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Sponsoring-Post, Verlagspostamt 1040 Wien, 03Z035192 S. Helfertypen: Die Motive der NGOs p Helfen als Imagefrage: Die Unternehmen Die Spendenformel: Das Kalkül der Medien p Krieg auf Rechnung: Die privaten Söldner Hass auf die Helfer: Die Grenzen der Hilfe p Helfen zum Überleben: Die großen Einsätze INtERvIEwS: Jonathan Benthall, Walter Feichtinger, Wolfgang Kopetzky, Peter Rabl, Werner Raza, Max Santner, Martina Schloffer, Peter Vitouch, Andreas Wigger H LFE Ausgabe 12| 2011 DAS MAGAZIN, DAS FEHLT HUMANITÄRE Das Recht auf ... ... ist Verantwortung und Investition [nicht Mildtätigkeit und Erbarmen]

HUMANITÄRE H LFE...ten von der Angel gelassen. Hilfe ist kein Recht. Sondern ein Almosen. Es muss in die Köpfe von Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit, dass es sich genau

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Helfertypen: Die Motive der NGOs p Helfen als Imagefrage: Die UnternehmenDie Spendenformel: Das Kalkül der Medien p Krieg auf Rechnung: Die privaten SöldnerHass auf die Helfer: Die Grenzen der Hilfe p Helfen zum Überleben: Die großen Einsätze

INtERvIEwS: Jonathan Benthall, Walter Feichtinger, Wolfgang Kopetzky, Peter Rabl, Werner Raza, Max Santner, Martina Schloffer, Peter Vitouch, Andreas Wigger

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... ist Verantwortung und Investition [nicht Mildtätigkeit und Erbarmen]

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DER ROTKREUZ-SONG: im Fachhandel oder auf www.greatest-stories.com

Mehr als 100 Millionen freiwillige Helferinnen und Helfer setzen sich weltweit für ihre Mitmenschen ein – unabhängig von Religion, Hautfarbe, Politik oder Kultur. In Krieg und Frieden, bei Krisen und Katastrophen, in allen Bereichen

unserer Gesellschaft leisten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung ihren Beitrag für eine bessere Welt – 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr, in 186 Ländern der Welt.

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312|2011

EditorialIn den meisten Ländern der Welt müssen Sie sich, wenn Sie alles verlieren, auf die Straße

setzen und betteln. Sie sind auf das Mitleid der Vorübergehenden angewiesen. In Öster-reich gibt es die Mindestsicherung. Man kann über deren Höhe diskutieren, aber nicht

über das Prinzip: Hilfe ist hierzulande kein Almosen. Sondern ein Recht.

In der humanitären Hilfe hat sich dieses Prinzip noch nicht durchgesetzt. Während ich diese Zeilen schreibe, hat „Nachbar in Not“ rund sechs Millionen Euro für die Hun-gernden in Ostafrika gesammelt. Das ist gut. Der humanitäre Imperativ besagt, dass wir helfen müssen, wenn wir helfen können. Der Haken dabei: Wieder wird die Hilfe bei einer Hungerkatastrophe den Spendern aus der Zivilgesellschaft überlassen, werden die Staa-ten von der Angel gelassen. Hilfe ist kein Recht. Sondern ein Almosen.

Es muss in die Köpfe von Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit, dass es sich genau umgekehrt verhält: Auch für die Menschen in Ostafrika gelten die Menschenrechte. Artikel 25 der Menschenrechtscharta garantiert das Recht auf Ernährung. Aber die Regierungen, die diese Charta unterschrieben haben – auch die unsere –, tun wenig oder nichts dazu, sie umzusetzen. Die Hilfe bleibt ein willkürlicher Akt, obwohl sie eine völkerrechtlich bindende Pflicht ist.

Die Katastrophen- und Kriegsopfer dieser Welt sind keine Bettler. Sie haben Anspruch auf humanitäre Hilfe. Sie brauchen kein Mitleid und keine Almosen. Sondern eine Politik, die sich verpflichtet fühlt, die entsprechenden Erklärungen und Abkommen, die sie unterzeich-net hat, in die Tat umzusetzen. Aus Verantwortungsgefühl, aus Anständigkeit. Und aus Liebe zum Menschen.

Fredy MayerPräsident

Die Katastrophen- und

Kriegsopfer dieser Welt sind

keine Bettler. Hilfe ist eine

völkerrechtlich bindende Pflicht

Schluss mit dem Mitleid!

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12|20114

inhalt

6 „Something must be done.“ Humanitäre Hilfe gehört nicht mehr den NGOs. Staaten, Armeen und Private wollen auch helfen. Aus unterschiedlichen Motiven.

9 „Irgendwie müssen sie doch selbst schuld sein.“ Wie wirken Kriegs- und Katastrophenbilder auf uns? Was lösen sie aus? Interview mit Peter Vitouch.

12 Helfertypen. Die unterschiedlichen Kulturen humanitärer Organisationen.

14 Neue Akteure der Hilfe 16 Helfen hilft dem Image. Medien, Stiftungen und Konzerne wollen sich

als Philanthropen positionieren.

20 „Das war Angstbeißen.“ Peter Rabl über Kurier Aid Austria und das Misstrauen der anderen.

22 Exportgut Hungerkinder. Der Anthropologe Jonathan Benthall analysiert, welchem Muster die Medienberichte über Katastrophen folgen.

26 Grenzen der Hilfe

28 In der Mega-Katastrophe. Haiti, Pakistan, Japan. Drei unterschiedliche Katastro-phen, drei Strategien.

34 Die Formel fürs Spenden. Wann ist ein Spendenaufruf erfolgreich? Die Gleichung der Experten.

36 Die Grenzen der Hilfe. Wenn humanitäre Helfer zu Hassobjekten werden.

41 „Die Kavallerie kommt nicht!“ Lassen sich Menschenrechte mit Waffengewalt durchsetzen? ÖRK-Generalsekretär Wolfgang Kopetzky glaubt nicht daran.

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512|2011

Herausgeber, Medieninhaber, verleger: Österrei chi sches Rotes Kreuz, Wiedner Hauptstraße 32, A-1041 Wien. Verlagsort: Wien. henri informiert Ent-scheidungsträger, Mei nungs füh rer und andere Interessierte über Aktivitäten, Neuerungen, Ereignisse und Hintergründe im humanitären Geschehen. Gesamtleitung: Mag. Michael Opriesnig. Chefredaktion: Mag. Robert Demp fer, Tel.: +43-1-589 00-355, Fax: -159, E-Mail: [email protected]. Redak tion: Thomas Aistleitner, Tel.: +43-1-523 69 49, E-Mail: [email protected]. Autoren und Mitarbeiter: Mag. Michael Achleitner, Thomas Aistleitner, Mag. Wolfgang Bergmann, Mag. Petra Griessner, Fredy Mayer, Mag. Thomas Marecek, Mag. Max Santner, Dr. Roland Siegrist, Mag. Nicole Renn-hofer, Mag. Ines Wagner. website: www.roteskreuz.at. Produktion: Wortbild Medien produk tion, Wien, Tel.: +43-1-523 69 49-16, Info-Media, Wien. Produk-tions lei tung: Dr. Gottfried Fritzl. Grafische Gestaltung: Mag. Andrea Chadt. Bild redaktion: Mag. Nicole Rennhofer. titelfoto: Nadja Meister. Fotos: Nadja Meister (S. 19, 21/2, 32, 33, 46, 62, 67, 69, 74, 75, 77, 82); ÖRK/Nadja Meister (S. 83); Daniela Klemencic (S. 78); Picturedesk.com (S. 6-7, 17, 35, 41, 48, 50, 58, 59, 60, 68); Reiner Riedler (S. 25); ORF (S. 35); Bundeswehr/Herbert Albring (S. 52); Bundesheer/SOF AUCON TCD (S. 68); Staff Sgt. D. M. Cullen, U.S. Air Force/Wikimedia Commons (S. 10); William Benthall (S. 22); Juan-Carlos Tomasi (S. 13); Land Rover (S. 16, 18); Kurier (S. 20); UN Photo/M. Frechon (S. 24); Foto Wilke (S. 65); www.BIGSHOT.at/Christian Jungwirth (S. 82); IFRC/H. Davies (S. 8); CICR/A. Grobet /S. 9) ; CICR/C. Sattlberger (S. 12); Peace Corps (S. 13); World Vision (S. 13); CICR/W. Lembryk (S. 14–15, 48); CICR/T. Mayer (S. 22); CICR/B. Heger (S. 38, 46, 57, 61, 64); CICR/T. Gassmann (S. 4, 39); CICR/C. von Toggenburg (S. 42); CICR/A. Meier (S. 43); CICR/W. Torres (S. 44–45); CICR/A. Jolliet (S. 46); CICR/U. Meissner (S. 51); CICR/F. Pagetti (S. 55); CICR/P. Dutoit (S. 56); CICR/ D. Gignoux (S. 66); ICRC/B. Hoffman (S. 63); IFRC/K. Mueller (S. 23); IFRC/M. Kokic (S. 28-29, 31, 32-33, 47, 53); Japanese Red Cross Society/T. Kato (S. 26–27, 28); American Red Cross/D. Cima (S. 54); American Red Cross/T. Frenkel (S. 76); IKRK (S. 70); ÖRK/Anna Stöcher (S. 41); ÖRK/ERU Team 1/A. Hattinger (S. 72-73); ÖRK (S. 3, 11, 20–21, 34, 36, 37, 49, 63, 75, 77, 78); Privat (S. 9). Lektorat: Karin Flunger, Mag. Sabine Wawerda. Hinweis: Personenbezoge ne Bezeichnungen gelten glei cher maßen für weibliche und männliche Personen.

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44 (Un)Abhängigkeit der Hilfe 46 Auf dem weg in die Slums. Nur wenn Armut und Gewalt bekämpft werden,

kann auch die humanitäre Hilfe langfristig wirken, sagt Max Santner, Bereichsleiter Internationale Hilfe im Österreichischen Roten Kreuz.

48 Hilfe als Instrument der Außenpolitik. Seit die Politik aktiv humanitäre Hilfe betreibt, wird es für die NGOs richtig gefährlich.

50 Die BRICs hängen den westen ab. Brasilien hat für die Hungersnot in Somalia 2011 mehr Hilfe geleistet als Deutschland, Frankreich und Italien zusammen.

52 wer sind die Guten? Wenn Soldaten das Land wiederaufbauen, kommen zivile Helfer unter Druck.

54 Der Mensch als Mensch. Andreas Wigger, Delegierter und Religionsexperte des IKRK, über die Akzeptanz westlicher Werte in muslimischen Ländern.

58 völkerrecht für Private. Bewaffnete Konflikte sind zum lukrativen Geschäft für private militärische Dienstleister geworden.

62 „wir helfen, ohne zu fragen.“ Martina Schloffer, Leiterin des Internationalen Katastrophen managements des ÖRK, über zivil-militärische Zusammenarbeit.

65 „Es fehlt der politische wille.“ Die „Globale Verantwortung“ vertritt die Positionen der Hilfsorganisationen gegenüber der österreichischen Regierung.

66 Beziehungssachen. Aus dem Hintergrundpapier „Zivil-militärische Beziehungen“ von „Globale Verantwortung“.

67 „Humanitäre Hilfe ist nicht unsere Aufgabe.“ Walter Feichtinger, Leiter des Instituts für Friedenssicherung und Konfliktmanagement, über die Rolle des Militärs und die „neuen Kriege“.

70 wer mit wem? Wer für wen? Die wichtigsten Dokumente zum Zusammenwirken humanitärer und militärischer Organisationen.

72 Wo bleibt Österreich? 74 Politiker am Spendentelefon. Werner Raza von der Forschungsstiftung

für Internationale Entwicklung fordert ein stärkeres Eingreifen der Politik.

76 vom Erbarmen zur verantwortung. Die öffentliche humanitäre Hilfe in Österreich zwischen Mitleid und Budgetzwängen.

82 Back Issues

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12|20116

„Künftig werden wir drei Dinge tun:

Flüchtlinge mit Nahrungsmitteln versorgen und einkleiden – humanitäre Hilfe;

zwei rivalisierende Clans mit Waffengewalt auseinanderhalten – Friedenserhaltung;

und eine tödliche Schlacht führen.

Alles am selben Tag.“

Charles Krulak, General der US-Marineinfanterie

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712|2011

O ft geht es wirklich nicht ohne sie. Anfang April 1999 treffen in Mazedonien in Massen Flüchtlinge aus dem Kosovo ein. Der kanadische Reporter Michael Ignatieff beobachtet,

wie Chinook-Helikopter der NATO tonnenweise Zelte in die eilig errichteten Flüchtlingslager fliegen.

Neben ihm steht die Krankenschwester einer skandi-navischen Hilfsorganisation, den Tränen nahe. „Das ist

eine humanitäre Nische!“, klagt sie. „Hier ist kein Platz für das Militär!“

„Ich dachte, sie wäre verrückt“, erinnert sich Ignatieff. „Wie sonst sollten zehntausend Menschen rasch zu einem schützenden Platz für die Nacht kommen? Nur das Militär hatte die logistischen Möglichkeiten. Die NGOs waren damit völlig überfordert.“

20 Jahre später regeln amerikanische Soldaten in der vom Erdbeben zerstörten haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince den Flugverkehr, patrouillieren die Stra-

Wenn politisch und militärisch nichts mehr geht, wird humanitäre Hilfe geleistet. Neuerdings auch bewaffnet und in Uniform.

Von RobeRt DempfeR

„Something Must Be Done“

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ßen entlang, verteilen Hilfsgüter. In Afghanistans Pro-vinzen bauen Wiederaufbauteams der Alliierten Brun-nen und richten Schulen ein.

Und wäre es nach dem damaligen französischen Außenminister gegangen, hätten nach dem Zyklon Nargis im Jahr 2007 Soldaten die Not leiden de Bevölke-rung von Myanmar versorgt: „Französi sche und ameri-ka ni sche Kriegsschiffe könnten schnell vor Ort sein, 11.000 US-Soldaten sind abrufbereit. Amphibienschiffe würden Hilfsgüter an Land bringen, Helikopter Nach-schub heranschaffen, Soldaten die Verteilung überwa-chen“, formulierte Bernard Kouchner in der Tageszei-tung „Le Monde“.

Soldaten als Retter?Soldaten als Helfer sind in vielen Kriegs- und Krisenge-bieten der Welt inzwischen ein alltäglicher Anblick. Die zunehmende Militarisierung der humanitären Hilfe ist ein globaler Trend – einer mit Methode: In einer Schrift

mit dem beziehungsvollen Titel „A Com man-der’s Guide to Money as a Weapon Sys tem“ bezeichnet US-General David Petraeus sie als

„nicht tödliche Waffe“, dazu bestimmt, mittels Wohltaten die „hearts and minds“ einer Be-völkerung zu gewinnen. Der zivile Wiederauf-bau, so der General, wäre das Fundament jeg-licher Stabilisierung.

Damit steht ein Grundprinzip der humanitä-ren Hilfe zur Debatte: Krieg führende Staaten lassen Helfer zur Pflege aller Verwundeten auf den Schlachtfeldern zu, solange diese nicht Partei ergreifen und sich nicht in die Feind-seligkeiten einmischen.

Auf diese Weise wurde eine Nische für die unparteiliche, neutrale humanitäre Hilfe ge-schaffen: der „humanitarian space“ (humani-tärer Raum). Der Begriff hat eine physisch- geografische Bedeutung: Ob Krieg oder Na-turkatastrophe, die „humanitarians“ vor Ort müssen die Hilfsgüter unbehelligt durch die Checkpoints bringen können. Vor allem aber hat er einen übergeordneten Inhalt: Humani-täre Hilfe ist ein Anspruch und Recht aller Kriegs- und Katastrophenopfer. Sie wird neu-tral, unparteilich, nach dem Maß der Not und ohne Rücksicht auf politische, ethnische oder religiöse Zugehörigkeit geleistet – und nicht nur für Bedürftige „auf der richtigen Seite“.

Helfer als ZieleZumindest auf dem Papier haben das auch die Staaten anerkannt. „In der Praxis“, sagt Ulrike von Pilar von den „Ärzten ohne Grenzen“,

„tendieren sie aber dazu, sie regelwidrig für ihre eigenen Ziele in Anspruch zu nehmen, wann im-mer es politisch opportun erscheint.“

In Afghanistan erhalten Notleidende von regionalen Wiederaufbauteams Hilfe, wenn sie sich der NATO ge-genüber loyal verhalten. Menschen in strategisch un-bedeutenden Regionen des Landes erhalten nichts: keine Taliban, keine NATO – keine Hilfe (Seite 52).

Die neutralen Helfer haben nur eine Chance, wenn sie weder von den Konfliktparteien noch von der Bevöl-kerung als Einmischung oder Bedrohung angesehen werden. „Das Militär dagegen ist meist selbst Kriegs-partei. Zumindest steht hinter jeder Entsendung von Truppen immer eine von politischen Interessen geleite-te Entscheidung“, sagt Wolfgang Kopetzky, General-sekretar des Österreichischen Roten Kreuzes (ÖRK).

Wo Soldaten humanitäre Hilfe aus politisch-militäri-schen Überlegungen leisten, da werden bald allen humanitären Helfern politisch-militärische Interessen unterstellt. „Es ist entgegen der landläufigen Meinung

„Wie sollten zehntausend Menschen zu einem schützenden Platz kommen?

Nur das Militär hatte die logistischen Möglichkeiten. Die NGOs waren völlig überfordert“

Michael Ignatieff

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Fortsetzung auf Seite 10 3

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912|2011

Univ.-Prof. Dr. Peter Vitouch ist Medienwirkungsforscher,

Medienpsychologe und Vize-Dekan der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Wien. Er ist Autor von „Fernsehen und Angstbewältigung. Eine Typologie des Zuschauerverhaltens“, einem Standardwerk der Kommunikationswissenschaft.

henri: Herr Professor, Sie haben sich mit der Wirkung von Kriegs- und Katastrophenbildern beschäftigt. Was geht in uns vor, wenn wir das sehen?

PEtER vItOUCH: Ein Modell, das das gut erklärt, ist das „Just world“-Konzept: Wir alle glauben an eine gerechte Welt, in der letztendlich jeder in etwa das bekommt, was er verdient.

Was aber nicht stimmt.

Was nicht stimmt, das bekommen wir ja täglich vorge-führt. Und die Massenmedien, aus denen wir beziehen, was wir über die Welt wissen, haben sich geradezu auf Sonderfälle der Ungerechtigkeit und der Unkontrol-lierbarkeit spezialisiert.

Also müsste unser gerechtes Weltbild ja in Trümmer gehen.

Ja, aber wir versuchen, es zu retten. Ein Ansatz ist Altruis-mus: Man wird selbst aktiv, um zu helfen, um die als ungerecht erkannte Welt ein wenig zurechtzurücken.

Die Hilfsorganisationen bekommen Spenden, neue Mit-arbeiter …

… genau. Man kann etwas tun. Altruismus hält das Bild einer „just world“ aufrecht.

Trotzdem gibt es vor allem in länger dauernden Kon-flikten Probleme mit der Finanzierung der Hilfe.

Weil Menschen immer nach Möglichkeiten suchen, Ur-sachen zuzuschreiben, und mehr noch: Wir suchen auch nach Möglichkeiten, Verantwortung zuzuschreiben.

Jetzt spende ich für den Sudan oder für Somalia, und es ändert sich dort trotzdem nichts.

Oder: Kaum habe ich da gespendet, bricht irgendwo anders ein anderer Krieg aus. Da kann es dann zum Phänomen kommen, dass den Opfern selbst die Ver-antwortung dafür zugewiesen wird: Irgendwie müssen sie doch selbst an ihrer misslichen Lage schuld sein. Es werden plötzlich die, für die man sich vorher noch so engagiert hat, schuldig gemacht.

Man zieht sein Interesse und seinen Altruismus ab, spen-det nicht mehr …

… und reduziert damit seine Angst vor einer Welt, die in Wahrheit nicht gerecht ist, und vor der Problematik, dass das „Just world“-Konzept infrage gestellt werden könnte. Das ist jetzt sehr extrem dargestellt.

Finde ich nicht. Schon vor 20 Jahren, im zweiten Bos-nien-Kriegsjahr, hat man von vielen gehört: „Die sollen jetzt einmal aufhören, sich gegenseitig die Schädel einzuschlagen. Dann werden wir auch wieder helfen.“

InteRVIew: RobeRt DempfeR

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Peter vitouch

„Irgendwie müssen sie doch selbst schuld sein“

Was geht in uns vor, wenn wir im Fernsehen Kriegsbilder sehen? Wie wirken Fotos verhungernder Kinder auf den Titelseiten unserer Zeitungen?

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eben nicht egal, von wem die Hilfe kommt, Hauptsache, es kommt welche“, sagt Kopetz-ky. „Sonst kommt nicht nur für Kriegsopfer der ,falschen Seite‘ keine, sondern bald für niemanden mehr. Weil die Hilfs organisationen dann ge-zwungen sind, sich aus Sicher-heitsgründen zurückzuziehen.“

Das britische Overseas De-velopment Institute (ODI) hat die Folgen dieser Politisierung und Militarisierung des Huma-nitären untersucht. In seinem Bericht weist das ODI nach, dass Übergriffe auf humani-täre Helfer wie Ermordung und Entführung im vergangenen Jahrzehnt deutlich zugenom-men haben.

Gerechte KriegeEine weitere Entwicklung seit dem Ende des Kalten Krieges sorgt bei den Helfern regelmä-ßig für Finanzierungskrisen.

Mitte der Neunzigerjahre taucht zum ersten Mal der Be-griff „complex emergency“ auf. Er bezeichnet das Zusammen-spiel von politischer Instabili-tät, dem Zusammenbruch staatlicher Strukturen, gewaltsamen Konflikten bis hin zu Vertreibung und Genozid, in manchen Fällen in Kombination mit Naturkatastrophen. Somalia ist das Musterbeispiel einer solchen unattraktiven, lange an-dauernden Krise.

Hilfe bei „complex emergencies“ ist schwer zu finan-zieren (Seiten 9 und 22). Trotzdem lastet aufgrund der Allgegenwart der Medien Druck auf Politikern und Helfern: „Something must be done!“

Es war auch in Somalia, wo der Westen wegen der Fernsehbilder marodierender Milizen und verhungern-der Menschen zum ersten Mal mit einer „militärisch-humanitären Intervention“ eingriff. 1992 sollte die Uni-ted Nations Operation in Somalia I (UNOSOM I) unter US-Führung die Lieferung von Nahrungsmitteln sicher-stellen und den Frieden wiederherstellen. Die Aktion endete ein Jahr später in einem Desaster.

Die der Intervention zugrunde liegende Idee des „gerechten Krieges“ hat sich dagegen bis heute gehal-ten: Nicht mehr die nationale Souveränität sollte das höchste Gut in der internationalen Politik darstellen.

Sondern die „human security“ – die Sicherheit des Ein zelnen als Träger der Menschenrechte. Um diese Sicher heit zu garantieren, dürfen mit einem entspre-chenden UN-Mandat ausgestattete Streitkräfte auch in souveränen Staaten intervenieren.

Im Namen der MenschenrechteDie Liste der – großteils gescheiterten – Kriege im Na-men der Menschenrechte umfasst Länder wie Soma lia, das Kosovo, das ehemalige Jugoslawien, Osttimor, Sierra Leone. Auch die Feldzüge in Afghanistan und im Irak wurden im Namen von „Freiheit, Rechtsstaatlich-keit und Menschenrechten“ (Tony Blair) begonnen. ÖRK-Generalsekretär Kopetzky hält angesichts der Ergebnisse die Quelle der humanitären Intervention inzwischen allerdings für „vergiftet“ (Seite 41).

