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    Inhaltsverzeichnis - Content - ndice

    2HiN V, 8 (2004) Humboldt im Netz

    Mit Artikeln von - With articles by - Con artculos de

    Joseph Gomsu

    Ilse Jahn

    Heinz Krumpel

    Renato G. Mazzolini

    M. A. Puig-Samper/Sandra Rebok

    Herausgeber:

    Prof. Dr. Eberhard KnoblochAlexander-von-Humboldt-Forschungsstel le der Berlin-Brandenburgischen Akademie der WissenschaftenJgerstrae 22/2310117 Berlin

    Herausgeber:

    Prof. Dr. Ottmar EtteUniversitt PotsdamInstitut fr RomanistikAm Neuen Palais 1014415 Potsdam

    Editorial Board:

    Dr. Ulrike LeitnerDr. Ingo Schwarz

    Advisory Board:

    Prof. Dr. Walther L. Bernecker, Dr. Frank Holl, Dr. Ilse Jahn, Prof. Dr. Gerhard Kortum,Prof. Dr. Heinz Krumpel, Dr. Miguel Angel Puig-Samper, Prof. Dr. Nicolaas A. Rupke, Prof. Dr. Michael Zeuske

    Technische Redaktion:

    Tobias [email protected]

    copyright by the authors

    HiN erscheint halbjhrlich im Rahmen des Internet-ProjektsAlexander von Humboldt im Netz

    Alexander von Humboldt in the Net

    Alexander von Humboldt en la Red

    der Universitt Potsdam und der Alexander-von-Humboldt Forschungsstelle

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    Inhaltsverzeichnis - Content - ndice

    3HiN V, 8 (2004) Humboldt im Netz

    Inhaltsverzeichnis

    Inhaltsverzeichnis ........................................................................................... 2

    Joseph Gomsu

    ber den Autor ................................................................................................ 5

    Alexander von Humboldts Umgang mit lokalem Wissen .......................... 6

    1. Einleitung .................................................................................................... 62. Kuhbaum-Episode ...................................................................................... 63. Curare-Episode ........................................................................................... 94. ber die Kunststraen der Inkas ................................................................ 13

    Endnoten ......................................................................................................... 16

    Ilse Jahn (Berlin)

    Zusammenfassung ......................................................................................... 18Abstract ........................................................................................................... 18ber die Autorin .............................................................................................. 18

    Vater einer groen Nachkommenschaft von Forschungsreisenden ...

    Ehrungen Alexander von Humboldts im Jahre 1869 ................................. 19

    1. Einleitung .................................................................................................... 192. Matthias Jacob Schleiden (1804-1881) ...................................................... 203. Emil du Bois-Reymond (1818-1896) ........................................................... 214. Charles Darwin (1809-1882) ....................................................................... 255. Literatur ....................................................................................................... 27

    Endnoten ......................................................................................................... 28

    Heinz Krumpel

    Zusammenfassung ......................................................................................... 29ber den Autor ................................................................................................ 29

    Acerca de la importancia intercultural de Herder ...................................... 30

    1. Introduccin ................................................................................................ 302a. En qu consiste el concepto de literatura y filosofa de Herder? ............ 302b. Cules son las consecuencias para su hermenutica?.......................... 322c. En qu se sustenta la actualidad del pensamiento social de Herder? .... 33Bibliografa ...................................................................................................... 35

    Endnoten ......................................................................................................... 36

    http://0.0.0.0/http://0.0.0.0/http://0.0.0.0/http://0.0.0.0/http://0.0.0.0/http://0.0.0.0/http://0.0.0.0/http://0.0.0.0/
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    4HiN V, 8 (2004) Humboldt im Netz

    Renato G. Mazzolini

    Zusammenfassung ......................................................................................... 37

    Abstract ........................................................................................................... 37Concerning the author .................................................................................... 37

    Bildnisse mit Berg: Goethe und Alexander von Humboldt ....................... 38

    1. Bildnisse mit Berg ....................................................................................... 382. Goethe und der Vesuv ................................................................................ 403. Alexander von Humboldt und der Chimborazo ........................................... 424. Goethe und Humboldt ................................................................................. 455. Goethe und Kolbe ....................................................................................... 486. Humboldt und Schrader .............................................................................. 497. Abschlieende berlegungen ..................................................................... 51

    Endnoten ......................................................................................................... 51

    Miguel ngel Puig-Samper/Sandra Rebok

    Zusammenfassung ......................................................................................... 56Abstract ........................................................................................................... 56Resumen......................................................................................................... 56ber den Autor (Miguel ngel Puig-Samper Mulero) ...................................... 57Sobre el autor (Miguel ngel Puig-Samper Mulero) ....................................... 57ber die Autorin (Sandra Rebok) .................................................................... 58

    Virtuti et merito.El reconocimiento oficial de Alexander von Humboldt en Espaa. ......... 59

    1. Humboldt, Correspondiente del Real Jardn Botnico ................................ 592. El nombramiento como Acadmico de Medicina ........................................ 603. Alejandro de Humboldt en la Academia de Ciencias .................................. 614. La Gran Cruz de la Real y Distinguida Orden Espaola de Carlos III ......... 625. Bibliografa .................................................................................................. 65

    Endnoten ......................................................................................................... 66

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    Humboldts Umgang mit lokalem Wissen (J. Gomsu)

    5HiN V, 8 (2004) Humboldt im Netz

    Alexander von Humboldts Umgang mit lokalem Wissen

    Joseph Gomsu

    ber den Autor

    Joseph Gomsu

    Joseph Gomsu, geboren 1954 in Kamerun, studierte Germanistik und Anglistik an den UniversittenAbidjan an der Elfenbeinkste und in Saarbrcken und promovierte 1982 in Metz ber die Rolle dertraditionellen Chefs in Kamerun whrend der deutschen Kolonialzeit. 1996 hat er sich an der UniversittHannover mit einer Schrift zum Thema Wohlfeile Fernstenliebe? Annherungsversuche derwestdeutschen Linken an die Dritte Welt habilitiert. 2002 kehrte er zurck an die Universitt Hannoverund lehrte hier ein Semester lang Literaturwissenschaft im Rahmen der Georg Forster-Professur frInterkulturelle Literaturwissenschaft.

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    Humboldts Umgang mit lokalem Wissen (J. Gomsu)

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    Alexander von Humboldts Umgang mit lokalem Wissen

    Joseph Gomsu

    1. Einleitung

    Von einer literarischen Perspektive ausgehend, entwickelt der kenianische Schriftsteller Ngugi wa Thiongo1993 in einem Essay die These einer Universalitt des lokalen Wissens.1 Da vertritt er den Standpunkt,dass jeder Erkenntnisprozess ein Fortschreiten vom Besonderen zum Allgemeinen sei. Dass ein Schrift-steller eine solche These vertritt, kann berhaupt nicht berraschend sein, da sein Schaffen ohne diepersnlichen, alltglichen Erfahrungen von Menschen, die seine Figuren sind, schwer denkbar wre.Der Erkenntnisprozess, so Ngugi, beginne mit der Beobachtung des Besonderen bzw. des Lokalen, nurvom Besonderen ausgehend, verstehe man, was das Allgemeine bzw. das Universale sei. Was als

    Allgemeines in der Erkenntnis die Form des Universalen annehmen knne, msse aber in der Praxis amBesonderen berprft werden. Am Erkenntnisprozess entwickelt Ngugi damit einleuchtend eine Dialek-tik des Besonderen bzw. Lokalen und des Allgemeinen bzw. Universalen (Globalen).

    Ngugis These von der Universalitt lokalen Wissens erinnert an Georg Forsters Auffassung in seinemEssay ber lokale und allgemeine Bildung, wonach die europische Aufklrung nichts Anderes als einephilosophische Beute des erforschten Erdrunds sei.2 Dass er sich als Reprsentant der gesamtenGattung fhlen und darstellen knne, verdanke der Europer einem Wissen, das er, so Forster, inauereuropischen Regionen gesammelt habe. Dieses lokale Wissen, so stellt sich Forster das in einerZukunftsvision vor, sollten die Bewohner dieser Regionen, mit dem Stempel der Allgemeinheit ausge-prgt, von Europa wieder zurck erhalten. Obwohl mit dem Salz der europischen Universalitt ge-wrzt, sollte das neue Wissen jedoch seinen Urhebern noch angemessen, es sollte ihnen erkennbarbleiben, denn Ziel des Universalisierungsprozesses sollte es nicht sein, die Menschen auerhalb Euro-pas in Europer zu verwandeln.

    Ich mchte hier diese berlegungen von Georg Forster und Ngugi wa Thiongo ber eine Universalittlokalen Wissens bzw. ber eine Dialektik von lokalem und allgemeinem Wissen aufgreifen, um in Alex-ander von Humboldts Bericht Reise in die quinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents,in seinenAn-sichten der Natursowie in seinen Tagebuchaufzeichnungen zu berprfen, wie er auf seiner Sdameri-ka-Reise auf das dort vorgefundene lokale Wissen reagiert hat. Das mchte ich an den BereichenBotanik, Chemie bzw. Medizin und Straenbau bzw. Bauwesen illustrieren, indem ich drei Episodenaus Humboldts Reisewerk analysiere; ich bezeichne sie als Kuhbaum-Episode, Curare-Episodeund alsEpisode ber die Kunststraen der Inkas.

    2. Kuhbaum-EpisodeIm Mrz 1800 sind Humboldt und Bonpland unterwegs von Puerto Cabello nach Valencia an der Kstevon Venezuela. Seit mehreren Wochen, so erzhlt Humboldt, hren sie von einem Baum sprechen,dessen Saft eine nhrende Milch sei. Dies halten sie zunchst fr eine etwas sonderbare Behauptung,die sich jedoch als wahr erweist. Die Indianer und die afrikanischen Sklaven nennen diesen Baum denKuhbaumoder auch den Milchbaum. Wenn man in dem Stamm des Baumes einen Einschnitt macht, soHumboldt, dann fliet reichlich eine klebrige, ziemlich dickflssige Milch heraus, die durchaus nichtsScharfes hat und sehr angenehm nach Balsam riecht.3 Humboldt teilt dem Leser seine persnlichenBeobachtungen vor Ort mit: Beim Sonnenaufgang strmt die vegetabilische Quelle am reichlichsten;dann kommen von allen Seiten die Schwarzen und die Eingeborenen mit groen Npfen herbei undfangen die Milch auf, die sofort an der Oberflche gelb und dick wird. Die einen trinken die Npfe unter

    dem Baum selbst aus, andere bringen sie ihren Kindern. (ReiseI, 678)

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    Was Humboldt in diesem wie in hnlichen Fllen tut, ist, eine eigene Erfahrung zu machen, um aufsicherer Grundlage darber berichten zu knnen. Aus diesem Grund kostet er die Milch und findet siezwar klebrig, aber sonst von angenehmem Geschmack und aromatischem Geruch. Er nimmt davon

    eine Probe, die er dem franzsischen Chemiker Fourcroy zur nheren Untersuchung nach Paris schickt.Dann geht er der Frage nach, was man bisher ber diesen Baum wisse, und gelangt zu der Auffassung,dass bis jetzt kein Botaniker dieses Gewchs kenne. Erst lange nach der Rckkehr nach Europa liest erin einer Publikation des Hollnders Laet ber Westindien, es gebe in der Provinz Cuman Bume,deren Saft geronnener Milch gleiche und ein gesundes Nahrungsmittel abgebe. (ReiseI, 679) Dasbedeutet, dass Indianer oder schwarze Sklaven diejenigen sind, die die Eigenschaften dieses Baumsentdeckt haben. Europische Wissenschaftler verdanken hier den Vertretern des Lokalen ihr Wissennicht nur ber den Kuhbaum, sondern berhaupt darber, dass Pflanzen Milch enthalten knnen. Eu-ropische Botaniker und Chemiker knnen jetzt von dieser Entdeckung der Einheimischen ausgehen,um ihre Arbeit weiterzufhren.

