog

enla

mpe

n, G

= G

lühl

ampe

nQ

uelle

: Sta

tist

isch

es J

ahrb

uch

der

Stad

t W

ien

1902

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

sonders viele jüdische Kaufleute ihre Läden hatten) und der 7. (mit derMariahilfer Straße als Zentrum des allmählich wachsenden Massen-konsums) am nächsten, bei den Gaststätten sowie den Theatern undVergnügungsanstalten ragten neben dem 2. Bezirk als Brennpunkt derPopularkultur (Prater!) noch der 6. und der 9. Bezirk heraus. In denWohnhäusern war das Ausstattungsniveau des 1. Bezirks noch am we-nigsten exzeptionell, jedenfalls aber weit überdurchschnittlich, wennman die hier vergleichsweise geringe Anzahl der Wohnungen in Rech-nung stellt. Unter den restlichen Innenbezirken ragt der relativ bevöl-kerungsschwache, aber „noble“ 4. heraus. In der Zone der Außenbe-zirke deckte die Versorgung mit elektrischem Licht fast nur den Wohn-bereich ab. Maßgeblich für das Niveau der Ausstattung war hiebei wiegesagt der Rang als „bürgerliches“ Wohngebiet und – sicher damit zu-sammenhängend – das Vorhandensein von Unterstationen vor Ort.Auffällig ist außerdem noch der relativ hohe Anteil des 10. Bezirks beiden Geschäften und den Wohnungen, was auf eine gewisse Aufwer-tung im zentralen Bereich der Ausfallstraßen hindeuten könnte. Deröffentliche Raum der Straßen und Plätze war bis auf einige wenigezentrale Zonen noch kaum elektrisch beleuchtet, hier dominierte nochdas Gaslicht.127

Im weiteren Verlauf des Ausbaues der Lichtversorgung kam es wiebei den Elektromotoren bis 1913 zu einer massiven Ausweitung desNetzes (vgl. Tabelle 2 b). Schon 1910 hatte sich ein französischer, al-lerdings der christlichsozialen Stadtverwaltung wohlgesonnener Beob-achter voll Anerkennung über die in den vergangenen zehn Jahren er-folgte Umwandlung zu einer modernen Metropole geäußert: „D’uneville incohérente, sombre le soir, le jour presque sans attrait, il passetout à coup à une cité d’harmonie, illuminé à profusion …“128. Es kamauch zu merklichen räumlich-funktionalen Anteilsverschiebungen.Die City behielt ihre herausragende Rolle, die restlichen Innenbezirkehatten aber nun beträchtlich an Gewicht gewonnen, und vor allem dieVersorgung der Außenbezirke hatte sich stark verbessert. Die Herr-schafts- und Kontrollfunktionen der City hatten sich besonders in den3. und den 9. Bezirk ausgedehnt, hinter den Zuwächsen in den Außen-

352

G. Meißl

353

Tab

elle

2 b

: Ver

wen

dung

sart

der

an

die

Kra

ftze

ntra

len

ange

schl

osse

nen

Lam

pen

1913

Am

tsge

bäud

eT

heat

erB

anke

nG

esch

äfte

Gas

t-V

ergn

ügun

gs-

Stra

ßen

Kan

zlei

enL

ager

h.K

affe

ehäu

ser

anst

alte

nW

ohnh

äuse

rPl

ätze

Insg

esam

tB

ezir

kB

GB

GB

GB

GB

GB

GB

G1

1.48

788

.925

3.45

483

.928

880

18.7

1045

732

.276

1016

5.21

444

350

87.

478

430.

568

213

89.

699

856

17.3

9932

78.

692

546

24.0

362

72.4

4415

239

62.

440

154.

149

315

613

.810

854

13.1

5341

3.32

317

47.

207

1112

9.96

015

829

41.

699

188.

223

430

9.23

550

110

.269

162.

110

494.

915

311

4.88

215

210

81.

096

152.

726

59

4.23

535

46.

246

291.

510

3198

310

27.6

7035

4054

350

.007

667

9.36

482

417

.439

653.

803

112

9.55

911

61.0

4064

991.

439

121.

195

716

8.65

32.

488

28.6

8389

3.32

981

2.85

44

58.0

4845

603.

040

118.

505

835

5.76

665

77.

622

231.

199

451.

233

2760

.030

4315

699

683

.613

963

13.2

9386

012

.456

772.

703

190

5.72

48

82.3

5517

122

71.

552

142.

627

1036

3.06

925

65.

553

21.

928

642.

467

911

.288

1024

710

45.7

4011

043

422

917

226

27

109

03.

037

017

519

78.

775

121

2.65

914

52.

916

01.

709

291.

032

319

.956

1342

235

36.5

9213

103.

128

137

3.23

863

3.17

826

1.53

515

75.2

5214

8860

011

6.55

914

2683

029

73.

565

736

716

688

49.

320

2150

645

20.5

5115

674

524

92.

208

1445

622

1.25

82

8.27

731

5136

017

.147

1611

1.52

521

03.

962

699

923

737

113

.805

532

366

29.8

1117

41.

131

100

2.07

145

709

321.

015

120

.256

516

932

732

.231

188

1.40

826

83.

766

4062

030

369

250

.300

1816

545

965

.433

194

1.37

273

2.02

250

1.69

278

1.14

67

52.2

642

1230

565

.526

205

2.37

219

05.

989

1571

616

485

214

.326

3612

644

935

.126

212

2.57

810

51.

994

61.

268

1256

40

5.82

512

5440

122

.408

0. A

.0

00

00

00

00

00

038

96.

890

Wie

n2.

114

184.

231

12.9

0023

5.39

61.

797

59.2

832.

040

100.

192

1321

.055

.549

1.43

02.8

7625

.726

1.94

4.40

2

B =

Bog

enla

mpe

n, G

= G

lühl

ampe

nQ

uelle

: Sta

tist

isch

es J

ahrb

uch

der

Stad

t W

ien

1913

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

bezirken ist überwiegend der Ausbau der Kommunal-Verwaltung zuvermuten. Der Anteilsgewinn des 6. und des 7. Bezirk ist zweifellosauf den weiteren Bedeutungszuwachs des Massenkonsums und der ander Mariahilfer Straße befindlichen größten Wiener Warenhäuserzurückzuführen.129 Auf starke Fortschritte bei der Kommerzialisierungdes Konsums und der Unterhaltung lassen auch die Steigerungsratenbei den Gaststätten sowie den Theatern und Vergnügungsstätten –hier ist wieder der 2. Bezirk mit dem Prater signifikant – schließen. Inden Außenbezirken sind diesbezüglich erhebliche Unterschiede festzu-machen – relativ hohe Werte finden sich in den bürgerlichen Bezirken13 und 19 (hier fallen wahrscheinlich die Heurigen ins Gewicht), aberauch in den Arbeiterbezirken 10 und 12. Der 16. Bezirk fällt dagegenmerklich ab – möglicherweise waren die hier Wohnenden wie bei denArbeitsplätzen auch bei ihrer Freizeitgestaltung stärker auf die Innen-bezirke orientiert. Hier schlägt eine auch bei den Kinos schon regi-strierte räumliche Neuordnung der Wiener Vergnügungstopographiezu Buche, die Eduard Pötzl schon vor einigen Jahren voll Bedauernund überzeichnend beschrieben hatte: Das bei den Wienern so belieb-te „alte unverfälschte schlichte Leitgebwesen“ in den „lauschigen Gär-ten der Vororte“ sei immer mehr der Verbauung zum Opfer gefallen,gleichzeitig sei in der Inneren Stadt „endlich das vielbegehrte Nachtle-ben“ entstanden, der „richtige Wiener“ habe sich „grollend in die Re-ste der einstigen wahren Gemütlichkeit“ zurückgezogen, während„der Strom der Zugewanderten, mit den bodenständigen Dingen nichtvertraut,“ sich begnüge, „den Prater und die unzähligen anderen Verg-nügungsstätten, die das zur Weltstadt emporgewachsene Wien ihmgewährt,“ genieße.130

Wie schon 1902 war mehr als die Hälfte der Lampen in Wohnhäu-sern montiert, und auch hier hatte sich das vom Zentrum ausgehendeVersorgungsgefälle stark verflacht, die traditionellen Differenzierun-gen des Wohlstandsniveaus blieben allerdings weiter klar sichtbar.Legt man die Zahl der Lampen auf jene der Wohnungen pro Bezirkum, so ergeben sich nach wie vor krasse (natürlich auch durch dienach Bezirken stark variierende Wohnungsgröße mitbedingte) Unter-

354

G. Meißl

schiede: Einem Wert von 14,8 Lampen pro Wohnung im 1. Bezirk undvon 3,9 in den Innenbezirken insgesamt (inklusive 20.) stand einer von2,5 im 13., von 4,1 im 19., dagegen aber von 0,3 im 10., 11. und 21.gegenüber.131 Auch angesichts der Straßenbeleuchtungs-Verhältnisseist man versucht, die nächtliche Stadt von 1913 durch einen Lichtke-gel im Zentrum strahlend ausgeleuchtet, aber mit zu den Rändern hinrasch im diffusen Dunkel verschwindenden Konturen zu imaginieren.Die Bogenlampen, die wegen ihrer größeren Leistungsfähigkeit aufden Straßen zum Einsatz kamen, standen großteils in der City und denangrenzenden Innenbezirken. Auf den Straßen und Plätzen der Außen-bezirke überwog nach wie vor bei weitem die schwächere Gasbe-leuchtung.