Ebenso unattraktiv für die Helfer ist der Umstand, dass humanitäre Hilfe heute als Allheilmittel in Situati-onen von Katastrophen und bewaffneter Gewalt gilt. Jedenfalls überall dort, wo die Staaten des Nordens keine Eigeninteressen haben. Niemand käme auf die

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In „A Commander’s Guide to Money as a Weapon System“ bezeichnet US-General

David Petraeus humanitäre Hilfeals „nicht tödliche Waffe“

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Idee, in Mosambik, Tschetschenien, Algerien, Kolum-bien oder Nordkorea die „human security“ mit Waffen-gewalt von außen herzustellen.

Im Übrigen geschieht das auch mit friedlichen Mit-teln der Politik und Diplomatie nicht. Die Anwesenheit der Hilfsorganisationen, findet Ulrike von Pilar des-halb, symbolisiere die Abwesenheit der internationa-len Staatengemeinschaft. „Statt die politischen Ursa-chen mit politischen Methoden anzugehen, schickt man ein bisschen humanitäre Hilfe“ (Seite 36).

Symptome statt UrsachenDie Folge sind völlig überzogene Erwartungen an die Helfer: Sie sollen Politik und Diplomatie ersetzen, Frie-den schaffen, für die Einhaltung der Menschenrechte sorgen. Doch „humanitäre Hilfe bekämpft Symptome, keine Ursachen“, sagt Max Santner, Leiter der Inter-nationalen Hilfe im ÖRK.

Jüngstes Beispiel ist die Hungersnot in Ostafrika im Sommer 2011. Eine ihrer Ursachen ist tatsächlich die Dürre – also eine Naturkatastrophe. Doch weitere sind

die fehlende Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit im Land, der steigende Bedarf an Nahrungsmitteln in auf-strebenden Ökonomien wie China und Indien, damit steigende Lebensmittelpreise, der Boom der Biotreib-stoffe, die Finanzspekulationen mit Getreide.

Es fehlt der Wille, diese Ursachen von Katastrophen wie jener in Somalia zu bekämpfen. Unseren Wohlstand verdanken wir der ungleichen Verteilung von Ressour-cen, meint der Politikwissenschaftler Ulrich Brand, weshalb diese auch so breit akzeptiert wäre.

All das zwingt die Helfer, sich auf den humanitären Imperativ zurückzuziehen. Dieser lautet, dass man helfen muss, wenn man helfen kann. Auch wenn die tieferen Gründe für Krisen und Katastrophen damit nicht beseitigt werden.

Es gilt, übersteigerte Erwartungen zu vermeiden, findet der US-Autor David Rieff: „Es besteht kein Grund, die wunderbare Idee der humanitären Hilfe zu einem Sammelbecken für alle von der Wirklichkeit vereitelten Sehnsüchte unseres Zeitalters zu degradieren.“

Diese Ausgabe von henri will zeigen, warum. p

Hungerhilfe in Nordkorea: Niemand käme auf die Idee, in der ostasiatischen Diktatur die „Human Security“ mit waffengewalt von außen herbeizuführen

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12|201112

as Feinstein International Cen-ter der Tufts University in Med-ford, US-Bundesstaat Massa-chusetts, ist eine der vielen For-schungsstätten, an denen sich

Wissenschafter mit der ständigen Verbesserung von humanitären Hilfsmaß-nahmen beschäftigen. Das Zentrum hat auch eine Typologie humani-tärer Organisationen entwickelt.

Auch wenn keine Or-ganisation alle Kriterien dieser Gliederung zu hundert Prozent erfüllt, eignet sie sich sehr gut zur Feststellung der zugrunde liegen-den Organisationskultur.

PrinzipientreuIn diese Kategorie fallen Hilfsorganisationen, die bei ihrer Arbeit Grundsätze wie Neutralität, Unparteilich-

keit und Unabhängigkeit in den Vordergrund und einen klar umrissenen Auftrag ins Zentrum ihrer Tätig-keit stellen. Sie bestehen meist schon sehr lange, arbeiten hauptsächlich in Kriegsgebieten und folgen einer nach dem Rotkreuz-Gründer Henry Dunant be-nannten „neo-dunantistischen“ Richtung. Gewöhnlich

definieren sie den Humanitarismus sehr eng: Er beschränkt sich für sie auf „lebensret-tende Sofortmaßnah-men“ (medizini sche Soforthilfe sowie die Versorgung mit Unter-

künften, Trinkwasser und Nahrungsmitteln) und den Schutz der Zivilbevölkerung. Viele prinzipientreue Hilfs-organisationen sind misstrauisch gegenüber staatli-cher Finanzierung, sie meiden längerfristige Aufgaben wie Wiederaufbau und Entwicklungshilfe und lehnen politischere Aktivitäten wie das öffentliche Eintreten für politische Rechte und Menschenrechte ab.Beispiel: Internationales Komitee vom Roten Kreuz (IKRK)

Von nIcole RennhofeR

Die unterschiedlichen Kulturen humanitärer Organisationen.

Helfertypen

Die Pragmatiker unter den NGOs folgen häufig den außenpolitischen Zielen

ihrer jeweiligen Regierung

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PragmatischPragmatische (oder nach dem ehemaligen US-Präsi-denten und Völkerbund-Gründer Woodrow Wilson auch „wilso-nisch“ genannte) Organisationen erkennen zwar die Bedeutung von Grundsätzen an. Konkrete Hilfsmaßnahmen sind ihnen aber wich tiger – selbst dann, wenn sie dafür von ihren Prinzipien abwei-chen müssen. Die Pragmatiker unter den NGOs folgen häufig den außenpolitischen Zielen ihrer jeweiligen Regie-rung, von der sie sich auch finanzieren lassen. In diese Kategorie fallen vor allem sehr viele US-amerikanische Hilfsorganisationen.Beispiel: Development Alternatives Inc. (DAI), Peace Corps

SolidarischSolidarische Organisationen geben sich nicht mit Hilfs- und Schutzmaßnahmen und Akuthilfe für Menschen in Not zufrieden, sie möchten die Ursachen von Not und Konflikten bekämpfen, die ihrer Natur nach politisch sind. Einige sind in der Anti-Armut-Bewegung tätig und arbeiten daran, gesellschaftliche Veränderungen her-beizuführen. Ihre Organisationskultur ist von einer Mischung aus ursprünglichem Humanitarismus und Menschenrechten gekennzeichnet. Einige dieser NGOs sind überhaupt nicht mehr in der „Feldarbeit“ aktiv, sondern reine Lobbying-Organisationen.Beispiel: Ärzte ohne Grenzen, Oxfam

GlaubensorientiertAlle Religionen der Welt erlegen ihren Anhängern auch

humanitäre Verpflichtungen auf. Im Kern der christlichen Missions-arbeit stecken Mitleid und Mild-tätigkeit. Diese Grundwerte sind auch im Islam zu finden. Die meis-ten dieser internationalen NGO engagieren sich heute nicht mehr in der Verbreitung des Glaubens, aus dem sie hervorgegangen sind, obwohl sie mehr oder weniger

eng mit einer Kirche oder Religionsgemeinschaft ver-bunden sind. Glaubensorientierte Hilfsorganisationen können wiederum prinzipientreue, pragmatische oder solidarische Eigenschaften aufweisen.Beispiel: Caritas, Diakonie, Muslim Aid, Islamic Relief Worldwide, World Vision

Einige NGOs sind überhaupt nicht mehr

in der „Feldarbeit“ aktiv, sondern reine

Lobbying-Organisationen

Drei Gruppen von internationalen Organisationen bilden die Hauptakteure der operativen humanitären Hilfe:

1. Nichtregierungsorganisationen (non-governmental organisations, NGOs), zusammengesetzt aus einigen großen internationalen NGOs und Zehntausenden lokalen und nationalen Nichtregierungsorganisationen

2. Die Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung

3. Die UN-Organisationen (UNHCR, UNICEF, WFP etc.), die hauptsächlich koordinierend und programmatisch arbeiten und die operative Umsetzung immer stärker an NGOs „abgeben“

Das DReI-säulen-moDellSystem der humanitären Hilfe.

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Peace Corps, Ärzte ohne Grenzen, world vision (v. l.)

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Warum steckt ein Autohersteller vier Millionen Euro in die Rehabilitation von Kriegskindern? S. 16

„Ich stelle ein starkes Misstrauen gegenüber

privaten Initiativen fest.“ S. 19

Kurier Aid Austria baute Dörfer in Sri Lanka wieder auf. Jetzt betreibt sie

ein Lernhaus für Kinder aus bildungsfernen Familien in Wien. S. 20

Beobachten und Berichten reich

t nicht mehr.

Immer mehr Medien steh

en auf der Seite der Helfer.

S. 18

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NEUE DER HIlfE

AkTEURE

Kurier Aid Austria baute Dörfer in Sri Lanka wieder auf. Jetzt betreibt sie

ein Lernhaus für Kinder aus bildungsfernen Familien in Wien. S. 20

Beobachten und Berichten reich

t nicht mehr.

Immer mehr Medien steh

en auf der Seite der Helfer.

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W ie viele 18-Jährige hat Kalie Kamara Hobbys, Zukunftspläne und Träume. Fußballspielen ist seine Leidenschaft, Maurer sein Wunschberuf und sein Traum, der sehr bescheiden anmutet.

„Ich möchte, dass ich in Zukunft jemand bin“, sagt Kalie, „der von der Gemeinschaft respektiert wird.“

Kein Traum vom schnellen Geld in Europa oder den USA, kein Traum vom noch schnelleren Sportwagen, auch keiner von einer Karriere als Rap-Star – Kalie träumt bodenständig. Von Respekt.

Für einen ehemaligen Kindersoldaten aus Sierra Leone ist das eine ganze Menge.

Mit vier Jahren wurde er Zeuge, wie sein Großvater erschossen wurde. Bewaffnete Jugendliche nahmen Kalie mit. Den Großteil seiner Kindheit verbrachte er

unter Soldaten, zuerst als „Mädchen für alles“, später im Kampfeinsatz. Elf Jahre dauerte der Bürgerkrieg in Sierra Leone. 2002 wurde Frieden geschlossen. Kalie stand vor dem Nichts. Wie vielen ehemaligen Kinder-soldaten – allein in Sierra Leone gab es an die 17.000 – begegneten ihm die Menschen in seiner Heimat mit Argwohn. „Mein Leben war schrecklich“, erinnert sich Kalie. „Ich trank Alkohol und bestahl die Leute.“

Ein Freund überredete ihn schließlich, sich an das „Child Advocacy and Rehabilitation Centre“ des Roten Kreuzes zu wenden. Das war vor rund einem Jahr. Seit-her geht es bergauf. Kalie macht eine Maurerlehre, er-hält Unterstützung, und vor allem: Er steht nicht mehr alleine da.

Die Verantwortung der FirmenIn Sierra Leone gibt es fünf „Child Advocacy and Reha-bilitation Centres“. 12.600 Kinder mit einer ähnlichen Leidensgeschichte wie Kalie erhielten Hilfe, um ihr Le-ben wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Einrichtun-gen wie diese zu betreiben gehört zu den klassischen Aufgaben humanitärer Organisationen.

Erstaunlich hingegen ist, dass der Automobilherstel-ler Land Rover seit 2007 mehr als 3,5 Millionen Pfund (rund vier Millionen Euro) in dieses und ähnliche Pro-jekte gesteckt hat. Warum tut das ein Unternehmen, dessen Kernkompetenz im Bauen von Motoren und Karosserien liegt?

Längst haben Hilfsorganisationen kein Monopol mehr auf humanitäres Engagement. CSR – Corporate Social Responsibility – heißt das Schlagwort. Im Grün-

Von thomas maRecek

Unternehmen helfen, Medien rufen zu Spenden auf, Superreiche gründen Stiftungen: Beim humanitären Engagement haben Hilfsorganisationen kein Monopol mehr.

Helfen hilft dem Image

„Ich möchte, dass ich in Zukunft jemand bin,

der von der Gemeinschaft respektiert wird“

Kalie Kamara, ehemaliger Kindersoldat in Sierra Leone

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buch der Europäischen Kommission wird CSR definiert als ein „Konzept, das den Unternehmen als Grundlage dient, auf freiwilliger Basis soziale Belange und Umweltbelange in ihre Unter neh-mens tätigkeit und in die Wechselbeziehungen mit den Stakeholdern zu integrieren“.

Übersetzt aus dem Beamtendeutsch: Firmen – von Familienbetrieben bis zu großen Konzernen – übernehmen gesellschaftliche Verantwortung.

Medien als HelferNeben Industrieunternehmen wie Land Rover wollen auch immer mehr Medien auf der Seite der Helfer ste-hen. Beobachten und Berichten reicht nicht mehr. Die medial verbreiteten Bilder von Katastrophen und Kon-flikten gleichen einander. Wirklich berührt seien Medien nutzer nur mehr von Einzelschicksalen, sagt der ehemalige ORF-Journalist und „Nachbar in Not“-Gründer Kurt Bergmann: „Nach solchen Nachrichten laufen bei den Hilfsorganisationen, bei den Kunden-diensten von Radio und Fernsehen und in den Redakti-onen die Telefone heiß“, berichtet er. „Die Frage, ob man der Familie, über die gerade berichtet wurde, hel-fen könne, löst Hilflosigkeit und Achselzucken aus.“

Kaum ein Fernsehzuseher kann sich vorstellen, wie die gezeigten Bilder zustande gekommen sind. „In

manchen Situationen war der Kameramann froh, un-verletzt davongekommen zu sein. Der Name, die Adres-se, dafür blieb wirklich keine Zeit“, so Bergmann. „Der Sender muss seine Kunden mit der allgemeinen Infor-mation fast immer alleine lassen.“

Nachbarn in NotDie Initiative „Nachbar in Not“ wurde 1992 im Zuge des Jugoslawienkriegs ins Leben gerufen. Zunächst koope-rierten der ORF, das Rote Kreuz und die Caritas, um Spendengelder zu lukrieren. Mittlerweile ist „Nachbar in Not“ eine Stiftung und weitere sechs Hilfsorganisatio-nen sind hinzugekommen.

Bei zahlreichen Katastrophen wurde die Initiative tä-tig – vom Tsunami im Jahr 2004 über Flutkatastrophen bis hin zu schweren Erdbeben wie jenem in Haiti 2010. Seit der Gründung von „Nachbar in Not“ haben die

Die Bill & Melinda Gates Foundation ist der größte Geldgeber bei der

Entwicklung eines Impfstoffes gegen Malaria

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Österreicher fast 200 Millionen Euro für die Hilfsprojek-te der Initiative gespendet.

Abgesehen davon, dass durch die Kooperation zwi-schen ORF und den größten humanitären Organisati-onen des Landes Spendengeld gesammelt und effektiv eingesetzt wird, erfüllt „Nachbar in Not“ einen psy-chologisch wichtigen Zweck.

Unterstützen statt zusehen„Bei all dem Leid, das auf den Fernsehbildschirmen zu sehen war, blieb der Zuseher früher in gewisser Weise ohnmächtig“, sagt Michael Opriesnig, Marketingleiter des Österreichischen Roten Kreuzes und Vorstands-vorsitzender von „Nachbar in Not“. „Durch unsere Ini-tiative hat sich das geändert. Die Mediennutzer sind nicht passive Konsumenten schrecklicher Bilder, son-dern können Hilfsmaßnahmen direkt unterstützen.“

Peter Rabl, ehemaliger Chefredakteur und Heraus-geber der Tageszeitung „Kurier“, schlägt in dieselbe Kerbe: „Nach Katastrophen wie dem Tsunami stehen auch in Österreich die meisten Menschen unter Schock. Von Medien getragene Hilfsaktionen helfen den Lesern und Zusehern, diesen Psychoschock zu verdauen“ (Interview auf Seite 20).

Der von der Tageszeitung mitgegründete Verein „Kurier Aid Austria“ (KAA) engagierte sich nach dem Tsunami beim Wiederaufbau von Dörfern in Sri Lanka. Auch nach Abschluss dieses Projekts blieb der Verein

aktiv. In Kooperation mit dem Österreichischen Roten Kreuz betreibt die KAA ein Lernhaus im 15. Wiener Ge-meindebezirk. Dort erhalten Kinder – vorwiegend aus bildungsfernen Familien – unentgeltlich Lernhilfe und Unterstützung beim Erwerb sprachlicher und sozialer Kompetenzen. Bald schon wird es weitere Lernhäuser geben, auch in anderen Bundesländern.

Vorbild „Glückskette“Ein Vorreiter von Initiativen wie „Nachbar in Not“ und

„Kurier Aid Austria“ stammt aus der Schweiz. Bereits 1946 – ganz Europa war noch schwer vom Zweiten Welt-krieg gezeichnet – entwickelten die beiden Radioma-cher Roger Nordmann und Paul Valloton gemeinsam mit dem Entertainer Jack Rollan ein Konzept, das Schu-le machen sollte. Die Sendung, in der sie um Spenden für Kriegs- und Katastrophenopfer baten, hieß

„Glückskette“. Die Idee ging auf und die Sammelakti-onen waren über Jahrzehnte erfolgreich. Schließlich wurde die „Glückskette“ 1983 in eine Stiftung umge-wandelt. Seit damals wurden mehr als eine Milliarde Franken (rund 880 Millionen Euro) gesammelt.

Die mediale Unterstützung der Spendenaufrufe ist bei der „Glückskette“ nach wie vor eine tragende Säule. Was nicht weiter verwundert, schließlich wurde die Stiftung auf Initiative der SRG SSR – also der Schweize-rischen Radio- und Fernsehgesellschaft – gegründet. Mit an Bord sind mittlerweile 31 Hilfsorganisationen, darunter die Caritas, Ärzte ohne Grenzen und das Rote Kreuz, die die operative Umsetzung der finanzierten Projekte verantworten.

Wie sehr die Eidgenossen der Initiative vertrauen, lässt sich aus dem Jahresbericht 2010 schließen: 65 Mil-lionen Franken (rund 57 Millionen Euro) wurden für die Erbebenopfer in Haiti gesammelt und 42 Millionen Franken (rund 37 Millionen Euro) für die von den Über-flutungen in Pakistan Betroffenen. Summen, von de nen man im traditionell spendenfreudigen Öster reich nur träumen kann. Zum Vergleich: Im Rahmen der Erdbe-benhilfe in Haiti wurden zwischen Vorarlberg und dem Burgenland rund 32 Millionen Euro gespendet.

Stiftung gegen MalariaInitiativen wie „Nachbar in Not“ generieren in erster Linie Spenden von Privatpersonen. Wirkliche Groß-spenden sind in Österreich – im Vergleich zu anderen Ländern – eher selten. Wie international üblich werden Großspenden auch hierzulande über Stiftungen abge-wickelt. Erst im Vorjahr haben sich sechs österrei-chische Privatstiftungen zusammengeschlossen – da-runter auch die Erste Stiftung und die Essl Foundation.

International spielen Stiftungen eine viel größere Rolle. Die weltweit größte Privatstiftung ist die Bill & Melinda Gates Foundation. 37,6 Milliarden Euro be-

„Die Mediennutzer sind nicht passive Konsumenten

schrecklicher Bilder, sondern können Hilfsmaßnahmen

direkt unterstützen“ Michael Opriesnig

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trägt ihr Kapitalstock. Die Stiftung des Microsoft-Zampanos ist der größte Geldgeber bei der Ent-wicklung eines Impfstoffes gegen Malaria – eine Tropenkrankheit, die von der internationalen Ge-meinschaft lange vernachlässigt wurde.

Misstrauen gegen PrivateNeue Geldquellen für gemeinnützige und philan-thropische Zwecke: „Was auf den ersten Blick rundum positiv scheint, hat seine Schattenseiten. Wer viel Geld verteilt, nimmt Einfluss – selbst mit den besten Intentionen hat das Auswirkungen, die hinterfragt werden müssen“, gibt Jürgen Maier vom deutschen Forum Umwelt & Entwicklung zu bedenken.

„Entziehen sich schon öffentliche Institutio nen oft genug der demokratischen Transparenz und Kontrolle, gilt dies für Stiftungen erst recht.“

Maier untermauert seine Kritik mit einem Beispiel: „Bei international agierenden Groß-Stiftungen wie etwa der Gates-Stiftung konterkariert ihr offenes Eintreten für Gentechnik längst die Politik vieler afrikani scher Länder in einer nicht mehr vertretbaren Weise. Es wird höchste Zeit, dass darüber diskutiert wird, wie solche Schattenseiten eingedämmt werden können.“

Für den österreichischen Journalisten Helmut Spu-dich kommt solche Kritik nicht unerwartet. „Ich stelle

ein starkes Misstrauen gegenüber privaten Initiativen fest“, so Spudich, Autor des Buches „Reich & gut – wie Bill Gates und Co. die Welt retten“. „Es ist relativ ein-fach, Milliardären gegenüber misstrauisch zu sein. Wenn jemand reich ist, kann etwas nicht stimmen.“

Wer wie der ehemalige Kindersoldat Kalie durch die Hölle auf Erden gegangen ist, kann sich den Luxus nicht leisten, über demokratiepolitische Aspekte der Herkunft der Mittel für jene Projekte zu sinnieren, die sein Leben lebenswerter machen.

Es ist Kalie wahrscheinlich nicht wichtig, ob seine Maurerlehre von einem Auto- oder einem Software-fabrikanten finanziert wird. Die Erzeugnisse beider kann er sich ohnehin nicht leisten.

Kurier Aid Austria (KAA) engagierte sich nach dem Tsunami

beim Wiederaufbau von Dörfern in Sri Lanka. Jetzt betreiben

KAA und das Österreichische Rote Kreuz ein Lernhaus im

15. Wiener Gemeindebezirk

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M edien beschränken sich nicht länger auf das Berichten.

Zeitungen, Radio und Fernse-hen nehmen einen aktiven Part in der humanitären Hil-fe ein – meist mit Spendenkampagnen, gelegentlich durch die Übernahme ganzer Hilfsprojekte.

So wie die Tageszeitung „Kurier“. Gemeinsam mit Raiffeisen, UNIQA, der österreichischen Bauwirtschaft und dem Roten Kreuz gründete das Medium den Verein Kurier Aid Austria (KAA). Erster Einsatz war ein Wiederaufbauprojekt nach dem Tsunami in Sri Lanka.

Mittlerweile ist der Verein in Österreich aktiv. Die Aktion „Lernhaus“ ist eine Kooperation von KAA und Rotem Kreuz. In den Lernhäusern erhalten Kinder kos tenlos Lernhilfe und Unterstützung beim Erwerb sprachlicher und sozialer Kompetenzen. Peter Rabl, 63, ehemaliger Herausgeber und Chefredakteur des „Ku-rier“, war von 2005 bis 2008 Präsident der KAA.

henri: Am 26. Dezember 2004 verwüstete ein Tsunami zahlreiche asiatische Küstengebiete. Schon am 9. Jänner 2005 titelte der „Kurier“: „Wir bauen das Österreich-Dorf für Flut-opfer in Sri Lanka“. Was ist in den 14 Tagen davor passiert?

PEtER RABL: Die Initiative ging von „Kurier“-Auf-sichtsratspräsident Christian Konrad aus. Er hat ange-rufen und gesagt: „Da müssen wir helfen!“ Es folgten Gespräche mit Raiffeisen und dem Roten Kreuz. Hans Peter Haselsteiner hat die Unterstützung der Bauindus-trie zugesagt. Wir haben uns zusammengesetzt und binnen fünf Tagen eine Organisation gegründet.

Welche Rolle spielte dabei die Zeitung?

Der „Kurier“ hat die Initiative an die Öffentlichkeit ge-tragen. Das war wesentlich für das Sammeln von Spen-den. Wir haben an die elf Millionen Euro zusammen-bekommen. Gemeinsam mit dem Roten Kreuz waren wir der Kern der Organisation. Der „Kurier“ hat konti-nuierlich über den Projektfortschritt berichtet.