    Was das Wissen ber Pflanzen und ihre besonderen physischen Eigenschaften angeht, so konstatiert

    Humboldt: Lange bevordie Chemie im Bltenstaub, im berzug der Bltter und im weien Staub unse-rer Pflaumen und Trauben kleine Wachsteilchen entdeckte, verfertigten die Bewohner der Anden vonQuindo Kerzen aus der dicken Wachsschicht, welche den Stamm einer Palme berzieht. Vor wenigenJahrenwurde in Europa das Caseum, der Grundstoff des Kses, in der Mandelmilch entdeckt; aber seitJahrhundertenhlt man in den Gebirgen an der Kste von Venezuela die Milch eines Baumes und denKse, der sich in dieser vegetabilischen Milch absondert, fr ein gesundes Nahrungsmittel. (ReiseI,680f., Hervorhebung teils im Original, teils von mir J.G.)

    Humboldt beschrnkt sich hier nicht auf den Fall des Kuhbaums. Dieser wird vielmehr zum Auslsereines erweiterten Gedankenkreises, indem Humboldt sich damit auseinandersetzt, was man berhauptber die besonderen Eigenschaften von Pflanzen wei. So stellt er neben den Kuhbaum als weiteresBeispiel eine Palmenart, aus der die Peruaner Wachskerzen herstellen. Die Kenntnisse der Einheimi-schen, seien es nun Peruaner oder Venezuelaner, ber die besonderen physischen Eigenschaften derPalmenart und des Kuhbaums vergleicht Humboldt mit wissenschaftlichen Erkenntnissen der Europerund konstatiert, dass ein lokales Wissen in den von ihm bereisten Gegenden Sdamerikas einen zeitli-chen Vorsprung habe. Eine auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende Herstellung von Wachs-kerzen hat einen deutlichen Rckstand, was ebenfalls bezglich der pflanzlichen Milch gilt: Erst vorwenigen Jahren habe man in Europa den Grundstoff des Kses in der Mandelmilch entdeckt, whrendman in Venezuela die Baummilch und den Baumkse seit Jahrhunderten kennt. Diese Konfrontationvon lokalem Wissen und modernem europischen Wissen und die daraus resultierende Ungleichzeitig-keit stellen Humboldt vor ein Rtsel.

    Woher rhrt dieser seltsame Gang in der Entwicklung unserer Kenntnisse? Wie konnte das Volk auf dereinen Halbkugel etwas erkennen, was auf der anderen dem Scharfblick der Chemiker, die doch ge-whnt sind, die Natur zu befragen und sie auf ihrem geheimnisvollen Gang zu belauschen, so lange

    entgangen ist? Daher, da einige wenige Elemente und Prinzipien verschiedenartig kombiniert in meh-reren Pflanzenfamilien vorkommen; daher, da die Gattungen und Arten dieser natrlichen Familiennicht ber die quatoriale und die kalten und gemigten Zonen gleich verteilt sind; daher, da Vlker,die fast ganz von Pflanzenstoffen leben, vom Bedrfnis getrieben mehlige nhrende Stoffe berall fin-den, wo sie nur die Natur im Pflanzensaft, in Rinden, Wurzeln oder Frchten niedergelegt hat. (ReiseI,681, Hervorhebung von mir, J.G.)

    Humboldt hlt diese Ungleichzeitigkeit in der Entwicklung der Kenntnisse fr seltsam und fragt sich,wie es komme, dass so etwas wie die Baummilch so lange dem gewohnten Scharfblick des Chemikershabe entgehen knnen. Der Chemiker, der doch darauf spezialisiert ist, die Natur zu befragen, sie zubelauschen und in deren inneren Zusammenhang einzudringen, befindet sich trotz seiner Qualifikationund seines Scharfblicks im Rckstand. Humboldt versucht, eine Erklrung fr den Vorsprung des loka-

    len Wissens zu finden.

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    Seine drei Erklrungsversuche lassen sich durch einen Begriff zusammenfassen, den man als Geogra-phismus bezeichnen kann. Lokalverhltnissen wird eine entscheidende Rolle bei der geistigen wie phy-sischen Entwicklung des Menschen zugeschrieben. Es handelt sich hier um eine bis heute von vielen

    geteilte Meinung: Ngugi wa Thiongo schreibt in diesem Zusammenhang in seinem eingangs angefhr-ten Essay Die Universalitt regionalen Wissens: Kultur entwickelt sich in einem Prozess, in dem einVolk sich mit seinem natrlichen und sozialen Umfeld kmpferisch auseinandersetzt.4 In seinem Essayber lokale und allgemeine Bildungmisst auch Forster Lokalverhltnissen eine entscheidende Rollebei: Was der Mensch werden konnte, das ist er berall nach Maasgabe der Lokalverhltnissegewor-den.5 Ohne mit dem Geographismus alles erklren zu wollen, ist festzuhalten, dass Lokalverhltnisseeinen bedeutenden Einfluss auf die physische und geistige Beschaffenheit der Menschen haben kn-nen. Da jedes Volk ein ihm eigentmliches natrliches Umfeld hat, verfgt es demnach auch ber einihm spezifisches Wissen, das jedoch verallgemeinerbar sein kann.

    Die ungleiche Verteilung der Naturpflanzen fhrt in der Tat dazu, dass der Kuhbaum nur in einem be-stimmten Gebiet der Tropenzone wchst, whrend der Mandelbaum nur in der gemigten anzutreffen

    ist, was zu einer Ungleichzeitigkeit in der Entdeckung ihrer jeweiligen Eigenschaften fhren kann. Dennje nach dem, ob man in einer Situation der Not oder des Bedrfnisses ist oder nicht, wird man sichbemhen, nach besonderen Substanzen der Pflanzen zu suchen. Nach dem Motto Not macht erfinde-risch erklrt sich Humboldt und relativiert aber zugleich einen Wissensvorsprung des Lokalen und,umgekehrt, seinen mglichen Rckstand. Denn Lokalverhltnisse, die den einheimischen Indianernund Schwarzen im konkreten Fall ihren Vorsprung ermglichen, knnen auch dazu fhren, dass sie sichweniger anstrengen, um ihr Wissen zu erweitern. Die Segensflle der Natur, so Humboldt in derselbenEpisode, begnstige in den Tropenregionen die trge Sorglosigkeit der Menschen und verhindere dieEntwicklung seiner Geistesfhigkeiten. (682) Und noch deutlicher formuliert: Bei einer ppigen Vegeta-tion mit so unendlich mannigfaltigen Produkten bedarf es dringender Beweggrnde, soll der Menschsich der Arbeit ergeben, sich aus seinem Halbschlummer aufrtteln, seine Geistesfhigkeitenentwik-keln.6

    Humboldt lsst den Leser wissen, wie stark die Entdeckung der physischen Eigenschaften des Kuh-baums ihn beeindruckt habe; im Verlauf seiner Reise htten nur wenige Erscheinungen einen strkerenEindruck auf seine Einbildungskraft gemacht als diese durch Anschauung gewonnene Einsicht in dieNatur. Das Wissen der Einheimischen fhrt Humboldt ber die physikalische Erkenntnis der Gegenstn-de hinaus zu einem anderen Kreise von Vorstellungen und Empfindungen, nmlich zu berlegungennaturphilosophischer Art. In der Einleitung zum Kosmosvertritt er die These, dunkle Gefhle und dieVerkettung sinnlicher Anschauungen, wie spter die Ttigkeit der kombinierenden Vernunft leiteten zuder Erkenntnis, da ein gemeinsames, gesetzliches und darum ewiges Band die ganze lebendigeNatur umschlinge.7 Die Entdeckung der physischen Eigenschaften des Kuhbaums durch die Bewohnerder Kste Venezuelas bildet die empirische Grundlage dieser philosophischen Position. Bisher habeman geglaubt, nhrende Milch sei ein ausschlieliches Produkt des tierischen Organismus, und nunmsse man feststellen, dass physische Eigenschaften der tierischen und der vegetabilischen Stoffe im

    engsten Zusammenhang stnden. Nichts steht fr sich allein da; chemische Prinzipien, die, wie manglaubte, nur den Tieren zukommen, finden sich in den Gewchsen gleichfalls. Ein gemeinsames Bandumschlingt die ganze organische Natur. (ReiseI, 680, Hervorhebung von mir, J.G.) Das gemeinsameBand, das Humboldt spter in Kosmos zum Gesetz erhebt, verdankt er einem lokalen Wissen derSchwarzen und der Indianer in Venezuela.

    Humboldt ergnzt seine naturphilosophische berlegung durch eine sthetische und rundet damit dieKuhbaum-Episode ab. Jedes tiefere Eindringen in das innere Wesen der Naturkrfte und die Ergrn-dung allgemeiner Gesetze knnten dazu fhren, dass die Natur ihren Zauber, ihren Reiz einbe. EineMglichkeit, die Humboldt als Gefahr betrachtet. In der Kuhbaum-Episode seines Reiseberichts hegt ernoch diese Befrchtung: Die naturwissenschaftliche Untersuchung zeigt, da die physischen Eigen-schaften der tierischen und der pflanzlichen Stoffe im engsten Zusammenhang stehen; aber sie be-

    nimmt dem Gegenstand, der uns in Erstaunen setzte, den Anstrich des Wunderbaren, sie entkleidet ihnwohl auch zum Teil seines Reizes. (ReiseI, 680) Mit einem aber zeigt Humboldt an, dass er bedaure,

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    9HiN V, 8 (2004) Humboldt im Netz

    wenn die wissenschaftliche Arbeit dem Gegenstand den Anstrich des Wunderbaren nehme und ihnseines Reizes entkleide.

    Spter, im Kosmos, wird Humboldt diese Meinung entschieden revidieren: Ich kann daher der Besorg-

    nis nicht Raum geben,[...] da bei jedem Forschen in das innere Wesen der Krfte die Natur von ihremZauber, vom Reiz des Geheimnisvollen und Erhabenen verliere. (Kosmos I, 28) Wenn also bei derwissenschaftlichen Untersuchung der Gegenstand sein Wunderbares und seinen Reiz nicht verliert,dann heit das, dass ein lokales Wissen durch seine Verwissenschaftlichung auch nicht spurlos ver-schwinde. In Humboldts physischer Weltbeschreibung, in seiner Lehre vom Kosmos, vermag des-halb wissenschaftliches Wissen sich mit einem Naturgenuss zu verbinden und diesen sogar noch zuvermehren und zu veredeln. Ein in diesem Sinne aufgeklrter Naturgenuss bleibt aber fr Humboldtim Lokalen, im Besonderen verortet, deshalb ist es wichtig fr ihn, eine Wissenschaft zu betreiben, die -aller Universalitt zum Trotz - gerade die Lokalitt mit ihrem Wunderbaren, ihrem Reiz und ihremZauber respektiert und integriert.

    Der kenianische Schriftsteller Ngugi wa Thiongo schliet seinen schon zitierten Essay ber die Univer-

    salitt regionalen Wissens mit einem Gedanken, der ganz im Sinne dieser Humboldtschen Dialektik vonLokalitt und Globalitt ist: Regionales Wissen ist keine einsame Insel fr sich, es ist ein Teil der See,Teil des Meeres. Seine Grenzen liegen in der grenzenlosen Universalitt unseres kreativen Potentialsals Menschen.8

    3. Curare-Episode

    In dem Bericht ber die Fahrt auf dem Orinoko beginnt die Curare-Episode mit der Ankunft von Hum-boldt und Bonpland im Mai 1800 in der kleinen Mission Esmeralda. Humboldt berichtet ber die Rck-kehr der dort lebenden Indianer von einem Ausflug, bei dem sie die Frchte der Bertholletia (Juvias) unddie zur Bereitung des Curare-Giftes notwendige Schlingpflanze gesammelt haben. Mit den gesammel-

    ten Frchten der Bertholletia wird durch Grung ein Getrnk bereitet. Das Ereignis wird mit einer Fest-lichkeit begangen, die in der Mission Esmeralda la fiesta de las Juvias heit und die Humboldt mitunseren Ernte- und Weinlesefesten vergleicht.9 Whrend die meisten Bewohner des Ortes la fiestade las Juvias feiern, lernt Humboldt einen alten Indianer kennen, der dabei ist, das Curare-Gift zubereiten. Fr Humboldt und Bonpland ist das Treffen mit dem alten Indianer insofern ein Glcksfall, alsdas Curare den Europern damals zwar schon bekannt war, aber niemand bis dahin etwas Zuverlssi-ges ber dessen genaue Herkunft und Zubereitung hatte in Erfahrung bringen knnen.