Intraurbane Heiratsbeziehungen

Richard Sennet beschreibt in „Verfall und Ende des öffentlichen Le-bens“ vor allem am Beispiel von Paris die seit Mitte des 19. Jahrhun-derts zunehmende Ausdifferenzierung der Metropolen und die Homo-genisierung der entstehenden Stadtviertel nach ökonomischen Ge-sichtspunkten und leitet davon eine klassenbedingte Differenzierungder Stadterfahrung ab. Während die bürgerlichen Schichten aufgrundihrer vielfältigeren Interessen und Verbindungen nach wie vor dieMöglichkeit zu einer lokal differenzierten, kosmopolitischen Urba-nität gehabt hätten, sei für die Arbeiterklasse die im ancien régimenoch viel weitere Öffentlichkeit zunehmend auf homogenisierte Quar-tiere reduziert worden. Der einzige Weg, der sie aus der Enge des ei-genen Quartiers herausgeführt habe, sie die passive Öffentlichkeitser-fahrung des Konsums in den Warenhäusern gewesen.132 Diese Ein-schätzung erscheint in Konfrontation mit dem Fall Wien etwas holz-schnittartig und differenzierungsbedürftig.

Sehr aufschlußreiches Material zur näheren Untersuchung der re-gionalen Mobilität innerhalb Wiens, und wieweit diese von bezirks-spezifischen sozialkulturellen und ökonomischen Topologien beein-

355

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

356

Tab

elle

3 a

: Woh

nort

e de

r B

raut

paar

e 18

96 u

nd 1

913

1896

1913

Brä

utig

ame

davo

n in

% m

it W

ohnu

ng d

er B

raut

davo

n in

% m

it W

ohnu

ng d

er B

raut

Whg

.i.B

ez.

insg

es.

im s

elb.

im s

elb.

außh

b.in

sges

.im

sel

b.im

sel

b.au

ßhb

Bez

.H

s.d.

Bez

Bez

.H

s.d.

Bez

137

447

,921

,152

,129

229

,114

,070

,92

1652

82,2

59,3

17,8

1242

72,1

46,5

27,9

2011

3183

,368

,416

,73

1188

80,9

57,2

19,1

1206

69,7

45,9

30,3

441

660

,837

,739

,235

848

,628

,551

,45

1014

80,6

66,5

19,4

899

65,9

47,5

34,1

648

458

,138

,041

,935

746

,830

,053

,27

554

59,2

34,3

40,8

457

49,7

30,4

50,3

837

056

,540

,543

,534

644

,829

,855

,29

743

65,5

47,4

34,5

690

54,3

31,7

45,7

1010

9887

,076

,213

,015

5585

,368

,714

,711

336

83,3

62,2

16,7

465

79,1

56,6

20,9

1264

985

,271

,014

,884

876

,357

,223

,713

454

82,4

62,6

17,6

922

71,1

52,2

28,9

1472

582

,970

,517

,178

467

,750

,932

,315

453

69,8

60,3

30,2

403

59,1

43,4

40,9

1614

2287

,176

,112

,916

0483

,065

,517

,017

874

84,0

70,5

16,0

876

77,7

56,7

22,3

1878

079

,463

,620

,657

269

,145

,330

,919

293

82,9

63,1

17,1

333

72,1

51,7

27,9

2175

485

,453

,214

,6

Wie

n13

879

77,7

60,5

22,3

1609

471

,551

,528

,5au

ßerh

alb

1215

1578

Sum

me

1509

417

672

Que

lle: S

tati

stis

ches

Jah

rbuc

h de

r St

adt

Wie

n 18

96, 1

913

G. Meißl

357357

Tab

elle

3 b

: Woh

nort

e de

r ni

cht

aus

dem

sel

ben

Bez

irk

stam

men

den

Bra

utpa

are

1896

mit

Woh

nung

Brä

utig

ame

d. B

raut

davo

n in

% m

it W

ohnu

ngde

r B

raut

in B

ezir

kau

ßhb.

aus

Bez

irk

außh

b.

12

34

56

78

910

1112

1314

1516

1718

19W

iens

d. B

ez.

119

5--

17,4

12,3

13,3

5,6

7,7

5,6

4,6

10,3

2,6

0,5

0,0

1,0

0,0

0,5

1,5

3,6

3,1

1,5

8,7

26,0

229

415

,3--

16,7

6,5

3,1

4,8

3,7

5,8

15,0

1,4

0,3

1,0

1,0

1,7

1,0

3,1

3,1

2,4

1,0

13,3

30,0

322

716

,317

,2--

7,5

3,5

6,6

6,6

4,4

10,6

5,3

0,9

2,2

0,9

0,0

0,9

1,8

2,2

3,1

2,6

7,5

24,3

416

313

,56,

111

,0--

12,9

8,0

7,4

3,1

4,9

6,7

1,2

1,2

0,0

2,5

1,2

2,5

3,7

6,1

0,0

8,0

17,2

519

75,

67,

19,

111

,2--

16,2

11,7

2,5

3,0

4,1

1,0

5,1

1,5

3,6

4,1

2,5

4,6

2,5

1,5

3,0

16,6

620

39,

96,

93,

44,

916

,3--

17,2

5,4

3,4

0,0

0,0

4,9

1,5

8,9

3,4

3,4

1,0

3,0

0,5

5,9

23,9

722

66,

26,

23,

55,

85,

815

,0--

10,6

6,6

0,9

0,4

0,9

2,2

3,1

7,5

10,2

3,1

3,5

2,2

6,2

14,1

816

114

,96,

85,

66,

23,

77,

513

,0--

10,6

1,2

0,0

3,1

1,2

0,0

1,9

6,8

5,6

6,2

1,2

4,3

17,6

925

614

,816

,85,

53,

52,

33,

54,

37,

4--

1,2

0,0

1,6

0,4

2,7

2,7

2,7

4,7

9,8

5,5

10,5

21,9

1014

39,

19,

87,

015

,49,

14,

24,

22,

85,

6--

2,1

1,4

1,4

3,5

2,8

4,9

2,8

0,7

1,4

11,9

16,6

1156

10,7

8,9

30,4

7,1

0,0

5,4

3,6

0,0

5,4

8,9

--1,

81,

83,

61,

81,

80,

05,

40,

03,

647

,612

969,

46,

32,

19,

413

,53,

13,

13,

15,

26,

30,

0--

7,3

13,5

9,4

2,1

2,1

1,0

0,0

3,1

17,5

1380

7,5

6,3

3,8

1,3

2,5

7,5

7,5

8,8

7,5

1,3

0,0

7,5

--17

,53,

82,

52,

51,

30,

011

,319

,714

124

8,1

4,0

4,8

3,2

6,5

6,5

9,7

1,6

1,6

0,8

0,0

16,9

8,1

--19

,42,

43,

22,

40,

00,

828

,915

137

5,8

2,9

2,9

1,5

8,0

6,6

10,9

2,9

6,6

0,7

0,7

4,4

5,8

16,8

--11

,74,

43,

60,

72,

917

,816

184

7,1

4,3

4,9

3,8

4,3

6,0

12,5

6,5

4,9

1,1

1,1

2,2

1,1

6,5

7,6

--13

,63,

81,

67,

112

,117

140

5,0

13,6

2,9

2,9

0,7

2,9

4,3

7,9

6,4

1,4

0,0

2,9

2,1

1,4

0,7

19,3

--17

,94,

33,

631

,618

161

7,5

6,8

5,0

3,1

1,9

3,7

7,5

5,0

26,7

2,5

0,6

1,2

0,6

0,6

4,3

5,6

9,9

--1,

26,

234

,419

5010

,010

,04,

014

,04,

00,

02,

02,

018

,00,

00,

00,

02,

04,

02,

04,

04,

012

,0--

8,0

27,6

Wie

n30

939,

78,

46,

96,

25,

46,

57,

34,

97,

92,

20,

52,

81,

83,

93,

74,

64,

14,

41,

67,

16,

2au

ßerh

alb

1215

8,5

8,4

6,0

3,8

2,5

2,6

3,9

2,6

5,3

2,1

0,8

0,7

1,7

0,9

0,8

1,6

1,4

3,0

1,3

42,1

5,8

Sum

me

4308

Que

lle: S

tati

stis

ches

Jah

rbuc

h de

s St

adt

Wie

n 18

96

Varianz

flußt war, liefert eine seit 1896 im Statistischen Jahrbuch der StadtWien publizierte Kreuztabelle der Herkunft der Brautpaare des jewei-ligen Jahres nach Bezirken. Ausgangspunkt unserer Überlegungen da-zu soll die Hypothese sein, daß ein höherer Anteil an Heiraten vonnicht aus demselben Bezirk stammenden Brautpaaren als Indiz fürgrößere Mobilität zumindest eines der zwei Partner angesehen werdenkann. Ein Blick auf Tabelle 3 a zeigt diesbezüglich markante bezirks-spezifische Unterschiede.133 Bürgerliche Bezirke, neben dem 1. vor al-lem der 4. und der 6. - 9., von den Außenbezirken vor allem der stadt-nahe 15., wiesen 1896 wesentlich niedrigere Anteile von Brautpaarenmit identischer Bezirks-Herkunft auf als stärker proletarisch struktu-rierte Innenbezirke wie der 2., 3. oder 5., und noch drastischer warendie Abstände zu typischen Arbeiter-Außenbezirken wie dem 10., 12.,16. oder 17. Abschwächend ist hier freilich in Rechnung zu stellen,daß die genannten Differenzen jeweils auch mit der Zahl der Bezirks-bevölkerung variierten, d. h. daß in bevölkerungsschwächeren Bezir-ken klarerweise auch die Chancen zur Partnerfindung im selben Bezirkniedriger lagen.