InteRVIew: thomas maRecek

Warum Medien zu Helfern werden: Ex-„Kurier“-Herausgeber Peter Rabl über Kurier Aid Austria und das Misstrauen der anderen.

„Das war Angstbeißen“

Peter Rabl

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Die Kernkompetenz des „Kurier“ sollte sein, eine gute Zeitung zu machen. Hat sich mit der Gründung der KAA ein Wechsel vollzogen – vom reinen Berichten zum Helfen?

Nein, der „Kurier“ hat eine lange Tradition, wenn’s ums Helfen geht. Vor 40 Jahren gab es ein Hochwasser in Kärnten. Dort ist das erste „Kurier“-Dorf gebaut wor-den. Wir haben mit der KAA also an eine gute Tradition angeknüpft und die größte Aktion in der Geschichte des „Kurier“ zustande gebracht.

Dennoch gab es Kritik. Die Vorwürfe reichten von man-gelnder Expertise bis hin zu fehlendem Respekt vor der loka-len Bauweise. Berechtigte Skepsis gegenüber einem neuen Akteur?

Das war eindeutig Angstbeißen. Natürlich haben ande-re Organisationen gelesen, dass wir relativ schnell viel Geld aufgetrieben haben. Dieser Erfolg schürte offen-bar Neid. Wir gingen hochsensibel vor und waren bestens beraten durch Max Santner, einen ausgewie-senen Experten in Sachen Entwicklungszusammenar-beit. Wir haben uns sehr bemüht, uns auf die lokalen Gegebenheiten einzustellen.

Der journalistische Anspruch verpflichtet zur Wahrheit, nicht zur Hilfe. Hat ein Medium die Verpflichtung, zu helfen?

Diese Verpflichtung gibt es nicht automatisch. Hilfe durch Spendenaufrufe zu ermöglichen – das muss je-des Medium leisten. Selbst eine Hilfsaktion zu starten ist kein moralischer Anspruch an ein Medium.

Es gibt aber Aktionen wie „Nachbar in Not“ oder KAA …

Nach Katastrophen wie dem Tsunami stehen die meis-ten Menschen unter Schock und wollen etwas tun. Von Medien getragene Hilfsaktionen helfen den Lesern und Zusehern, diesen Psychoschock zu verdauen. Wir können das Gefühl vermitteln: „Ich kann einen Beitrag leis ten, damit diese Katastrophe gemindert wird. Ich kann hier helfen.“

Worauf führen Sie die enorme Betroffenheit der Öster-reicher nach dem Tsunami zurück?

Der Tsunami hat in einer Gegend stattgefunden, wo viele Menschen schon Urlaub gemacht haben. Wäre er in Grönland passiert, hätte er bei Weitem nicht dieses Aufsehen erregt. Überlegen Sie, wie viele Österreicher schon einmal in Thailand oder Indien auf Urlaub waren. Darüber hinaus waren viele urlaubende Österreicher betroffen. Unter diesen Voraussetzungen sind die Be-troffenheit und das Medieninteresse hoch.

Man sagt den Österreichern nach, sie wären Spenden-weltmeister. Wie zufrieden waren Sie mit dem Fundraising?

Wir waren natürlich begeistert. Elf Millionen Euro sind ja nicht ohne. Es war eine große Verantwortung, dieses Geld zum Wohle der Menschen in Sri Lanka einzuset-zen. Das ist uns gelungen.

Was kann man in Zukunft von der KAA erwarten?

Wir sind auf einem guten Weg und die Tradition wird fortgesetzt. Kurier Aid Austria ist zu einer Standby- Organisation geworden. Zuvor hat sich der „Kurier“ auch schon engagiert. Nach dem Tsunami wurde dieses Engagement in eine Organisationsform gegossen. Wenn es großen Bedarf gibt, wie jetzt mit den Lern-häusern im Inland oder bei zukünftigen Katastrophen, dann werden die Kollegen auch wieder anpacken.

„Das war Angstbeißen“

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J onathan Benthall gehört zu den führenden Anthro-pologen Großbritanni-

ens. Er forscht über die inter-nationale humanitäre Hilfe, die Rolle der Medien dabei und ist Autor des Standard-

werks „Disasters, Relief and the Media“. Zurzeit be-schäftigt er sich am University College London mit glaubensorientierten Hilfsorganisationen. Er hat dazu zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt „The Charita-ble Crescent: Politics of Aid in the Muslim World“.

henri: Herr Professor Benthall, das Erdbeben in Haiti, die Überflutungen in Pakistan, der Nuklearunfall in Japan haben große Spendenbereitschaft geweckt. Warum gehen Kriege in Somalia oder im Kongo leer aus?

JONAtHAN BENtHALL: Ich habe widerwillig einge-stehen müssen, dass hier ein „stabiles System“ am Werk ist. Der Süden exportiert Elendsbilder wie Verbrauchs-güter. Der Norden reagiert mit Zahlungen.

Was meinen Sie mit Verbrauchsgütern?

Die armen Länder exportieren nicht nur Rohstoffe und einfache Industriewaren. Sie versorgen uns auch mit

„unsichtbaren Exporten“. Dazu zählen Bilder von hoher Symbolkraft, die für fremdländische Genüsse und exo-tisches Vergnügen stehen. Die finden Sie in jeder Tou-rismus-Werbung. Die andere Seite der Medaille sind Katastrophenbilder.

Die haben aber nichts mit exotischem Vergnügen zu tun.

Sie haben in der Unterhaltungsindustrie trotzdem ih-ren fixen Platz.

InteRVIew: RobeRt DempfeR

Katastrophenberichte in den Medien folgen wie Märchen einem vorgefertigten Rezept. Müssen sich die Helfer daran halten?

Exportgut Hungerkinder

Jonathan Benthall

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2312|2011

Fernsehnachrichten sind Unterhaltung?

George Clooney, der „sexiest man alive“, wirbt für Nespresso, gleichzeitig ist er UN-Botschafter für den Frieden. Während wir hier reden, widmet das britische Fernsehen 80 Prozent seiner Zeit der Hasenjagd auf Rupert Murdoch. Der Medienmagnat wur-de bis vor Kurzem von jedem Politiker ho-fiert, jetzt hetzt ihn die eigene Pressemeu-te. Dazwischen gibt es einen Bericht über die neueste Hungerkatastrophe in Afrika, über einen Versicherungsbetrug, den Pro-zess gegen Karadzic, dann kommt Sport.

Die Elendsbilder gehören zum „stabilen System“ wie Klatsch und Fußball?

Genau. Manchmal bringen Großereignisse diese Stabilität durcheinander: Haiti liegt nahe an den USA, die Überflutungen in Pa-kistan hatten riesige Ausmaße. Fukushima hat uns an die Abhängigkeit von der Kern-kraft erinnert. Das erzeugt kurzfristig hohe Aufmerksamkeit. Dann schal tet das System auf Normalbetrieb zurück.

Sie meinen, Nachrichten folgen wie Mär-chen einem vorgefertigten Rezept. So erfüllen sie bestimmte Erwartungshaltungen. Gilt das auch für Kata-strophen-News?

Ja. Der Helfer aus dem Norden ist der Held. Er wird von einem Gönner ausgeschickt. Ausgestattet ist er mit

„Zauberkräften“, die es ihm ermöglichen, einen Mangel zu beseitigen oder einen Bösewicht zu besiegen. Dann ist da noch die Prinzessin, die eingreift und belohnt. Nach diesem Rezept funktioniert das Verhältnis zwi-schen Hilfsorganisationen und Medien.

Müssen sich NGOs daran halten, um in die Nachrichten zu kommen?

Sie kommen kaum daran vorbei. Selbst wenn nur eine dieser Figuren in den Nachrichten auftaucht, erkennt das Publikum sie als Teil der erwarteten Erzählung.

In vielen heutigen Kriegen gibt es aber keine einfachen Geschichten mehr.

Deshalb werden sie ignoriert. Gerade komplexe Kata-strophen passen nicht in das Schema einer einfachen Erzählung. Es ist schwer auszumachen, wer die Guten und wer die Bösen sind. Seit mein Buch („Disasters, Relief and the Media“) 1993 erschienen ist, hat es Fort-schritte gegeben. Die Serie „Vergessene Welt“ auf Channel Four zum Beispiel widmet sich komplexeren Zusammenhängen hinter Kriegen und Katastrophen.

Ein Tropfen auf den heißen Stein.

Leider, und die Rund-um-die-Uhr-Nachrichten machen nichts besser. Um sie zu bedienen, beschränken sich viele Hilfsorganisationen darauf, wieder nur diese ent-würdigenden Bilder von Kriegs- und Katastrophenop-fern zu zeigen.

Kann man die Vorstellungen der Medien, wie eine Ge-schichte zu erzählen ist, ändern?

Hilfsorganisationen, die das versuchen, könnten unter Druck kommen. Deshalb wird, um Spendeneinnahmen zu erhöhen, auf das Erklären tieferer sozialer, wirt-schaftlicher und politi scher Zusammenhänge hinter Kriegen und Katastrophen verzichtet. Was nicht be-deutet, dass es NGO-intern nicht immer noch scharfe Diskussionen gäbe. Die Helfer wissen ja, dass sie damit unerwünschte Stereotype fördern. Wie etwa jenes, dass Afrika einzig aus Hunger und Krieg besteht.

Stumpfen die Zuschauer wegen dieser ständig wieder-kehrenden stereotypen Bilder ab?

Ich fürchte, ja.

Aber die Helfer wissen, was sie tun, wenn sie mit Bildern von Hungerbabys werben?

Exportgut Hungerkinder

Der Helfer aus dem Norden ist der Held. Mit seinen „Zauberkräften“ beseitigt

er einen Mangel oder besiegt einen Bösewicht

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Die großen NGOs haben eine beeindruckende Fähig-keit zur Selbstkritik. Allerdings wirkt sich diese nicht immer auf die praktische Arbeit aus. In Großbritannien gibt es das Disasters Emergency Committee (DEC). Die wichtigsten Hilfsorganisationen und die Fernseh-sender arbeiten darin bei großen Katastrophen zusam-men. Das hat zu einer Homogenisierung des gesamten Hilfssektors geführt.

Katapultiert uns das Internet in die Zeit vor den Massen-medien zurück? Die User beschränken sich auf ihre Interessen-foren und ignorieren alle anderen Informationen.

Da bin ich skeptisch. Die Nachrichten werden weitge-hend von einigen großen Sendern und Presseagen-turen kontrolliert. Sender wie Al-Jazeera oder Russia Today tragen heute aber zu größerer Vielfalt bei.

Ihre Hauptkritik richtet sich gegen eine Informationspo-litik, die ausschließlich die Symptome von Kriegen und Kata-strophen in den Vordergrund stellt, nie die Ursachen.

Die humanitäre Idee, Barmherzigkeit, Soforthilfe … all das ist im Wesentlichen konservatives Gedankengut. Eben, weil es Symptome anspricht, nicht Ursachen. Deshalb sind Marxisten dagegen. Deswegen meinen Entwicklungshilfe-Experten fälschlicherweise, dass

Entwicklungszusammenarbeit nichts mit Barm-herzigkeit zu tun hätte. Aber ohne sie wäre die Welt ein noch grausamerer Platz.

James Orbinski, ehemaliger Präsident von „Ärzte ohne Grenzen“, meint: „Die Kriege auf der Welt müssen aufhören, und das werden sie auch.“

Ich fürchte, das werden sie nicht. Wenn die Industrie-länder dem Süden wirklich helfen wollen, dann sollten sie ihre Grenzen für Zuwanderer öffnen, die hier arbei-ten wollen. Diese Menschen wollen keine Barmherzig-keit. Sie suchen ein Einkommen, mit dem sie ihre Fami-lien erhalten können.

Aber das Gegenteil geschieht, Europa schottet sich ab. Bleibt uns nichts als Dunants Idee der humanitären Hilfe, wenn wir etwas für die Opfer tun wollen?

Ich bin mehr und mehr an Hilfsorganisationen interes-siert, die auf der Grundlage einer religiösen Weltan-schauung arbeiten. Ihre jahrhundertelangen ethischen Traditionen sind möglicherweise ein stärkeres Boll-werk gegen den Egoismus des Nordens als eine aus-schließlich weltliche Moral. Trotz aller Verbrechen, die im Namen der Reli gio nen verübt wurden.

Ist nicht auch der Dunantismus des Roten Kreuzes eine Form des Glaubens?

Der Dunantismus des Roten Kreuzes – und die Variante der „Ärzte ohne Grenzen“ – ist genau genommen ein Religionsersatz in einer säkularen Welt. Ich wünsche mir, dass er den Organisationen ausreichend Stärke verleiht, damit sie nicht der Selbstgefälligkeit erliegen.

Wenn die Industrieländer dem Süden wirklich helfen wollen, sollten

sie ihre Grenzen für Zuwanderer öffnen, die hier arbeiten wollen

George Clooney: Der „sexiest man alive“ wirbt für Nespresso und ist gleichzeitig UN-Botschafter für den Frieden

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Millionen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in 186 Ländern. Ein internationales Netzwerk, das sich noch in die entlegensten Winkel der Welt erstreckt.

Robert Dempfer, selbst langjähriger Mitarbeiter, beschreibt in seinem Buch kompakt die Entwicklung und die außergewöhnliche Rolle des Roten Kreuzes sowie den Wandel im Selbstverständnis und die Ausweitung der Aufgaben der Organisation angesichts ständig neuer geopolitischer Konstellationen.

Dafür bricht der Autor mit der für das Rote Kreuz typischen Diskretion und lässt die Helferinnen und Helfer selbst zu Wort kommen – einen Notfallsanitäter ebenso wie eine Flüchtlingshelferin, einen Kriegschirurgen sowie einen Arzt, der viele Einsätze für das Rote Kreuz mitgemacht hat: den heutigen französischen Außenminister Bernard Kouchner.

Wie funktioniert das . Rote Kreuz?

Grundsätze, Geschichte und Gesichter zur bekanntesten Marke der Welt. Für alle Freunde des Roten kreuzes und für alle humanitär Interessierten.

RobeRt DempfeR: Das Rote KreuzVon Helden im Rampenlicht und diskreten Helfern.Deuticke 2009, E 18,40

„... ein Glücksfall. Robert Dempfer gelingt eine elegant verfasste Biografie der neutralen Helfer und ihres Gründervaters Dunant.“

(Thomas Speckmann, Neue Zürcher Zeitung)

„Ein kluger Wegbegleiter auf der Sinnsuche – aber keine Lektüre, die sanfte Träume beschert.“

(Eva Preiss, Vorrang intern)

„Informativ, gebildet und unterhaltsam.“(Jochen Bendele, Kleine Zeitung)

„Kompakt umreißt der Autor die Entwicklung der humanitären Idee und erläutert die außergewöhnliche Rolle des Roten Kreuzes – katastrophal gescheiterte Hilfsaktionen nicht ausgespart.“

(oeza aktuell)

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DERSpendensumme, Attraktivität der Notlage, mediale Dichte, Österreichbezug und Hoffnungslosigkeit ergeben die gültige Spendenformel. S. 34

„Es gibt keine humanitäre Lösung für politische Probleme.“ S. 39

In Haiti sorgen 11.000 amerikanische Soldaten und mehrere

internationale Militäreinheiten für den Schutz der Bevölkerung. S. 32

In der 130.000-Einwohner-Stadt Ishinomaki ist das Rotkreuz-Spital

die einzige funktionierende Gesundheitseinrichtung. S. 29

„Hilfs- und Militär

einsätze müssen getren

nt werden. Allen Parteien

muss klar sein

, dass wir nicht als

Feinde kommen.“ S. 42

Allein das Japanische Rote Kreuz hat mehr als

55.000 Angestellte und über zwei Millionen Freiw

illige. S. 29

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HILFEDERGRENzEN

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m 13. Jänner 2010 brummt die Einsatzzentrale für Internationale Hilfe des Österrei-chischen Roten Kreuzes wie ein Bienenstock. Am Nach-mittag des Vortages hat ein Erdbeben der Stärke 7,0 nach Richter die Karibikinsel Haiti erschüttert. Das Epizentrum liegt nur 25 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Port-au-Prince.

Zehntausende Bauwerke stürzen ein, 1,8 Millionen Menschen werden obdachlos, mehr als 300.000 sind verletzt, ebenso viele sterben. Insgesamt sind bis zu drei Millionen Haitianer, etwa ein Drittel der Bevölke-rung, von der Katastrophe betroffen.

Am 11. März des folgenden Jahres bekommt Walter Hajek, Leiter des internationalen Katastrophen ma-nage ments im Österreichischen Roten Kreuz, wieder zu tun. Vor Japans Nordküste bebt die Erde mit einer Stärke von 9,0 auf der Richterskala. Das Beben löst

einen Tsunami aus, der die Pazifik-Küste der Insel über-rollt. Das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi hält den Erschütterungen nicht stand. In den Reaktoren eins bis drei kommt es zur Kernschmelze.

Die ersten Stunden „Bei uns gehen in den ersten Stunden einer Katastro-phe – besonders bei plötzlichen wie einem Erdbeben – Unmengen an Informationen ein“, sagt Walter Hajek.

Im Fall Haitis wird schnell deutlich: Aufgrund des Ausmaßes dieses Desasters wird die Regierung des Landes ein staatliches Hilfsansuchen stellen.

Das bedeutet: UN-Organisationen, Rotes Kreuz, NGOs, institutionelle Geldgeber wie die EU oder USAID sowie das Militär beginnen mit der Koordination der Hilfe. Für die Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung wird der Hilfseinsatz der größte sein, der jemals in

Von petRa GRIessneR

In der Mega - KatastropheHaiti, Pakistan, Japan – drei völlig unterschiedliche Katastrophen in nur 14 Monaten. Wie begegnen ihnen die Helfer?

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einem einzelnen Land stattgefunden hat. „Haiti und Japan sind absolute Kontrapunkte“, sagt Walter Hajek. „Nach dem Beben in Haiti war rasch klar, dass massiv internationale Hilfe be-nötigt wird. Japan hat kein internationales Hilfs-ansuchen gestellt, nur finanzielle Unterstützung war gefragt. In diesem funktionierenden Staat hätten Helfer von außen eher viele Ressourcen gebunden. Schon aufgrund der Sprachbarriere.“

Haiti und Japan – die GegensätzeDas Japanische Rote Kreuz hat mehr als 55.000 Ange-stellte und über zwei Millionen Freiwillige. Sie sind in der medizinischen und psychosozialen Versorgung, im Blutspendedienst, in der Hilfsgüterverteilung, im Such dienst und in der Unterbringung geschult und ein-satzbereit. In der 130.000 Einwohner zählenden Stadt

Ishinomaki ist das Rotkreuz-Spital sogar die einzige funktionierende Gesundheitseinrichtung. Das Haitia-nische Rote Kreuz dagegen ist selbst schwer getroffen. Tausende Mitarbeiter sind ums Leben gekommen, Zen-trale und Dienststellen schwer beschädigt.

Auch die Gebäude der UN-Hilfsmission im Land sind zerstört, die leitenden Mitarbeiter tot. Das Land hat keine aktive Rechtsprechung, die ohnehin mangel-hafte Verwaltung und Infrastruktur sind völlig zusam-mengebrochen, die öffentliche Sicherheit fehlt völlig.

„Ein nicht funktionierender Staat, ein sogenannter

In der Mega - Katastrophe

Für die Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung ist der Haiti-Einsatz der größte, der jemals in einem einzelnen Land stattgefunden hat

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,failed state‘, ist die größte Herausforderung in einer Katastrophe“, weiß Heike Welz, die das Wiederauf-bauprojekt des Österreichischen Roten Kreuzes in Hai ti leitet.

Amerikanische Soldaten patrouillieren deshalb nicht nur in den Straßen von Port-au-Prince. Sie über-nehmen auch die Regelung des Flugverkehrs und den Transport von Hilfsgütern.

Im Gegensatz zu Japan sind in Haiti auch die Verein-ten Na tio nen gefordert. Ein Wiederaufbaukomitee mit

Vertretern Haitis und der Staatengemeinschaft wird eingerichtet. Mit der Leitung der Hilfsmaßnahmen be-auftragt die UN den ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton. Bereits nach kurzer Zeit steht ein Wiederauf-bauplan, die Umsetzung braucht allerdings Zeit.

Wasser kommt langsamDie dritte Großkatastrophe zwischen Jänner 2010 und März 2011 ereignet sich in Nordwestpakistan. Aufgrund ungewöhnlich heftigen Monsun-Regens kommt es ab Juli zu starken Überschwemmungen, die Brücken, Stra-ßen und fast zwei Millionen Häuser zerstören oder beschädigen. Bald sind 26 pakistanische Distrikte und mehr als 14 Millionen Menschen von den Überschwem-mungen betroffen. Die Hälfte von ihnen benötigt unmittelbar humanitäre Hilfe. Doch weil die Flut schlei-chend kommt und ein so riesiges Gebiet betroffen ist, dauert es, bis die internationale Hilfe startet.

Immerhin verfügt Pakistan über eine funktionieren-de behördliche Verwaltung und 130.000 freiwillige und gut ausgebildete Katastrophenhelfer des Pakistani-schen Roten Halbmonds (PRCS). Sie beginnen im ganzen Land mit der Verteilung von Zelten und Lebens-mitteln, mehr als 50 mobile Ambulanzteams sind im Einsatz. Die politische Lage erschwert die Arbeit der Hilfsorganisationen vor allem in den Konfliktgebieten des Landes.

Hier sind die Mitarbeiter des Pakistanischen Roten Halbmonds mit ihrem Wissen über Ansprechpartner, Land, Kultur, Traditionen und religiöse Hintergründe von unschätzbarem Wert. Je prekärer die Sicherheits-lage in einem Land, desto entscheidender ist dieses lokale und regionale Wissen für erfolgreiche Hilfe. Die

Die Mitarbeiter des Pakistanischen Roten Halbmonds mit ihrem Wissen über Ansprechpartner, Land, Kultur,

Traditionen und religiöse Hintergründe sind von unschätzbarem Wert

Auch wenn es Unterschiede im regionalen Kontext gibt, hat jede Großkatastrophe Ähnlichkeiten: Menschen müssen unter-gebracht werden; sie benötigen sauberes Trinkwasser, Nah-rungsmittel, medizinische Versorgung. Nach dem Tsunami in Südostasien im Jahr 2004 hat die UNO ein Cluster-System entwickelt. In diesen einzelnen Bausteinen sind Arbeitsbe-reiche wie Unterkunft, Wasser und Sanitärversorgung sowie Gesundheit gebündelt. „Das hilft den Organisationen, sich die Arbeit im Sinne der Betroffenen zu teilen. Damit alle mit dem Richtigen versorgt werden. Lücken und Dubletten werden so schneller bemerkt“, weiß Martina Schloffer vom Internationa-len Katastrophenmanagement im Österreichischen Roten Kreuz (ÖRK). Die Cluster-Leitung ist dauerhaft jeweils einer Hilfsorganisation zugeordnet. So leitet das Rote Kreuz den Cluster „Unterkunft nach Naturkatastrophen“. Es arbeitet aber auch im WASH-Cluster (WAter, Sanitation and Hygiene) mit und kümmert sich um den Zugang zu sauberem Trinkwasser, die Hygiene in Flüchtlingsquartieren und um Sanitäranlagen. „In wöchentlichen Meetings tauschen Organisationen wie das ÖRK, Care International, UNICEF und Oxfam Informationen aus und klären, wer was wo macht“, beschreibt Heike Welz die Arbeit vor Ort. Die Cluster sind koordiniert, aber nicht geführt. Eine straffere Führung könnte ihre Effizienz laut Walter Hajek, Leiter des internationalen Katastrophenmanagements im ÖRK, noch erhöhen. Was aber wiederum die Unabhängigkeit einzelner Hilfsorganisationen untergraben könnte.

bausteIne DeR hIlfeDas Cluster-System der UN.