    Humboldt berichtet: Esmeralda ist berhmt als der Ort, wo am besten am Orinoko das starke Giftbereitet wird, das im Krieg, zur Jagd, und was seltsam klingt, als Mittel gegen gastrische Beschwerdendient. [...] Das Glckwollte, da wir einen alten Indianer trafen, der [...] eben damit beschftigt war, dasCuraregift zu bereiten. Der Mann war der Chemiker des Ortes. Wir fanden bei ihm groe tnerne Pfan-nen zum Kochen der Pflanzensfte, flachere Gefe, die durch ihre groe Oberflche die Verdunstungfrdern, ttenfrmig aufgerollte Bananenbltter zum Durchseihen der mehr oder weniger faserige Sub-stanzen enthaltenden Flssigkeiten. Die grte Ordnung und Reinlichkeit herrschten in dieser als che-misches Laboratorium eingerichteten Htte. Der Indianer [...] heit in der Mission der Giftmeister;erhatte das steife Wesen und den pedantischen Ton, den man frher in Europa den Apothekern zumVorwurf machte. [...] (1180f., Hervorhebung teils im Original, teils von mir, J.G.)

    Humboldt beschreibt akribisch die fr die Herstellung des Giftes notwendigen Utensilien und machtAngaben ber deren Funktion. Den indianischen Giftmeister nennt er Chemiker des Ortes und seineHtte ein chemisches Laboratorium. Humboldts Begrifflichkeit stammt aus der europischen Wissen-schaftssprache, was fr mich Zeichen dafr ist, dass er den Indianer als Wissenstrger auf gleicherAugenhhe sieht und ihn durchaus ernst nimmt; durch die grte Ordnung und Reinlichkeit in seinemLaboratorium und dadurch, dass eine Htte speziell dafr eingerichtet wird, rechtfertigt der Indianer

    allerdings den Respekt von Humboldt. Durch die von Humboldt verwendeten Begriffe entsteht eine

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    Gegenberstellung von lokalem Naturwissen und europischem wissenschaftlichen Wissen. Humboldtvergleicht den indianischen Giftmeister mit dem Apotheker im frheren Europa: Sie haben aus seinerSicht etwas Gemeinsames, nmlich Geheimnis- und Wichtigtuerei.

    Der Giftmeister, der sich mit seinen europischen Gsten unterhlt, stellt selbst einen Vergleich anzwischen seiner Leistung und den Leistungen der Europer: Seine Kunst, Gift herzustellen, vergleicht ermit der Kunst des Europers, Seife und Pulver herzustellen. Im Gesprch mit Humboldt sagt er: Ichwei, die Weien verstehen die Kunst, Seife herzustellen und das schwarze Pulver, bei dem das bleist, da es Lrm macht und die Tiere verscheucht, wenn man sie verfehlt. Das Curare, dessen Bereitungbei uns vom Vater auf den Sohn bergeht, ist besser als alles, was ihr dort drben(ber dem Meere) zumachen wisst. Es ist der Saft einer Pflanze, der ganz leisettet (ohne da man wei, woher der Schukommt).10 Der Giftmeister ist nicht nur Trger eines Geheimwissens von der Natur, auch die Wirkungseines Wissens hat fr das Opfer, ob nun Wild (Jagd) oder Feind (Krieg), einen geheimnisvollen Cha-rakter: In beiden Fllen wisse das Opfer nicht, woher der Schuss komme.

    Die Besonderheit dieser Begegnung mit dem Giftmeister bei der Arbeit ist durch den damaligen Wis-

    sensstand begrndet. In einer zuvor eingeschobenen geschichtlichen Rckblende hlt Humboldt fest,dass bisherige Informationen entweder nur auf Hrensagen beruhten oder ihrem Wahrheitsgehalt nachVolksmrchen hnelten. Der englische Seefahrer Raleigh habe bereits Ende des sechzehnten Jahrhun-derts von einer Pflanzensubstanz gehrt, mit der man die Pfeile vergifte. Das, was Humboldt bei denMissionaren Gumila und Gili darber liest, vergleicht er mit Volksmrchen, da die dem Curare-Gift zuge-sprochenen Eigenschaften bertrieben scheinen und, wie er spter in seinem Bericht zeigen wird, einerwissenschaftlichen berprfung nicht standhalten knnen. Hinzu kommt, dass beide Missionare nichtbis in die Region gekommen seien, in der das Gift hergestellt werde. (ReiseII, 1180) Um die Behauptun-gen der genannten Missionare, die dem Gift eher fabelhafte Wirkungen zuschreiben, zu widerlegen,weist Humboldt auf die Versuche von Fontana hin, die bewiesen htten, dass die von einem hnlichenGift aus dem Amazonasgebiet entwickelten Dmpfe ohne Gefahr fr das Leben eingeatmet werdenknnten. Damit seien auch hnliche Behauptungen des franzsischen Naturforschers La Condaminegrndlich widerlegt. (ReiseII, 1183)

    Humboldt htte gern die Liane botanisch bestimmt, die zur Herstellung des Curare-Giftes gebrauchtwird. Er bringt jedoch nur so viel in Erfahrung, dass das Curare aus einer Liane hergestellt wird, dieBejuco de Mavacureheie und stlich von Esmeralda am linken Ufer des Orinoko zu finden sei. DiesePflanze hat er leider selbst nicht in der Natur gesehen, aber nach dem, was er bei dem alten indiani-schen Giftmeister gesehen hat, nimmt er an, dass es sich um ein Gewchs handele, das er vorher aneinem anderen Ort gesehen und untersucht habe und das zur Familie der Strychneen gehre. Einebotanische Bestimmung dieser Pflanze sei ihm insofern nicht mglich, als er auf seiner Reise derenBlte oder Frchte aus jahreszeitlichen Grnden nicht zu Gesicht bekommen knne. Humboldt bedau-ert, dass eine Art von Fatalitt wissenschaftlich sehr interessante Pflanzen der Untersuchung des Rei-senden entziehe, und dieser dadurch um die nhere Kenntnis von Gegenstnden gebracht wird, dienoch in anderer Hinsicht als nur fr die beschreibende Botanik von Bedeutung sind. (Reise II,1184)

    Diese Wissenslcke knnte aber leicht geschlossen werden, wenn ein europischer Reisender langegenug in den Tropen bleibe, um z.B. die Bltezeit jener Pflanzen zu erleben.

    Der alte Indianer weiht Humboldt und Bonpland in sein Naturwissen ein, was sich keineswegs von selbstversteht. Denn, so Humboldt weiter: ber der Geschichte der Gifte und Gegengifte liegt berall derSchleier des Geheimnisses. Ihre Herstellung ist bei den Wilden Monopol der Piaches, die zugleichPriester, Gaukler und rzte sind, und nur von in die Missionen versetzten Eingeborenen kann man berdiese rtselhaften Stoffe etwas Sicheres erfahren. (Reise II, 1190) Es ist also ein Privileg fr den Autorund seinen Begleiter, dem Herstellungsvorgang des Giftes beizuwohnen und in ein geheimes Wisseneingeweiht zu werden. Dass berall ein solches Wissen streng gehtetes Geheimnis ist, hat damit zutun, dass es mit Machtausbung verbunden ist: Als Priester oder als Arzt verfgt der Giftmeister ber dieMacht, die anderen Mitglieder seiner Gemeinschaft geistlich oder physiologisch zu beeinflussen. Ob-

    wohl der alte Indianer sein Geheimnis und damit einen Teil seiner Macht preisgibt, vergleicht Humboldt

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    ihn mit den Apothekern im frheren Europa. Das knnte man so verstehen, dass der Giftmeister inseinem Umgang mit Wissen sich eher auf einer vormodernen Stufe von Wissen befinde. Aber ich meine,Humboldt bezieht diese Aussage nicht unmittelbar und kritisch auf den alten Indianer, sondern er bringtdamit den Wunsch zum Ausdruck, dass Wissen ber solche Substanzen denjenigen freigegeben wird,

    die darber forschen mchten. Ein lokales Wissen sollte dem wissenschaftlichen Wissen zugefhrtwerden.

    Genauso akribisch wie die Utensilien und ihre Funktion beschreibt Humboldt die von dem indianischenGiftmeister durchgefhrte chemische Operation. Dieser Passus scheint mir interessant genug, ihn inaller Ausfhrlichkeit zu zitieren. Die chemische Operation, auf die der Meister des Curareso groesGewicht legte, schien uns sehr einfach. Das Schlinggewchs [...] heit hier Bejuco de Mavacure. [...]Der Mavacurewird ohne Unterschied frisch oder seit mehreren Wochen getrocknet verarbeitet. Derfrische Saft der Liane gilt nicht als giftig; vielleicht zeigt er sich nur wirksam, wenn er stark konzentriertist. Das furchtbare Gift ist in der Rinde und in einem Teil des Splints enthalten. Man schabt mit einemMesser 4-5 Linien dicke Mavacurezweige ab und zerstt die abgeschabte Rinde auf einem Stein, wieer zum Reiben des Maniokmehls dient, in ganz dnne Fasern. Da der giftige Saft gelb ist, so nimmt die

    ganze faserige Masse die nmliche Farbe an. Man bringt sie in einen neun 9 Zoll hohen, 4 Zoll weitenTrichter. Diesen Trichter strich der Giftmeister unter allen Gertschaften des indianischen Laboratori-ums am meisten heraus. Er fragte uns mehrmals, ob wir por all (dort drben, das heit in Europa)jemals etwas gesehen htten, das seinem Embudogleiche? Es war ein ttenfrmig aufgerolltes Bana-nenblatt, das in einer andern, strkeren Tte aus Palmblttern steckte. Die ganze Vorrichtung ruhte aufeinem Gestell von Blattstielen und Fruchtspindeln einer Palme. Man macht zuerst einen kalten Aufgu,indem man Wasser an den faserigen Stoff, die gestoene Rinde des Mavacure, giet. Mehrere Stundenlang kommt ein gelbliches Wasser Tropfen fr Tropfen durch den Filter des Embudo, des Blatttrichters.Dieses durchsickernde Wasser ist die giftige Flssigkeit; sie erhlt aber ihre Strke erst dadurch, daman sie wie die Melasse in einem groen tnernen Gef durch Verdunstung konzentriert. Der Indianerforderte uns von Zeit zu Zeit auf, die Flssigkeit zu kosten; nach dem mehr oder minder bitteren Ge-schmack beurteilt man, ob der Saft vom Feuer eingedickt genug ist. Dabei ist keine Gefahr, da dasCurare nur tdlich wirkt, wenn es unmittelbar mit dem Blut in Berhrung kommt. [...] Der noch so starkeingedickte Saft des Mavacure ist nicht dick genug, um an den Pfeilen zu haften. Also blo um dem GiftKrper zu geben, setzt man dem eingedickten Aufgu einen sehr klebrigen Pflanzensaft bei. [...] Sobaldder klebrige Saft [...] dem eingedickten, kochenden Giftsaft zugegossen wird, schwrzt sich dieser undgerinnt zu einer Masse von der Konsistenz des Teers oder eines dicken Sirups. Diese Masse ist dasCurare, wie es in den Handel kommt. (Reise II, 1182ff.)

    Eine mit wissenschaftlicher Przision vorgenommene Beschreibung, in der kaum Persnliches zumAusdruck kommt. Nur die Frage des alten Indianers, ob Humboldt und Bonpland in Europa etwasgesehen htten, was seinem Trichter gleiche, ruft die schon erwhnte Gegenberstellung zweier Wis-senshorizonte (des lokalen und des europischen) auf den Plan. Humboldt hlt die Herstellung desGiftes fr nicht besonders kompliziert, was vielleicht die Wichtigtuerei des Indianers relativieren soll,aber nicht mit einer Geringschtzung seines Wissens und seines Knnens zu verwechseln ist. Auf

    dieses Imponiergehabe des Indianers reagiert Humboldt nicht mit einem Gestus der berheblichkeitundakzeptiert die besondere Bedeutung, die der Indianer seinem Gert beimisst. Humboldt hlt denHerstellungsvorgang des Curare so genau und wissenschaftlich fest, dass jeder, der die Ingredienzienhtte, seinerseits in der Lage sein sollte, das Verfahren mit denselben Ergebnissen zu wiederholen.