Noch signifikanter waren allerdings die Bezirks-Differenzen in Be-zug auf Brautpaare, die schon vor der Hochzeit das selbe Haus be-wohnt hatten. Hier spielte die Größe des Bezirks keine Rolle, dennochlagen die entsprechenden Anteile neben den genannten Arbeiter-Außenbezirken noch der 14. eklatant über dem sonstigen Niveau, in-nerhalb des Gürtels war der proletarische 5. herausragend. Als Er-klärung bietet sich ein komplexes Bündel miteinander verwobener Ur-sachen an:134

– Ökonomische Zwänge und geringere Bedachtnahme auf bürgerli-che Verhaltens-Standards veranlaßten viele Paare, schon vor derHochzeit zusammenzuleben, häufig wohl in einer der Eltern-Woh-nungen;

– die Kleinräumigkeit proletarischer Nachbarschaften führte oftmalsauch zur Bekanntschaft und zum Heiratsentschluß von im selbenHaus wohnhaften Mädchen und Burschen;

358

G. Meißl

– im Gefolge der oft geübten Praxis des Nachziehens aus der Provinzzu Verwandten oder Bekannten in der Metropole (ebenfalls häufigins selbe Haus oder gleich in die selbe Wohnung) blieben die ge-wohnten lokalistischen Lebensformen aufrecht und führten nichtselten zu einer Partnerwahl in diesem eng umgrenzten Milieu.

Beim regionalen Beziehungsmuster der nicht aus dem selben Bezirkkommenden Brautpaare (vgl. Tabelle 3 b) ist vor allem einmal ein ge-nerell hoher Anteil von Heiraten zwischen benachbarten Bezirken zuerkennen, wobei allerdings die Streuung in den Innenbezirken breiterwar. Auffällig dabei ist außerdem, daß im Fall der Außenbezirkemehrfach der jenseits des Gürtels benachbarte Innenbezirk den höch-sten Anteil aufweist, so für den 11. der 3., für den 10. der 4., für den12. der 5. (zusammen mit dem 14.), für den 16. der 7. (nur unwe-sentlich übertroffen vom 17.) und für den 18. der 9. Abgesehen vomletzten Paar und mit Abstrichen vom 12. und 5. handelte es sich in kei-nem Fall um Bezirke mit einer affinen Sozialstruktur und einer deswe-gen erhöhten Wahrscheinlichkeit von Internuptialität. Die Ursachendieser Häufung sollten viel eher in der vom Zentrum ausgehenden ra-dialen Ausrichtung der Kommunikationswege sowie darin gesehenwerden, daß die Mehrzahl der nicht im Bezirk befindlichen Arbeits-plätze höchstwahrscheinlich im fußläufig am leichtesten zu erreichen-den angrenzenden Innenbezirk lag. In den Innenbezirken waren dieHeiratsbeziehungen zwischen den innerhalb des Gürtels angrenzendenBezirken fast durchgehend deutlich intensiver als nach außen. Auffäl-lig ist jedoch die überproportionale Außenbezirk-Orientierung des 6.zum 14. und des 7. zum 16. Hier fallen offensichtlich die von den Or-ganisationsprinzipien der hier konzentrierten Heimarbeit des Beklei-dungsgewerbes herrührenden intensiven Binnen-Beziehungen dieserbeiden Bezirkspaare ins Gewicht.

Ein weiteres Spezifikum ist die hohe Internuptialität von Bezirkenmit überdurchschnittlich hohem Anteil an jüdischer Bevölkerung wiezwischen dem 1., 2. und 9. Der zeitgenössischen Feuilletonist schuf al-so ein ziemlich realitätsfernes Konstrukt, wenn er von der „Leopold-städterin“ behauptete: „Sie hat sich ihr Ghetto frei gewählt; denn

359

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

nichts könnte sie hindern, die Schranke fallen zu lassen und hinaus zuziehen nach der schönen Stadt, zu den fröhlichen Menschen. Sie bleibtlieber in ihrem Kreise – wird hier geboren, lebt hier und heiratethier.“135 Bei aller sozialen Inhomogenität dürfte hier die gemeinsameKonfession viel zur Intensivierung der bezirksübergreifenden Kommu-nikation und Heiratsanbahnung beigetragen haben. In den genanntenBezirken fällt auch die überdurchschnittliche Anzahl von Heiratenauf, bei denen ein Partner vorher außerhalb Wiens gewohnt hatte.Hier kamen die anhaltend starken Bindungen der jüdischen Wiener,die ja fast durchgehend Immigranten waren, zu ihren Herkunftsregio-nen ins Spiel.136 Die intensiven Beziehungen zu den Heimatorten, diein Arbeiterbezirken paradoxerweise auch zum hohen Anteil von ausdem selben Haus kommenden Brautpaaren beigetragen haben dürf-ten, führten wohl auch im 10. Bezirk dazu, daß viele Männer dort ih-re Frauen fanden. Im Fall des 13. Bezirks dürfte die Ursache dafüreher in den besonders häufigen Kontakten zum angrenzenden Umlandliegen.

Bis 1913 war der Anteil der im selben Bezirk wohnhaften Braut-paare überall zurückgegangen (vgl. Tabelle 3 a). Ganz drastisch im 1.Bezirk, was vermutlich an der hier stark rückläufigen Bevölkerungs-zahl lag, doch ebenso recht deutlich in den großteils noch wachsendenbürgerlichen Innenbezirken, aber auch im eher proletarischen 5. undin den zentraler und verkehrsgünstig gelegenen Außenbezirken 12, 14und 15. Am wenigsten waren die Anteile in den Arbeiterbezirken 10und 16 zurückgegangen, ähnlich hoch waren sie in den neu hinzuge-kommenen Arbeiterbezirken 20 und 21. Dabei ist freilich in Rechnungzu stellen, daß es sich hier um überdurchschnittlich rasch wachsendeund besonders bevölkerungsstarke Bezirke handelte. Daß die Ent-wicklung in einem Außenbezirk trotz sehr starker Bevölkerungszu-nahme auch anders verlaufen konnte, zeigt sich am Beispiel des bür-gerlich strukturierten 13., der einen signifikanten Anteilsrückgang derim selben Bezirk wohnenden Brautleute verzeichnete. Als dahinterlie-gende Ursache sind vor allem die wegen des Stadtbahnbaus merklichverbesserten Mobilitätschancen zu sehen.

360

G. Meißl

Tab

elle

3c:

Woh

nort

e de

r ni

cht

aus

dem

selb

en B

ezir

k st

amm

ende

n B

raut

paar

e 19

13

mit

Woh

nung

Brä

utig

ame

d. B

raut

davo

n in

% m

it W

ohnu

ngde

r B

raut

in B

ezir

kau

ßhb.

aus

Bez

irk

außh

b.