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direkte Beteiligung von Streitkräften an humanitären Aktionen wird gemäß den UNO-Richtlinien als letzte Op tion – „last resort“ – betrachtet. Sowohl in Haiti, Pakis tan als auch Japan hat das Militär aber eine zen-trale Rolle gespielt.

Militär und ÖffentlichkeitIn Haiti sorgen allein 11.000 amerikanische Soldaten und mehrere internationale Militäreinheiten für den Schutz der Bevölkerung und verhindern Plünderungen. Auch in Pakistan ist das Militär im Katastrophenhilfs-einsatz, und ebenso helfen in Japan Soldaten und Zivil-schutzverbände den betroffenen Menschen.

Bebenkatastrophen in einem Ausmaß wie in Haiti und Japan sind plötzliche Großereignisse, über die Medien sofort massiv berichten. Entsprechend groß ist die Spendenbereitschaft, sowohl der Staaten als auch der Bevölkerung. Im Falle der Überschwemmungen in Pakistan läuft die Berichterstattung schleppend an. Erst als Tag für Tag die Zahl der Toten steigt, nimmt die mediale Dichte zu – und mit ihr die Spendenbereit-

Millionen freiwilliger Erst- und Katastrophenhelferinnen und -helfer sind in 186 Ländern der Welt im Netzwerk der Rot-kreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften engagiert. Die Koor-dination in Konfliktgebieten erfolgt durch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Bei Naturkatastrophen wird die Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gemeinschaf-ten (IFRC) aktiv. Übersteigt das Ausmaß einer Katastrophe die nationalen Kapazitäten, wird über die Rotkreuz-Zentralen in Genf internationale Hilfe angefordert: finanzielle Unterstüt-zung, Hilfsgüter, Personal. Bevor ihre internationalen Kollegen eintreffen, sind bereits die Helfer der jeweiligen nationalen Gesellschaft im Einsatz. Längstens 24 Stunden nach ihrer Hilfsanforderung ist das erste FACT-Team (Field Assessment & Coordination Team) des Roten Kreuzes vor Ort. Diese Spezialis tinnen und Spezialisten bereiten den Einsatz der nachfolgenden Helfer vor. Gemeinsam mit lokalen Mitarbei-tern wird erhoben, was benötigt wird und wer Hilfsmittel bereitstellen kann. Diese wiederum sind standardisiert. Deshalb konnten nach den Überflutungen in Pakistan einhei-mische, schwedische und österreichische Helfer gemeinsam an einer Trinkwasseraufbereitungsanlage des ÖRK arbeiten.

hIlfs-bausteIneDas Netzwerk der Rotkreuz-Hilfe.

„In den ersten Stunden einer Katastrophe gehen bei uns eine Unmenge

an Informationen ein“Walter Hajek, Leiter des

internationalen Katastrophenmanagements im Österreichischen Roten Kreuz

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schaft (siehe „Spendenformel“ auf Seite 34). Obwohl Japan alles andere als ein Entwicklungsland ist, löst die Kata-strophe weltweit Solidarität aus. Von Australien bis Amerika werden Spendenaktionen gemeldet. Allein das Österreichische Rote Kreuz erhält Spenden aus mehr als 120 Aktionen.

Dabei ist in den Medien weniger von den Folgen des Tsunami die Rede. Der Atomunfall dominiert die Be-richte, „weil er an unsere eigene Abhängigkeit von der Kernkraft erinnert“, meint der Anthropologe Jonathan Benthall (Interview auf Seite 22).

Über Mangel an Beschäftigung kann sich Katastro-phenhilfe-Manager Walter Hajek weiterhin nicht be-klagen. Im Sommer 2011 sendet das Fernsehen die ers-ten Hunger-Bilder vom Horn von Afrika in die Wohn-zimmer. Im Gegensatz zu den Beben und der Flut der Vorjahre kam die Katastrophe nicht „überraschend“, wie die Regierungen behaupteten, um sich die Freiga-be von Hilfsgeldern bis zuletzt zu ersparen. Bei allen Hilfsorganisationen zeigten die Frühwarnsysteme schon im Herbst davor an, was da im Anzug war …

Der World Development Report (WDR) 2011 der Weltbank identifiziert „failed states“ – also besonders labile Länder – mit großer Armut und hoher Kriminalität als besonders gefährdet bei Katastrophen. Laut WDR leben eineinhalb Milliarden Menschen weltweit in Regionen, die von Gewalt, organisierter Kriminalität und Konflikten betroffen sind. Geringes Einkommen, Unruhen und Wirtschaftskrisen verschärfen die Situation dramatisch. Obwohl das Erdbeben in Japan eine Stärke von 9,0 nach Richter hatte, war der Schaden deutlich geringer als in Haiti. Schon vor dem massiven Erdstoß mit der Stärke von 7,0 auf der Richterskala war der Karibik-staat laut Human Development Index (HDI) der Vereinten Natio-nen das ärmste Land der westlichen Hemisphäre.

Auf der Liste der „failed states“, die vom US-Magazin „Foreign Policy“ jedes Jahr erstellt wird, rangiert Haiti auf Platz 5 hinter Somalia, dem Tschad, dem Sudan und der Demokratischen Republik Kongo. „Failed states“ mangelt es an leistungsfähigen Institutionen, der Staat verfügt über keine Autorität gegenüber seinen Bürgern, und er kann deren Bedürfnisse nach Sicherheit, Entwicklung und politischer Beteiligung nicht befriedigen.

labIle länDeR„Failed states“ sind besonders katastrophengefährdet.

„Ein nicht funktionierender Staat ist die größte Herausforderung

in einer Katastrophe“Heike Welz, ÖRK-Katastrophenhelferin

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Spendensumme = Attraktivität der Notlage x mediale Dichte x Österreich

bezug

Hoffnungslosigkeit

ie Formel, nach der Gelder für Hilfs-aktionen aufgebracht werden, ist denkbar simpel. Sie lautet: Spendensumme = Attraktivität der Notlage x mediale Dichte x Österreichbezug. Der erste Begriff mag zynisch klingen, hat aber eine empirische Begrün-dung. Die Unterstützungsbedürftigkeit eines Opfers wird nicht nur an der objektiven Notlage gemessen. Sondern auch daran, wie sehr der Notleidende an sei-ner Situation „selber schuld“ ist.

Während dem Durchschnittsbürger plausibel ist, dass ein Rettungswagen auch dann ausfährt, wenn ein Unfallopfer aus eigenem Verschulden – etwa durch Alkoholisierung – von der Straße abgekommen ist, ge-hen viele nicht mit derselben Neutralität an Spenden-aktionen heran. Zu einem geflügelten Wort wurde da-her die Aussage eines Meinungsforschers, wonach die

aussichtsreichste Spendenaktion wohl für Bergbauern-kinder nach einem Vulkanausbruch durchzuführen sei.

Spenden-GefühleSpenden sind im Wesentlichen emotionsgesteuert. Sie beginnen daher erst dann in nennenswertem Umfang zu „fließen“, wenn die Berichterstattung in den Me-dien eine bestimmte Dichte erreicht hat. Wenn der Sachverhalt so emotional vor Augen steht, dass man sich ihm nicht mehr entziehen kann.

Nach welchen Gesetzmäßigkeiten Katastrophen und Ereignisse in den Medien tatsächlich jene Dichte an Berichterstattung erfahren, ist nicht hinreichend geklärt. Die Dauer der Berichterstattung ist weder zur Zahl der Opfer noch zum Ausmaß einer Katastrophe proportional. Andere Faktoren wie die Erreichbarkeit

Von RolanD sIeGRIst unD wolfGanG beRGmann

Die Formel fürs Spenden

Warum spenden wir lieber für hungernde Kinder als für pflegebedürftige Erwachsene? Und eher für die Opfer von Erdbeben als für jene von Bürgerkriegen?

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Spendensumme = Attraktivität der Notlage x mediale Dichte x Österreich

bezug

Hoffnungslosigkeit

eines Notstandsgebiets, die Anwesenheit von Fernsehteams oder die Dichte der Tagesaktua-litäten in Innen- und Außenpolitik beeinflus-sen die mediale Wetterlage oft mehr als die objektiven Fakten eines Ereignisses.

Dass Aktionen wie „Nachbar in Not“ die notwendige Mediendichte erzielen können, ist in der außergewöhnlichen Reichweite des Medienpartners ORF und in dessen breitem Engagement begründet.

Prinzip Hoffnung(slosigkeit)Der Österreichbezug einer Hilfsaktion ist nicht mit ei-ner Hilfsaktion, die in Österreich stattfindet, zu ver-wechseln. Beim Spendenverhalten für Hilfseinsätze im Ausland dominieren aber Aktionen mit Österreichbe-zug (österreichische Entwicklungshilfe, Aktionen, die von Österreich aus gesteuert und durchgeführt wer-den, Helfer aus Österreich sind vor Ort, es gibt Opfer aus Österreich wie beim Tsunami 2004 …).

Auch dieser Beweggrund ist emotional, weil es, ver-nünftig gesehen, irrelevant ist, ob eine Hilfsaktion durch Österreicher, Schweizer, Amerikaner oder Deut-sche durchgeführt wird.

Die erwähnte Formel ist um einen „Bremsklotz“ zu er-weitern. Auch dieser ist emotional bedingt: In seinem zweiten Jahr hatte die Aktion „Nachbar in Not“ für das ehemalige Jugoslawien mit einem Stimmungsum-schwung zu kämpfen. Hoffnung und Euphorie schlugen in Hoffnungslosigkeit um.

Das Spendenaufkommen wird also nicht nur da-durch beeinflusst, dass nachgewiesen werden kann, dass die einzelne Spende Sinn hat. Sondern auch, ob sie im Kontext des Prinzips Hoffnung oder des Prinzips Hoffnungslosigkeit steht.

Die vervollständigte Formel lautet daher:

Roland Siegrist und Wolfgang Bergmann zählten 1992 zu den Initiatoren der Aktion

„Nachbar in Not“. Roland Siegrist ist heute Präsident der Evangelischen Diakonie. Wolfgang Bergmann ist Verlagsgeschäfts-führer der Tageszeitung „Der Standard“. Eine Langfassung dieses Beitrags ist er-schienen in: „Nachbar in Not. Humanitäre Hilfe – Friedensbotschaft“, Wien: hpt extra 1994

Spendensumme = Attraktivität der Notlage x mediale Dichte x Österreichbezug Hoffnungslosigkeit

teil des Erfolgs: das „Lkw- Konzept“. Immer wenn 200.000 Schilling gespendet waren, fuhr ein Fahrzeug los

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Helfer als Ziele: Gezielte Angriffe haben im letzten

Jahrzehnt ständig zugenommen.

as Bild ist eine Ikone des Bosnien-Krieges: Am 18. Dezember 1994 liegt der siebenjährige Nermin Divovic im Zentrum Sarajewos in seinem Blut, während zwei UN-Feuerwehrmänner aus ihrem gepan-zerten Fahrzeug springen, um ihm zu Hilfe zu eilen.

Der Bub wurde nicht zufällig von einer Granate getö-tet. Ein Heckenschütze hat ihn aus der Menschenmen-ge in der notorischen „Sniper Alley“ ausgewählt, das Teleskop seines Gewehrs scharf gestellt, ihm ins Ge-sicht geblickt und den Abzug gedrückt.

Was das Foto nicht zeigt, ist die Mutter des Buben. Derselbe Scharfschütze hat sie in den Bauch geschos-sen. Sie sollte nicht sofort tot sein. Sondern zuerst noch ihren Sohn sterben sehen.

Bevor Doris Pfister als Delegierte des Internationa-len Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) nach Bosnien versetzt wird, hat sie in Sri Lanka und Israel Kriegser-

fahrung gesammelt. Mit Kollegen macht sie sich jetzt auf, um herauszufinden, wer die Heckenschützen sind, wie sie leben, vor allem, was sie antreibt, auf Kinder und ihre Mütter zu schießen. Sie suchen nach Argumen-ten, um sie zu überzeugen, damit aufzuhören. Doch sie geben bald auf.

„Wir haben keine Botschaft gefunden“, sagt Doris Pfister. Nach Ansicht der Heckenschützen hatten auch Frauen und Kinder unbedingt den Tod verdient.

Das Vakuum nach 1989Die vier Genfer Konventionen von 1949 und ihre Zusatz-protokolle legen fest, wie Kriege geführt – oder genauer: nicht geführt – werden dürfen: Kriegsgefan-gene und Verwundete müssen anständig behandelt werden. Der Kampf gegen Zivilisten ist verboten. Ganz generell soll das humanitäre Völkerrecht allen Perso-

Von RobeRt DempfeR

Die Grenzen der Hilfe

Wenn humanitäre Helfer zu Hassobjekten werden.D

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nen, die nicht oder nicht mehr kämpfen, ein Minimum an Schutz bieten. Von der Staatengemeinschaft mit der Umsetzung beauftragt ist das Rote Kreuz.

Bis zum Ende des Kalten Krieges hat dieses jus in bello so recht und schlecht funktioniert. Humanitäre Organisationen waren besser respektiert als heute, auch weil die Großmächte ein Auge auf die Konflikte hatten. „Wenn es in Angola oder Kambodscha Schwie-rigkeiten gab“, erinnert sich der ehemalige IKRK-Dele-gierte Urs Boegli, „dann konnten wir uns an die Regie-rungen in Washington, Paris oder London wenden. Zum Schluss sogar an Gorbatschow in Moskau. Irgend-jemand rief dann immer vor Ort an und sagte: Passt ein bisschen auf mit de-nen vom Roten Kreuz und lasst sie ungehindert ar-beiten.“

Bewaffnete Befreiungs-bewegungen, die um An-erkennung rangen, hatten Interesse an einer weißen Weste. Die UNO konnte nicht mit ihnen reden, weil das ihre Anerkennung be-deutet hätte. Die humani-tären Helfer brauchten diese Berührungsängste nicht zu haben. IKRK-De-legierte verhandelten un-gehindert mit ihnen, um Zugang zu Gefangenen zu erhalten und um ihre Hilfe durchzubringen. „Jene, die gut mit dem Roten Kreuz zusammengearbeitet ha-ben, haben sich auch ge-dacht: Toll, das sendet die richtigen Signale an die USA und an die Regierungen in Europa“, erinnert sich Urs Boegli.

Neue Krieger ohne weiße WestenDoch nicht nur den Wunsch nach einem Sitz in der UN-Generalversammlung in New York gibt es nicht mehr. Die „neuen Krieger“ von heute sind auch wirtschaft-lich unabhängiger, halten sich mittels Rohstoff- oder Drogenhandel über Wasser.

Vor allem aber ist die Politik aus der Mode gekom-men: Die Vernetzung mit den Regierungen in Washing-ton, Paris, London und Moskau ist nicht mehr vorhan-den. An die Stelle der traditionellen Machtzentren sind neue, unvertraute regionale Interessen getreten. An-stelle der regulären Armeen mit trainierten Soldaten und Befehlsketten kämpfen heute Bürgerkriegssol-daten, Milizen und bewaffnete Banden in Situationen

simpler, roher Gewalt, grausam und gesetzlos. Im ehe-maligen Jugoslawien wurden auch die humanitären Helfer erstmals zu Hassobjekten.

Helfer als Hassobjekte„In Bosnien war das täglich klar zu sehen“, erinnert sich eine ehemalige IKRK-Delegierte. „Die Serben mochten uns nicht, weil sie am liebsten überhaupt keine inter-

nationale Präsenz woll-ten. Die Muslime moch-ten uns nicht, weil zu we-nig internationale Prä-senz vor Ort war – zum Beispiel, um den Krieg zu beenden. Alles, was sie bekamen, war huma-nitäre Hilfe.“

Dabei heißt es in den Genfer Konventionen ausdrücklich, dass die Signatarstaaten nicht nur dafür verantwortlich sind, die Kriegsregeln zu beachten, sondern auch dafür zu sorgen, dass sie von anderen Staaten be-achtet werden.

„Man kann sich auch davon keine Wunder ver-sprechen“, sagt der Prä-sident des IKRK, Jakob Kellenberger. „Aber es wäre schon sehr wichtig, dass die Staatengemein-schaft oder einflussrei-che Staaten gegen über den Konfliktparteien

sehr deutlich zum Ausdruck bringen, dass die Respek-tierung dieser Regeln für sie von zentraler Bedeutung ist. Es kann einen ziemlichen Unterschied machen, ob es ihnen gelingt, in einer gewissen Situation einen Staat zu mobilisieren.“

Das Rote Kreuz unter BeschussDoch in Bosnien zögert die Staatengemeinschaft, und es dauert nicht lange, bis sich die neue Gesetzlosigkeit auch gegen die Helfer richtet. Im Mai 1992 wird ein deutlich mit Rotkreuz-Emblemen gekennzeichneter Konvoi mit medizinischen Hilfsgütern für Sarajewo zwischen zwei Kontrollpunkten beschossen. Frédéric Maurice, einer der charismatischsten IKRK-Delegier-ten, stirbt in seinem von Kugeln und Granatsplittern durchsiebten Landcruiser. Er ist 39 Jahre alt. Der Hilfs-einsatz in Bosnien stellt für viele IKRK-Mitarbeiter, die

Nach Ansicht der Heckenschützen hatten auch Frauen und Kinder

unbedingt den Tod verdient

Der siebenjährige Nermin Divovic, niedergeschossen von einem Heckenschützen. UNO-Soldaten eilen ihm zu Hilfe

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damals vor Ort waren, das Ende einer Ära dar.

„Für uns war das ein bit-teres Erwachen“, meint der spätere IKRK-Gene-raldirektor Angelo Gnae-dinger. „Nie zuvor sind uns die Grenzen der hu-manitären Arbeit so deutlich aufgezeigt worden.“

Hilfseinsätze statt echter LösungenTrotzdem ist es bis heute dabei geblieben: Überall dort, wo die Staaten des Nordens keine Eigeninteressen

mehr haben, wird huma-nitäre Hilfe als schein-bares Allheilmittel ge-schickt. Die Anwesenheit der Hilfsorganisationen symbolisiere heute die Abwesenheit der interna-tionalen Staatengemein-schaft, findet Ulrike von Pilar von den „Ärzten oh-ne Grenzen Deutschland“.

„Statt die politischen Ur-sachen mit politischen Methoden anzugehen, schickt man ein bisschen humanitäre Hilfe, und al-le sind zufrieden – mit

Ausnahme der Betroffenen.“ In den Medien sieht das vielleicht gut aus. Doch es

sind genau die Bilder der Helfer, die die Politik vom Handlungsdruck entbinden.

„Das widerlichste Ergebnis dieser Medienschlacht ist, dass man die Welt glauben macht, die humanitären Helfer seien zur Stelle und könnten handeln“, findet Michelle Mercier vom IKRK. „Dabei ist ihre Anwesen-heit oft nicht mehr als ein Alibi: Die vor sich hin dösende Öffentlichkeit vergisst, dass die humanitäre Stafette den Staaten erlaubt hat, sich politisch nicht mehr zu engagieren.“

Die Hilfe wird zum „Feigenblatt einer in den Aus-stand getretenen Politik, das den fehlenden Willen zum politischen Handeln nur notdürftig kaschiert“. Um ihre politische Machtlosigkeit zu bemänteln, über-nehmen die Regierungen die Aufgaben der Helfer in-zwischen häufig gleich selbst (siehe „Hilfe als Instrument der Außenpolitik“ auf Seite 48).

Hassradio Milles CollinesAuch in Ruanda standen die Zeichen an der Wand. Bereits im Jänner 1994 erfuhr der Kommandant der UN-Mission vor Ort, der kanadische Generalmajor Ro-méo Dallaire, durch einen Informanten von den Plänen der Hutu, die Tutsi und gemäßigten Hutu im Land

„auszulöschen“. Die Hasspropaganda des kommerziellen Radiosen-

ders Milles Collines gegen die Tutsi konnte ohnehin

Dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) wird häufig vorgeworfen, von Menschenrechtsverletzungen zu wissen – aber sie nicht öffentlich anzuprangern. Tatsächlich veröffentlicht die Organisation einmal im Jahr die schärfste öffentliche Anklage: ihren Jahresbericht. IKRK-Delegationen und -Büros in 80 Ländern, das bedeutet auch: Kriegsopfer – vor allem Zivilisten – in mehr als einem Drittel der Staaten der Welt. „Die vorherrschende Konfliktform waren auch im ver-gangenen Jahr nichtinternationale bewaffnete Konflikte“, schreibt der IKRK-Direktor für Hilfsoperationen, Pierre Krae-henbuehl, im Jahresbericht 2010. „Schwache Staaten lassen

lokalen Milizen und bewaffneten Gruppen den Raum, um ihre Ange-legenheiten selbst in die Hand zu nehmen. Die Gewalt richtet sich dabei in erster Linie gegen Zivil-personen.“

Die IKRK-Jahresberichte stehen auf www.icrc.org als Downloads zur Verfügung.

DIe anklaGeDer Jahresbericht des IKRK.

ANNUAL REPORT2 0 1 0

Das humanitäre Völkerrecht soll allen Personen, die nicht oder nicht mehr

kämpfen, ein Minimum an Schutz bieten. Von der Staatengemeinschaft damit

beauftragt ist das Rote Kreuz

Die Regeln des Krieges lernen: „Neue Krieger“ sind heute unabhängiger – und gesetzloser

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jeder hören. Auch die Geheimdienste der USA, Belgiens und Frank reichs waren im Bild. In

seinen Erinnerungen „Hand schlag mit dem Teufel“ schreibt Dallaire, dass er mit 5000 Soldaten den Völ-kermord an den Tutsi vermutlich hätte stoppen kön-nen. Allein, die USA hatten aufgrund ihrer misslun-genen Invervention in Somalia 1993 ihre Einsätze in Afrika eingeschränkt. Auch Frankreich scheute vor einem Eingreifen gegen die von ihm unterstützte, aus-gebildete und ausgerüstete Armee des Landes, die von Hutus dominiert wurde, zurück.

Die Kavallerie kommt nicht, und binnen drei Mona-ten sind 800.000 Menschen tot.

Wo Hilfe nichts ausrichten kannDie Liste der Länder, denen es aufgrund einer Mi-schung aus Desinteresse und Machtlosigkeit des Wes-tens ähnlich ergeht, ist inzwischen sehr lang. Sie reicht von Liberia über Tschetschenien, die Demokratische Republik Kongo, Kolumbien und Somalia bis zu Alge-rien.

Die Zustände in diesen Staaten bestätigen auch die Worte des IKRK-Präsidenten Jakob Kellenberger: „Es

gibt keine humanitäre Lösung für politische Probleme.“ Die humanitäre Aktion ist immer nur mit den Folgen von Krisen beschäftigt, aber nicht mit ihren Ursachen.