    Ich interpretiere die detaillierte Beschreibung des Herstellungsvorgangs als einen Versuch Humboldts,den indianischen Giftmeister in seinem eigenen Sinne, das heit, in all seiner Lokalitt zu reprsentie-ren. Humboldt beschreibt ein experimentelles Knnen, das der Natur noch sehr nahe steht und ohneMessgerte und damit ohne Zahlen zu beachtlichen Ergebnissen kommt. Aus Erfahrung wei der Gift-meister, dass der frische Saft des Mavacure oder die Dmpfe des kochenden Saftes nicht giftig sind,und er fordert im weiteren Herstellungsvorgang Humboldt und Bonpland auf, den kochenden Saft zukosten. Je nach dem mehr oder weniger bitteren Geschmack kann bestimmt werden, ob der Saft kon-

    zentriert genug ist und ob er die gewnschte Strke hat. Dieses Wissen des Indianers, der aus Erfah-

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    rung und nach Gefhl operiert, stellt Humboldt nicht in Frage. Und weil er selbst jetzt seine eigeneErfahrung gemacht hat, kann er z.B. abstruse Behauptungen von Missionaren oder von La Condaminewiderlegen, wonach eingeatmete Dmpfe solcher Gifte gesundheitsschdigend oder gar tdlich seien.

    Im Sinne einer vollkommenen Reprsentation des lokalen Wissens geht Humboldt auf die Anwendungdes Curare ein. Das Naturwissen der indianischen Giftmeister wird volkswirtschaftlich verwertet. In ver-schiedenen Bereichen, die dem Leser mitgeteilt werden, spielt das Curare bei den Einheimischen einewichtige Rolle: Kriegfhrung, Ernhrung und Gesundheit knnen weitgehend davon abhngen. Wieeingangs erwhnt, vergiftet man Pfeile mit Curare, und mit den Pfeilen wird Krieg gefhrt oder wirdgejagt. Das Curare ist also im lokalen Kontext ein begehrter Handelsartikel. Humboldt unterstreicht inseinem Bericht diese wirtschaftliche Bedeutung, indem er auf das Herstellungsmonopol hinweist: DasCurare wird in den Frchten der Crescentia verkauft, da aber seine Herstellung in den Hnden wenigerFamilien liegt und an jedem Pfeile nur unendlich wenig Gift haftet, so ist das Curarebester Qualitt, dasvon Esmeralda und Mandavaca, sehr teuer. (ReiseII, 1184, Hervorhebung im Original)

    Wie Humboldt weiter berichtet, dient das Curare nicht nur zum Jagen, sondern auch zur Verfeinerung

    des Geschmacks von Fleischgerichten. Zur Illustration erzhlt er eine Anekdote von Pater Zea, einemspanischen Missionar, der sie eine Zeit lang auf der Orinoko-Reise begleitet und stets darauf bestandenhabe, Hhner mit einem vergifteten Pfeil zu tten, um dadurch die Fleischqualitt zu verbessern: AmOrinoko wird selten ein Huhn gegessen, das nicht durch einen Strich mit einem vergifteten Pfeil gettetworden wre; ja die Missionare behaupten, das Fleisch der Tiere sei nur dann gut, wenn man diesesMittel anwende. Unser Begleiter, der am dreitgigen Fieber leidende Pater Zea, lie sich jeden Morgeneinen Pfeil und das Huhn, das wir speisen sollten, lebend in seine Hngematte bringen. Er htte eineOperation, auf die er trotz seines gewohnten Schwchezustandes ein groes Gewicht legte, keinemanderen berlassen. (ReiseII, 1187) Humboldt verrt uns nicht, ob das mit dem Curare gettete Huhnihm besser geschmeckt habe oder nicht; wichtig ist aber, dass er und sein Begleiter sich daran schnellgewhnt zu haben scheinen. Furcht empfindet er nicht, zumal er zustzlich zur Gewhnung Nachden-ken fr wichtig hlt. Humboldt vertraut dem lokalen Wissen der Indianer, zieht aber darber hinaus einwissenschaftliches Experiment eines europischen Kollegen heran, das dieses lokale Wissen bestti-ge. Der franzsische Physiologe Magendie habe durch Versuche mit der Transfusion demonstriert,dass das Blut von Tieren, die mit ostindischen Giften gettet wurden, auf andere Tiere keine gesund-heitsschdigende Wirkung habe. (ReiseII, 1188)

    Jedes Heilmittel ist zunchst ein Gift, das erst durch die richtige Dosierung gegen Krankheiten wirkt. Sonimmt es nicht wunder, dass das Curare auch als Heilmittel Anwendung findet. Damit, so erfhrt derLeser im Verlauf der Episode, knnen kleine Tiere, die man lebend fangen will, betubt werden. Auchbei Menschen ist das Curare bei bestimmten Beschwerden einsetzbar: Bei den Indianern gilt das Cura-re, innerlich genommen, als treffliches Magenmittel, schreibt Humboldt. (ReiseII, 1185) Vor, aber auchnach der Einfhrung der Schulmedizin in auereuropischen Lndern hat das Wissen von den Heil-pflanzen, ber das diese Vlker verfgten, zur Heilung der dort vorkommenden Krankheiten beigetra-gen. Auch die beiden Reisenden profitieren von diesem lokalen medizinischen Wissen der Indianer, wie

    Humboldt an einer anderen Stelle seiner Reise in die quinoktial-Gegenden des Neuen Kontinentsmitteilt.11

    Humboldt schliet die Curare-Episode, indem er noch einmal unterstreicht, wie das Wissen dem india-nischen Giftmeister ein Selbstbewusstsein verleiht, das er den beiden Reisenden dadurch demonstriert,dass er die Herstellung des Curare noch ber die von den Europern beherrschte Kunst stellt, Seife zufabrizieren: Dem alten Indianer, dem Giftmeister, schien es zu schmeicheln, da wir ihm bei seinemLaborieren mit so groem Interessezusahen. Er fand uns so gescheit, da er nicht zweifelte, wir knn-ten Seife herstellen; diese Kunst erschien ihm, nach der Herstellung des Curare, als eine der schnstenErfindungen des menschlichen Geistes. Als das flssige Gift in die zu seiner Aufnahme bestimmtenGefe gegossen war, begleiteten wir den Indianer zum Juvias-Feste. (ReiseII, 1191, Hervorhebungteils im Original, teils von mir J.G.)

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    Man knnte fast sagen, dass Humboldt und sein Begleiter beim Giftmeister hospitiert und dabei gelernthaben, wie man Curare herstellt. Es geht Humboldt aber auch darum, ber das lokale Wissen hinausetwas fr das wissenschaftliche Wissen zu tun. Sein groes Interesse gilt der Zukunft der Wissenschaft:In der Zukunft wird die Untersuchung der Eigenschaften der Gifte der Neuen Welt eine schne Aufgabe

    fr Chemie und Physiologie sein, wenn man sich einmal bei strkerem Verkehr mit den Lndern, wo siehergestellt werden,[...] alle die Gifte verschaffen kann [...]. (ReiseII, 1189) Humboldt ist bemht, denGiftmeister bei seiner chemischen Operation in seinem Sinne bekannt zu machen und ihn dabei alswichtigen Wissenstrger ernst zu nehmen. Dessen lokales Wissen bildet eine Grundlage, auf der wis-senschaftliches Wissen aufbauen und durch Experimente vorangetrieben werden kann. Aus Sicht Hum-boldts soll die Wissenschaft dankbar dieses lokale Wissen aufnehmen.

    Nachdem Humboldt den Giftmeister und sein Wissen in ihrem lokalen Rahmen12 dargestellt hat, wendeter sich der Frage einer mglichen Verallgemeinerung, d.h. einem wissenschaftlichen Wissen zu. Das tuter auf zweierlei Weisen. Zunchst folgt auf die Erfahrung mit dem Giftmeister beim Herstellen des Cura-re der Versuch, hnliche Pflanzengifte aus anderen Regionen der spanischen und portugiesischen Ko-lonien Sd-Amerikas oder aus Asien heranzuziehen und sie mit dem Curare zu vergleichen. Ein Ver-

    gleich, der noch keinen endgltigen Schluss zulsst, d.h. noch zu keinem Gesetz fhrt. Humboldt hltfest, dass die Gifte von verschiedenen Pflanzen stammen und unterschiedlich zubereitet werden. 13

    Jedenfalls verknpft er den angestellten Vergleich mit der Hoffnung, dass in den verschiedenen Gift-pflanzen ein gemeinsamer Wirkstoff entdeckt werde: Vielleicht findet man einmal in Giftpflanzen ausverschiedenen Gattungen eine gemeinsame alkalische Basis, hnlich dem Morphium im Opium und derVauqueline in den Strychnosarten. (ReiseII, 1185)

    Nicht erst nach, sondern bereits whrend der Reise treten Humboldt und Bonpland in Kontakt mit ihrenChemikerkollegen, denen sie das Curare und andere Gifte aus Sdamerika zur nheren Untersuchunghaben zukommen lassen. Wir haben whrend unseres Aufenthalts in Amerika Curare vom Orinoko undBambusrohrstcke mit Gift der Ticunas und von Moyobamba den Chemikern Fourcroy und Vauquelinbersandt; wir haben ferner nach unserer Rckkehr Magendie und Delille, die mit den Giften der heienZone schne Versuche angestellt, Curare zukommen lassen [...] (1187). So arbeitet Humboldt im Sinneeiner sich verbreitenden modernen Wissenschaft, denn seine franzsischen Kollegen sind Spezialisten(Chemiker), die mit Experimenten das durch Erfahrung und Anschauung erworbene Wissen der indiani-schen Giftmeister besttigen oder auch widerlegen und so wissenschaftliche Fortschritte machen wer-den. Ganz exakt werden sie Molekle zhlen und Werte messen. Und so werden sie nach tiefererEinsicht in die verschiedenen Gifte zu einem Gesetz mit universaler Geltung kommen knnen.14

    4. ber die Kunststraen der Inkas

    Vor der spanischen Konquista existierten in Sdamerika auf der Grundlage lokalen Wissens hoch ent-wickelte Kulturen. Im weiteren Verlauf der Reise wird Humboldt mit den Ruinen der zerstrten Hochkul-turen der Inka und der Azteken konfrontiert. Dies gibt ihm Gelegenheit, ber das Wissen der altenPeruaner und dessen technische Umsetzung sowie ber die Verantwortlichen fr die Zerstrung nach-zudenken. In dem Essay Das Hochland von Cajamarcaaus denAnsichten der Naturkommt Humboldtauf die Kunststraen der Inkas und auf ihr Bewsserungssystem zu sprechen. Der ernste Eindruck,welchen die Wildnisse der Kordilleren hervorbringen, wird auf eine merkwrdige und unerwartete Weisedadurch vermehrt, da gerade noch in ihnen bewunderungswrdige Reste von der Kunststrae derInkas, von dem Riesenwerk sich erhalten haben, durch welches auf einer Lnge von mehr als 250geographischen Meilen alle Provinzen des Reiches in Verbindung gesetzt waren.15 Was Humboldtbewunderungswrdig findet, ist zweifelsohne das Genie dieses Volks, d.h. das Wissen, worber dieInkas verfgt haben mssen, um ein solches Riesenwerk zustande zu bringen. Beeindruckend nichtnur fr Humboldt, sondern auch fr den heutigen Leser ist die Lnge dieser das ganze Inka-Reichumspannenden Strae: 250 geographische Meilen sind umgerechnet 1855 km.

    Noch herrlichere Trmmer der altperuanischen Kunststraen haben wir auf dem Weg zwischen Loja

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    und dem Amazonenstrom bei den Bdern der Inkas auf dem Paramo de Chulucanas [...] gesehen. [...]Von den zwei Systemen gepflasterter, mit platten Steinen belegter, bisweilen sogar mit zementiertenKieseln berzogener (makadamisierter) Kunststraengingen die einen durch die weite und drre Ebe-ne zwischen Meeresufer und der Andenkette, die anderen auf dem Rcken der Kordilleren selbst. Mei-

    lensteine gaben oft die Entfernungin gleichen Abstnden an. Brcken dreierlei Art, steinerne, hlzerneoder Seilbrcken fhrten ber Bche und Abgrnde; Wasserleitungenzu den Tambos (Hotellerien) undfesten Burgen. [...] Da die Peruaner sich keines Fuhrwerks bedienten, die Kunststraen nur fr Truppen-marsch, Lasttrger und Scharen leicht bepackter Lamas bestimmt waren, so findet man sie bei dergroen Steilheit des Gebirges hier und da durch lange Reihen von Stufen unterbrochen, auf denenRuhepltze angebracht sind. (Das Hochland, 329, Hervorhebungen von mir, J.G.)