12

34

56

78

910

1112

1314

1516

1718

1920

21W

iens

120

7--

14,5

19,8

9,2

4,8

3,9

6,3

4,3

6,8

3,4

1,0

1,4

1,4

1,9

0,5

2,9

3,4

2,4

2,4

1,0

1,9

6,8

22,8

234

78,

4--

13,3

5,5

4,9

2,9

3,5

4,3

11,5

2,3

1,2

2,0

1,4

1,7

1,2

4,0

1,4

4,9

2,9

8,9

4,6

9,2

12,5

336

59,

311

,5--

12,9

5,8

3,6

4,4

3,8

9,9

5,8

2,7

0,8

2,7

1,4

0,5

2,2

2,2

2,7

3,0

1,1

0,8

12,9

16,5

418

49,

86,

512

,5--

16,8

6,0

6,5

3,8

4,9

6,5

1,1

2,7

2,7

0,5

2,7

0,5

0,5

2,2

1,6

3,3

0,5

8,2

18,5

530

74,

97,

28,

513

,4--

13,7

5,9

1,0

3,6

4,6

1,0

8,8

2,6

2,6

3,6

5,2

1,3

2,0

2,6

1,3

0,7

5,9

14,3

619

05,

85,

89,

56,

811

,6--

10,0

4,2

10,0

2,1

0,5

4,2

5,3

4,2

5,8

3,7

1,6

2,1

1,6

0,0

0,5

4,7

11,3

723

06,

17,

86,

54,

35,

28,

7--

11,3

9,6

1,7

0,0

2,2

3,5

4,8

5,7

8,7

2,6

2,2

2,6

1,3

0,0

5,2

10,2

819

16,

83,

78,

43,

75,

87,

311

,5--

11,5

1,6

0,0

1,0

4,7

1,6

1,0

7,9

8,4

5,2

2,6

0,5

1,0

5,8

12,5

931

56,

39,

58,

33,

82,

93,

55,

77,

6--

1,3

0,6

0,6

4,4

2,2

1,0

5,7

4,8

9,5

7,9

3,8

2,2

8,3

8,7

1022

95,

25,

714

,013

,58,

37,

93,

13,

14,

8--

3,1

4,4

6,1

3,5

0,4

2,6

1,3

4,4

2,2

1,3

0,0

5,2

13,7

1197

4,1

3,1

20,6

7,2

4,1

3,1

5,2

2,1

3,1

9,3

--6,

22,

12,

13,

15,

20,

06,

20,

02,

11,

010

,320

,712

201

3,0

4,5

5,5

3,5

7,5

5,5

10,0

3,0

5,0

3,0

2,5

--7,

511

,95,

55,

52,

53,

51,

51,

01,

57,

07,

913

266

3,0

3,8

7,1

3,8

6,0

5,6

4,1

3,0

5,3

3,8

1,1

12,4

--13

,54,

98,

32,

34,

91,

51,

11,

13,

411

,214

253

3,6

4,7

4,0

3,6

2,4

4,7

6,3

2,4

3,6

0,8

0,4

7,1

23,3

--11

,15,

92,

01,

22,

42,

80,

87,

124

,815

165

1,2

3,0

1,2

2,4

1,2

7,3

11,5

3,6

4,2

0,6

2,4

6,7

14,5

17,0

--8,

53,

03,

00,

61,

20,

66,

122

,016

272

2,9

4,8

5,5

0,7

1,8

5,1

8,8

9,6

6,6

4,8

0,4

2,6

4,0

5,9

2,6

--15

,14,

43,

32,

20,

48,

512

,517

195

3,6

4,6

3,6

4,1

3,6

3,1

4,1

5,6

8,2

1,0

0,5

1,5

6,2

3,6

1,5

20,0

--14

,44,

12,

60,

04,

121

,518

177

6,8

1,7

6,8

2,3

2,3

2,8

2,8

4,0

15,8

1,7

0,0

3,4

4,0

3,4

2,3

8,5

12,4

--7,

94,

50,

66,

215

,319

936,

55,

46,

52,

22,

21,

11,

12,

214

,02,

20,

06,

56,

51,

14,

31,

15,

415

,1--

4,3

4,3

8,6

16,1

2018

92,

123

,35,

32,

62,

15,

35,

82,

612

,72,

11,

61,

12,

11,

60,

54,

81,

66,

93,

7--

4,2

7,9

26,1

2111

06,

49,

110

,03,

62,

73,

63,

60,

93,

64,

50,

01,

80,

90,

90,

93,

60,

95,

54,

510

,0--

22,7

25,8

Wie

n45

835,

26,

78,

05,

74,

85,

25,

74,

27,

22,

91,

13,

65,

04,

02,

85,

43,

54,

53,

02,

51,

37,

63,

5au

ßerh

alb

1578

3,8

4,3

7,2

3,8

2,8

2,5

3,6

2,2

4,9

1,5

0,8

2,6

2,4

1,2

0,7

2,0

1,6

3,3

1,5

1,2

1,6

44,6

2,5

Sum

me

6161

Que

lle: S

tati

stis

ches

Jah

rbuc

h de

r St

adt

Wie

n 19

13

Varianz

Der Rückgang bei den im selben Haus wohnenden Paaren war insämtlichen Bezirken viel deutlicher, weniger allerdings in den typi-schen Arbeiterbezirken. Das oben angeführte Ursachen-Syndromdürfte jedenfalls Erosions-Prozessen ausgesetzt gewesen sein. DieWohnverhältnisse wiesen eine leichte Besserung auf, der Bettgeher-An-teil war rückläufig,137 und der von den Immigranten aus den Her-kunftsorten in die Stadt transferierte enge ländliche Lokalismus dürf-te allmählich einem etwas weiteren, offeneren des urbanen Arbeiter-viertels gewichen sein.

Der Anteil der Brautpaare, die in verschiedenen Bezirken wohnhaftwaren, hatte bis 1913 nicht nur merklich zugenommen, auch die meistrecht enge Konzentration auf die jeweils unmittelbar benachbarten In-nen- bzw. Außenbezirke sowie die mancher Außenbezirke auf den jen-seits des Gürtels gegenüber liegenden Innenbezirk war lockerer ge-worden. Das ist bei den Innenbezirksbereich vor allem an den Bezir-ken 6 bis 9 recht gut zu erkennen, wo die Verteilung über die anderenBezirke nun viel weiter streute. Doch etwa auch bei den Arbeiterbe-zirken 10, 12, 16 und 17 fällt auf, daß ihre Innenbezirks-Orientierungstärker aufgefächert ist, und im Fall der ersten beiden gilt dies auch fürdie Streuung in den Außenbezirken. Besonders deutlich wird dieseEntwicklung auch beim bürgerlichen 13. Bezirk, wo sich vor allem diedurch die Stadtbahn wesentlich verbesserte Verkehrsanbindung mobi-litätsfördernd ausgewirkt haben muß. Diese hier an einzelnen speziellauffällig gewandelten Beziehungsmustern beschriebene Entwicklungist aber generell feststellbar, wie sich an der teilweise signifikant redu-zierten Varianz – als Maßzahl für die Gleichmäßigkeit einer Verteilung(eine völlige Gleichverteilung hätte die Varianz 0)138 – bei fast allen Be-zirken und für Wien insgesamt ablesen läßt. Rückläufig war die Vari-anz auch bei den von auswärts kommenden Bräutigamen, d. h. derenzukünftige Frauen lebten 1913 ebenfalls merklich stärker über dasganze Stadtgebiet verstreut als noch 1896.

Alles in allem bieten die hier aufgezeigten Befunde ein Bild der all-mählichen Erosion traditioneller Barrieren und Beziehungsmuster zwi-schen den städtischen Subregionen. Vor allem war der Gürtel eine viel

362

G. Meißl

durchlässigere Grenze geworden, und die enge Innenbezirk-Außenbe-zirk-Relation einzelner Bezirke hatte sich gelockert. Die bessere Ver-netzung des gesamten Stadtgebiets durch den leistungsfähiger gewor-denen Massenverkehr hatte größere Distanzen zwischen Wohnungenund Arbeitsplätzen ermöglicht und überhaupt die urbanen Erfah-rungs- und Kommunikationsräume ausgeweitet. Lediglich die „klassi-schen“Arbeiterbezirke 10, 16 und 21 hinkten hier nach, hier wurdedie stärkere Binnen-Bezogenheit freilich auch durch exzeptionellesWachstum begünstigt.

Hierarchie oder Heterarchie?

Wien war um 1900 zweifellos massiv in den Übergang zur Moder-ne, wie er oben zu konzeptionalisieren versucht wurde, hineingezogenworden. Insgesamt müssen die hier beschriebenen und analysiertenEntwicklungslinien der städtischen Kommunikationsnetze in ihrenKonsequenzen als ambivalent angesehen werden. Das damit erreichtewesentlich höhere Integrationsniveau des Stadtraumes führte zu einerAufwertung der zentralen Zonen, wo die diversen Kommunikations-kanäle zusammenliefen. Am Beispiel des Straßenbahnverkehrs ist diesetwa an der extremen Verdichtung in Abbildung 5b abzulesen, die sichzwischen 1903 und 1913 am Ring vor der Oper und am Schottentorgebildet hat, und in den davon wegführenden Verdichtungen der Aus-fallstraßen. Die Ausweitung der Netze und die verbesserte Ausstattungder weiter vom Zentrum entfernten Zonen führte aber schlimmsten-falls nur zu einer Abnahme des relativen Abstands bzw. zu Auslage-rungsprozessen wegen sonst zu hoher Verdichtung (wie etwa am Bei-spiel der Amtsgebäude, Banken etc. abzulesen), in keinem Fall aberauch nur annähernd zu einer Gefährdung der absoluten Priorität derCity. Die intensivere Vernetzung führte aber keineswegs zu einem ein-dimensionalen Verlauf räumlich-funktionaler Spezialisierung und Ho-mogenisierung. Die Entwicklung war differenzierter: Durch die Ver-kehrsverdichtung und das Bezirkswachstum entstanden lokale Sub-

363

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

zentren wie im 10. oder 21.; die mit dem Elektromotor verbundenebessere Wettbewerbsfähigkeit des Kleingewerbes kam auch in der Ci-ty zum Tragen; der Aufschwung der Mariahilfer Straße als Geschäfts-zone vertrug sich durchaus mit den durch die Elektrifizierung gestei-gerten Expansionsmöglichkeiten des angrenzenden und über den Gür-tel mit den Außenbezirken vernetzten Bekleidungsgewerbes, es kamwahrscheinlich sogar zu durch diese Standortnähe verursachtenFührungsvorteilen;139 die Aufwertung des Praters im 2. Bezirk gingüberhaupt nicht zu Lasten der Vergnügungslokale des Zentrums etc.Auch die Lockerung der regionalen Beziehungsmuster des Wiener Hei-ratsmarktes paßt mit diesen Tendenzen zusammen. Es scheint also,daß in einem zugleich stärker integrierten und homogenisierten unddennoch wieder differenzierter und variabler gewordenen Stadtgefügeauch die Bewohner/innen dieser Stadt auf diese Erfahrungen entspre-chend offener und flexibler zu reagieren lernten. Hier bietet sich eineBezugnahme auf Ernest Gellners Metapher der Modularität der mo-dernen Existenz an: „Der modulare Mensch ist fähig, sich erfolgreichzu funktionierenden Vereinigungen und Institutionen zusammenzu-schließen, ohne daß diese total, vielsträhnig, ritualgeschützt und da-durch stabilisiert, daß sie mit einer ganzen Reihe von internen Bezie-hungen verbunden sind, die alle wiederum aneinander gekoppelt unddamit bewegungsunfähig sind.“140 Die Bewohner Wiens sahen sich zu-sehends mit einem modularen metropolitanen Stadtgefüge konfron-tiert, wo im Vergleich zur früheren lokalistischen Enge und Kohärenzdes Lebens Räume des Arbeitens, des Wohnens, der Freizeit, des Kon-sums etc., Räume des Sich-Bewegens/Bewegtwerdens zwischen diesenRäumen mit oft verwirrender Komplexität und Geschwindigkeit, mitimmer wieder wechselnden Zeit-Logiken einander ablösten.