„Dagegen ist es Angelegenheit der Politik, sich mit den Gründen, die zu bewaffneten Auseinandersetzungen führen, auseinanderzusetzen und sie nach Möglichkeit zu entschärfen.“

Die Helfer können das nicht, und sie können auch keine funktionierenden Staaten schaffen. Doch genau diese wären Garanten dafür, dass das Kriegsrecht bes-ser eingehalten wird: „Getreu unserer westlichen Anti-kriegstradition betrachten wir den Staat gewöhnlich als Agenten der Gewalt, als den Initiator von Kriegen“, meint der kanadische Schriftsteller und Politiker Mi-chael Ignatieff. „Doch so paradox es auch klingen mag

– die Polizei und die Armeen des Nationalstaates sind bis heute die einzigen vorhandenen Institutionen, die unsere Gesellschaften je herausgebildet haben, die menschliche Gewalt in großem Maßstab zu kontrollie-ren und zu kanalisieren in der Lage sind.“

Mit 5000 Soldaten hätte die UNO den Völkermord in Ruanda

stoppen können. So wurden Zehntausende Kinder zu Waisen

Der völkermord in Ruanda zerreißt Familien. Das Rote Kreuz registriert elternlose Kinder

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eim UN-Gipfel im Jahr 2005 haben 150 Staaten ein

Dokument verabschiedet, das die Schutzverantwortung („Responsibility to Protect“, abgekürzt R2P) beschreibt: das Recht der UNO, im Fall von Völker-mord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch militärisch gegen souveräne Staaten vorzugehen. Was hält das Rote Kreuz davon?

Dr. Wolfgang Kopetzky ist seit 2002 Generalsekretär des Österreichischen Roten Kreuzes (ÖRK). Das ÖRK hat seine Hilfstätigkeit im Rahmen der Internationalen Hilfe während seiner Amtszeit deutlich ausgeweitet.

henri: Herr Generalsekretär, wenn Staaten die Menschenrechte ihrer Bürger mit Füßen treten, soll man dann von außen militärisch intervenie-ren? Einen „gerechten Krieg“ gegen das Unrecht führen dürfen?

wOLFGANG KOPEtZKy: Da fragen Sie den Falschen. Ich bin weder Generalsekretär von amnesty international noch Verteidi-gungsminister.

Anders gefragt: Was zählt mehr? Menschenleben oder staatliche Souveränität?

Die Möglichkeit einer militärischen Intervention ist in der UN-Charta ja ausdrücklich vorgesehen. Kapitel 7 ermächtigt die im Sicherheitsrat vertretenen Staaten, im Fall von Bedrohungen für den Frieden, bei Bruch

InteRVIew: RobeRt DempfeR

Somalia, Bosnien, Osttimor, Kosovo … lassen sich Menschenrechte mit Waffengewalt exportieren?

wolfgang Kopetzky

B

„Die Kavallerie kommt nicht!“

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des Friedens oder im Fall einer Aggression Frieden und Sicherheit auch mit militärischen Mitteln wiederherzu-stellen. Ist das ein „gerechter Krieg“? Der Begriff im-pliziert ja, dass jemand im Unrecht ist. Das ist aber nicht das Maß, mit dem wir messen. Die Frage, die uns als humanitäre Organisation leitet, ist nicht: Wer hat recht in diesem Krieg? Sondern: Wer benötigt Schutz und Hilfe wegen dieses Krieges?

Hat das Rote Kreuz auch schon einmal auf die Anwen-dung von Kapitel 7 gedrängt?

Ja. 1997 haben wir den UN-Sicherheitsrat aufgerufen, im Kongo humanitäre Korridore zu errichten, damit wir durchkommen. Denn das ist unser Mandat. Das Ro-te Kreuz ist über die Genfer Konventionen beauftragt, Kriegsopfern Schutz und Hilfe zu bringen. Dieser Teil des Völkerrechts heißt jus in bello, Kriegsrecht. Der an-dere, der sich mit den Ursachen für Kriege beschäftigt, heißt jus ad bellum. Der geht die Politik an.

Aber ist dieses jus in bello nicht eine stumpfe Waffe? Im 1. Weltkrieg waren zehn Prozent der Kriegsopfer Zivilisten, heute sind es 90 Prozent. Das ist eine Bankrotterklärung.

Es ist eine Bankrotterklärung für die Staaten, die die Genfer Konventionen ratifiziert haben! Die Texte sind gut, aber man muss sie respektieren.

Um ihnen bessere Achtung zu verschaffen, haben sich die Staaten 2005 auf die Schutzverantwortung, im Diplomaten-jargon R2P, „Responsibility to Protect“ genannt, geeinigt.

Dieses Instrument steckt noch in den Kinderschuhen. Die Vereinten Nationen sind in den vergangenen Jahr-zehnten schon in mehreren Kapitel-7-Missionen ge-scheitert. Somalia, Bosnien und Ruanda sind nur die offensichtlichsten Beispiele.

In Somalia und Bosnien haben die Soldaten gleichzeitig geschossen und Hilfsgüter verteilt …

… was eine der Ursachen für ihr Scheitern war. Sie wa-ren gleichzeitig Helfer und Kriegspartei. Hilfs- und Militär einsätze müssen aber getrennt werden. Allen Parteien muss klar sein, dass wir nicht als Feinde kom-men. Die humanitäre Aktion muss unabhängig, neu-tral und unparteiisch sein. Aufgabe der UNO ist es hingegen, Recht und Ordnung wiederherzustellen, um humanitäre Hilfe über haupt zu ermöglichen.

Jeder der Beteiligten soll sich einfach an sein völkerrecht-liches Mandat halten.

Jeder der Beteiligten braucht vor allem ein klares Man-dat, so wie wir eines haben. Gerade in Bosnien haben

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„Die Frage, die wir uns stellen, lautet nicht: Wer hat recht in diesem Krieg? Sondern:

Wer benötigt Schutz und Hilfe?“

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wir gesehen: Das Mandat der Blauhelme war eine wi-dersprüchliche Mischung aus militärischer Interventi-on und humanitärer Hilfe. In einem Fall ging es um die Versorgung der Enklave Mladei mit Nahrungsmitteln. Das war brandgefährlich. Wir sind bei der UNPROFOR vorstellig geworden und haben gefragt: Könnten nicht diesmal die Blauhelme die Verteilung übernehmen? Der General hat uns mitgeteilt, dass das nicht ginge, und erklärt: Wenn einer von euren Leuten dabei ums Leben kommt, ist das tragisch. Mir hat meine Regie-rung gesagt: Wenn einer meiner Soldaten getötet wird, dann wird das zu Hause zu einem Misstrauensvotum führen, und deshalb darf das nicht passieren.

Die Soldaten haben sich gleichsam hinter die humani-tären Helfer zurückgezogen.

Ja, so weit sind wir gekommen. Man muss deshalb rea-listisch bleiben. Welche Regierung steht es politisch durch, die Kinder ihrer Bürger zum Sterben ans andere Ende der Welt zu schicken? An den meisten Orten kommt die Kavallerie deshalb auch im Fall von gravie-renden Menschenrechtsverletzungen nicht. Wir Huma-nitären sind dann oft die einzigen Helfer dort. Und an gar nicht wenigen Orten abseits der Abendnachrichten ist das Rote Kreuz sogar die einzig verbliebene Hilfs-organisation. Um Kriegsopfer zu erreichen, dürfen wir nicht als Feinde angesehen werden.

Nach dem verheerenden Zyklon Nargis 2008 hat Myan-mar keine Helfer ins Land gelassen, obwohl es Hunderttau-sende Katastrophenopfer gab. Bernard Kouchner, damals französischer Außenminister, wollte Kriegsschiffe schicken.

Er hat diesen Vorschlag gemacht, ja. Aber es ist nichts daraus geworden. Möglicherweise hat eine Rolle ge-spielt, dass die Militärregierung von Myanmar 400.000 Mann unter Waffen hat.

Kouchner hat damals gesagt: „Das nationale Strafrecht nennt so etwas unterlassene Hilfeleistung, was schwer be-straft wird. Das internationale Recht hat diesen Grad der Rechtspflege noch nicht erreicht.“

Es gibt auch Fortschritte, wie die internationalen Straf-gerichtshöfe. Bisher wurden Verstöße gegen die Gen-fer Konventionen kaum geahndet. Das hat sich durch das Statut von Rom, seit 2002 die Grundlage für den In-ternationalen Strafgerichtshof in Den Haag, geändert.

Der deutsche Ex-Außenminister Joschka Fischer glaubt trotzdem an das Verhindern. Die Schutzverantwortung werde bald zum „Standardrepertoire der Außenpolitik aller zivili-sierten Staaten“ gehören.

Das werden wie gesagt die Staaten entscheiden, nicht das Rote Kreuz.

Sie sind anders als Kouchner und Fischer skeptisch, dass sich Menschenrechte mit Waffengewalt exportieren lassen?

Kouchner hat nach seiner Zeit als Leiter der UNMIK-Mission im Kosovo eingeräumt, dass es ein Fehler war, zu glauben, nach der Intervention würden wie durch ein Wunder die Menschenrechte in Kraft treten – in ei-ner Region, in der das zwölf Jahrhunderte lang nicht der Fall war. „Man kann die Menschen nicht dazu zwin-gen, einander zu lieben“, waren seine Worte. Das wird nur weniger gern zitiert.

„An nicht wenigen Orten abseits der Abendnachrichten ist das Rote Kreuz die einzige verbliebene Hilfsorganisation“

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DER

UN ABHÄNGIGkEIT Im Jahr 2009 wurden für 14 humanitäre Krisen zwei Drittel der globalen Mittel an humanitärer Hilfe ausgegeben. S. 49

Humanitäre Hilfe muss für die Staaten zur völkerrechtlich verbindlichen Pflicht werden. S. 47

Länder, die ihre Konflikte nicht beenden, stecken in der Falle.

Andere, die die Gewalt in den Griff bekommen, entwickeln sich. S. 47

Das Rote Kreuz war die einzige Organisation,

die sich immer für alle Kriegsopfer eingesetzt hat. S. 57

Die USA haben zwischen 1994 und 2007 Aufträge für

300 Milliarden Dollar a

n private Militär

unternehmen vergeben. S. 59

( )

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4512|2011

HILFEDER

UN ABHÄNGIGkEIT ( )

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M ax Santner leitet den Bereich Inter-nationale Hilfe im

Österreichischen Roten Kreuz. Er ist außerdem Vorstandsmit-glied im Dachverband „Globa-le Verantwortung“. Dieser ver-tritt die Interessen humani-

tärer und entwicklungspolitischer Organisationen ge-genüber Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit.

henri: Herr Santner, was ist das grundlegende Übel, das humanitäre Hilfe heute notwendig macht?

MAx SANtNER: Die beiden grundsätzlichen Übel sind Armut und Gewalt. Auch eine aktuelle Oxfam- Studie – „The Right to Survive“ – sieht die Gefährdung durch bewaffnete Konflikte und durch Naturkatastro-phen einmal mehr vor allem als direkte Folge von Armut.

Wie begründet der Bericht das?

Je ärmer eine Person ist, desto anfälliger sind ihre Existenzgrundlagen, desto weniger Ressourcen kann sie mobilisieren, um eine Krise zu überstehen, desto länger braucht sie, um sich zu erholen. Konflikte sind zudem „Arbeitgeber“. Der häufigste Grund, warum

Jugendliche sich bewaffneten Gruppen anschließen, lautet nach Angaben des aktuellen Entwicklungsbe-richts der Weltbank: Arbeitslosigkeit.

Aber warum ist eine Person arm? Kann man nicht auch sagen: Die Ursache von Armut ist, dass in einem Land schon lange Krieg herrscht? In welche Richtung läuft die Kausalität?

InteRVIew: mIchael achleItneR

Die Lösung für viele Probleme der humanitären Hilfe liegt in der Schaffung lebensfähiger und funktionstüchtiger Staaten.

Auf dem Weg in die Slums

„Wenn Regierungen jetzt behaupten, sie wären von der

Hungerkatastrophe in Ostafrika überrascht worden, dann stimmt

das einfach nicht”

Max Santner

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Die beiden Übel sind miteinander verflochten. Der Weltentwicklungsbericht spricht von einer Verfesti-gung von Armut und Unterentwicklung durch Konflikt und Gewalt. Länder, die ihre Konflikte nicht beenden, stecken in der Falle. Andere, die die Gewalt in den Griff bekommen, entwickeln sich. Und selbst das dauert. Im Fall der Staaten, die es seit 1985 am besten geschafft haben, 27 Jahre. Also fast eine Generation!

Die Menschen stecken also eher in einer Konflikt- als in einer Armutsfalle?

Beides. Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten gesehen: Die Armut kon-zentriert sich mehr und mehr auf Staaten, in de-nen Bürgerkrieg, ethni-sche Konflikte, organisier-tes Verbrechen und Ban-denkriminalität herrschen. 1,5 Milliarden Menschen leben in solchen Ländern, die von andauernder, tief-greifender Gesetzeslosig-keit gekennzeichnet sind.

Was bedeutet das für die humanitäre Hilfe?

Dass Hilfseinsätze in solchen Weltregionen extrem heikel und gefährlich sind. Letztlich liegt die Lösung in der Schaffung lebensfähiger und funktionstüchtiger Staaten. Der Staat ist der Hauptgarant für das Recht seiner Bürgerinnen und Bürger auf Leben und auf je-des andere Menschenrecht. Auch humanitäre Hilfe und Katastrophenhilfe benötigen ein Umfeld, in dem ein gewisses Maß an Recht und Ordnung herrschen.

Sollten die Helfer also nicht daran mitarbeiten, Staaten zum Funktionieren zu bringen?

Das ist wohl eher Aufgabe und Kompetenz der Politik, der Vereinten Nationen, der Regierungen. Was der Weltentwicklungsbericht aber zu Recht kritisiert, ist, dass Staaten Hilfe eher nach Katastrophen oder dem Ausbruch von Konflikten und Gewalt gewähren, an-statt das präventiv zu tun. Dass es besser ist, eine Kata-strophe durch Vorbeugemaßnahmen zu verhindern, als sie im Nachhinein zu bekämpfen, ist ja nicht gerade eine neue Erkenntnis.

Hätte auch die momentane Hungerkatastrophe in Ost-afrika verhindert werden können?

Die Zeichen standen an der Wand. Wenn Regierungen jetzt behaupten, sie wären davon überrascht worden,

dann stimmt das einfach nicht. Auch unsere Frühwarn-systeme haben schon im vergangenen Herbst ange-schlagen. Prävention wird angesichts künftiger Heraus-forderungen noch wichtiger werden.

Welche da wären?

Es gibt sieben Milliarden Menschen auf der Welt. Künf-tig werden mehr Menschen in städtischen Slums leben. Mehr fruchtbarer Boden auf dem Land wird besie-delt und vernichtet werden. Das wird zu Nahrungsmit-telknappheit führen. Klima-wandel und Konflikte wer-den Migrationsbewegun-gen auslösen. Dadurch ver-lieren Menschen ihre Exi-stenzgrundlage und ihre sozialen Netze.

Wird der Westen in der Lage bleiben, ausreichend Hil-fe zur Verfügung zu stellen?

Damit sind wir bei der vierten Herausforderung: Die globale Wirtschafts- und Finanzkrise könnte die

Arbeitslosigkeit erhöhen und die soziale Sicherung schwächen, was zu einem noch höheren Bedarf an humanitärer Hilfe führen würde. Dabei sparen die USA und Europa wegen der Wirtschaftskrise jetzt schon bei den Mitteln.

Was sollte geschehen, um das zu ändern?

Ein großer Schritt wäre schon getan, wenn die Öffent-lichkeit humanitäre Hilfe endlich als rights-based wahrnehmen würde. Als Recht und nicht als Almosen, das man freiwillig und vor allem willkürlich gibt – wie gerade eben wieder angesichts der Hungerbilder aus Ostafrika. Verbindliche, internationale Regeln müssen rein moralische Appelle ersetzen. Humanitäre Hilfeleis-tung muss für die Staaten zur völkerrechtlich verbind-lichen Pflicht werden. Auch, damit wir dort helfen kön-nen, wo keine Kameras stehen.

Zum Beispiel?

Auch in Guatemala ist im heurigen Sommer jedes zwei-te Kind unterernährt. Tausende Menschen sind gestor-ben, Millionen haben zu wenig zu essen. Die Regierung hat im April den Nahrungsnotstand erklärt. Klimawan-del und hohe Lebensmittelpreise sorgen dafür, dass die Menschen hungern. Aber darüber werden Sie in unseren Medien keine Schlagzeilen finden.

„ Auch in Guatemala ist heuer jedes zweite Kind unterernährt.

Aber darüber werden Sie vergeblich eine Schlagzeile suchen”

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ür einen Spitzendiplomaten redet Smith Hempstone recht unverblümt. „Humanitäre Hilfe war ein Instru-ment des Kalten Krieges“, erklärt der ehemalige US-Botschafter in Kenia, „als die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion um Verbündete auf allen Kontinenten wetteiferten.“ Im Kampf um geopolitischen Einfluss wurden dabei von beiden Seiten auch unappetitliche Regierungen an der Macht gehalten.

„He’s a bastard. But he’s our bastard!“, lautete die bekannte Einschätzung von US-Präsident Harry Tru-man über den von den USA gestützten nicaraguani-schen Diktator Anastasio Somoza.

Der Fall der Berliner Mauer symbolisierte auch den Anbruch einer neuen Ära der Hilfe: „State building“ und „capacity building“ sollten ab nun im Vordergrund stehen – Armutsbekämpfung durch die Einrichtung demokratisch legitimierter Regierungen, Staaten mit funktionierenden Institutionen, die den Rechtsstaat und wirtschaftliches Wachstum garantierten.

Die drei DsDann steuerten am 11. September 2001 zwei von Isla-misten gelenkte Flugzeuge in die beiden Haupttürme des New Yorker World Trade Center, und seither wie-derholt sich die Geschichte auch auf dem Feld der

Humanitäre Hilfe ist fixer Bestandteil der Außenpolitik. Das hat die letzte Dekade zur gefährlichsten in der Geschichte der humanitären Hilfe gemacht.

Hilfe als Instrument der Außenpolitik

„Humanitäre Hilfe ist ein zentrales Mittel, um amerikanische Interessen

auf globaler Ebene durchzusetzen”Hillary Clinton

f Von mIchael achleItneR

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humanitären Hilfe. „Humanitäre Hilfe ist heute eine zwingende strategische, wirtschaftliche und mora-lische Notwendigkeit. So wie Diplomatie und Militär ist sie ein zentrales Mittel, um amerikanische Interessen auf globaler Ebene durchzusetzen. Deshalb muss die Hilfe zum zentralen Stützpfeiler unserer Außenpolitik werden.“

Das Clinton ’sche TriangelDiese Worte, die nach Smith Hempstone klingen, stam-men von der amerikanischen Außenministerin Hillary Clinton, geäußert im Jahr 2010. Und obwohl die Grund-überlegung plausibel klingt – Armut verursacht Kriege, Entwicklung dagegen bringt Frieden –, steht doch die Frage im Raum: Was ist eigentlich das Ziel des Wes-tens? Die Millenniums-Entwicklungsziele zu erreichen? Oder den „Krieg gegen den Terror“ zu gewinnen?

Auf den ersten Blick scheinen die beiden Ziele einan-der nicht zu widersprechen. Man kann die Hilfe ein-setzen, um zum Beispiel die Kindersterblichkeit in einem Land zu senken. Oder man kann ein Regime unterstützen, das islamische Extremisten im Land im Zaum hält und Demokratie, Wirtschaftswachstum und Rechtsstaatlichkeit anstrebt.

Was die Debatte so verfahren macht, ist das Argu-ment, dass sich durch Zweiteres als erwünschte Ne-benwirkung auch eine niedrigere Kindersterblichkeit erreichen ließe. Allerdings zeigt sich auf den zweiten Blick rasch, dass die beiden Absichten nur scheinbar deckungsgleich sind.

Denn im Clinton’schen Triangel „Defence, Diploma-cy, Development“ ist die Hilfe anderen Interessen un-tergeordnet. Die Maßnahmen der Helfer werden zu Mitteln, um außen- und sicherheitspolitische Ziele zu

erreichen. Schon weil die zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht unendlich groß sind.

„Die (westli chen) Geberländer bezahlen unverhältnis-mäßig mehr Hilfe an Länder, die sie als politisch und militärisch wichtig erachten, und sehen über genauso dringende Bedürfnisse in anderen Ländern hinweg“, folgert ein aktueller Bericht der britischen Hilfsorgani-sation Oxfam („Who’s Aid Is It Anyway?“). Milliarden an Hilfsgeldern würden nicht eingesetzt, um Menschen aus ihrer Armut zu befreien. Sondern für „nicht nach-haltige, teure und manchmal gefährliche Projekte“, weil das „kurzfristigen außen- und sicherheitspoliti-schen Interessen dient“, so der Oxfam-Report.

Gefährliche HilfeDie Vorgehensweise lässt sich schon am Beispiel eines einzigen Landes nachweisen: Afghanistan. Von der Arbeit der regionalen Wiederaufbauteams (Provincial Reconstruction Teams, PRTs, siehe Seite 52) profitieren strategisch wichtige Regionen des Landes. Provinzen, die militärisch keine Rolle spielen, gehen trotz ähn-licher Bedürfnisse der Bevölkerung leer aus.

Einen „Trend zur Politisierung und Instrumentalisie-rung der humanitären Hilfe“ ortet auch Max Santner. 2009 wären bei nur „14 humanitären Krisen weltweit etwa zwei Drittel der globalen Mittel an humanitärer Hilfe eingesetzt worden“, weiß der Leiter der Internatio-nalen Hilfe im Öster reichischen Roten Kreuz (ÖRK).

„Im Oktober 2003 wurde zum ersten Mal in seiner

140-jährigen Geschichte eine IKRK-Delegation zum Ziel eines Bombenanschlags”

Das zerstörte IKRK-Hauptquartier in Bagdad – zwei Mitarbeiter starben bei dem Anschlag

Fortsetzung auf Seite 51 3

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in Land, das auf sich hält, verfügt auch über ei-ne internationale Hilfsagentur. Da sind die USAID (US Agency for International Development), das britische DfID (Department for International Development), in

Österreich die ADA (Austrian Development Agency). Und bald gibt es eine solche Stelle auch in Indien. Elf Milliarden Dollar wird sie in den kommenden fünf Jahren ausgeben. Nicht für Hilfe in Indien selbst, jahre-lang einer der größten Hilfsempfänger der Welt. Son-dern in Übersee. Brasilien hat für die Hungersnot in So-

malia im Jahr 2011 mehr Hilfe zur Verfügung gestellt als Deutschland, Frankreich und Italien zusammen.

Auch China ist nicht zimperlich, wenn es darum geht, in Afrika Hilfe zu leisten und die wirtschaftliche Ent-

wicklung zu fördern – um dort an Rohstoffe und an Grund und Boden heranzukommen.

In der neuen multipolaren Weltordnung verbünden sich die aufstrebenden Wirtschafts-mächte. Die einflussreichsten sind Brasilien, China, Indien und Russland (die BRIC-Staaten). Amerika und Europa dominieren auch in der huma-nitären Hilfe längst nicht mehr die Welt.

In allen BRIC-Staaten wächst die Wirtschaftsleistung pro Jahr um zwischen fünf und zehn Prozent (in der EU zuletzt um rund zwei Prozent). Seit Anfang 2011 wurde die BRIC-Gruppe um Südafrika als Tor zum schwarzen Kontinent er-weitert, der lose Verband nennt sich seither BRICS.

Von den Supermächten des 20. Jahrhunderts haben die BRICs, die neuen Herren des 21. Zentenniums, begierig ge-lernt: Strategisch gut einge-setzte Hilfe mehrt den eigenen globalen Einfluss. „Das west-liche Wertesystem der OECD-

Staaten wird durch die neuen internationalen Akteure infrage gestellt“, sagt Max Santner vom ÖRK. Was das für die Hilfspolitik bedeutet, kann man nur ahnen.

Die BRICs hängen den Westen ab – auch bei der humanitären Hilfe.

Verkehrte Welt?

Erstes Gipfeltreffen der BRIC-Staaten 2009 in Swerdlowsk: der brasilianische Präsident Luiz Inacio Lula da Silva, der russische Präsident Dimitri Medwedew, der chinesische Präsident Hu Jintao und der indische Ministerpräsident Mammohan Singh (v. l.)