    Die Ruinen der Inka-Straen zeugen von einer groen Vielfalt im Umgang mit dem Baumaterial: malwaren die Straen bepflastert, mal mit platten Steinen belegt und manchmal sogar asphaltiert. Dazuwaren sie mit Meilensteinen versehen. Genauso wie beim Straenbau war ihre Technik beim Brcken-bau vielfltig: hlzerne, steinerne oder Seilbrcken fhrten ber Bche und Abgrnde. Wasserleitungenwaren nicht nur fr Hotels oder Burgen bestimmt, es gab ein ganzes Bewsserungssystem in den hei-

    en Kstenebenen, das fr die Felder bestimmt war. Es handelt sich im vorkolumbianischen Amerikaum eine Infrastruktur, die ihresgleichen sucht.

    Eine beschleunigte Entwicklung des Inka-Reichs wurde vor allem durch das Militr induziert. So mussdie technische Anwendung des Wissens im engsten Zusammenhang mit der militrischen Eroberunggesehen werden. Im altperuanischen Staat war diese technische Entwicklung bereits hnlich velozife-risch, wie Goethe eine durch die Erfordernisse schnellstmglicher Truppentransporte whrend der na-poleonischen Kriege induzierte Entwicklung in Europa genannt hat. Die Inka-Dynastie bentigte dieseSchnellstraen, um ihre Herrschaft ber das Reich zu erweitern und zu konsolidieren. Trotz seinerBewunderung fr die technischen Leistungen der Inkas unterstreicht Humboldt die mit dieser militri-schen Dimension bei der technischen Anwendung des Wissens einhergehende Unterdrckung derUntertanen: Unter dem despotischen Zentralisations-Systemder Inka-Herrschaft waren Sicherheit undSchnelligkeit der Kommunikation, besonders der Truppenbewegung ein wichtiges Regierungsbedrf-nis. (330, Hervorhebung von mir, J.G.)

    Der Vergleich gehrt zu den wichtigsten Arbeitsmethoden Humboldts. In seinem Selbstverstndnis alsReisender und Naturforscher ist der Vergleich insofern wichtig, als er ermglicht, in der Mannigfaltigkeitdie Einheit zu erkennen. So ist es nicht verwunderlich, dass er die Schnellstraen der Inkas mit hnli-chen Leistungen in Europa vergleicht. Was ich von den rmischen Kunststraen in Italien, dem sdli-chen Frankreich und Spanien gesehen, war nicht imposanter als diese Werke der alten Peruaner.(328f.) Humboldt zitiert den Konquistador Hernando Pizarro, einen der Zerstrer dieser Errungenschaf-ten, der einen hnlichen Vergleich angestellt habe und zu dem Schluss gekommen sei: In der ganzenChristenheit sind so herrliche Wege nirgends zu sehen als die, welche wir hierbewundern. (330, Her-vorhebung von mir, J.G.) Der Zerstrer ist merkwrdigerweise auch ein Bewunderer der eroberten Kul-tur: Warum zerstrt er dann das Bewunderte? Humboldt zitiert diese Aussage des Konquistadoren, um

    seinen eigenen Eindruck zu besttigen, aber er tut das vielleicht auch, um die Widersprchlichkeiten derEuroper zu zeigen, die nach der Zerstrung oder Vernichtung sich beeilen, Reservate einzurichten undMuseen zu bauen.

    Humboldts Vergleich wie der des spanischen Konquistadoren enthalten implizit die Frage, wie die Inkassolche technische Leistungen haben vollbringen knnen. Es ist die Frage, wie das dazu erforderlicheWissen berhaupt entstehen konnte. In seinem Essay fhrt Humboldt einen Chronisten der Konquistaan und zitiert seine explizite Frage: Sarmiento, der die Inka-Straen noch in ihrer ganzen Erhaltungsah, fragt sich in einer Relacion, [...] wie ein Volk ohne Gebrauch des Eisens in hohen Felsgegenden soprachtvolle Werke [...] von Cuzco nach Quito und von Cuzco nach der Kste von Chile habe vollendenknnen? Kaiser Karl, setzt er hinzu, wrde mit aller seiner Macht nicht einen Teil dessen schaffen, wasdas wohl eingerichtete Regiment der Inkas ber die gehorchenden Volksstmme vermchte. (330)

    Humboldt antwortet hier - wie in der Kuhbaum-Episode -, indem er auf den Einfluss der geographischen

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    Lokalverhltnisse und der lokalen Bedrfnisse hinweist: Wo durch Gestaltung des Bodens die Naturdem Menschen groartige Hindernisse zu berwinden darbietet, wchst mit dem Mut auch die Kraft.(330)16 Und zwar die Geisteskraft(d.h. das Wissen), muss man hinzufgen.

    Die Ruinen der Kunststraen wie andere Reste technischer Leistungen der alten Peruaner gehen nichtaus einem inneren Zusammenbruch hervor, sie sind das Resultat der Konquista. Nachdem die Konqui-stadoren diese Straen fr ihre eigenen Eroberungszwecke - schnelle Bewegung der Truppen - genutzthaben, haben sie sie zerstrt, was Humboldt ganz entschieden verurteilt. Im Essay Das Hochland vonCajamarcakommt diese Kritik kaum zur Sprache. Dagegen findet sich in den Tagebuchaufzeichnungeneine in schrfstem Ton formulierte Kritik an der Zerstrungswut der spanischen Konquistadoren: Diespanischen Eroberer unterhielten nicht nur die Kanle [Bewsserungskanle, J.G.] nicht, sondern zer-strten sie ebenso wie die Kunststraen des Inka. [...] Sie benehmen sich auerhalb ihrer eigenenLnder barbarisch wie Trken - schlimmer, weil sie noch fanatischer sind.17 Humboldt scheut sich nicht,den Spaniern den Vorwurf des Barbarentums zu machen. Besonders schlimm findet er die Tatsache,dass eine autonome, nicht aus der Verpflanzung europischer Wissenschaft und Technologie hervorge-gangene, sondern sich auf ein lokales Wissen grndende Kultur in ihrer Entwicklung so brutal gestoppt

    wurde. In seinem Tagebuch notiert er hierzu: Auerordentlich bemerkenswert in Cascas ist ein unge-heuer groer, viereckig behauener Stein von mehr als einhundertsechzig Kubikfu, der auf drei anderezylindrisch zugerichtete Steine aufgesetzt ist. Vorn hat er ein Loch. Das Ganze macht deutlich, wie diealten Peruaner ihre Bausteine bewegten. [...] Die Barbaren Westeuropas haben den Vorgang der Arbeitunterbrochen.18 Der letzte Satz des Zitats bezieht sich zwar auf die Arbeit an einer einzigen Baustelleder Inkas, macht aber auch deutlich, dass damit ein ganzer Entwicklungsprozess gemeint ist. Der ge-samte Entwicklungsprozess der Inka-Kultur, einer auf eigenen Fen stehenden und die eigenen geisti-gen Ressourcen mobilisierenden Kultur, wurde durch die Konquista abgebrochen. Humboldts Kritik ander Zerstrungswut der spanischen Konquistadoren lsst vermuten, dass er sich neben einer Entwick-lung europischer Prgung eine andere, auf lokalem Wissen basierende vorstellen konnte. Es handeltsich um eine Vorstellung von Moderne, die mglicherweise verschiedene Zentren gehabt htte.

    Die drei herangezogenen Episoden aus dem Reisewerk haben gezeigt, dass Alexander von Humboldtdas Wissen auereuropischer Regionen an lokale natrliche und kulturelle Bedingungen gebundensieht, es in seinem eigenen Sinne darstellt und gleichzeitig darum bemht ist, dieses Wissen so zuuniversalisieren, dass es, um mit der Metapher von Ngugi wa Thiongo zu sprechen, keine einsameInsel sei, sondern Teil des Meeres bleiben knne. In diesem Sinne stimme ich mit Leo KreutzersVorschlag berein, neben anderen Komposita wie Weltgesellschaft, Welthandel, Weltwirtschaft oderWeltliteratur auch von einer Weltwissenschaft zu sprechen. Dort wrde ein lokales Wissen nicht mehrals statisch und traditional im Gegensatz zu moderner Wissenschaft abgetan, vielmehr als dynamischin einer dialektischen Beziehung zu dieser stehend gesehen und behandelt.19

    * * *

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    Endnoten

    1 Ngugi wa Thiongo: Die Universalitt regionalen Wissens, in: ders. Moving the centre: Essays ber dieBefreiung afrikanischer Kulturen, aus dem Englischen bersetzt von Jrg Rademacher, Mnster 1995.

    S.46-50. Jrg Rademacher bersetzt jedoch die englischen Begriffe local und locality, die Ngugi inseinem Originaltext benutzt, durch regional bzw. Regionalitt. Ich werde demgegenber die deutschenBegriffe lokal und Lokalitt (Ortsgebundenheit) im Kontrast zu global und Globalitt beibehalten,wohlwissend, dass sie nicht in einem allzu engen Rahmen aufgefasst werden drfen.

    2 Vgl. Georg Forster: ber lokale und allgemeine Bildung, in: ders.: Kleine Schriften zu Kunst und Literatur,Georg Forsters Werke, Bd.7, Berlin 1963, S.45-56. Hier S.48f.

    3 Alexander von Humboldt: Reise in die quinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents, Bd.1, hg. von OttmarEtte, Frankfurt am Main 1991, S.677.

    4 Ngugi wa Thiongo: Die Universalitt regionalen Wissens, a.a.O., S.48.

    5 Forster: ber lokale und allgemeine Bildung, a.a.O., S.45. Hervorhebung von mir, J.G.

    6 Humboldt: Reise in die quinoktial-Gegenden, a.a.O., S. 685, Hervorhebung von mir, J.G. Sicherlich kanneine solche Erklrung denen Vorschub leisten, die die Bewohner auereuropischer Regionen immerschon fr faul und berhaupt fr Menschen zweiter Klasse gehalten haben.

    7 Alexander von Humboldt: Kosmos, hg. von Hanno Beck, Studienausgabe Bd. Darmstadt 1993, S. 17.Hervorhebung von mir, J.G.

    8 Ngugi wa Thiongo: Die Universalitt regionalen Wissens, a.a.O., S.50.

    9 Alexander von Humboldt: Reise in die quinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents, Bd.2, S.1181. Auchin: Humboldt: Die Wiederentdeckung der Neuen Welt, hg. von Knut Schfer, Mnchen 1992, S.153-155.Die Curare-Episode wird in der Reise in die quinoktial-Gegenden des Neuen Kontinentssehr ausfhrlicherzhlt. In den Tagebuchaufzeichnungen fllt sie ziemlich knapp aus. Meinen Ausfhrungen liegt der Berichtin Reise in die quinoktial-Gegenden zugrunde.

    10 Humboldt: Reise in die quinoktial-Gegenden, a.a.O., S.1181f., siehe auch ders.: Die Wiederentdeckung

    der Neuen Welt, a.a.O., S.154.

    11 Geplagt durch ein starkes, von einem unter die Haut dringenden Insekt verursachtes Jucken in denFingergelenken und auf dem Handrcken, mssen Humboldt und Bonpland in der Mission Javita dieDorfrztin, eine Mulattin, aufsuchen. Nachdem diese vergeblich versucht hat, die Insekten mit einemHolzsplitter herauszuholen, heilt sie am nchsten Tag ein Indianer radikal und schnell: Er brachte unseinen Zweig von einem Strauch, genannt Uzao, mit kleinen, [...] stark lederartigen und glnzenden Blttern.Er machte von der Rinde einen kalten Aufgu, der blulich aussah [...] und geschlagen starken Schaumergab. Auf einfaches Waschen mit dem Uzaowasser hrte das Jucken [...] auf. (Reise II, 1031) EinigeTage spter erlebt Humboldt, wie die Indianer mit dem Aufgu einer Wurzel (Raiz de Mato) jemandenretten, der von einer Natter gebissen wurde.

    12 Diese Fhigkeit Humboldts, Personen oder Dinge in ihrem lokalen Rahmen zu erfassen und zu beschreiben,hat Goethe sehr bewundert. In den Wahlverwandtschaftenlegt er Ottilie seinen Wunsch in den Mund: Nurder Naturforscher ist verehrungswert, der uns das Fremdeste, das Seltsamste, mit seiner Lokalitt, mit

    aller Nachbarschaft, jedesmal in dem eigensten Elemente zu schildern und darzustellen wei. Wie gernmchte ich nur einmal Humboldten erzhlen hren. J. W. Goethe: Die Wahlverwandtschaften, Zrich undStuttgart 1962, S.196.