Im zeitgenössischen Diskurs waren solche Erfahrungen vermutlichnicht zuletzt deswegen kaum präsent, weil Wien zum kontroversiellenInbegriff einer bewahrenswerten bzw. rückständigen Stadt gewordenwar. In den letzten Jahren vor 1914 scheint es diesbezüglich zu einergewissen Auflockerung gekommen zu sein. 1911 formulierte Josef Au-gust Lux, der sich auch in der oben referierten Altstadt-Debatte als

364

G. Meißl

Verteidiger des Hergekommenen engagiert hatte, in einem Feuilletonzur „Zukunft des Wiener Stadtbildes“ eingangs den Leitsatz, hiermüsse „bei aller Voraussicht kommender Bedürfnisse die größte Sor-ge darin bestehen, daß auch in der neuen Ordnung der Dinge W i e nW i e n bleibt. Das heißt, daß die Schönheitslinie der gemütlichen undcharaktervollen Stadt in dem Prozeß der Umbildung nicht verlorenge-he“. Dann definierte er aber die ökonomische Rolle einer Metropoleals „Weltkontor“, befürwortete die forcierte funktionale Ausdifferen-zierung des Stadtraums in Form von City, Wohngebieten, Industriezo-nen, Vergnügungsvierteln usw., plädierte für Hochhäuser und mahntedie Errichtung elektrischer Schnellbahnen ein, um Wiens diesbezügli-che Rückständigkeit gegenüber Paris, London und Berlin zu beseiti-gen.141 Und schon 1908 hatte Reinhard Petermann in seinem Wien-Buch im Abschnitt „Weltstädtische Charakterzüge“ bei aller schön-färberischen Überdeckung von sozial-räumlichen Verwerfungen rela-tiv zutreffend bemerkt:

„Die Stadt ist nun so groß, daß ihre verschiedenen Bezirke in vielfa-cher Hinsicht eine lokale Sonderentwicklung zeigen, in diese Ent-wicklung, die an das historische Gewordene anknüpft, greift aberbeständig nicht nur die durch den leichten Verkehr beförderte Ver-mischung der Bezirksbevölkerungen nivellierend ein, sondern Inne-re Stadt und Ringstraßenzone bilden überdies ein starkes Nivellie-rungszentrum. … An dem Leben dieses Zentrums nimmt die über-wiegende Zahl der Stadtbewohner mehr oder weniger teil, gleich-wohl hat infolge der riesigen Ausdehnung der Stadt schon in mehr-facher Hinsicht eine Dezentralisation stattgefunden, Ämter, höhereund mittlere Schulen, Volksbildungs- und andere Institute und großeVergnügungslokale bestehen schon in großer Zahl in den peripheri-schen Teilen der Stadt und speziell die große Gürtelstraße, längswelcher sich Alt- und Neu-Wien aneinanderlegen, hat im Raimund-und Kaiserjubiläumstheater zwei Konzentrationsstellen der Bevölke-rung erhalten, die nicht nur einen abendlichen Theaterverkehr aufder Stadtbahn und Gürteltramway bedingen, sondern auch das Re-

365

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

staurant-, Café- und sonstige Vergnügungsleben fördern, das sicham Gürtel allmählich entwickelt.“142

Als Indikator für Wiens Rückständigkeit gilt nicht zu Unrecht dasfast vollständige Fehlen der für andere Metropolen so typischen Groß-stadtliteratur. Immerhin bildeten sich aber nach 1910 Ansätze einesExpressionismus, der typische Erfahrungen des Großstadtalltags inden Blick nahm. Heinrich Nowak macht in seinem 1913 erschienenLyrikband „Die tragische Gebärde“ etwa „Die Straße“, das „Kino“,einen „Damenringkampf“ oder ein Nachtlokal zu seinem Thema.143

Ganz ähnlich waren auch die Sujets des Hans Flesch von Bruningen,der Anfang 1914 in einem „Flugblatt für die Weltstadt“ unter Bezug-nahme auf die 2 1/4 Millionen-Bevölkerung Wiens schrieb: „Jeder willetwas anderes, strampelt, schreit, drängt nach vorne. GrauenhaftesChaos der Ordnung. Hier ist nur die e i n e Machtfrage noch zu stel-len: Sie oder ich?!“144

Die verwirrende, schnelle, laute und aggressive Vielfalt der Groß-stadt, die sich aber wie von selbst zu einer neuen Ordnung zusam-menfügte, konnte vor 1914 also auch schon im „altväterischen“ Wi-en erfahren werden. Allem Anschein nach befand sich die Stadt in die-sen Jahren in einer prekären, spannungsreichen Balance. Auf der einenSeite noch unübersehbar präsent das tradierte hierarchische Gesell-schafts- und Raumgefüge, mit dem Anspruch auf klare Rangordnung,Homogenität, Stabilität, Sicherheit, Geschlossenheit, Übersichtlich-keit, auf der anderen Seite immer mehr ausbrechend die Heterarchiedes modernen Gesellschafts- und Stadtraums, heterogene Einflüsseverarbeitend, neue Zwänge schaffend und Freiräume eröffnend, neu-es Wissen generierend, immer andere Bilder von sich entwerfend,fließend, ausufernd, unübersichtlich.145 Ohne den Ersten Weltkrieg wä-re die Entwicklung vermutlich klarer in Richtung der letzteren Seiteverlaufen.

366

G. Meißl

1 Vgl. dazu zusammenfassend etwa Flugschriften des Vereines zum Schutze und zur Er-haltung der Kunstdenkmäler Wiens und Niederösterreichs, Wien und Leipzig 1910.Zur 1885 bis 1910 immer wiederkehrenden Berichterstattung über Demolierungs-maßnahmen unter Titeln wie „Ein verschwindendes Stück Alt-Wien“ im IllustrirtenWiener Extrablatt vgl. Gerhard Fischer, Aus dem entschwundenen lieben alten Wien.Der Wasserfarbenmaler Karl Blaschke, Frankfurt a. M. 1997, bes. S. 69.

2 Zu den Christlichsozialen vor 1918 vgl. zuletzt John W. Boyer, Culture and PoliticalCrisis in Vienna. Christian Socialism in Power, 1897–1918, Chicago 1995.

3 Illustrirtes Wiener Extrablatt v. 11. 4. 1909, S. 16 ff.4 Vgl. zur Metropolenbildung Anthony Suttcliffe (ed.), Metropolis 1890– 1940, Lon-

don 1984, zur weltweiten ökonomischen Entwicklung jüngst Kevin H. O’Rourke andJeffrey G. Williamson, Globalization and History. The Evolution of a Nineteenth-Century Atlantic Economy, Cambridge Ma. and London 1999.

5 Vgl. zum folgenden allgemein Peter Feldbauer, Stadtwachstum und Wohnungsnot.Determinanten unzureichender Wohnungsversorgung in Wien 1848 bis 1914, Wien1977; Wolfgang Mayer, Gebietsänderungen im Raume Wien 1850–1910 und die De-batten um das Entstehen eines Generalregulierungsplanes von Wien, phil. Diss. Wien1972; Maren Seliger/ Karl Ucakar, Wien. Politische Geschichte 1740–1934. Ent-wicklung und Bestimmungskräfte großstädtischer Politik, Teil 1: 1740–1895, Wien1985, 390 ff.; Renate Banik-Schweitzer/ Gerhard Meißl, Industriestadt Wien. DieDurchsetzung der industriellen Marktproduktion in der Habsburgerresidenz, Wien1983; Wiener Stadt- und Landesarchiv/ Ludwig Boltzmann-Institut für Stadtge-schichtsforschung (Hrsg.), Historischer Atlas von Wien, Wien 1981 ff.; zeitgenös-sisch: Wien am Anfang des XX. Jahrhunderts. Ein Führer in technischer und künst-lerischer Richtung. Redigiert von Paul Kortz, 2 Bde. Wien 1905.

6 Vgl. hiezu vor allem Paolo Capuzzo, „The defeat of planning: the tranport systemand urban pattern in Vienna (1865–1914)“, in: Planning Perspectives 13 (1998), S.23–51.

7 Die Gemeinde-Verwaltung der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien in den Jah-ren 1889– 1893, Wien 1895, S. 12; Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1893, S.30.

8 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1913, S. 8, S. 45.9 Vgl. dazu etwa die Karte 5. 3. 3 des Historischen Atlas von Wien.10 Vgl. zum folgenden etwa zeitgenössisch Die städtischen Elektrizitäts-Werke und die

Anlagen der elektrischen Strassen-Bahnen in Wien. Im Auftrage des Herrn Bürger-meisters Dr. Karl Lueger bearbeitet vom Stadtbauamte, Wien 1904; eine ausführli-che Analyse des Kommunalisierungsprozesses bei Seliger/ Ucakar, Teil 2:1896–1934, S. 887 ff.

11 Vgl. dazu Detlev Ipsen, Raumbilder. Kultur und Ökonomie räumlicher Entwicklung(Stadt, Raum und Gesellschaft 8), Pfaffenweiler 1997, S. 6–30; David Harvey, Ju-stice, Nature and the Geography of Difference, Cambridge Ma. 1996, v. a. S.207–326; am Beispiel Berlins Ralf Stremmel, Modell und Moloch. Berlin in derWahrnehmung deutscher Politiker vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum ZweitenWeltkrieg, Bonn 1992.

12 Neu-Wien im Jahre Zweitausend. Eine Vision von ***, Leipzig 1891. Zit. S. 713 Hier werden interessante Anklänge zu Simmels „Steigerung des Nervenlebens“ in

seinem bahnbrechenden Großstadtessay formuliert. Georg Simmel, „Die Großstäd-

367

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

te und das Geistesleben“, in: Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteaus-stellung, Dresden 1903, S. 188f.

14 Die Zeit v. 24. 6. 1899, S. 204 ff.15 Ebda. v. 12. 8. 1899, S. 106.16 Camillo Sitte, Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, 6. Aufl. Wi-

en 1965. Für die Entstehung von Sittes städtebaulichem Konzept vgl. Carl E. Schor-ske, Fin-De-Siècle Vienna. Politics and Culture, New York 1981, S. 62 ff.

17 Sitte, S. 15.18 Ebda., S. 97.19 Ebda., S. 113 f.20 Neues Wiener Tagblatt vom 28. 3. 1909, zit. nach Flugschriften des Vereines zum

Schutze und zur Erhaltung der Kunstdenkmäler. II. Zur Rettung Alt-Wiens, S. 62.21 Neues Wiener Tagblatt vom 13. 4. 1909, zit. nach Flugschriften, S. 75.22 Ebda., S. 72.23 Die Zeit vom 21. 2. 1909, zit. nach Flugschriften II., S. 42 f.24 Neues Wiener Tagblatt vom 28. 3. 1909, zit. nach Flugschriften II., S. 64.25 Hamburger Nachrichten vom 27. 7. 1909, zit. nach Flugschriften II., S. 90.26 Neues Wiener Tagblatt vom 22. 12. 1908, zit. nach Flugschriften II., S. 29.27 Die Zeit vom 21. 2. 1909, zit. nach Flugschriften II., S. 42.28 Hans Tietze, Das Wiener Stadtbild, in: Flugschriften des Vereines zum Schutze und

zur Erhaltung der Kunstdenkmäler Wiens und Niederösterreichs IV, Zitate S. 36 ff.29 Karl Mayreder, Motiven-Bericht zum Antrage des Stadtbauamtes für den Regu-

lirungsplan der Inneren Stadt Wien, Wien 1896. Zitate S. 6 f., 30 Ders., Stadtentwicklung, in: Wien am Anfang XX. Jahrhunderts, 1. Bd., S. 76.31 Wiener Stadtregulierungsfragen, in: Zeitschrift des Österreichischen Ingenieur- und

Architektenvereins 1910, S. 99.32 Wiener Stadtregulierungsfragen, in : Zeitschrift des Österreichischen Ingenieur- und

Architektenvereins 1910, S. 642.33 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Enquete zur Beratung des

Entwurfes einer neuen Bauordnung für die k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wi-en, Wien 1910, S. 129 f.