Von mIchael achleItneRe

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Die britische Hilfsagentur DfID (Department for Inter-national Development) hat ihre Budgets für Afgha-nistan und den Irak seit 2001 und 2003 massiv aufge-stockt. „Das zeigt, wie das Millennium-Entwicklungs-ziel der Armutsreduktion in den Ländern des Südens erodiert“, meint die Journalistin Madeleine Bunting.

„Länder, in denen vergleichbare oder größere Armut herrscht, gehen leer aus.“

Oxfam hat für seinen Bericht noch weiter zurückge-schaut: Seit dem Jahr 2002 ist ein Drittel der Hilfe der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsländer an nur drei von 48 Zielländern ausgeschüttet worden. Deren Namen sind zu erraten: Irak, Afghanistan, Pakistan.

Die Hilfe im Dienst der Außenpolitik verwischt auch die Grenze zwischen militärischer und humanitärer Aktion. Das hat die letzte Dekade zur gefährlichsten in der Geschichte der humanitären Hilfe gemacht.

Die Helfer selbst werden inzwischen als Komplizen westlicher Interventionsmächte angesehen – und zu Zielen bewaffneter Gruppen. „Hilfsorganisationen werden nicht bloß angegriffen, weil sie mit westlichen politischen Akteuren zusammenarbeiten“, stellt das britische Overseas Development Institute (ODI) fest.

„Sondern, weil sie als Ganzes als Teil der westlichen po-

litischen Agenda wahrgenommen werden.“ Auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) blieb davon nicht verschont. Im Oktober 2003 wurde zum ersten Mal in seiner 140-jährigen Geschichte eine IKRK-Delegation zum Ziel eines Bombenanschlags: Ein Selbstmordattentäter steuerte einen irakischen Kran-kenwagen mit einer Bombe in das IKRK-Hauptquartier in Bagdad, zwei Mitarbeiter starben.

Das kleine Österreich kann zwar bei den Beträgen nicht mithalten, liegt aber in puncto Militarisierung und Instrumentalisierung der Hilfe durchaus im Trend. Im April 2008 kündigte Verteidigungsminister Norbert Darabos an, den Bundesheereinsatz im Tschad aus Entwicklungshilfegeldern zu finanzieren, weil er „klare humanitäre Ziele wie den Schutz von Flüchtlingen“ ver-folge. Was auch geschehen ist (siehe Seite 74).

„Die Geberländer bezahlen mehr Hilfe an Länder, die sie als politisch wichtig erachten, und sehen über genauso dringende Bedürfnisse

in anderen Ländern hinweg”

Flüchtlinge im Sudan auf der Suche nach wasser und Nahrung

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ie kommen im weißen Landcruiser, bringen Möbel und Bücher für Schulen, bauen Brunnen, Brücken und Checkpoints für die örtliche Polizei. Sie tragen Zivil-kleidung und unterscheiden sich äußerlich nicht von den Helfern des Roten Kreuzes, des Technischen Hilfs-werks oder von Ärzte ohne Grenzen.

Sie geben sich zivil, doch die Mitarbeiter der regio-nalen Wiederaufbauteams (Provincial Reconstruction Teams, PRT) in Afghanistan gehören mehrheitlich zu militärischen Einheiten. Ihr Auftrag ist es, in Krisen- und Kriegsregionen für Sicherheit und Stabilität zu

sorgen und dabei die zerstörte Infrastruktur wieder aufzubauen. Neben staatlichen und nicht staatlichen Entwicklungsorganisationen agieren sie im Bereich der humanitären Hilfe und des Wiederaufbaus.

Unter NATO-BefehlIn Afghanistan sind derzeit 25 PRTs mit rund 35.000 Soldaten und nur wenigen zivilen Angestellten in vier Provinzen tätig. Die deutschen, englischen und ameri-kanischen Armeeangehörigen unterstehen dem Befehl und dem Schutz der NATO und sind mittlerweile außer in der Hauptstadt Kabul auch in den Provinzen Kunduz, Faizabad und Mazar-i-Sharif im Einsatz.

Für eine flächendeckende Ausweitung der PRTs in Afghanistan fehlt es an größeren Einheiten internationa-ler Soldaten. Die friedenserhaltende Mission muss dort beispielsweise mit deutlich weniger Mann als in Bos-nien oder dem Kosovo auskommen. Aus diesem Grund wurde nach den Erfahrungen der USA in Somalia, Haiti und Osttimor die Coalition Joint Civil-Military Opera-tion Task Force nach Kabul beordert. Diese Teams be-stehen aus 50 bis 100 Personen und umfassen sowohl Kampftruppen als auch Experten aus unterschied-lichen Bereichen, wie Medizin, Rechtswissenschaften, Wirtschaft oder Telekommunikation.

Obwohl die Einheiten überwiegend aus militärischen Kräften bestehen, wurden sie, um den humanitären Charakter des Wiederaufbaus zu unterstreichen, in Provincial Reconstruction Teams umbenannt.

Die grundsätzliche Kritik liegt hier in der Vermitt-lung des Anscheins, diese Teams seien „Entwicklungs-helfer in Uniform“ und würden sich hauptsächlich um den Wiederaufbau von ziviler Infrastruktur kümmern. Tatsächlich jedoch verlässt lediglich ein Fünftel der Soldaten regelmäßig das Camp, um seinen Aufgaben nachzugehen. Nahezu 400 Soldaten bewegen sich nie-mals außerhalb des Stützpunktes. Sie sind allein mit der Sicherung der Einrichtung beschäftigt und warten die vorhandene Infrastruktur. Die Erhaltung ver-schlingt Unsummen.

Mehr militärisch als zivilPRTs werden der Öffentlichkeit und vor allem der Be-völkerung in den Krisenregionen als militärisch-zivile Einheiten präsentiert. Bei genauerem Hinsehen ist das Ungleichgewicht offensichtlich.

Die amerikanischen wie auch die englischen PRTs agie ren unter einer militärischen Führung. Nur Deutsch land wird durch eine militärisch-zivile Doppel-spitze, bestehend aus einem Kommandeur und einem Diplomaten, geführt. Personenstarke Kampftrupps stehen einer nur bescheidenen Zahl an zivilen Beratern,

Von Ines waGneR

Sie sollen helfen, das Land wiederaufzubauen. Sie kommen oft in Zivil. Doch sie sind Soldaten aus anderen Staaten.

Wer sind die Guten?

Deutsche wiederaufbauhelfer in Afghanistan: Funktioniert die Humanität in Uniform?

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Experten und diplomatischen Mitarbeitern gegenüber. Neben der Zusammensetzung und Führung der Teams sind auch die institutionelle Verankerung, die Ziele und die Aufgaben der PRTs alles andere als einheitlich.

Aufbau oder SicherheitWährend sich die deutschen PRTs hauptsächlich auf die Koordination des Wiederaufbaus konzentrieren, haben die Engländer und Amerikaner ihren Schwer-punkt auf die Herstellung der Sicherheit gelegt. So ver-folgen die deutschen Soldaten ihre Aufgaben in der Koordination und Beratung beim Aufbau der Polizei und der zivilgesellschaftlichen Strukturen, verfügen jedoch – obwohl in einem der größten Schlafmohnan-baugebiete stationiert – über kein Mandat zur Bekämp-fung des Drogenhandels, sehr zum Ärger der Briten.

In diesen Argumenten liegt auch die größte grund-sätzliche Kritik an den PRTs, die aus einer Mangelsitu-ation entstanden sind und deren Struktur keiner ge-meinsam ausgehandelten, zielführenden Strategie der beteiligten Länder unterliegt.

Vertreter humanitärer Organisationen üben mas-sive Kritik am Einsatz be-ziehungsweise am Auftritt von PRTs in Kriegsregio-nen. Diese neue Form der militärisch-zivilen Zusam-menarbeit ist mit größter Skepsis zu betrachten, handelt es sich hierbei doch um eine Verwischung der Grenzen zwischen humanitärer Hilfe und militäri-schem Einsatz. Humanitäre Hilfe ist konzeptionell als überparteiisch und neutral zu begreifen und agiert seit jeher in einem „humanitären Raum“, der durch den Einsatz bewaffneter Einheiten beeinträchtigt wird. Durch die Vernebelung der Grenzen zwischen NGOs und dem Militär werden die Hilfeleistenden immer grö-ßeren Gefahren ausgesetzt.

Um das Risiko der NGO-Mitarbeiter zu minimieren, lehnen viele Hilfsorganisationen eine räumliche Zu-sammenlegung ihrer Camps mit den militärischen Ein-richtungen ab.

Kein sichtbarer UnterschiedVor einiger Zeit waren die militärisch-zivilen Einheiten noch ohne Uniform und nicht in Militärfahrzeugen un-terwegs, was bedeutete, dass es für die Bevölkerung nahezu unmöglich war, zwischen humanitären Hilfs-kräften und der Armee zu unterscheiden. Abgesehen davon hat das Heer keine fachlichen Kompetenzen für

die humanitäre Hilfe und richtet durch selbstbe-stimm tes Agieren ohne Rücksprache oft mehr Scha den als Nutzen an.

Durch die schlecht gere-gelte Arbeitsteilung, logis-tische Fehlhandlungen und die militärische Vorgehens-

weise, die nicht von humanitären und entwicklungs-politischen Leitbildern getragen wird, wird dem Militär auch seine eigentliche Aufgabe – für Sicherheit zu sor-gen – erschwert. Problematisch ist auch die Fluktua-tion des militärischen Personals, das zu einem gro ßen Teil alle vier Monate ausgewech selt wird. Erfahrungen und Kontakte gehen dabei verloren.

Anschläge auf HilfstruppsHeben Befürworter die Tatsache hervor, dass sich die Zahl der in der Region tätigen NGOs seit dem Einsatz der PRTs erhöht hat, so argumentieren Kritiker, dass sich nunmehr die Anschläge auf Hilfstrupps häufen.

Sie führen dies auf die unklar vollzogene Trennung zwischen zivilen Helfern und bewaffnetem Militär zu-rück, die eine Verschiebung der Rollenbilder mit sich bringt: Es scheint, als stelle der Soldat als Helfer in der Not den unbewaffneten NGO-Mitarbeiter in den Schat-ten. Dies markiert eine Entwicklung, die mit großer Skepsis zu betrachten ist.

Einerseits hat sich die Zahl der in der Region tätigen NGOs seit dem Einsatz der Provincial Reconstruction Teams erhöht, andererseits häufen sich nun

die Anschläge auf Hilfstrupps

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Minenopfer in Rotkreuz-Spital: Keine taliban, keine NAtO, keine Hilfe

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ndreas Wigger, 1956 in Luzern in der Schweiz geboren, hat ein Lizenziat in Theologie und

studierte auch je ein Jahr in Jerusalem und in Damaskus (Judentum, Islam und moder-ne arabische Hochsprache). Er war Delegierter des Interna-tionalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in zahlreichen muslimischen Ländern und auf dem Balkan. Heute leitet er die Abteilung für Schutzarbeit in Gefängnissen am Hauptsitz

der Organisa tion in Genf. Mit henri sprach er über die Akzeptanz westlicher Werte – und über die muslimi-schen Kollegen der westlichen Helfer.

henri: Herr Wigger, Europäer helfen allen, Muslime nur anderen Muslimen. Tatsache oder Vorurteil?

ANDREAS wIGGER: In der karitativen Arbeit sind die Unterschiede nicht groß. Sie geschieht meist in der überschaubaren Gemeinschaft, aus Sorge für die be-nachteiligten Nächsten.

Ist im Gegensatz zu dieser „charity“ eine neutrale, unparteiliche humanitäre Arbeit nicht erst möglich, wenn die Nächstenhilfe dem religiösen Einfluss entzogen wird?

Ursprünglich hat in Europa der Protestantismus die humanitäre Arbeit als Engagement für die Randgrup-pen der Gesellschaft motiviert. Später ist daraus die in-ternationale Hilfe in Katastrophen und Kriegen gewor-den. Prinzipien und Methoden wurde in einem nicht-religiösen, säkularen Paradigma entwickelt.

Der Mensch als Mensch – nicht der Christ, Muslim oder Buddhist – muss in seiner Würde unangetastet bleiben …

… und hat das Recht auf Hilfe und Schutz in Kriegen und Naturkatastrophen, ja. So sind auch die einschlä-gigen Konventionen und internationalen Standards für Schutz und Hilfe für verschiedene Gruppen möglicher

„Opfer“ entstanden: Kriegsgefangene, die Zivilbevöl-kerung unter einer Besatzung, Verwundete, Vertriebe-ne und Flüchtlinge, neuerdings Kinder, Frauen und bald auch alte Leute.

InteRVIew: RobeRt DempfeR

Warum das IKRK auf strikter Neutralität beharrt und damit auch in der muslimischen Welt seit Jahrzehnten arbeiten kann.

„Der Kommandant wird anhand der islamischen Geschichte

aufzeigen, dass er nicht auf die Genfer Konventionen gewartet hat,

um sich gut zu verhalten”

Der Mensch als Mensch

aAndreas wigger

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Der Islam kennt weder Protestantismus noch Auf klärung. Sind universelle Prinzipien und säkulare Werte für Muslime überhaupt akzeptabel?

Die Schwierigkeit liegt nicht so sehr auf der theore-tischen Ebene der Werte. Sondern auf der praktischen Ebene ihrer Akzeptanz und Umsetzung. Nehmen wir ein Beispiel aus Afghanistan: Ein Kommandant des Widerstandes hat Gefangene, auch Nicht-Muslime. Ich als IKRK-Delegierter besuche sie und diskutiere mit ihm. Ich kann ihm, mit den Genfer Konventionen in der Hand, eine Lektion über seine Pflichten halten, die er gemäß diesen universell gültigen Konventionen und

den universellen Prinzipien der Nichtdiskriminierung und Menschlichkeit hat.

Er könnte antworten, dass seine islamische Rechtstraditi-on ihn ohnehin dazu verpflichte, Gefangene wie Gäste zu be-handeln.

Genau. Ich werde die dürren Artikel der dritten Kon-vention zitieren, und er wird mir mit kleinen Geschich-ten aus der islamischen Geschichte aufzeigen, dass er nicht auf die Genfer Konventionen gewartet hat, um sich gut zu verhalten. Es geht darum, den „Sitz im Leben“ dieser universal gültigen Konventionen in der islamischen Welt zu ergründen, Anknüpfungspunkte in dieser großen Tradition zu suchen.

Gilt das auch für die islamischen Hilfsorganisationen?

Neuerdings gibt es Initiativen, beispielsweise von Isla-mic Relief, islamische Organisationen mit verschie-

denen Traditionen an einen Tisch zu bringen und sich mit Grundprinzipien wie Menschlichkeit, Unparteilich-keit, Unabhängigkeit zu befassen. Sie werden als uni-versal respektiert. Es geht aber auch hier darum, sie in den eigenen Glaubenstraditionen zu orten und in de-ren Sprache umzusetzen. So werden sie zu einer leben-digen Wirklichkeit für die vielen Freiwilligen, die nicht alle einen Master in Humanitarian Affairs absolviert haben.

Es gibt keine islamisch geprägte Form der Empathie?

Ich habe in der islamischen Welt immer wieder den Ruf nach Gerechtigkeit gehört. Der Grund dafür ist eine

tiefe Empörung über soziale Ungerechtig-keit, Benachteiligung, Chancenungleich-heit und Bevormundung. Auch diese Empö-rung findet sich wie ein Leitmotiv in der Ge-schichte der monotheistischen Religionen. Hilfe für Notleidende in einem Krieg oder nach einem Erdbeben ist religiöse Pflicht. Auch in den Armenvierteln von Kairo sind es Millionen Menschen, die an der Armuts-grenze leben. Es ist nur natürlich, dass die Moscheen Zentren für die Armensuppen werden. So, wie es eben auch viele Kirchen-gemeinden in armen christlichen Ländern sind.

Gibt es auch international tätige musli-mische NGOs?

Neunzig Prozent dieser Organisationen sind lokal begrenzte kleine Gruppen. Dann gibt es große Hilfsorganisationen, die vor

allem von den reichen Golfstaaten unterstützt werden und die wenigs-tens in den Ländern der Ummah, der muslimi-schen Welt, internatio-nal tätig sind. Das ist

eine Süd-Süd-Hilfe, und sie ist nötig. Denn sie geht in die ärmsten Länder dieser Welt, wie in den Niger oder nach Bangladesch.

In beiden Staaten leben über 50 Prozent Muslime, denen ihre Glaubensbrüder helfen.

Das ist in Anbetracht der großen Not in diesen Län-dern, der vielfach korrupten Eliten und der begrenz ten Fremdhilfe eine unangemessene und unnötige Be-trachtungsweise. Andernfalls müsste man die Vorliebe europäischer Entwicklungshelfer für Südamerika ähn-lich einstufen.

Ist Ihre Arbeit in der islamischen Welt seit dem „War on

„Wir waren und sind in Afghanistan die einzige Organisation, die sich immer für alle Kriegsopfer eingesetzt hat”

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Terror“ schwieriger geworden? Von Anschlägen ist das IKRK ja weitgehend verschont geblieben.

Viele islamische Länder sind aus unterschiedlichen Gründen, und in den meisten Fällen nicht wegen der Religion, seit Jahren von Konflikten geplagt. Das IKRK war als einzige humanitäre Organisation in allen diesen Ländern immer zugegen. Die Präsenz durch Jahrzehnte führte dazu, dass wir quasi zum Mobiliar gehören.

Inzwischen kennen Generationen von Kämpfern aus die-sen Ländern das IKRK?

Wir wurden oft buchstäblich vom Vater zum Sohn „weitergereicht“. Wir haben überall, auch im Irak und in Afghanistan, immer auf allen Seiten Gefangene be-sucht. Das war eine große Hilfe für sie und vor allem für ihre Familien, die oft dank uns wissen, wo sich ihre Söhne, Väter oder Ehemän-ner aufhalten, und die sie dank unserer Hilfe besu-chen können. Dieser Leis-tungsausweis ist unsere Le-bensversicherung. Deshalb sind wir oft so gut akzep-tiert und geschützt.

Trotzdem ist in einigen Gebieten die Sicherheitslage auch für das IKRK extrem schlecht.

Große Gebiete von Somalia gehören dazu, auch die Re-gionen um Bagdad und Mossul im Irak. Wenn man da zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort ist, kann man leicht Opfer eines Selbstmordanschlages werden.

Das IKRK-Büro in Bagdad wurde 2003 aber nicht zufäl-lig angegriffen.

Trotzdem sind wir in den letzten Jahren selten direkt bedroht worden. Auch zum Anschlag auf unser Büro hat sich nie eine Gruppierung explizit bekannt.

Das IKRK arbeitet seit über 30 Jahren in Afghanistan unter einem in der islamischen Welt nicht eben beliebten Symbol, dem Kreuz. Wie ist das möglich?

Erstens sind wir seit 1980 ununterbrochen in und um Afghanistan tätig. Wir kennen das Land und die Leute. Zweitens haben wir vor allem in den letzten zwanzig Jahren unseren Mehrwert als neutraler Vermittler allen Konfliktparteien gegenüber bewiesen. Wir waren die einzige Organisation, die sich immer für alle Kriegs-opfer eingesetzt hat: für die Kommunisten in den Acht-zigerjahren ebensogut wie für die Mujaheddin und de-ren Familien, für Gefangene aller Bürgerkriegsparteien in den Neunzigerjahren ebensogut wie für Minenopfer und Verletzte in den entlegenen Provinzen dieses ge-birgigen Landes. Drittens haben wir im medizinischen Sektor mit qualitativ hochstehenden Programmen

unzähligen Patienten ge-holfen. Viertens sind wir uns selbst treu geblieben und haben uns immer für die Unabhängigkeit und

Neutralität der humanitären Aktion eingesetzt.

Letzteres ist etwas aus der Mode gekommen …

Ja, unsere Botschaft lag total quer zum Trend der eu-phorischen Jahre nach 2002, als die internationale Ge-meinschaft meinte, sie könne Afghanistan über Nacht modernisieren, demokratisieren und die Taliban „eli-minieren“. Ich habe nichts gegen diese militärisch- politischen Zielvorgaben. Sie können nur nicht Ziele humanitärer Organisationen sein.

Viele Organisationen haben sich trotzdem verleiten las-sen, mit dem Militär zu kooperieren.

Sie haben sich einspannen lassen, verleitet vom Manna der Geldgeberländer, und haben im Verbund mit Mili-tärs und politischen Beratern Projekte in einem Kriegs-gebiet durchgeführt. Solche Organisationen müssen in Kauf nehmen, dass ihre Akzeptanz leidet.

Das IKRK hat also in puncto Neutralität niemals Ab-striche gemacht?

Nein, selbst dann nicht, als wir in den 1990er-Jahren arg in Bedrängnis durch jüngere, vermeintlich dyna-mischere Organisationen gekommen sind. Auch in deren Kreisen wurden wir respektiert. Aber unsere Diskretion auf dem politischen Parkett, unsere Selbst-disziplinierung in Sachen schneller und öffentlichkeits-wirksamer Anklagen von Kriegsparteien und unsere Absenz in öffentlichen Debatten über Gut und Böse in den Kriegen wurde für überholt und nicht zukunfts-fähig gehalten.

„Wir haben überall und immer Kriegsgefangene aller Seiten besucht.

Das ist unsere Lebensversicherung”

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uf der blutigen, durchschossenen Wind-schutzscheibe kleben noch Haare der beiden Frauen, die am 9. Oktober 2003 in Karrada/Irak in diesem Auto starben – erschossen von „Security Guards“.

Die unbeteiligten Frauen starben nur wenige Tage nach dem bisher schwerwiegendsten Fehltritt privater Sicherheitsleute: „Fünf schlecht ausgebildete Männer des Söldnerkonzerns Blackwater feuerten wahllos auf Autos, Frauen, Kinder und rissen 14 Menschen in den Tod. Sie hatten keinen Feind im Visier, sondern nur die Nerven verloren“, schrieb die „Zeit“.

Mehr privat, weniger Staat – ein Trend, bei dem man

bislang eher an große Industriebetriebe dachte, bahnt sich seinen Weg in neue Gefilde: Bewaffnete Konflikte sind für private militärische Dienstleister in den ver-gangenen 15 Jahren ein lukratives Geschäft geworden. Staaten treiben das Outsourcing bestimmter Aufga-ben im Krieg voran. Nicht nur taktische Beratung und Personenschutz sind oftmals in den Händen Privater, auch Leistungen am anderen Ende der Skala: das Frie-denschließen. Wird Krieg zur Privatsache?

800 gut ausgebildete und bewaffnete Kämpfer sind eine passable Argumentationshilfe bei Meinungsver-schiedenheiten. Die Vereinigten Arabischen Emirate

Von thomas maRecek

Bewaffnete Konflikte sind zum lukrativen Geschäft für private militärische Dienstleister geworden.

Völkerrecht für Private

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(VAE) halten ihre eigenen Soldaten für nicht schlag-kräftig genug. Deshalb hat die Föderation aus sie-ben Provinzen im Südos-ten der Arabischen Halb-insel um rund 530 Millionen Dollar einfach eine kleine Söldnerarmee importiert.

Wer das nötige Kleingeld hat und sich für Auseinan-dersetzungen rüsten möchte, wendet sich an Erik Prince.

Die ausgelagerte ArmeeÜber den Ohren kurz geschorenes Haar, darüber ein strenger blonder Seitenscheitel: Die Frisur von Erik Prince ist weniger modisches als martialisches State-ment: der Schnitt eines ehemaligen Elitesoldaten der Navy Seals. Nicht erst seit seinem Deal mit Scheich Mu-hammad ibn Zayid Al Nahyan, dem Kronprinzen der VAE, verdient Prince sein Geld mit der Bereitstellung militärischer Dienstleistungen. Der Spross einer ein-flussreichen Industriellenfamilie aus dem US-Bundes-staat Michigan gründete bereits im Alter von 28 Jahren die Firma Blackwater. 2010 verkaufte er das mittlerwei-le in Xe Services umbenannte Unternehmen an eine In-vestorengruppe.