    13 Humboldt beschreibt die Herstellung des Giftes von Moyobamba und meint, sie sei langwieriger undkomplizierter als die des Curare. (Reise II, 1186)

    14 Zu Humboldts Zeiten war eine Suche nach Wirkstoffen aus Pflanzen noch nicht so gewinnorientiert wieheute. Groe Pharmakonzerne nutzen das lokale Wissen der Menschen in auereuropischen Regionen,um schneller an die Wirkstoffe von Heilpflanzen zu kommen, die sie dann patentieren lassen. Man sprichtinzwischen von regelrechter Biopiraterie. Im dialektischen Sinne Humboldts sollte es stattdessen zueiner ebenbrtigen Zusammenarbeit zwischen lokalen Wissenstrgern und Forschern aus Europa kommen.

    15 Humboldt: Das Hochland von Cajamarca, in: Ansichten der Natur, hg. von Hanno Beck, StudienausgabeBd.4, Darmstadt 1989, S.328. Hervorhebung von mir, J.G.

    16 Humboldt ist mit diesem Chronisten in einem Punkt gewi nicht einverstanden: Was Sarmiento ein wohleingerichtetes Regiment nennt, ist fr ihn, wie bereits zitiert, ein despotisches Zentralisations-System.

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    Humboldts Umgang mit lokalem Wissen (J. Gomsu)

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    17 Humboldt: Die Wiederentdeckung der Neuen Welt, a. a. O., S. 337.

    18 Ebd., S.336. Hervorhebung von mir, J.G.

    19 Vgl. Leo Kreutzer: Die Lokalitt von Wissen und ihre Universalisierung bei Georg Forster und Alexandervon Humboldt, in: Weltengarten. Deutsch-Afrikanisches Jahrbuch fr Interkulturelles Denken, Hannover2003, S. 112-125.

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    Ehrungen Alexander von Humboldts im Jahre 1869 (I. Jahn)

    18HiN V, 8 (2004) Humboldt im Netz

    Vater einer groen Nachkommenschaft von Forschungsreisenden ...

    Ehrungen Alexander von Humboldts im Jahre 1869

    Ilse Jahn (Berlin)

    Zusammenfassung

    In Anknpfung an die Grndungsfeier des Naturwissenschaftlichen Vereins zu Magdeburg im Jahre1869, in der auch der 100. Geburtstag Alexander von Humboldts gefeiert wurde, werden die Ehrungendreier bedeutender Naturforscher des 19. Jahrhunderts fr ihren Frderer Alexander von Humboldtbehandelt: Matthias Jacob Schleiden, der 1842 Humboldt sein Lehrbuch Grundzge derwissenschaftlichen Botanik gewidmet hatte und dafr von ihm einen langen Dankesbrief bekam, hielt

    1869 in Dresden eine Gedenkrede. Emil du Bois-Reymond, dessen elektrobiologische Forschungendurch A. v. Humboldt mageblich gefrdert worden waren, ehrte 1883 die Brder Humboldt anllichder Enthllung ihrer Denkmler vor der Berliner Universitt mit einer Rede. Charles Darwin, der durchHumboldts Reisebeschreibung zu seiner Weltreise inspiriert worden war, sandte ihm 1839 seinen eigenenReisebericht und erhielt einen bemerkenswerten Dankesbrief. Anhand von Originalbriefen wird dieBedeutung der drei Naturforscher fr den Beginn der neuen naturwissenschaftlichen Epoche im 19.Jahrhundert illustriert, fr die die Grndung des Naturwissenschaftlichen Vereins charakteristisch war.

    Abstract

    In 1869 the Naturwissenschaftlicher Verein was founded in Magdeburg (Saxony Anhalt). That was thetime when the scientific world celebrated Alexander von Humboldts 100th birthday. In this context,

    Humboldts achievements were remembered during the founding ceremony of that society. The paperwhich was read in September 2003 on a meeting of this organisation, focuses on three famous naturalistswho celebrated Humboldt because they owed him much help in their own professional careers. Thebotanist Matthias Jacob Schleiden gave a memorial speech in 1869 in Dresden. The physiologist andpioneer of electro-biology Emil du Bois-Reymond honoured his mentor A. v. Humboldt on the occasionof the dedication of the statues of Wilhelm and Alexander in 1883 in Berlin. Charles Darwin expressedhis gratitude to Humboldt by sending him in 1839 the report of his travels and received an interestingreply. These three scholars represented a new epoch in the development of the natural sciences. Thepaper includes a recently re-discovered letter from Humboldt to Schleiden, dated April 13, 1842.

    ber die Autorin

    Ilse Jahn

    Ilse Jahn, geb. Trommer, wurde 1922 in Chemnitz geboren; sie studierte 1941-1942 und heiratete 1942Dr. Wilhelm Jahn, der im April 1945 in Ruland starb. Nach der Geburt der Tochter Isolde (1943) arbeitetesie als Kunstmalerin in Chemnitz, setzte dann 1952-1956 in Jena das Biologiestudium fort und war nachdem Diplom zunchst Assistentin am Ernst-Haeckel-Haus in Jena. Nach der Promotion (Jena 1963)arbeitete sie 1962-1967 an der Alexander-von-Humboldt-Briefedition der Deutschen Akademie derWissenschaften zu Berlin und 1967-1982 als Kustos am Museum fr Naturkunde der Humboldt-Universitt,wo sie sich 1979 habilitierte und 1980 Dozentin fr Museologie wurde. Hauptarbeitsgebiet, das auch imRuhestand seit 1982 gepflegt wird, ist die Geschichte der Biologie, ber die mehrere Schriften erschienen,u.a. Dem Leben auf der Spur. Die biologischen Forschungen Alexander von Humboldts (Leipzig, Jena,

    Berlin 1969), Grundzge der Biologiegeschichte (Jena 1990).

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    Ehrungen Alexander von Humboldts im Jahre 1869 (I. Jahn)

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    Vater einer groen Nachkommenschaft von Forschungsreisenden ...

    Ehrungen Alexander von Humboldts im Jahre 1869

    Ilse Jahn (Berlin)1

    1. Einleitung

    Als im Jahre 1869 an vielen Orten der Welt Alexander von Humboldts einhundertstes Geburtsjubilumgefeiert wurde, versammelten sich die Magdeburger Naturforscher, um einen Verein zu grnden, derbemerkenswerterweise den Namen Naturwissenschaftlicher Verein erhielt. Diese Benennung istkennzeichnend fr das Programm der Naturforscher in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts. Es warnicht mehr Naturkunde oder Naturgeschichte, also deskriptive Naturforschung, die im Mittelpunktdes Interesses stand, sondern die Suche nach Naturgesetzen, die von der Mitte des 19. Jahrhundertsdie Naturforschung bestimmte und die als Naturwissenschaft definiert wurde.

    Das kommt in der Festrede zur Grndungsfeier im Jahre 1869 zum Ausdruck, in der Georg Gerlandsagte:

    Im Leben [] steht nichts allein: in der Wirklichkeit hngt jedes Ding mit jedem anderndurch tausend Fden zusammen, welche sich dem gewhnlichen Blick meist ganz entziehen,der Wissenschaft aber, da sie ja doch den Zusammenhang, den Grund der Dinge erforschenwill, sich nicht entziehen drfen. Allein auch das schrfste Auge menschlicher Art, wieknnte es alle diese Fden sehen! Und so ist menschlicher Beschrnktheit wegen dieWissenschaft gezwungen, ihr Gebiet in lauter einzelne Felder abzutheilen und jedemForscher seine Specialarbeit anzuweisen, die um so specieller ausfallen wird, je reichlicher

    die Kenntnisse sich mehren. Wer aber bersieht die Gefahr, welche hier liegt? (Gerland1869, S. 19-20.)

    So ist diese Zeit durch die Grndung zahlreicher naturwissenschaftlicher Spezialgesellschaften in Deutsch-land gekennzeichnet:

    Die Physikalische Gesellschaft (1845),die Geologische Gesellschaft (1848),die Ornithologische Gesellschaft (1850),die Entomologische Gesellschaft (1856),die Chemische Gesellschaft (1867),die Botanische Gesellschaft (1882),die Zoologische Gesellschaft (1890).

    Georg Gerland feierte Alexander von Humboldt als ein ideales Vorbild dessen, was Noth thut. Er besaeine seltene Totalitt [...](Gerland 1869, S. 210) trotz all seiner einzelnen Spezialstudien, ber dieHumboldt in der Vorrede zu seinem Kosmos 1845 selbst sagte:

    Wenn durch uere Lebensverhltnisse und durch einen unwiderstehlichen Drang nachverschiedenartigem Wissen ich veranlat worden bin, mich mehrere Jahre und scheinbarausschlielich mit einzelnen Disziplinen: mit beschreibender Botanik, mit Geognosie,Chemie, astronomischen Ortsbestimmungen und Erdmagnetismus als Vorbereitung zu einergroen Reise-Expedition zu beschftigen; so war doch immer der eigentliche Zweck desErlernens ein hherer. Was mir den Hauptantrieb gewhrte, war das Bestreben, dieErscheinungen der krperlichen Dinge in ihrem allgemeinen Zusammenhange, die Naturals ein durch innere Krfte bewegtes und belebtes Ganzes aufzufassen. (Humboldt 1845,S. V-VI.)

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    In seiner Zusammenfassung wies Gerland auf Humboldts Vielseitigkeit hin:Beschftigte ihn die Geologie und Bergwissenschaft vorzglich, fr die er ja auch praktischthtig war: so schlo sich doch sehr eng die Botanik und bald auch die Zoologie oderbesser Physiologie und Anatomie der Thiere und Pflanzen an; Physik und Chemie betrieb

    er gleichfalls eifrig, wie die Schriften seiner ersten Zeit beweisen und da ihmnaturphilosophische Betrachtungen nicht fern standen, zeigt der schne Aufsatz derrhodische Genius, welcher 1795 in Schillers Horen erschien. (Gerland 1869, S. 12.)

    Mit diesen Worten umri der Festredner Humboldts Arbeiten vor 1800, woran sich dann jene groeReise 1799-1804 anschlo, die seinen Namen durch ganz Europa bekanntmachen sollte und durchausbleibenden klassischen Werth hat. (Gerland 1869, S. 12.)

    Unter dem Stern von Humboldts Namen und seines Werkes wurde der Naturwissenschaftliche Vereinin Magdeburg 1869 begrndet, und er hatte gewi wie auch andere lokale Vereine in dieser Zeit dieAufgabe, viele einzelne Fachgebiete und Interessenten zur Kommunikation zusammenzufhren unddadurch in der Gemeinschaft zu erreichen, was der Einzelne nicht mehr leisten konnte.

    Die neue Naturwissenschaft war kausalforschend, suchte nach Ursachen und Gesetzen auch in derBiologie ( mein Fachgebiet) und ist an Namen geknpft, die den Entwicklungsgedanken und dasExperiment ins Zentrum der Forschung rckten. Ich werde deshalb heute das Wirken Alexander vonHumboldts exemplarisch im Spiegel von drei Vertretern der neuen Naturwissenschaften darstellen, dieihn nicht nur persnlich kannten, sondern ihre Laufbahn zwischen 1830 und 1850 wesentlich Humboldtverdankten und das auch zu seinem Geburtsjubilum 1869 zum Ausdruck brachten.

    2. Matthias Jacob Schleiden (1804-1881)

    Zehn Jahre nach seinem Tod war Humboldts Name und sein Werk in Deutschland (damals kein

    einheitliches Reich) noch allenthalben lebendig, und auf der Suche nach der Beschreibung weitererFeiern fiel mein Auge zunchst auf Dresden, wo die Gesellschaft Isis eine groe Gedenkfeierveranstaltete (vgl. Scholz 2001).

    Das Besondere an dieser Feier ist der Umstand, da die Festrede ein damals ebenso bekannterNaturforscher hielt, einer jener Vertreter, ja Mitbegrnder der neuen naturwissenschaftlichen Richtungenin der Naturforschung: Matthias Jacob Schleiden. Schleiden, der die Zellentheorie angeregt hatte unddurch sein Lehrbuch ber induktive Botanik fr die zweite Hlfte des 19. Jh. die naturwissenschaftlicheMethode auch in der Biologie durchsetzte, betonte aber trotz allem auch immer wieder : Es gibt nur EineNatur und Eine Wissenschaft von derselben!