34 Die Zeit vom 12. 8. 1899, S. 107. Dem Autor war zweifellos die erste systematischeZusammenfassung der städtebaulichen Prinzipien Wagners von 1896 bekannt, wodieser sich auch eingehend mit der Rolle der modernen Straße auseinandersetzte:vgl. Otto Wagner, Moderne Architektur, in: Otto Antonia Graf, Otto Wagner, Bd.1, Das Werk des Architekten 1860– 1902, Wien Köln Graz 1985, S. 280 ff.

35 Otto Wagner, Die Großstadt, Wien 1911.36 Zur in hierarchischen im Vergleich zu kompetitiven Gesellschaften viel stärker aus-

geprägten Tendenz, sich ihrer selbst mithilfe von Natur- und Traditions-Metaphernzu versichern vgl. Mary Douglas, How Institutions think, New York 1986, S. 80.

37 Simmel, Großstädte, S. 185–206.38 Ders., Gesamtausgabe, Bd. 11, Frankfurt a. M. 1992, S. 687 ff.39 Vgl. dazu etwa David Frisby, Simmel and Since. Essays on Georg Simmel’s Social

Theory, London 1992. Paul Nolte, Georg Simmels Historische Anthropologie derModerne. Rekonstruktion eines Forschungsprogramms, in: Geschichte und Gesell-schaft 24.Jg. ( 1998), H. 4, S. 225– 247.

40 Hartmut Waentig, Die wirtschaftliche Bedeutung der Großstädte, in: Die Großstadt,S. 150.

368

G. Meißl

41 Alexander Dorn, Ein Amerika-Feuilleton, in: Ders., Amerikanisches. Fünf Vorträge,Wien 1900, S. 99 ff.

42 Arbeiter-Zeitung v. 9. 7., 15. 7., 22. 7., 29. 7., 5. 8. 1900. 43 Für einen Vergleich Wiens mit Berlin vom selben Autor und mit ähnlichen Befunden

vgl. Arbeiter-Zeitung v. 1. 3. u. v. 5. 3. 1914.44 Arbeiter-Zeitung v. 25. 12. 190345 Der Handlungsgehilfe v. 1. 1. 1900. Vgl. auch den Artikel über amerikanischen Wa-

renhäuser im Nachfolgeblatt Der Österreichische Handelsangestellte in der Septem-bernummer von 1904. Allgemein dazu Gerhard Meißl, Altväterisches oder moder-nes Wien? Zur Diskussion um die Warenhäuser und die Warenhaussteuer in Wienzwischen 1890 und 1914, in: Andreas Lehne/ Edith Hann/ Gerhard Meißl, WienerWarenhäuser 1865– 1914, Wien 1990, S. 61–84.

46 Die Arbeit, 16. 7. 1905.47 Wiener Kaufmännische Blätter, 10. 5. 1905.48 Kaufmännische Presse, 15. 2. 1913.49 Neues Wiener Tagblatt, 31. 12. 1905.50 Das Schaufenster. Illustrirte Zeitschift für geschäftlichen Fortschritt, 15. 10. 1903.

Beilage zu Der Österreichische Kaufmann. Fachblatt für Kaufleute. Für eine ähnli-che Einschätzung der in Wien im Vergleich zu „vorwiegend modernen Städten wieBerlin oder Budapest“ kleinen Schaufenster Das Schaufenster, 15. 9. 1906, Beilagezu Der Deutsche Kaufmann. Fachblatt für Kaufleute. Daß sich im Wiener Nachtle-ben nicht viel tat, war zum guten Teil dem sogenannten „Sperrsechserl“ anzulasten,das nach neun Uhr abends Heimkommende beim Hausmeister zu entrichten hatten,und dessen Abschaffung nicht nur von Vertetern der Gastronomie und der Unter-haltungsbranche immer wieder heftig gefordert wurde, vgl. dazu etwa die eingangszitierte Umfrage „Was braucht Wien?“ sowie Alfred H. Fried, Wien–Berlin. Ein Ver-gleich, Wien und Leipzig (1908), S. 36, 101 ff.

51 Felix Salten, Der Wiener Korrespondent, in: Morgen. Wochenschrift für Kultur,1907, S. 113–116. Für eine Zusammenstellung in Deutschland gängiger abfälligerWien-Einschätzungen, mit kritischer Distanzierung davon vgl. Franz Servaes, Wien.Briefe an eine Freundin in Berlin (Stätten der Kultur 8), Leipzig (1908, bes. S. 2 ff.,128 ff. Ein durchgängig eher holzschnittartiger Vergleich von Wien und Berlin, dersich aber um historisches Verständnis und Abwägung der jeweiligen Vor- und Nach-teile bemüht, ist Fried, Wien–Berlin.

52 Zu Sombarts Verständnis des „Morgen“ als eine Plattform der Kritik an der ameri-kanisierten Großstadt- und Massenkultur vgl. Friedrich Lenger, Die Abkehr der Ge-bildeten von der Politik. Werner Sombart und der „Morgen“, in: Gangolf Hübingerund Wolfgang J. Mommsen, Intellektuelle im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt1993, S. 62–77, mit besonderer Bezugnahme auf den „Wien“-Artikel S. 66 f.

53 Zum Einsatz der Körpermetaphorik bei der Konstruktion von Stadtbildern vgl. et-wa Richard Sennett, Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichenZivilisation, Frankfurt a.M. 1997.

54 Werner Sombart, Wien, in: Morgen, 1907, hier zitiert nach Flugschriften, H. II, ZurRettung Alt-Wiens, S. 8–14.

55 Ebda.56 Zitiert nach Richard Kralik und Hans Schlitter, Wien. Geschichte der Kaiserstadt

und ihrer Kultur, Wien 1912, S. 736.

369

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

57 Vgl. dazu Peter Sprengel, Gregor Streim, Berliner und Wiener Moderne. Vermitt-lungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater und Publizistik. Mit einem Beitragvon Barbara Noth (Literatur in der Geschichte Geschichte in der Literatur 45), Wi-en, Köln, Weimar 1998, S. 115–151.

58 Franz Servaes, Wien S. 34 ff.59 Ebda. S. 130 ff.60 Walther Brecht, Österreichische Geistesform und österreichische Dichtung, in: Deut-

sche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 9. Jg.(1931), S. 607–627. Die Einbeziehung dieses späteren Textes erscheint gerechtfer-tigt, weil er sich fast ausschließlich auf die Vorkriegszeit bezieht und auch inhaltlichimmer wieder Passagen von aus der Zeit des Ersten Weltkriegs stammenden TextenHofmannsthals übernimmt, vgl. Hugo von Hofmannsthal, Österreich im Spiegel sei-ner Dichtung, in: ders., Ausgewählte Werke. Erzählungen und Aufsätze, Frankfurta. M. 1957, S. 593–605; ders., Preusse und Österreicher. Ein Schema, in: ebd.,615–617. Hofmannsthals Gegenüberstellungen sind allerdings im Kontext der vonihm erst während des Kriegs vorgenommenen Konstruktion seiner Texte als durchspezifisch österreichische Traditionen bestimmte zu sehen, vgl. dazu Sprengel undStreim, Berliner und Wiener Moderne, S. 519 ff.

61 Aus der mittlerweile reichen Literatur zu diesem Thema vgl. etwa Hans van derLoo/Willem van Reijen, Modernisierung: Projekt und Paradox, München 1992; Zy-gmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg1992; oder jüngst Scott Lash, Another Modernity, a Different Rationality, Oxford1999.

62 Zum äußerst umfangreichen und kontroversen zeitgenössischen Berlin-Diskurs vgl.etwa an neueren Arbeiten Charles W. Haxthausen and Heidrun Suhr (eds.), Berlin.Culture and Metropolis, Minneapolis and Oxford 1990, sowie Stremmel, Modell.

63 So etwa Karl Scheffler, Wien–Berlin, in: Österreichische Rundschau, Jg. 1908, S.456.

64 Vgl. Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origins andSpread of Nationalism, 2nd ed. London 1991; ferner Ernest Gellner, Nationalismusund Moderne, Berlin 1991.

65 Vgl. dazu auch Birgitt Morgenbrod, „Träume in Nachbars Garten“. Das Wien-Bildim Deutschen Kaiserreich, in: Hübinger und Mommsen (Hg.), Intellektuelle, S.111–123. Sprengel und Streim, Berliner und Wiener Moderne, argumentieren mate-rialreich und zurecht, daß über alle zwischen den beiden Städten bestehenden so-ziokulturellen und -ökonomischen Unterschiede hinaus im zeitgenössischen Diskursum Auto- und Hetero-Stereotype herum eine lokalisierte Berliner und Wiener li-terarische Moderne konstruiert wurde, ohne die durchaus bestehenden Gemein-samkeiten in den Blick zu nehmen. Sie schießen damit m.E. aber übers Ziel, weil siedie gegenseitige Beeinflussung von Erfahrung und Konstruktion der Wirklichkeit zusehr ausblenden.