In den 13 Jahren, in denen Prince Blackwater und Xe Services vorstand, scheffelte das Unternehmen nicht nur Milliarden, sondern kam auch selbst mehrfach in Kreuzfeuer: Im März 2004 wurden vier Mitarbeiter in einem Hinterhalt getötet. Bilder von den geschände-ten Leichen gingen um die Welt. Blackwater war mit Vorwürfen konfrontiert, seine Mitarbeiter unzurei-chend auf den Einsatz vorbereitet zu haben.

Prince reagierte, wie es sich ein Staatsmann, dessen Soldaten dieses Schicksal ereilte, nicht leisten könnte: Er schwieg. Die Vorteile für Regierungen, die militä-rische Dienstleistungen auslagern, liegen auf der

Hand: Werden Mitarbeiter von privaten Unternehmen im Einsatz verletzt oder ge-tötet, entsteht viel weniger innenpolitischer Druck, als wenn es Soldaten beträfe.

Die Kostenfrage steht gar nicht im Vordergrund.

Erste Adresse„Insbesondere seit dem Irakkrieg ist eine Auslagerung bestimmter militärischer Leistungen erkennbar“, sagt Sigmar Stadlmeier, Vorstand des Instituts für Völker-recht an der Johannes-Kepler-Universität Linz. Der US-amerikanische „Krieg gegen den Terror“ markiert den Beginn von Blackwaters Aufstieg. Das Unternehmen wurde zur ersten Adresse, wenn es ums Outsourcing militärischer Aufgaben ging – in Afghanistan, im Irak und überall dort, wo mutmaßliche Terroristen gejagt wurden. Blackwater wurde zum bekanntesten Anbieter militärischer Dienstleistungen.

Doch die Konkurrenz schläft auch beim Geschäft mit dem Krieg nicht. Hinter Namen wie DynCorp Internati-onal oder Aegis stecken ebenfalls Firmen, die viel Geld an bewaffneten Konflikten verdienen. Zahlreiche wei-tere bieten ihre Dienste bei gewalttätigen Auseinan-dersetzungen an. Der Markt ist groß. Die Vereinigten Staaten allein haben zwischen den Jahren 1994 und 2007 Aufträge für 300 Milliarden Dollar an Militärun-ternehmen vergeben.

Die Tätigkeitsfelder der Kriegsdienstleister sind viel-fältig und reichen von Personenschutz über taktische Beratung bis hin zum Betreiben von Gefangenenlagern und der Übernahme der Luftraumüberwachung.

Auch wenn es im Angebot der einzelnen Unterneh-men Unterschiede gibt – gemeinsam ist ihnen eines: Sie alle agieren in einer rechtlichen Grauzone. „Insbe-sondere der völkerrechtliche Status ihrer Mitarbeiter

Die Vereinigten Arabischen Emirate haben um rund 530 Millionen Dollar eine kleine Söldnerarmee importiert

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ist nicht eindeutig“, so der Jurist Stadlmeier. Sie sind weder Solda-ten, noch gelten sie als Söldner im Sinne des ersten Zusatzprotokolls zur Genfer Konvention.

So zweifelhaft wie ihr Status ist auch der Ruf, der Mitarbeitern von Blackwater und Konsorten vorauseilt. Ihnen wird vorgewor-fen, schieß wütige Cowboys zu sein, die sich nicht um die Bestim-mungen des humanitären Völker-rechts scheren.

Die Enthüllungsplattform Wiki-Leaks publizierte 2010 mehr als 300.000 militärische Dokumente – in zahlreichen werden auch pri-vate Militärdienstleister erwähnt. Unter Berufung auf diese Berichte schreibt die „New York Times“ wenig Schmei-chelhaftes über die Mitarbeiter der Militär-unternehmen: „Sie schossen oftmals – ohne zu unterscheiden – auf unbewaffnete irakische Zivilisten, auf Beamte irakischer Sicherheits-behörden, auf amerikanische Truppen oder auf andere Mitarbeiter von privaten militäri-schen Dienstleistern. Konsequenzen gab es nur selten.“

Die schwersten Vorwürfe betreffen den Platzhirsch Blackwater. Das Massaker am Nissur-Platz wurde bis heute nicht von einem ordentlichen Gericht endgültig geklärt. Fest steht jedenfalls, dass Blackwater schon mehrmals mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist. 288 Verstöße gegen US-Recht wurden der Firma ange lastet. Man einigte sich. Im Vorjahr leistete das Unternehmen Strafzahlungen in der Höhe von 42 Millionen Dollar an die US-Regierung.

Aber auch Mitbewerber wie „Crescent Security“ hinterlassen einen zwiespältigen Eindruck: Bei einer Untersuchung des Hauptquartiers wurden (für sie ver-botene) Raketenwerfer und Granaten, illegale Steroide und 143 Bierdosen gefunden.

Einigung in MontreuxDie völkerrechtlichen Verpflichtungen von privaten Militärdienstleistern, ihren Auftraggebern und jenen Staaten, die von ihrer Tätigkeit betroffen sind, sind in einem offiziellen UN-Dokument schwarz auf weiß fest-gehalten. Auf Initiative der Schweiz und des Internatio-nalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) erarbeiteten Diplomaten zwischen 2006 und 2008 das Montreux-Dokument. „Das Papier ist eine exzellente Grundlage für das IKRK, um mit Ländern, in deren Staatsgebieten private Militärunternehmen operieren oder ihren Sitz

haben, über humanitäre Belange zu diskutieren“, sagt Philip Spoerri, Direktor für Internationales Recht beim IKRK. „Die im Montreux-Dokument enthaltenen Emp-fehlungen sind insbesondere für Staaten mit schwachen Regierungen hilfreich, die Aktivitäten von Militärdienst-leistern auf ihrem Territorium regulieren wollen.“

Völkerrecht gilt auch für PrivateDie Kernaussagen des knapp 50-seitigen Montreux- Dokuments lassen sich auf zwei wesentliche Punkte zusammenfassen. Zum einen wird klar festgehalten, dass sowohl das humanitäre Völkerrecht als auch die Menschenrechte von den privaten Unternehmen ein-gehalten werden müssen. „Wir wollten aufzeigen, dass es keine rechtlichen Schlupflöcher gibt, wenn Staaten Privatunternehmen mit militärischen Dienstleistungen beauftragen. Ganz im Gegenteil: Bei bewaffneten Kon-flikten gilt das humanitäre Völkerrecht sowohl für den Staat als auch für den privaten Vertragspartner“, stellt Paul Seger, der für das Schweizer Außenministerium am Montreux-Dokument mitgearbeitet hat, klar.

IKRK-Völkerrechtsexperte Spoerri erläutert den zwei ten wesentlichen Punkt des Papiers: „Staaten dür-fen keine privaten Unternehmen beauftragen, einen aktiven Part in Kampfhandlungen zu übernehmen. Dies sollte in der Verantwortlichkeit von Regierungen

Mitarbeiter von „Crescent Security” beim Versuch, die Sicherheitslage im Irak

zu verbessern. Bei einer Untersuchung des Hauptquartiers wurden Raketenwerfer,

Granaten, Steroide und 143 Bierdosen gefunden

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bleiben und keinesfalls an private Vertragspartner aus-gelagert werden.“

Die privatisierte Diplomatie17 Staaten – darunter auch Österreich – gehörten zu den ersten Unterzeichnern des Montreux-Dokuments. Mittlerweile ist der Unterstützerkreis auf 36 Staaten angewachsen. Völkerrechtsprofessor Stadlmeier be-zeichnet das Papier als „einen ersten Schritt“ und wünscht sich „mehr Verbindlichkeit“.

Insbesondere hinsichtlich schwerwiegender Vorwür-fe – wie jene das Massaker am Nissur-Platz betreffen-den – müsse die Verantwortung einzelner Mitarbeiter privater Militärunternehmen besser geregelt werden.

„In Armeen herrscht ein Disziplinar-Regime, sodass Ver-stöße Einzelner sanktioniert werden können“, sagt Stadlmeier. „Ich bin mir nicht sicher, ob so ein Diszipli-nar-System auch bei Privaten in einem wünschens-werten Ausmaß vorhanden ist.“

Auf lange Sicht führe kein Weg daran vorbei, den Söldnerbegriff, wie er jetzt in Artikel 47 des ersten Zu-satzprotokolls zu den Genfer Konventionen definiert ist, zu modifizieren. „Doch das wird ein langwieriger Prozess, der viel Geduld erfordert“, so Stadlmeier.

Mehr Privat, weniger Staat ist nicht nur bei militä-rischen Aufgaben in Konfliktsituationen die Devise, sondern auch bei diplomatischen. Selbst Friedensver-handlungen werden mittlerweile von Privaten erledigt

– privatisierte Diplomatie sozusagen. Die größte Organisation, die dahingehend tätig wird,

ist die Crisis Management Initiative (CMI) mit Sitz in Helsinki. Gänzlich unpolitisch ist CMI freilich nicht. Schließlich ist der ehemalige finnische Präsident Mart-ti Ahtisaari Gründer der Organisation. Ebenfalls eine Größe im privaten Friedenstiften ist das in Genf an-sässige Centre for Humanitarian Dialogue (HD). In den vergangenen sechs Jahren war die Organisation an zahlreichen Hotspots in Sachen Schlichtung unter-wegs: Die Philippinen, Somalia und die Zentral afrika-nische Republik sind nur eine kleine Auswahl dieser Konfliktherde.

Schneller als StaatenEtwas bekannter als CMI oder HD ist die Arbeit des Carter Centre’s Conflict Resolution Programme. Sie war mit ein Grund dafür, dass Jimmy Carter 2002 den Friedensnobelpreis zugesprochen bekam. Dem Carter Centre war entsprechende Publicity gewiss.

Doch die Stunden, in denen die privaten Friedens-stifter im Rampenlicht stehen, sind rar. Das macht es auch so schwierig, ihre Leistungen zu beurteilen.

„Wenn es einen Erfolg gibt“, räumt Michael Vatikiotis von HD ein, „beanspruchen unsere Auftraggeber die Lorbeeren lieber für sich, als auf die Mediatoren zu ver-

weisen.“ Nachsatz: „Strenge Verschwiegenheit ist die Voraussetzung für unsere Arbeit.“

Die Vorteile, die der Einsatz der Vermittler mit sich bringt, liegen auf der Hand. Organisationen wie HD können schneller und kreativer agieren als Staaten – ohne bürokratische Hürden, ohne diplomatische Be-schränkungen. Während amerikanische und europä-ische Diplomaten noch abwägen, ob sie überhaupt Ge-spräche mit radikalen Gruppen führen, sitzen die Pri-vaten schon längst am Verhandlungstisch. Mag sein, dass ihnen dabei ein wichtiger Trumpf fehlt: Sie haben kaum Druckmittel, können keine Sanktionen andro-hen, sondern haben lediglich ein Angebot – Frieden.

Nicht zu unterschätzen ist das Risiko solcher Missi-onen. „Wer darauf nicht vorbereitet ist, sollte die Fin-ger von Konfliktlösungen dieser Art lassen“, urteilt der norwegische Außenminister Jonas Gahr Store in einem

Interview mit dem „Economist“. Sein Ressort gibt jähr-lich 100 Millionen Dollar für Konfliktlösungen aus – ein Drittel davon geht an NGOs.

Dass Staaten Teile der Diplomatie auslagern, ist für Völkerrechtler Stadlmeier weit weniger problematisch als das Treiben der privaten Militärdienstleister. „Es ist grundsätzlich nichts Verwerfliches, wenn Personen oder Organisationen mit der entsprechenden Reputa-tion und Anerkennung vermittelnd tätig werden“, so Stadlmeier. „Vor 150 Jahren hätte das ja durchaus Rotkreuz-Gründer Henry Dunant sein können.“

Das norwegische Außenministerium gibt jährlich 100 Millionen Dollar für

Konfliktlösungen aus – ein Drittel davon geht an NGOs

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artina Schloffer ist studierte Han-delswissenschafterin und arbeitet seit 15 Jahren für das Rote Kreuz. Sie war in zahlreichen Auslandsein-sätzen tätig, darunter für das IKRK im Irakkrieg, in Eritrea, Sri Lanka und zuletzt im Libanon-Krieg 2006. Seit 2007 leitet sie das Internationale Katastrophen-management des Österreichischen Roten Kreuzes.

henri: Frau Schloffer, was verbinden Sie mit CIMIC?

MARtINA SCHLOFFER: Civil-Military Co-operation. Ich verwende diesen Begriff nicht gerne.

Warum nicht? Wenn militärische Einheiten und Hilfsor-ganisationen bei Auslandseinsätzen zusammenarbeiten, um zu helfen, ist das doch ein Fortschritt.

CIMIC ist ein sehr speziell definierter militärischer Be-griff aus dem Vokabular der NATO. Ich nenne es lieber CMR – Civil Military Relations, auf Deutsch ZMB – Zivil-Militärische Beziehungen.

Ist das nicht alles dasselbe?

Nein, ZMB ist eine offenere Definition. Für Hilfsorgani-sationen wie das IKRK kommt es sehr darauf an, wie ei-ne solche Zusammenarbeit im Detail abläuft.

Seit wann gibt es solche Kooperationen?

Es gab schon im Vietnamkrieg „eingebettete“ Organi-sationen, die Hilfsprojekte gemacht haben. Aber wirk-lich durchgesetzt hat sich dieses Konzept Ende der 1990er-Jahre. Militärs haben begonnen, sich auch um

InteRVIew: thomas aIstleItneR foto: naDja meIsteR

Militärs in Zivil, Hilfsorganisationen unter bewaffnetem Schutz wollen helfen und Leid lindern im Krieg. Doch sie sind parteilich und bringen die wirklich Unparteiischen in Schwierigkeiten. Martina Schloffer im Interview.

„Wir helfen, ohne zu fragen”m

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die zivilen Folgen der Kriege zu kümmern. Dabei ha-ben sie die Rolle der Hilfsorganisationen in ihre Pläne integriert.

Hilfsorganisationen als nahtloser Teil einer militärischen Kampagne?

Das war wohl das Traumziel, sarkastisch ausgedrückt. Uns hat das natürlich extrem verschreckt und auf den Plan gebracht. Es ist für uns entscheidend, Abstand zum Militär zu halten. Selbst wenn es helfen will.

Warum eigentlich? Könnte eine gemeinsame Hilfe nicht auch Vorteile haben?

Nicht, wenn die Ziele verschieden sind. Die Militärs verfolgen politische Ziele. Die Hilfsorganisationen sind mit ihrem humanitären Ziel vor Ort.

Sind diese Ziele wirklich so verschieden? Kriege werden ja auch geführt, um Lebensbedingungen zu verbessern, um ein totalitäres System abzuschaffen.

Die Befreiung eines Staates von einer Diktatur wäre nach unserem Wertekonzept nicht per se zu verurtei-len. Wenn das das militärische Ziel ist, akzeptiert man dafür auch ziviles Leid, wirtschaftliche Sanktionen bis hin zu Bombardierungen. Wir Helfer haben aber ein anderes Ziel: Wir wollen den Menschen helfen und jeg-liches menschliche Leid verhindern. Das mögen bei des moralisch akzeptable Ziele sein, aber im Detail sind sie nicht immer kompatibel. Während die Staatengemein-schaft Sanktionen über ein ganzes Volk verhängt, ver-suchen wir den Leuten trotzdem das Notwendigste zum Leben zu bringen.

Wurde die Einflussnahme auf das IKRK schon versucht?

Im Irakkrieg wurde deutlich gesagt, dass alle Hilfs-organisationen doch mit dem Militär an einem Strang ziehen sollten. Zitat von einem US-Kommandierenden:

„Wenn die Leute in Fallujah die Politiker ausliefern, dann werden wir die Stadt wieder aufbauen.“ Damit wird die Hilfe Mittel zum Zweck, um Informationen zu bekommen, um das Vertrauen der Bevölkerung zu ge-winnen, letztlich zur Erreichung des Kriegsziels.

Das steht im Widerspruch zur Unparteilichkeit des Roten Kreuzes ...

Ja, denn wir helfen, ohne zu fragen. Jeder, der ein Ver-brechen verübt hat, gehört vor ein Kriegsgericht, aber er hat trotzdem das Recht auf Essen. Und es wird auch niemand ein guter Demokrat sein, damit er Hilfe aus dem Westen bekommt.

Sieht die Bevölkerung den Unterschied?

Das ist eines der Hauptprobleme – wenn die Menschen das beim Einsatz im Feld nicht mehr unterscheiden können. Plötzlich treten Militärs in Zivil auf, die Hilfs-güter verteilen. Aber gleichzeitig versuchen sie, Infor-mationen zu bekommen oder bestimmte Personen zu

finden und zu verhaften. Und dann kommen die Hilfs-organisationen, auch in Zivil, auch in weißen Jeeps, aber neutral und unparteilich. Die Bevölkerung weiß nicht mehr, was sie glauben soll, und verliert das Ver-trauen in uns.

Was ist die Folge?

Es wird gefährlich. Denn wo Militär als Militär erkannt

„Jeder, der Verbrechen verübt hat, gehört vor ein Kriegsgericht, aber

er hat trotzdem das Recht auf Essen”

„Es ist für uns entscheidend, Abstand zum Militär zu halten. Selbst wenn

es helfen will”

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wird, ob richtig oder nicht, werden bewaffnete Grup-pen angezogen, die das Feuer eröffnen, selbst wäh-rend der Verteilung von Hilfsgütern. Das bedeutet Gefahr für die Zivilbevölkerung, Gefahr für die Helfer.

Hat es Vorfälle gegeben?

Ja, besonders 2003 gab es einige Zwischenfälle im Irak und in Afghanistan, bei denen Helfer getötet wurden. Wir vermuten, dass dahinter die Ansicht stand, dass alle westlichen Hilfsorganisationen nur ein verlänger-ter Arm der USA seien.

Können es sich Hilfsorganisationen leisten, ohne militä-rischen Schutz aufzutreten?

Das IKRK kann und muss es sich leisten, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Es gibt Situationen, wo man Hilfe nicht anders unter die Leute bringen kann als mit militärischer Begleitung. Das war zu Beginn des Jugo -slawienkrieges so, das war in Somalia so. In Somalia fährst du keine zehn Meter ohne bewaffneten Schutz. Aber dann ist es schon aus mit den Ausnahmen.

Wie können diese Probleme gelöst werden?

Wir finden zunehmend pragmatische Wege. In Notsi-tuationen ist jede Hilfe nötig. Jeder soll Hilfe bringen. Aber es muss erkennbar sein, wer wohin gehört. Vor allem: Militär muss als Militär erkennbar sein. Jeder muss die Rolle des anderen respektieren. Für die AG Globale Verantwortung haben wir ein Hintergrundpa-pier verfasst (siehe Seite 65 und 66, Anm. der Red.), in dem wir alle Möglichkeiten beleuchten und darstellen, wie die Rollen verteilt sein sollten.

Ist es so schwierig durchsetzbar, dass militärische und zi-vile Helfer als solche erkennbar sind?

Ja, denn die militärischen Akteure werden zunehmend mit zivilen Aufgaben beauftragt, die sie dann nach bes-

tem Wissen und Gewissen durchführen. Dazu gehört das Nationbuilding: Eine Armee bringt ein Land nicht nur bloß unter ihre Kontrolle, sie kümmert sich auch um den Wiederaufbau, die Staatsstrukturen bis zur Ab-haltung von Wahlen. Bosnien-Herzogowina ist ein Bei-spiel dafür. Es bleibt spannend zu sehen, wie es dort weitergeht.

Wie sieht es für die österreichischen Hilfsorganisationen aus?

Es gab im Jahr 2010 in Österreich den Ansatz eines ge-meinsamen Konzepts für Auslandseinsätze. Man hat versucht, unter dem Sicherheitsaspekt die Auslands-hilfe von Bundesheer, allen staatlichen Stellen und Hilfsorganisationen unter ein Dach zu bringen. Das wäre eine für uns nicht akzeptable Politisierung der Hilfe.

Auch wenn es damit für die Einsätze mehr finanzielle Mittel gäbe?

Es ist undenkbar, dass wir als Rotes Kreuz Hilfseinsätze nach den vorhandenen finanziellen Mitteln planen. Vor allem dann nicht, wenn diese Mittel unter politischen Aspekten vergeben werden. Das Rote Kreuz und die anderen großen Hilfsorganisationen können diesem Druck widerstehen. Aber es gibt viele kleine Organisa-tionen, die wohl nicht anders können als mitzumachen und damit in eine politische Abhängigkeit geraten, die in einer Vertrauenskrise und einem Imageschaden en-det. Noch zweifelhafter ist die Rolle von privaten Wirt-schaftsunternehmen, die Hilfe auf Auftrag und gegen Bezahlung leisten – und nicht freiwillig und aus Prinzip.

Glauben Sie, dass die Arbeit für das Rote Kreuz in den nächsten Jahren noch gefährlicher werden wird?

Es wird darauf ankommen, wie wir uns verhalten. Das IKRK hat nach den Vorfällen in den letzten Jahren reagiert und seine Strategien auf ein gefährlicheres Umfeld abgestellt. Entscheidend bleibt weiterhin das eigene Zeichen, das Rote Kreuz. Und die absolute Unparteilichkeit bei der Hilfeleistung. Das war immer so, und das wird in Zukunft noch wichtiger sein.

„Entscheidend bleibt das eigene Zeichen, das Rote Kreuz. Und die absolute

Unparteilichkeit bei der Hilfeleistung”

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D ie „Globale Verant-wortung“ vertritt die Positionen der Hilfs-

organisationen gegenüber der Regierung. Geschäftsführerin Petra Navara-Unterluggauer ist unzufrieden mit der inter-nationalen Hilfe Österreichs.

henri: Was tut der Verein „Glo-bale Verantwortung“?

PEtRA NAvARA-UNtERLUGGAUER: Er ist ein Dachverband, der die Rollen und Funktionen von zivil-gesellschaftlichen Organisationen zum Beispiel an Schnittstellen zu staatlichen Institutionen verhandelt.

Welche Schnittstellen sind das in der humanitären Hilfe?

Eine neue Herausforderung ist die Schnittstelle zwi-schen Hilfsorganisationen und Militär. Das Thema wird international, aber auch national diskutiert. Gerade im letzten Jahr, als Österreich eine neue Sicherheitsstra-tegie entwickelt hat, hat der Verteidigungsminister im-mer wieder über die Rolle des Militärs in der humanitä-ren Hilfe gesprochen. Die humanitären Organisatio-nen und damit auch wir sehen dabei große Probleme.

Von „Globale Verantwortung“ gibt es dazu ein Positions-papier und ein Hintergrundpapier.

Ja, sie wurden von uns, MitarbeiterInnen von Öster-reichischem Roten Kreuz, Ärzte ohne Grenzen und Caritas verfasst. In einem Hintergrundpapier haben wir unsere Position mit konkreten Beispielen und den Bezug auf internationale Abkommen untermauert (siehe Seite 66, Anm. der Red.).

Werden Ihre Standpunkte berücksichtigt?

Sie werden ernst genommen, ja. Diesen Herbst wird die Regierung strategi sche Leitlinien für den Bereich Diplomatie/Militär/Zivilgesellschaft be-schließen. Wir haben mit ver han delt und in einem Annex unsere Position klar eingebracht.

Welche Position ist das?