    Seine wichtigen mikroskopischen Pflanzenstudien ber die Entwicklungsgeschichte der Bltenpflanzen(1837, 1838) und die erste Konzeption seines entscheidenden Lehrbuches Grundzge derwissenschaftlichen Botanik (1842) entstanden etwa 1836-40 in Berlin, gleichsam unter den AugenAlexander von Humboldts, dessen Empfehlung er auch seine Universittslaufbahn in Jena verdankte.So widmete Schleiden ihm sein Lehrbuch ber induktive Botanik (Schleiden 1842/1843), mit dem sichdie neue naturwissenschaftliche Methode in Deutschland rasch verbreitete.

    Auf diese Widmung antwortete Alexander von Humboldt mit einem zwei Seiten langen Brief (Kohut1904/05, S. 326-327), dessen Original ich im August 2003 in Aarhus, Dnemark, wiederentdeckte.

    Er ist so aufschlureich fr Humboldts Art und Weise, mit jngeren Wissenschaftlern zu verkehren undihre Schriften treffend zu analysieren, berhaupt, zeitgenssische Literatur zu rezipieren, und darberhinaus in leicht spttischem Ton seine Kritik an Schleidens polemischem Stil einzuflechten. da ich denBrief hier (nach der Handschrift) zitieren mchte:

    Wenn ich gleich noch nicht allen Genu mir habe schaffen knnen, den Ihre geistvolleSchrift in einem so hohen Grade gewhren kann, so eile ich doch schon, teurester Herr

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    Professor Ihnen meinen freundlichsten Dank fr Ihre mich ehrende Zueignung darzubringen.Dieser Beweis Ihres Wohlwollens musste mich berraschen. Was ich in vorweltlicher Zeitgeleitet und angeregt, gehrt zur mythischen Geschichte Ihrer Wissenschaft. Wenn mandie Unvorsicht hat 72 Jahr alt zu werden, mu einem auch der Muth nicht fehlen, sich

    lngst litterarisch vergraben zu wissen. Dieser Muth nun aber ist in mir der heiteren Stimmungzugesellt eines lebendigen Antheils an dem Treiben einer neueren Generation[,] an denerfreulichen Fortschritten einzelner Theile der Pflanzenphysiologie, an dem neuen Glaubender den lteren verdrngt. Bei der genauen Kenntni, die ich von Ihren treflichen Arbeitenmir zu erwerben gesucht habe, wnschte ich das Verdienst mir zueignen zu drfen, mitdazu beigetragen zu haben einen Mann Ihres Talents und Ihres krftigen Willens derNaturwissenschaft gewonnen zu haben. Was Sie ber den status adultus der Thiere, berdie ewige Gestaltvernderung der Pflanze p. 23-33 sagen, gegen die allgemeineSaftcirkulation p. 66 und 283, ber Cytoblasten und Ghrungspilze p. 197 und 191, von dersogenannten Unbefangenheit unwissender Beobachter p. 138, ber das Leben derPflanzenzelle p. 190-289 ist vortreflich. Da ich dem grausamen Cellularsystem derphilantropisirenden Gefngni-Philosophie sehr entgegen bin, so gab es auch eine Epoche,

    in der ich von der so berhandnehmenden Domination der Zellenbotanik eine gleicheEinkerkerung frchtete. Meine Besorgni ist geschwunden, in Ihren Ansichten finde ich dieMannichfaltigkeit des Formen-Lebens wieder ohne welche mir die Natur ein polydrischerstarrtes Agregat von Lamellen wird. Ich kenne keine Schrift, theurester Herr Professor inder die vitalen Fragen der Wissenschaft mit solcher Vollstndigkeit, mit so ernstemScharfsinn, mit so vielumfassender Naturkenntni [2] behandelt worden sind. Das WortErnst hat sich nicht umsonst in das Lob eingeschlichen, das ich Ihnen so gern und seitvielen Jahren zolle. Ihre Liebe Wahrheitsgefhl hlt Sie gewi von aller Katzenpftigkeit(p. 98) ab, die Feigheit der moralischen Lumpen (p. 91) ist Ihnen unertrglich, aber IhreWahrheitsliebe giebt Ihren Schriften auch die Form eines blutigen Feldzuges. Irrthmerund abweichende Meinungen stellen sich Ihnen stets als Nachtgestalten der Lge undbsartigen Truges dar; Meyen und Corda sind Ihre Hausdmonen; und einer derausgezeichnetsten Chemiker unseres Zeitalters, Liebig, ist unsinnig und unverschmt (p.XVII, 15, 175) wenn er nicht albern (p. 182) ist.2 Ob Sie mir die Heiterkeit meiner Citateverzeihen werden? Sie sehen, ich zhle die Verwundeten auf dem Schlachtfelde, unternehmeaber nicht die Heilung der Schwer-Verwundeten. Mge die anmuthige Landschaft, die hinterIhren gespensterartigen Jenaer Kalkbergen liegt, mge ein reger Kreis von Menschen, diewie ich, die herrlichen Anlagen und Krfte Ihrer geistigen Natur zu schzen wissen Siefrhlicher stimmen, Ihnen milde Lfte zuwehen.

    Mit der ausgezeichnetsten Hochachtung und freundschaftlicher Ergebenheit

    Ew. WohlgeborengehorsamsterAl Humboldt

    Berlin, den 13 April 1842

    Meine innige Verehrung dem Herrn Hofrath Fries und wenn Sie ihr nahe treten dergeistreichen Frau von Wollzogen.

    Zu der Zeit, als Schleidens Lehrbuch erschien und Humboldt diesen Brief schrieb, hatte der preuischeGelehrte schon 15 Jahre lang sein segensreiches Wirken in Berlin entfaltet, das auch in der Frderungdeutscher Naturforscher lag.

    Auf diese Ttigkeit, die der Herausgabe seines Reisewerkes in Paris (1807-1827) folgte, geht Schleidenin seiner Festrede 1869 besonders ein, als er die ffentlichen Vortrge 1827-28 in Berlin, die sogenanntenKosmos-Vortrge, als besondere Leistung erwhnte.

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    Wie Georg Gerland, schilderte Schleiden ausfhrlich Humboldts Leben und Werk. Seine Bewunderungfr Humboldt gipfelte in der Betonung

    der ihm eigenthmlichen wissenschaftlichen Methode, durch welche er eben so Groesgeleistet hat, und die durch ihn in die neuere wissenschaftliche Thtigkeit eingebrgert

    worden ist. Man hat sie wol die vergleichende Methode genannt, ich mchte den Ausdruckcombinatorische Methode vorziehen. Die Fhigkeit, bei jeder Beobachtung, bei jedemGedanken gleichsam die ganze Reihe aller Erscheinungen in der ganzen Welt zudurchlaufen, um zu sehen, nach welchen hin eine geistige Brcke etwa zu schlagen, obund wie sie miteinander in Beziehung zu setzen seien, setzt offenbar nicht nur einenunerschpflichen Schatz des Aufgefaten und Treubewahrten, sondern auch die Fhigkeitvoraus, die Einzelheiten jeden Augenblick durch den leichtesten Ansto wieder in denVorgrund der Seele zu rufen, um sie auf ihre Verbindbarkeit mit jener Beobachtung oderjenem Gedanken zu prfen. Nur dadurch war er im Stande, die folgenschwerenVerknpfungen zwischen scheinbar einander fern liegenden Wissensgebieten zu findenund durchzufhren [...]. (Schleiden 1869, S. 491.)

    Whrend nun Gerland in jener Erffnungsrede zwar auch hervorhob, wie Humboldt durch sein Wissenstets mit wrmster Liebe zur ffentlichen Thtigkeit gedrngt wurde, (Gerland 1869, S. 25) so bemerkter doch auch, da seine Schriften nicht eigentlich populr seien und selbst seine gedruckten ffentlichenVortrge in den Ansichten der Natur dem meistgelesenen Buch -. (vgl. Leitner und Fiedler 2000)keine leichte Lectre fr die gresten Kreise waren. (Gerland 1869, S. 6.) Schleiden dagegen betonte:

    Er [Humboldt] hie die Wissenschaft heraustreten aus ihrer Zelle und lehrte sie eine Sprache,durch welche sie sich auch andern vernnftigen Menschen verstndlich mittheilen konnte.Mit seinen Ansichten der Natur, mit seinen ffentlichen Vorlesungen in Berlin gab er denersten Ansto und zugleich das edelste Beispiel zu dem wahren Popularisiren derWissenschaft, das sehr wohl ohne Trivialitt und Verwsserung bestehen kann. [] Eineganze umfassende, frher nicht gekannte Literatur hat sich aus dieser Quelle ergossenund ein Feld zu ungemein segensreicher Thtigkeit ist dadurch den Mnnern derWissenschaft in den ffentlichen Vorlesungen aufgeschlossen worden. Humboldt hat dieWissenschaft ins Volk bergefhrt und vieles, was noch vor hundert Jahren nur die Gelehrtenwuten, wei jetzt jeder Handwerker und lesende Bauer. (Schleiden 1869, S.486.)

    Als Schleiden diese seine Festrede in der Revue Unsere Zeit drucken lie, konnte er schon von weiterenHumboldtfeiern berichten, wobei er auch Magdeburg erwhnt:

    In Dresden hatten die meisten Schulen eine Frhfeier veranstaltet [...] Elf wissenschaftlicheVereine waren zu einer solennen Feier zusammengetreten, die in den festlich geschmcktenund mit der Bste Humboldts gezierten Slen der Societt stattfand. [...] In mehr oderweniger gleicher Weise wurde der Tag an unzhligen deutschen Orten festlich begangen.[....] Am umfassendsten und allgemeinsten war wol die Festlichkeit in Berlin, der VaterstadtHumboldts. Hier theilte sich die Feier gewissermaen in eine brgerliche undwissenschaftliche. Zu der erstern gehrte auer den besondern Festlichkeiten der

    Bezirksvereine die von der Stadt veranstaltete Einweihung des Humboldt-Parks, eines imuern Theil Berlins angelegten ffentlichen Spazierganges, und die Grundsteinlegung zudem in diesem Park aufzustellenden Denkmal. Der zu dieser Festlichkeit angeordneteFestzug fhrte 58 Vereine zusammen. [...] Die wissenschaftlichen Vereine versammeltensich abends um 6 Uhr im Concertsaale des Schauspielhauses, um die Festrede desVorsitzenden vom Geographischen Verein anzuhren.

    Als sehr bedeutend hob Schleiden die Rede des Physikers Heinrich Wilhelm Dove am 1. Juli 1869(Dove 1869), dem Leibniz-Tag der Berliner Akademie der Wissenschaften, hervor und fuhr dann fort:

    Dem Beispiele der beiden genannten Stdte folgten in Norddeutschland fast alle grerenStdte, so Frankfurt a. O., Breslau, Magdeburg, Leipzig, Hamburg, Bremen, Hannover,Kassel, Frankfurt a. M., Kln u.s.w. [...] Man kann bemerken, da, wie ganz besonders

    technische, gewerbliche und Arbeitervereine die Feier Humboldts in die Hand nahmen, soauch gerade die meisten Stdte aus den Industriegegenden mit groer Theilnahme an der

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    allgemeinen Feststimmung sich bethtigten. Je weiter man nach Sden blickt, je mehr sichder romanisch-katholische Einflu bei einer Bevlkerung geltend gemacht hat, desto geringersehen wir auch die Betheiligung an dem allgemeinen Feste der gebildeten Menschheitwerden. (Schleiden 1869, S. 496-497.)

    Diese Aussage Schleidens soll hier nicht hinterfragt werden; man mte sie nachprfen, denn seinespitze Zunge, die auch vor ungerechten Angriffen nicht zurckscheute, ist bekannt. Doch gibt eben seinkurzer Bericht im Anschlu an seine enthusiastische Festrede fr Humboldt einen allgemeinenEindruck von der zeitgenssischen Situation, in der auch der Naturwissenschaftliche Verein inMagdeburg gegrndet wurde.