66 Die Fackel, Nr. 232–233, 16. 10 1907, S. 34.67 Die hier wiedergegebenen Aphorismen wurden von Karl Kraus zuerst in der

„Fackel“ und dann im 1912 erschienen Band „Pro domo et mundo“ unter dem Ab-schnitt „Von zwei Städten“ veröffentlicht. Hier sind sie nach Karl Kraus, Aphoris-men (Karl Kraus, Schriften 8), Frankfurt a. M. 1986, S. 257 ff. zitiert. Die Phase dereindeutigen Präferenz Kraus’ für die effiziente Großstadtmaschine Berlin war freilichnur kurz und kann im Zusammenhang mit dem dortigen Erscheinen der „Fackel“

370

G. Meißl

zwischen 1909 und 1911 gesehen werden, vgl. Sprengel und Streim, Berliner undWiener Moderne, 180 ff., S. 545 ff.

68 Vgl. dazu Jaques Le Rider, Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Kri-sen der Identität, Wien 1990, S. 32.

69 Dieser Satz weist m.E. bemerkenswerte Anklänge an neuere systemorientierte Er-kenntnis- und Sozialtheorien auf, denen zufolge sich aus Systemen autopoietischausdifferenzierende Subsysteme das Rahmensystem als Umwelt definieren. Vgl. da-zu etwa Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt a. M. 1984, sowie Volker Rie-gas/Christian Vetter (Hg.), Zur Biologie der Kognition. Ein Gespräch mit Humber-to R. Maturana und Beiträge zur Diskussion seines Werkes, Frankfurt a. M. 1990.

70 Egon Friedell, Ecce Poeta, Berlin 1912, S. 258 ff.71 Vgl. dazu Donald G. Daviau, Der Mann von übermorgen. Hermann Bahr 1863–

1934, Wien 1984, S. 32 f.72 Hermann Bahr, Wien, Stuttgart (1906).73 Abgesehen von der Zurückführung des Wienerischen auf Rassenspezifika befindet

sich Bahr mit maßgeblichen Punkten seiner Diagnose – den in Gegenreformationund Barock begründeten obrigkeitlichen Dispositionen, der Tendenz zu Weltfluchtund Schauspielerei, der Schwäche des Liberalismus und der Anfälligkeit für populi-stische Bewegungen – durchaus im Einklang mit der neueren Forschung, vgl. stell-vertretend etwa Schorske, Fin de siècle Vienna.

74 Die Rede vom „wirklichen Juden“ fand auch in zeitgenössischen jüdischenBemühungen – etwa von Martin Buber – eine Parallele, analog zu deutschen natio-nalistischen Konstruktionen die Kraft des ostjüdischen Volkstums zu betonen, vgl.dazu Bauman, Moderne, S. 168 ff. Servaes’ Interpretation der jüdischen Assimilati-on deckte sich mit der Bahrs nur teilweise und war – zum Unterschied etwa von sei-ner Sichtweise des slawischen Elements – vor allem positiv konnotiert: Er glaubte„nicht im mindesten daran, daß die Juden für das Wiener Volkstum bedrohlich sind.Im Gegenteil, grade den Juden gegenüber hat Wien die Festigkeit seiner Eigenartaufs glänzendste bewiesen. Es hat sie in solch hervorragendem Maße zu ‚Wienern‘gemacht, daß es daraufhin eigentlich beruhigt schlafen könnte. Das täte es vielleichtauch, wenn nicht grade die Juden ein äußerst wacherhaltendes Element wären –Gott sei Dank, füge ich aus aufrichtigem Herzen hinzu. … Ja, sie haben die WienerCharakterzüge, wie das in der Natur ihres Temperamentes liegt, oft leidenschaftlichin sich aufgenommen und stellen sie in prononziertester Form heraus. Vor allemaber sind sie gegen diese Stadt, in der sie doch recht viele Anfeindungen erdulden,von einer schwärmerischen Liebe erfüllt. … Gerade das Prononziert-Wienerischemancher Juden ist eigentlich schon unwienerisch.“ Servaes, Wien, S. 40 ff.

75 Bahr, Wien, S. 106 ff. Zu Kürnberger vgl. Andreas Wildhagen, Das politische Feuil-leton Ferdinand Kürnbergers. Themen und Technik einer literarischen Kleinform imZeitalter des deutschen Liberalismus in Österreich (Europäische Hochschulschrif-ten: Reihe 1, Deutsche Sprache und Lieteratur; Bd. 818), Frankfurt amMain/Bern/New York 1985, Karlheinz Rossbacher, Literatur und Liberalismus. ZurKultur der Ringstraßenzeit in Wien, Wien 1992. Die hier wiedergegebenen Zitatefolgen den noch vom Verfasser selbst besorgten und von Bahr benützten Sammel-ausgaben: Ferdinand Kürnberger, Siegelringe. Eine ausgewählte Sammlung politi-scher und kirchlicher Feuilletons, Hamburg 1874, S. 220 ff.; Ders., LiterarischeHerzenssachen. Reflexionen und Kritiken, Wien 1877, S. 322 ff.

371

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

76 Vgl. dazu Bauman, Moderne. Zur Kontrastierung Berlins und Wiens anhand vonGegensatzpaaren wie Ernst – Spiel, Rationalität – Sinnlichkeit, männlich – weib-lich vgl. Barbara Noth, Regionale Stereotypen in der Literatur und Theaterkritik, in:Sprengel und Streim, Berliner und Wiener Moderne, S. 215–243.

77 Die Abwertung der Kelten war hier zusätzlich aus dem Kontext des verschärftendeutsch-französischen Gegensatzes – der Text wurde am 16. 11. 1871 in der Berli-ner Börsen-Zeitung publiziert – gespeist.

78 Hier unterlief Bahr – war’s das Bedürfnis, noch hervorzuheben, wie unklar aufge-klärten Nichtösterreichern ein ihrer eigenen Kultur so fremdes Verhalten sein müß-te? – ein aufschlußreicher Übertragungsfehler: statt „unaufhörlichen“ schrieb er„unaufklärlichen“, und fügte kommentierend hinzu: „Weshalb es auch ein Unrechtist, Wien an europäischen Forderungen zu messen. Wer heisst euch hier Europa su-chen? Dann muss es euch freilich enttäuschen.“ Ebd. S. 114 f.

79 Vgl. dazu Allan Janik, Stephen Toulmin, Wittgensteins Wien, München und Wien1984; Wilhelm Lütterfels, Andreas Roser (Hg.), Der Konflikt der Lebensformen inWittgensteins Philosophie der Sprache, Frankfurt a. M. 1999.

80 Bahr, Wien, S. 67 f., S. 125.81 Julius Bab, Willi Handl, Wien und Berlin. Vergleichendes zur Kulturgeschichte der

beiden Haupstädte Mitteleuropas, Berlin 1918, Zitate S. 323.82 Für eine eingehende relationale Theoretisierung der Konstruktion von Zeit und

Raum in sozialen Prozessen und die von diesen Konstruktionen rückwirkendenStrukturierung des Sozialen vgl. David Harvey, Justice, Nature and the Geographyof Difference, Cambridge Ma. 1996, v. a. S. 207–326.

83 Bab/Handl, S. 264 ff.84 Ebda., S. 274 ff, S. 321.85 Fried, Wien–Berlin. Fried erhielt übrigens 1911 den Friedens-Nobelpreis.86 Es gehört zu den Paradoxa des Wiener Wegs in die Moderne, daß hier zur Illustra-

tion der Traditionalität Wiens ein Genre herangezogen wird, dessen Blüte in dieserStadt eigentlich auf ein Milieu moderner metropolitaner Urbanität und dessen iro-nisierende Distanzierung von der überkommenen Gesellschaftsformation zurückzu-führen war. Vgl. dazu Moritz Csaky, Ideologie der Operette und Wiener Moderne.Ein kulturhistorischer Essay zur österreichischen Identität, Wien Köln Weimar1996.

87 Neben zahlreichen weiteren Beispielen aus Alltag und Politik wurde auch wie bereitsin Saltens Polemik – und vermutlich daraus übernommen – die unterschiedlicheUmgangsweise mit Arbeiterdemonstrationen angeführt (siehe oben).

88 Emile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höhererGesellschaften, Frankfurt a. M., 2. Aufl. 1988.

89 Zahlreiche weitere Beispiele etwa in Sprengel und Streim, Berliner und Wiener Mo-derne, sowie Morgenbrod, Träume.

90 Vgl. dazu Ipsen, Raumbilder, S. 20 ff.; Stremmel, Modell, S. 3 ff.91 Vgl. dazu Anthony Giddens, The Consequences of Modernity, Cambridge 1990;

Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt a.M. 1994, Richard Münch, Dialektikder Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt a.M., 1991; ders., Globale Dynamik,lokale Lebenswelten, Frankfurt a.M. 1998, James R. Beniger, The Control Revolu-tion. Technological and Economic Origins of the Information Society, CambridgeMa. and London 1986.

92 Arbeiter-Zeitung, 5. 8. 1900.

372

G. Meißl

93 Zur Ausgleichung der teilweise starken jährlichen Schwankungen wurden für denZeitraum 1890– 1913 gleitende 5-Jahresschnitte errechnet, vgl. Statistisches Jahr-buch der Stadt Wien 1890 ff.

94 Einzig die beiden bis 1914 privat gebliebenen Bahngesellschaften, die Süd- und dieAspangbahn, liefern über den genannten Zeitraum Statistiken in einigermaßengleichbleibender Qualität, während die Angaben zu den staatlichen Bahnen in denJahren vor 1914 immer lückenhafter wurden. Die Datenlage läßt aber den Schlußzu, daß der allgemeine Trend in etwa dem der Südbahn entsprechen dürfte. Die reininnerstädtischen Verkehrsbewegungen wurden soweit wie möglich auszuschaltenversucht. Vgl. dazu Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1890 ff.

95 Zur Illustration ein weiteres Beispiel: Während zwischen 1905 und 1913 die Zahlder in den Wiener Stationen der Westbahn verkauften Fahrkarten von 2,917. 113auf 4,178.047, also um 43,2% anstieg, erhöhte sich im gleichen Zeitraum die Zahlder mit Luxuszügen nach Paris, Ostende, Konstanza oder Konstantinopel abgerei-sten Personen von 11. 178 auf 17. 172, d. h. um 53,6%.

96 Vgl. Stephen Kern, The culture of time and space 1880–1918, Cambridge Ma.1983, S. 12 ff. Noch 1908 vermerkte ein Wien-Führer, daß etwa Prag 7, Paris 551/2

und London 651/2 Minuten hinter der Wiener Ortszeit zurücklägen, dagegen Buda-pest 5 und Petersburg 551/2 Minuten davor, vgl. Eugen Guglia, Wien. Ein Führerdurch Stadt und Umgebung, Wien 1908, S. XIX.

97 Waentig, Bedeutung, S. 165.98 Vgl. dazu etwa Kern, Culture.99 Für Berlin und Paris Elfi Bendikat, Öffentliche Nahverkehrspolitik in Berlin und Pa-

ris 1890– 1914. Strukturbedingungen, politische Konzeptionen und Realisierungs-probleme (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 96), Berlin,New York 1999; vgl. dazu auch Capuzzo, Defeat. Für einen zeitgenössischen Ver-gleich der Vortrag von Karl Hochenegg „Vorschläge zur Verbesserung der WienerVerkehrsverhältnisse“ am 15. 1. 1910 und die daran anschließende Diskussion, do-kumentiert in: Zeitschrift des österr. Ingenieur- und Architektenvereins 62. Jg.(1910), Nr. 12 ff.

100 Vgl. zum folgenden Verwaltungs-Bericht der Gemeinde Wien – städtische Straßen-bahnen für das Jahr 1903 ff.

101 Die Entwicklung der städtischen Strassenbahnen im zehnjährigen Eigenbetriebeder Gemeinde Wien, Wien 1913, S. 136.

102 Verwaltungs-Bericht 1910, S. 7 f.; 1911, S. 7. Auf die öffentliche Kritik an dieserTaktik wandte die Straßenbahn-Verwaltung zurecht ein, daß damit immerhin dieplanmäßig vorgesehenen Fahrzeiten besser eingehalten würden.

103 Analoge Probleme mit der Umstellung auf die gesteigerte Geschwindigkeit derMassenverkehrsmittel, allerdings bei der U-Bahn, hatte die New Yorker Bevölke-rung, vgl. dazu Clifton Hood, Changing Perceptions of Public Space on the NewYork Rapid Transit System, in: Journal of Urban History, Vol. 22, Nr. 3, March1996, S. 314 ff.

104 Simmel, Großstädte, S. 193 f.105 Amtsblatt der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, 15. Jg., Nr. 55 v.

10. 7. 1906, S. 1420; Entwicklung der städtischen Strassenbahnen, S. 50.106 Die hier fahrende Dampftramway war noch nicht kommunalisiert und ist daher

hier nicht dargestellt.107 Entwicklung der städtischen Strassenbahnen, S. 55 ff.

373

Hierarchische oder heterarchische Stadt?

108 Vgl. Amtsblatt, 12. Jg., Nr. 39 v. 15. 5. 1903, S. 873.109 Statistischer Bericht über die volkswirthschaftlichen Zustände des Erzherzogthums

Österreich unter der Enns im Jahre 1890, Wien 1894, S. 7A.110 Österreichischer Metallarbeiter v. 13. 12. 1901, S. 5.111 Amtsblatt, 20. Jg., Nr. 19 v. 7. 3. 1911, S. 607.112 Amtsblatt, 15. Jg., Nr. 96 v. 30. 11. 1906, S. 2519. Erfaßt wurden 23 Betriebe mit

3. 473 Beschäftigten. Signifikanterweise lag in Betrieben mit überdurchschnitlichhohem Qualifikationsniveau der Beschäftigten wie AEG oder Waagner-Biro derEinpendler-Anteil bei nahezu vier Fünftel.

113 Für die Zeitpunkte der Streckeneröffnungen vgl. Walter Krobot, Josef Otto Slezak,Hans Sternhart, Straßenbahn in Wien – vorgestern und übermorgen, 2. überarb.Aufl. Wien 1983, S. 306f.

114 Amtsblatt, 19.Jg., Nr. 54 v. 8. 7. 1910, S. 1698.115 Amtsblatt, 22. Jg., Nr. 21 v. 14. 3. 1913, S. 843f.116 Vgl. dazu Feldbauer, S. 95 ff.117 Ausgewählt wurden die Firmen Brüder Kunz (Lebensmittel), Del-Ka, Humanic

(Schuhe, 1903 allerdings beide noch nicht existent), Singer (Nähmaschinen), Phi-lipp Haas (Teppiche), Coundé (Wäscherei) und Wiener Bank-Verein (Banken) mitden Adreßangaben der Jahrgänge 1904 und 1914, die jeweils den Stand zu Endedes Vorjahres verzeichnen, von Lehmanns Allgemeiner Wohnungsanzeiger nebstHandels- und Gewerbe-Adreßbuch für die k.k. Reichshaupt- und ResidenzstadtWien. Das Filialnetz der Brüder Kunz wurde nach 1911 nicht mehr ausgewiesen,die Karte von 1913 zeigt also den Stand Ende 1910.

118 Lehmann 1914, S. 1387, S. 1653.119 Vgl. Werner Michael Schwarz, Kino und Kinos in Wien. Eine Entwicklungsge-

schichte bis 1934, Wien 1992, S. 67 ff.120 Karl Mayreder, Stadtentwicklung, in: Wien am Anfang des XX. Jahrhunderts, 1.

Bd., S. 73.121 Vgl. etwa Fritz Steiner, Die Enquete, betreffend die Elektrisierung der Wiener

Stadtbahn, in: Zeitschrift des österr. Ingenieur- und Architekten-Vereines, 63. Jg.(1911), Nr. 8, 118–121; Capuzzo, Defeat, S. 33 ff.

122 Fried, S. 103 ff., Zitate S. 106.123 Vgl. dazu Die städtischen Elektrizitäts-Werke; Seliger/ Ucakar, Teil 2, S. 894 ff.124 Die Statistik vermerkt nur die ans öffentliche Netz angeschlossenen Motoren. Dar-

über hinaus hatten etliche, vor allem größere Betriebe ihre eigenen Kraftzentralen,durch die sie ihre Motoren autonom mit Strom versorgen konnten.

125 Als einzige der drei privaten Gesellschaften hatte die Allgemeine ÖsterreichischeElektrizitäts-Gesellschaft auch Unterstationen in den Außenbezirken, und zwar im17. und im 19. Bezirk.

126 Sie waren nicht nur, wie schon gesagt, bereits zum Teil durch private Unterstatio-nen versorgt, auch die städtischen Installationen konzentrierten sich vorrangig aufden 13., 18. und 19. Bezirk. Vgl. dazu Die Städtischen Elektrizitäts-Werke, S. 66ff. sowie Tafel IX:

127 Wien am Anfang des XX. Jahrhunderts, S. 241ff.128 Eugène Boeglin, Une capitale chrétienne sociale Vienne, Paris 1910, S. VII.129 Vgl. Meißl, Altväterisches Wien.130 Eduard Pötzl, Wiener Volksleben, in: Guglia, S. CXXXVIII.

374

G. Meißl

131 Nach dem Statistischen Jahrbuch der Stadt Wien von 1913 berechnet bei Seliger/Ucakar, Teil 2, S. 899.

132 Richard Sennet, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Inti-mität, Frankfurt/ Main 1983, S. 176 ff.

133 Zur Sozialstruktur der Bezirke vgl. Renate Banik-Schweitzer, Zur sozialräumlichenGliederung Wiens 1869–1934, Wien 1982.

134 Hier bin ich Wolfgang Maderthaner für Hinweise dankbar, vgl. in diesem Zusam-menhang auch den von ihm gemeinsam mit Lutz Musner verfaßten Beitrag in die-sem Band.

135 Alfred Deutsch-German, Wiener Mädel, Berlin o.J. (1905), S. 83.Vgl. dazu etwaauch Marsha L. Rozenblit, The Jews of Vienna, 1867– 1914: Assimilation andIdentity, Albany 1983, S. 74 ff.

136 Rozenblit, S. 13–45.137 Vgl. dazu etwa Banik-Schweitzer, Sozialräumliche Gliederung, S. 28 ff.; Feldbauer,

S. 166 ff.138 Die Varianz wurde von den Prozentwerten berechnet. Die mangelnde Vergleich-

barkeit der Varianzen unterschiedlich hoher Grundgesamtheiten ist damit ausge-schaltet.

139 Die Warenhäuser der Mariahilfer Straße wie Esders oder Gerngroß übernahmenteilweise die Rolle von Verlagszentralen für die Kleiderkonfektion, vgl. Meißl, Alt-väterisches Wien, S. 68 ff.

140 Ernest Gellner, Bedingungen der Freiheit. Die Zivilgesellschaft und ihre Rivalen,Stuttgart 1995, S. 106 ff.

141 Neues Wiener Tagblatt v. 11. 1. u. 12. 1. 1911.142 Reinhard E. Petermann, Wien im Zeitalter Kaiser Franz Josephs, Wien 1908, 143 Heinrich Nowak, Die Sonnenseuche. Das gesamte Werk (1912– 1920), Wien–Ber-

lin 1984, S. 13 ff.144 Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst, 4. Jg. (1914), H. 30, Zitat

S. 655. Allgemein zu den Wiener Expressionisten Sprengel/Streim, S. 563–617.145 Zum Konzept der Heterarchie vgl. Kyriakos Kontopoulos, The Logics of Social

Structure, Cambridge Ma. 1993, mit explizitem Verweis auf ein urbanes SystemS. 146.

375

Hierarchische oder heterarchische Stadt?