    Eng mit den Humboldtfeiern des Jahres 1869 verbunden war ein weiteres erwhnenswertes Ereignis.Um das Andenken des groen Forschers zu ehren, ergriff der Berliner Mediziner Rudolf Virchow (1821-1902) die Initiative zur Errichtung eines ffentlichen Humboldt-Denkmals in der preuischen Hauptstadt.Virchow gehrt ja zu den jngeren Vertretern der naturwissenschaftlichen Methode in der Medizin undbertrug die Schleiden-Schwannsche Zellentheorie in die Praxis. Auch er hatte Humboldt noch persnlich

    gekannt.

    Eine im In- und Ausland veranstaltete Geldsammlung erbrachte binnen eines Jahres 100.000 Mark. DieRealisierung des Projektes wurde jedoch zunchst durch den deutsch-franzsischen Krieg von 1870/1871 verzgert. Als Standort wurde das Gelnde der Universitt vorgeschlagen, die damals noch (bis1949) Friedrich-Wilhelms-Universitt hie. Rektor und Senat gaben ihre Zustimmung, aber nur unterder Bedingung, da man gleichzeitig auch fr Wilhelm von Humboldt, den eigentlichen Initiator derUniversitt, ein Denkmal errichten wrde. Dafr stand jedoch kein Geld zur Verfgung. 1875 bewilligteKaiser Wilhelm I. die Mittel fr dieses Denkmal als Parallelstatue zu dem Standbild Alexanders, nichtohne zu verfgen, da die Denkmler von Scharnhorst und Blow vor der Neuen Wache nicht berragtwerden drften und da das Denkmal fr Wilhelm links, also gegenber dem Kaiserlichen Palaisaufzustellen sei. (Schwarz 1992, S. 4.)

    Daraufhin wurde ein Wettbewerb um die besten Entwrfe ausgeschrieben, die bis zum 31. Dezember1876 einzureichen waren. Der Entwurf fr das Denkmal Wilhelm von Humboldts von Martin Paul Otto(1846-1893) wurde sofort von der Auswahlkommission akzeptiert. Die Arbeit des Bildhauers ReinholdBegas (1831-1911) wurde zwar gelobt, entsprach jedoch nicht den Vorgaben fr ein Denkmal Alexandervon Humboldts. Die Kommission beauftragte dennoch Begas, das Denkmal fr Alexander von Humboldtin Angleichung an den Entwurf von Otto zu schaffen. Im Sommer 1880 akzeptierte Kaiser Wilhelm I., dersich die letzte Entscheidung vorbehalten hatte, beide Entwrfe, so da die Enthllung der zwei Denkmler,die der Universitt als Eigentum bergeben wurden, endlich am 28. Mai 1883 stattfinden konnte.

    Eine spanische Inschrift am Sockel den Denkmals fr Alexander: Dem zweiten Entdecker Kubas,wurde am 1. November 1939 von der Universitt Habana gestiftet und mit groer Beteiligung der

    Regierungsvertreter von Cuba, Guatemala, Nicaragua, Uruguay, Venezuela und der DomikanischenRepublik enthllt. (Vgl. Schwarz 1992, S. 4-5.)

    3. Emil du Bois-Reymond (1818-1896)

    In den 15 Jahren nach den enthusiastischen Humboldtfeiern von 1869 war Alexander von HumboldtsPopularitt bereits merklich abgeschwcht, wie aus der Rektoratsrede deutlich wird, die Emil du Bois-Reymond am 3. August 1883 in der Aula der Berliner Universitt hielt.

    Es war fr die deutsche Wissenschaft eine glorreiche Zeit, wie gering auch eine altklugeund verwhnte Jugend jetzt oft die Mnner schtze, die, selber fast ohne Lehrer, ihr dieLehrer bildeten. [] Von der beherrschenden Stellung, welche Humboldt hier ganz von

    selbst zufiel, ist es dem heutigen Geschlechte schwer, in dieser alles nivellierenden Zeitsich ein richtiges Bild zu machen [...] (Schwarz und Wenig 1997, S. 198.)

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    In werbendem Tone schilderte der Redner Humboldts Verdienste auch wenn dieser nicht bis zurletzten Sprosse der Naturwissenschaft emporstieg, so war er doch der Mann, die Brcke zu schlagenzwischen der alten und der neuen Zeit, zwischen dem philologisch-historischen, sthetisch-spekulativenDeutschland [...] und dem mathematisch-naturwissenschaftlichen, technisch-induktiven Deutschland

    unserer Tage. [] Die Sitte, das Andenken eines groen Mannes durch ein Denkmal zu ehren, httewenig Sinn, wenn das Denkmal nur diente, dies Andenken zu erhalten: denn wenn ohne das Denkmaldas Andenken verloren ginge, so wre es ja der Erhaltung nicht wert gewesen. Vielmehr soll das Denkmaluns den entschwundenen Heros fter ins Gedchtnis rufen, und im Hinblick auf seine Tugenden sollenwir den Entschlu erneuern, ihnen nachzueifern. Wir sollen uns fragen, wie der Mann, zu dem wirdankbar bewundernd emporblicken, wenn er unter uns wiederkehrte, wohl ber uns urteilen, ob er unsfr wrdige Fortsetzer des von ihm Begonnenen anerkennen wrde. (Schwarz und Wenig 1997, S.201.)

    Emil du Bois-Reymond gehrte zu den Initiatoren moderner naturwissenschaftlicher Richtungen durchseine elektrophysiologischen Experimente, und auch er verdankte Humboldt die entscheidendenAnregungen dazu. Anfang der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts hatte Humboldt in Anknpfung an seine

    eigene Jugendarbeit ber die gereizte Muskel- und Nervenfaser (1797) und Experimente eines Italienersin Paris den damaligen Doktoranden Johannes Mllers in Berlin auf diese Forschungsrichtung aufmerksamgemacht und in den folgenden Jahren lebhaften Anteil an dessen Experimenten genommen. (Vgl. Jahn1967.)

    Du Bois-Reymond erinnerte sich 1883 daran und schilderte, wie Humboldt noch als Sechzigjhriger mitder Kollegienmappe unter dem Arm in unseren Hrslen unter Studenten Platz genommen hatte(Schwarz und Wenig 1997, S. 201), und wie er im Beisein von Helmholtz, Dove und Johannes Mller fast 80jhrig mit ihm zusammen experimentiert hatte, um die Einwnde der Pariser Gelehrten zuwiderlegen. Humboldt nahm nur wenige Jahre vor seinem Tod auch noch einen Mikroskopierkurs beidem Schleidenschler Hermann Schacht (1814-1864), um die Struktur der Zellen und Muskelfasern zuuntersuchen.

    Die 94 Briefe, die Humboldt an Du Bois-Reymond zwischen 1840 und 1859 schrieb, sind inzwischenediert und spiegeln viel von Humboldts Aktivitten in diesem Zeitraum in Berlin wieder. Sie zeigen auch,wie sorgfltig Humboldt sich fr die Aufnahme des bedeutenden Physiologen in die Berliner Akademieder Wissenschaften einsetzte. In dem von Johannes Mller und Humboldt unterzeichneten Wahlvorschlagfr die Akademie heit es:

    Seine Arbeiten ber die thierische Elektricitt, die er seit 10 Jahren unausgesetzt verfolgt,haben ihn an die Spitze dieses Theils der organischen Physik gestellt. (Schwarz und Wenig1997, S. 170.)

    Emil du Bois-Reymond gehrte dann 1859 auch zu den Berliner Gelehrten, welche die von Virchowvorgeschlagene Alexander von Humboldt-Stiftung ins Leben riefen, um hervorragenden Talenten, wosie sich finden mgen, in allen Richtungen, in welchen Alexander von Humboldt seine wissenschaftliche

    Thtigkeit entfaltete, namentlich zu naturwissenschaftlichen Arbeiten und grsseren Reisen, Untersttzungzu gewhren (Jahn 1967, S. 152).

    Um so verstndlicher ist es, da Du Bois-Reymond dann um 1880 zum Vorsitzenden des Kommitteesbestimmt wurde, um die Aufstellung der Humboldt-Denkmler zu betreuen.

    Es war etwa um diese Zeit, als sich in England der Botaniker Joseph Dalton Hooker veranlat sah, ineinem Brief nach Charles Darwins Meinung ber Humboldts wissenschaftliche Leistung zu fragen, dennes war nach Humboldts Tod auch viel Kritik an seinem letzten Werk, dem Kosmos, geuert worden.

    Darwin antwortete Hooker unverzglich: [] ich mchte sagen, er war wundervoll, mehr noch wegen seiner Universalitt, als

    wegen seiner Originalitt. Aber ob nun seine Stellung als Naturwissenschaftler so bedeutend

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    ist, wie wir beide denken, oder nicht, so kannst Du ihn doch in Wahrheit den Vater einergroen Nachkommenschaft von Forschungsreisenden nennen, die insgesamt sehr viel frdie Naturwissenschaft geleistet haben.

    Diese Aussage, ein Jahr vor Darwins Tod, ist ebenfalls in Darwins eigener Biographie begrndet.

    4. Charles Darwin (1809-1882)

    Wie aus seiner Autobiographie zu entnehmen ist, war es Humboldts Reisebericht, der in ihm den Wunschzu einer Forschungsreise geweckt und ihn auf der Reise mit der Beagle begleitet hatte.. So berichtetDarwin, da er schon whrend seines letzten Studienjahres in Cambridge 1830 mit tiefstem InteresseHumboldts Reisebericht studiert habe. Neben dem Werk des Astronomen John Herschel habe vor allemHumboldts Reisewerk in ihm den brennenden Wunsch entfacht, ebenfalls einen bescheidenen Beitragzu dem Gebude der Naturwissenschaften zu leisten. Kein einziges von Dutzenden anderer Bcherhabe ihn so stark beeinflut wie diese beiden: Ich schrieb aus Humboldts Werk lange Stellen ber

    Teneriffa ab und las sie auf einer Exkursion laut meinen Freunden vor, schrieb Darwin. So oft hatte ermit Begeisterung von Humboldts Reise nach Teneriffa gesprochen, da seine Freunde ihn schlielich,halb scherzhaft, halb ernstlich zu einer Reise dorthin ermutigten.

    Unter diesen Freunden war auch der Botaniker Henslow gewesen, dessen Empfehlung und FrspracheDarwin dann Anfang des Jahres 1831 jene bedeutsame Weltreise mit der Beagle verdankte, die denGrundstein fr sein revolutionres Wirken legte.

    Auch whrend der Weltumseglung hatte Darwin Humboldts Reisebeschreibung an Bord, deren Hilfe beider Verarbeitung der Reiseerlebnisse in Sdamerika er in seiner eigenen Reiseschilderung erwhnt:

    Da die Strke der Eindrcke allgemein von vorher erlangten Ideen abhngt, heit es beiDarwin, so will ich noch hinzufgen, da meine den lebendigen Beschreibungen in der

    Reiseschilderung Humboldts entnommen waren, die an Verdienst alles brige bei weitembertreffen, was ich gelesen habe [...]. (Zitiert nach Jahn 1969, S.184.)

    Er sandte dann seinen eigenen Reisebericht Reise eines Naturforschers um die Welt 1839 mit einerentsprechenden Widmung an Alexander von Humboldt, der die Bedeutung des jungen Forschers sehrbald erkannte.

    Noch vor seiner Antwort an Darwin schrieb er an den Sekretr der Englischen GeographischenGesellschaft, der Band von Charles Darwin sei eines der bemerkenswertesten Werke, das er whrendseines langen Lebens habe erscheinen sehen. Darwin vereinige mit dem Scharfsinn derEinzelbeobachtungen den groen Blick fr das Allgemeine der Natur, sozusagen die philosophischeNaturbetrachtung, die gleichzeitig die Geologie, die geographische Verbreitung der Pflanzen und Tiereund den Einflu der Temperatur auf die organischen Gestalten der Urwelt umfat (zitiert nach Jahn1969, S. 184).

    12 Tage spter schrieb Humboldt an Darwin einen langen Dankbrief in franzsischer Sprache, der aufviele Einzelheiten von Darwins Beobachtungen eingeht.

    Es gehrt zu meinen eigenen Erfolgserlebnissen, 1966 den Antwortbrief von Humboldt an Darwin inCambridge ermittelt und ihn erstmals in deutscher bersetzung - im Jubilumsjahr 1969 verffentlichtzu haben (Jahn 1969, S.185-190).

    Der Brief ist bemerkenswert und noch bedeut