Die Hilfsorganisationen verlieren das Vertrauen der Bevölkerung, wenn sie im Windschatten von Armeen arbeiten. Eine Kombination von Hilfs-

maßnah men von Militär und Hilfsorganisationen darf nur nach dem Prinzip der Subsidiarität erfolgen. Das bedeutet, Hilfslieferungen durch Militärs sind die letz-te Option. Nach dem Erdbeben in Pakistan hat das pakistanische Militär unsere Hilfe ermöglicht.

Pakistan war ein Katastropheneinsatz. Würden Sie zu-stimmen, dass es bei Hilfseinsätzen in Kriegsgebieten stärker auf diese Unterscheidung ankommt?

Im Katastrophenfall ist die Zivilbevölkerung geeint in ihrem Leid. Im Krieg gibt es unterschiedliche Kriegs-parteien, das macht es schwieriger.

Wo engagiert sich „Globale Verantwortung“ noch?

Unser großes Thema ist die österreichische Haltung zu humanitären und entwicklungspolitischen Themen. Beide haben einen geringen Stellenwert. Die Entwick-lungshilfe ist seit Jahren unterfinanziert, die humani-täre Hilfe stagniert. Die Hilfe ist in der Verwaltung schlecht aufgestellt, fragmentiert und überbürokrati-siert. Um eine Verbesserung herbeizuführen, müsste politischer Wille gezeigt werden.

Einerseits sind die Österreicher Spendenweltmeister, aber auf institutioneller Ebene hinken wir nach?

Wir sind nicht Spendenweltmeister, aber die Bevölke-rung ist extrem großzügig. Sie hat für die Hungerkrise am Horn von Afrika zehnmal mehr gegeben als die Regierung.

Woran liegt das?

Es ist mir unerklärlich. Ich kenne Minister Spindelegger. Er hat ein soziales Bewusstsein. Aber offenbar gibt es Lobbys, die sich besser durchsetzen können als wir.

InteRVIew: thomas aIstleItneR

Positionspapier und Hintergrundpapier für zivil-militärische Beziehungen.

„Es fehlt der politische Wille”

Die Dachorganisation „Globale Verantwortung – Arbeitsgemein-schaft für Entwicklung und Humanitäre Hilfe“ vertritt national und international die Interessen von derzeit 42 österreichischen Nicht-regierungsorganisationen (Stand Jänner 2011), die in den Bereichen Entwicklungszusammenarbeit, entwicklungspolitische Inlandsarbeit, humanitäre Hilfe sowie nachhaltige globale wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklung tätig sind.

Globale VeRantwoRtunGVertretung österreichischer NROs.

Petra Navara-Unterluggauer

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H erausgegeben von „Globaler Verantwortung“, der Arbeitsgemeinschaft für Entwicklung und humanitäre Hilfe (siehe Interview auf Seite

65), fasst das Hintergrundpapier „Zivil-militärische Be-ziehungen“ den aktuellen Status und die Einschätzung der Hilfsorganisationen zu diesem Thema zusammen.

Das Papier steht auf www.globaleverantwortung.at zum Download: www.globaleverantwortung.at/start.asp?ID=229574. henri bringt wichtige Passagen mit drei aussagekräftigen Beispielen daraus:

Zu große NäheDas von österreichischen Hilfsorganisationen betrie-bene und vom Österreichischen Bundesheer (ÖBH) ge-sicherte Flüchtlingslager 1999 in Albanien: Die Hilfsor-ganisationen hatten die Leitung des Lagers unabhän-gig inne und das ÖBH war für die Sicherung des Lagers zuständig. Durch die räumliche Nähe der Zeltstädte des humanitären und des militärischen Personals so-wie aufgrund der militärischen Sicherung des Lagers entstand nach außen der Eindruck von Zugehörigkeit. Aufgrund dieses Eindruckes und der gleichzeitigen

„Nähe“ der betroffenen Armeen zur NATO wurde den in Serbien arbeitenden VertreterInnen des Roten Kreuzes vorgeworfen, nicht neutral zu sein. In der Folge wurde ihnen der Zugang zu Hilfsbedürftigen erschwert.

SubsidiaritätDie Nutzung militärischer Ressourcen, gemeinsame humanitär-militärische Aktionen oder andere Aktivi-täten, die eine sichtbare Zusammenarbeit von humani-tären Hilfsorganisationen mit Militärs mit sich bringen, sind als letzte Option in Betracht zu ziehen.

Beispiel: Pakistan 2005/06: Nach dem Erdbeben in Kaschmir war es den Hilfsorganisationen aufgrund der Unzugänglichkeit der Region und des Mangels an Transportgerät nicht möglich, die Hunderttausenden Hilfsbedürftigen schnell genug zu erreichen.

Die pakis tanische Armee bot den Hilfsorganisatio-nen weitreichen de logistische Unterstützung an, vor allem Helikopterflüge zum Transport von Personal und Hilfsgütern. Die se wurden als letzte verfügbare Option auch vielfach genutzt. Zudem wurden verschüttete Straßen freigeräumt und so der Zugang zu den Erd-bebenopfern für die Hilfsorganisationen ermöglicht. Die pakistanische und die amerikanische Armee leis-teten einen wesentlichen Beitrag dazu, dass es im Win-ter nach dem Erdbeben zu keiner zweiten humanitären Katastrophe kam.

UnparteilichkeitHumanitäre Hilfe wird auf Basis des Bedarfs der be-troffenen Bevölkerung geleistet, ohne Bedingungen.

Beispiel: Irak (2004): Die Aussage von General Mark Kimmit, US-Army-CENTCOM-Spokesman, zeigt, wie die Unterstützung der notleidenden Bevölkerung an Bedingungen geknüpft wurde: „If they were to deliver these people to the criminal justice system, we will come back in and start the rebuilding of Falluja. That is their choice.“

ausGewählt Von thomas aIstleItneR

Das Hintergrundpapier „Zivil-militärische Beziehungen“ gibt eine detaillierte Darstellung und Einschätzung zum Themenkreis ZMB.

Beziehungssachen

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alter Feichtinger war Panzer-offizier und Kommandant ei-

nes Panzerbataillons in St. Pöl-ten. Nach einem Studium der Politikwissenschaft und Publizistik ist er heute Leiter des Instituts für Friedens-sicherung und Konfliktmanagement in der Landesver-teidigungsakademie in Wien.

henri: Herr Brigadier, wäre es aus Ihrer Sicht vorstellbar, dass das Österreichische Rote Kreuz und das Österreichische Bundes-heer im Ausland gemeinsam im Einsatz sind – so wie das im Koso-vo schon einmal der Fall war?

wALtER FEICHtINGER: Wir hätten bestimmt nichts dagegen. Aber das Rote Kreuz wird das sicher nicht wollen.

Hat das Rote Kreuz Berüh-rungsängste gegenüber dem öster reichischen Bundesheer?

Ich muss dem Österreichi-schen Roten Kreuz und über-haupt den österreichischen

NGOs Rosen streuen, weil sie sehr pragmatisch auf die Themen zugehen. Sie betonen ihre Position, aber es lässt sich immer ein gemeinsames Interesse aller Akteure vor Ort definieren. Wir haben auch ein Aus-landseinsatzkonzept entwickelt, bei dem alle betrof-fenen NGOs am Tisch saßen und mitreden konnten.

Sie heben das hervor, als ob es etwas ganz Besonderes wäre.

In anderen Staaten reicht das Verhältnis von Berührungsangst bis zu einem generellen Berüh-rungsverbot. In Frankreich will das Rote Kreuz mit dem Militär nichts zu tun haben. In den USA ist die Armee sehr darauf be-dacht, selbst humanitäre Hilfe zu leisten. Österreich ist da wirklich vorbildlich.

Im Irakkrieg wurde der Begriff „Embedded Journalists“ geprägt. Gemeint waren Reporter, die mit einer Armee unterwegs waren und aus dieser Sicht berichteten. Heute haben humanitäre Organisationen

InteRVIew: thomas aIstleItneR fotos: naDja meIsteR

Wenn Armeen humanitäre Aufgaben übernehmen, kann es für die Hilfsorganisationen kritisch werden. Werden sie dann als Freund oder Feind gesehen?

„Humanitäre Hilfe ist nicht unsere Kernaufgabe”

w„Die Bevölkerung muss

immer erkennen, mit wem sie es zu tun hat”

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Sorge, dass sie bald als „Embedded Helpers“, eingebunden in eine Armee, Hilfe leisten werden. Verstehen Sie das?

Dafür habe ich völliges Verständnis. Es ist für beide Sei-ten sehr wichtig, genau zu wissen: Was sind die Beson-derheiten des anderen? Wo sind seine Möglichkeiten und wo sind seine Grenzen?

Wie würden Sie diese Besonderheiten definieren?

Eine humanitäre Organisation will dem Einzelnen hel-fen, seine aktuelle Situation zu verbessern. Wenn ein Staat mit militärischen Mitteln in einem anderen Staat aktiv wird, verfolgt er andere, strukturelle Ziele. Er will den anderen Staat in eine positive Richtung transfor-mieren, damit die Ursachen des Einsatzes wegfallen.

Aber auch die NGOs leisten strukturelle Arbeit. Gibt es da nicht Überschneidungen?

Ja, trotz der verschiedenen Ambitionen trifft man sich dann im Bereich der humanitären Hilfe. Dabei entsteht eine gewisse Konkurrenz, aber ich glaube, diese Situa-tion wird sich in Zukunft auflösen.

Was macht Sie so optimistisch?

Humanitäre Hilfe ist keine Kernaufgabe der Militärs und wir können das auch nicht so wie humanitäre Or-ganisationen. Es kann in gewissen Phasen eines Kon-fliktes sein, dass das Militär für Hilfeleistungen gefragt ist. Aber je stärker die zivile Komponente wird, umso weiter können wir uns daraus zurückziehen. Dieses Denken beginnt langsam einzusickern, auch bei Mili-tärs, die bei der Hilfeleistung auch darauf schielen, sich einen Bonus bei der Bevölkerung zu holen.

Genau dieser Bonus zählt doch zu den Hauptproblemen. Militärs wünschen sich eine Art positiven Imagetransfer von den Hilfsorganisationen zu den Soldaten. Dagegen fürchten die Hilfsorganisationen um ihre Unparteilichkeit.

Wichtig ist ein Dialog zwischen staatlichen, insbeson-dere militärischen, Akteuren und den zivilen, humani-tären Organisation. Wir brauchen eine Bewusstseins-bildung, was die Rolle des anderen sein kann und was nicht. Beim UN-Einsatz im Tschad war das österrei-chische Bundesheer mit 160 Mann dabei. Da haben wir gesehen, wie gut es funktionieren kann. Die Militärs haben sich im humanitären Bereich bewusst zurückge-nommen. Die NGOs haben das anerkannt, und nach intensiven Gesprächen hat es bestens funktioniert.

Können Situationen eintreten, in denen auch die huma-nitäre Hilfe nur durch Militärs geleistet werden kann?

Natürlich. Das hängt von der jeweiligen Konfliktsitua-tion ab. In Somalia können internationale Hilfsorgani-sationen derzeit nicht tätig werden, weil die Sicher-heitslage vor Ort es nicht erlaubt. Somalia wäre ein Szenario, wo man mit Militär wenigs tens in begrenzten Räumen Sicherheit erzeugen kann, um militärische Hilfe zu ermöglichen. Das zeichnet sich derzeit nicht ab, wurde aber auch von zivilen Organisationen schon gefordert.

„In Amerika geht jemand in der Früh ins Büro, steuert eine Drohne, schießt ein paar Leute

im Jemen ab oder auch nicht und geht am Abend wieder heim.

Diesen Aspekt muss man sich genau anschauen”

„Beim UN-Einsatz im Tschad war das österreichische Bundesheer mit

160 Mann dabei. Da haben wir gesehen, wie gut die Zusammenarbeit

mit NGOs funktionieren kann”

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Eine Forderung der humanitären Organisationen lautet, dass das Militär immer in Uniform auftreten sollte. Sind Si-tua tionen denkbar, in denen das nicht möglich ist?

Militär erkennt man an der Uniform. Aber auch andere Akteure sollten erkennbar und zuordenbar sein.

Gibt es ein Problem mit der Zuordenbarkeit der humani-tären Akteure?

Nicht mit dem klassischen Roten Kreuz, nicht mit dem Roten Halbmond. Die genießen großes Ansehen und sind in der Regel gerne gesehen. Sie und ihre Botschaft sind an ihren Zeichen klar erkennbar. Es gibt aber eine Unzahl kleinerer NGOs, die sich ohne Armeeschutz gar nicht in das Krisengebiet trauen würden und dann un-ter dem Schutzmantel des Militärs agieren. Diese Or-ganisationen sehe ich in einer problematischen Rolle.

Die Zukunft der humanitären Hilfe hängt auch von der Zukunft der Kriegführung ab. Armeen wollen nicht mehr nur Gebiete, sondern auch die „hearts and minds“ der Bevölke-rung besetzen, sie buhlen um ein posi-tives Image. Zugleich lassen dieselben Staaten Kriege zunehmend von pri-vaten Dienstleistern, von Nichtarmeen führen. Wie passt das zusammen?

Derzeit sind 90 Prozent der unge-fähr 35 Kriege, die jährlich statt-finden, innerstaatlicher Natur. Die-se Kriege werden mit allen Mitteln ausgetragen, die man hat. Wer sich von außerhalb engagiert, muss es vor der Öffentlichkeit im eigenen Land verant-worten, wenn es Verluste gibt. So kommen wir zur Aus-lagerung zu den privaten Sicherheitsfirmen ...

... damit sich die eigene Armee die Hände nicht schmut-zig macht und vor allem keine Verluste riskiert?

Seit dem Irakkrieg hat hier ein Umdenken eingesetzt. Die Erfahrungen, die die USA mit privaten Militär fir-men gemacht haben, haben zu einer Neubewertung geführt. Nicht umsonst kam es zum Montreux-Doku-ment der Schweizer Initiative. Jetzt gibt es einen „Code of Conduct“, an den sich Private halten müssen. Aber wer kontrolliert sie, wenn sie im Einsatz sind? Bisherige Versuche, private Dienstleister nach Übergriffen an-zuklagen, sind in den USA kläglich gescheitert. Bei Streitkräften gibt es eine klare Kommandokette, bei Priva ten besteht noch ein massives Kontrolldefizit.

Kann man das Töten aus dem Krieg weghumanisieren oder reden wir uns da nicht schön, was den Krieg am Ende doch immer wieder ausmacht? Egal ob es ein Soldat ist, ein Söldner oder eine ferngesteuerte Drohne?

Die technologische Kriegsführung, der Einsatz von unbemannten Flugobjekten, den Drohnen, ist eine zweischneidige Angelegenheit. In Amerika geht je-mand in der Früh ins Büro, steuert so eine Drohne, schießt dann ein paar Leute im Jemen ab oder auch nicht und geht am Abend wieder heim. Vielleicht schaut er sich vorher noch seinen „Score“ an. Das ist eine Ent-fremdung des Kriegführenden vom Krieg. Diesen Aspekt muss man sich genau anschauen.

Welche Gefahren sehen Sie da?

Dass ein realer Krieg von Menschen geführt wird, die glauben, sie spielen Krieg am Computer. Dabei kön-nen persönliche Schwellen fallen, und dann haben wir ein völlig neues Denken ...

Computerzocker als Online-Soldaten beim Militär?

Ich bin sicher, dass solche Fähigkeiten jetzt schon bei Einstellungsuntersuchungen gecheckt werden.

„90 Prozent der ungefähr 35 Kriege,

die jährlich stattfinden, sind innerstaatlicher Natur.

Sie werden mit allen Mitteln ausgetragen, die man hat”

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CIMIC Civil-Military Co-operation beschreibt das Zusammenwirken von staatlichen oder nichtstaatlichen zivilen Organisationen mit denen der militärischen Ver-teidigung im Bereich der Landesverteidigung, in der Gefahrenabwehr oder bei Auslandseinsätzen des Militärs. Der Begriff wurde von der NATO eingeführt, in der US-Armee hat man das Thema in der US Army Joint Doctrine geregelt. Eine neutralere Bezeichnung ist ZMB (Zivil-militärische Beziehungen).

IASC Der Ständige Interinstitutionelle Ausschuss (Inter-Agency Standing Committee, IASC) ist eine 1992 eingerichtete Organisation der Vereinten Nationen mit der Aufgabe, die Koordinierung von humanitärer Hilfe, sowohl zwischen UN-Orga-nisationen als auch Nicht-UN-Organisationen, zu verbessern.

Die IASC-Richtlinien sind das Referenzpapier für zivil-militärische Beziehungen in „Complex Emergencies“ mit folgenden Grundsätzen: p Jede humanitäre Aktion einschließlich zivil-militärischer Beziehungen er-

folgt in Übereinstimmung mit humanitären Prinzipien. p Kombattanten und Nicht-Kombattanten müssen jederzeit klar unter-

scheidbar sein, um den besonderen Schutz für all jene, die am Konflikt nicht (mehr) teilnehmen, zu gewährleisten.

p Die Unabhängigkeit humanitärer Organisationen ist gewährleistet. p Humanitäre Hilfe erfolgt gemäß dem Prinzip „Do No Harm“ – die Hilfs-

empfänger dürfen durch zivil-militärische Beziehungen in keiner Weise gefährdet werden.

p Das humanitäre Völkerrecht wird respektiert. p Die zivil-militärische Koordination sollte nach Möglichkeit in Übereinstim-

mung mit allen am Konflikt beteiligten Parteien erfolgen.p Zivil-militärische Operationen einschließlich des Einsatzes militäri scher

Mittel (military assets) gelten als letzte Option (last resort).p Jegliche Abhängigkeit von Militärressourcen soll vermieden werden.

MCDA-Richtlinien Legen die Benutzung von Military und Civil Defence Assets durch UN-Agenturen fest und wurden im März 2003 erlassen.

Die direkte Involvierung von Streitkräften in eine humanitäre Aktion darf nur unter genau definierten Unständen erfolgen. p Eine humanitäre Intervention seitens der Militärs muss von humanitären

Akteuren nachgefragt werden.p Sie wird als letzte Option (last resort) betrachtet.p Sie muss unter ziviler Führung erfolgen.p Sie muss in Zeit und Ausmaß begrenzt bleiben.p Die Art der militärischen Unterstützung soll die Assoziation mit der huma-

nitären Aktion möglichst gering halten.

Von thomas aIstleItneR

Das Zusammenwirken humanitärer und militärischer Organisationen wurde in mehreren Dokumenten beschrieben. Hier werden die wichtigsten vorgestellt.

Wer mit wem? Wer für wen?

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Oslo-Richtlinien Die Oslo Guidelines legen Kriterien für die Anwendung von MCDAs bei humani-tären Einsätzen im Ausland fest. Sie wurden von 1992 an erarbeitet und im Mai 1994 in Oslo verabschiedet. Unter den Signatarstaaten ist auch Österreich. Nach einer Überarbeitung wurden die Oslo-Richtlinien im November 2006 er-neuert.

Die Anwendung von MCDAs bei humanitären Einsätzen im Ausland erfolgt ge-mäß folgenden Kriterien:

Die Anforderung von MCDAs muss durch den humanitären Koordinator der Vereinten Nationen mit Zustimmung des betroffenen Staates erfolgen und aus-schließlich von humanitären Kriterien geleitet sein.p MCDAs sollten nur als letztes Mittel von humanitären UNO-Agenturen ein-

gesetzt werden.p Humanitäre UNO-Operationen, die militärische Fähigkeiten nutzen, müs-

sen ihren zivilen Charakter behalten.p Militärische Mittel sollten möglichst nicht zur direkten Unterstützung

huma nitärer Organisationen eingesetzt werden, um eine klare Unterschei-dung zwischen militärischen und zivilen Akteuren zu ermöglichen.

p Die Nutzung von MCDAs sollte von Beginn an in Umfang und Dauer klar be-grenzt sein und einer Exitstrategie folgen, welche die Übernahme der Auf-gaben durch zivile Ressourcen vorsieht.

p Länder, die MCDAs zur Unterstützung humanitärer Aktionen zur Verfügung stellen, sollten humanitäre Prinzipien respektieren.

Petersberg-Aufgaben Beschreiben das Instrumentarium, das der EU im Rahmen des internationalen Krisen- und Konfliktmanagements zur Verfügung steht. Ziel ist es, die interna-tionale Sicherheit zu erhalten bzw. wiederherzustellen sowie den Ausbruch gewaltsamer Konflikte zu vermeiden. Mit der Übernahme der Petersberg-Auf-gaben in den EU-Vertrag (Vertrag von Amsterdam, 1997) wurde die Europäische Union ermächtigt, im Rahmen ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheits-politik (GASP) humanitäre, friedenserhaltende und friedensschaffende Maß-nahmen, gegebenenfalls auch unter dem Einsatz militärischer Mittel, durchzu-führen. Unter die Petersberg-Aufgaben fallen humanitäre Einsätze, Rettungs-einsätze, friedenserhaltende Aufgaben, Kampfeinsätze bei der Krisenbewälti-gung, einschließlich Maßnahmen zur Wiederherstellung des Friedens.

SCHR Das Steering Committee for Humanitarian Response (SCHR) nimmt am IASC teil. Sein Positionspapier regelte 2001 die Rolle internationaler Friedenstruppen in der humanitären Hilfe: p Die direkte Implementierung humanitärer Hilfe seitens militärischer Ak-

teure wird grundsätzlich nicht als angemessen betrachtet.p In seltenen Ausnahmefällen jedoch kann die direkte Implementierung

humanitärer Hilfe als angemessen betrachtet werden, sofern diese genau definiert ist.

p Bewaffneter Schutz durch Militärs seitens humanitärer Hilfsorganisationen sollte nur in Ausnahmefällen als letzte Option mit genau definierten Krite-rien in Anspruch genommen werden.

p Nur bestimmte Informationen können/sollen zwischen den Militärs und den humanitären Hilfsorganisationen ausgetauscht werden (z. B. zur Sicher heitslage, in Hinblick auf das Ausmaß einer humanitären Katastro-phe, Logis tik). Informationen sollen nicht ausgetauscht werden, wenn ein Risiko für die Bedürftigen oder die Mitarbeiter besteht.

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Im Vergleich mit Deutschland, den Niederlanden, Norwegen und der Schweiz wird die finanzielle Unterausstattung der humanitären Hilfe in Österreich besonders deutlich. S. 76

Die Kürzung der österreichischen Mittel für die bilaterale Entwicklungszusammen-

arbeit um ein Drittel bis 2014 ist wahrlich kein Ruhmesblatt. S. 75

Die internationale Hilfe Österreichs ist schlecht aufgestellt,

fragmentiert und überbürokratisiert. S. 75

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ÖsTERREIcH

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Technisch betrachtet ist die Ernährungsfrage gelöst, trotzdem sind 15 Prozent der Weltbevöl-kerung unterernährt. Humanitäre und Kata stro-phenhilfe alleine kann das nicht ändern, sagt Werner Raza, Leiter der Österreichischen For-

schungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE). henri besuchte ihn im Centrum für internationale Ent-wicklung in Wien.

henri: Herr Dr. Raza, alleine am Horn von Afrika verhun-gern gerade wieder Zehntausende. Wer ist schuld?

wERNER RAZA: Viele Faktoren spielen hier eine Rolle. Der Klimawandel erhöht zwar das Auftreten extremer Wetterereignisse, bestimmt aber nicht die sozialen Fol-gen. Für das Ausmaß der Hungerkatastrophe verant-wortlich sind die ungleiche Verteilung der Nahrungsmit-tel und die mangelnde Kaufkraft der Bevölkerung auf-grund der Preissteigerungen. Strukturell spielen Fak-toren wie die zunehmende Spekulation mit Rohstoffen, veränderte Ernährungsgewohnheiten und eine oft ver-fehlte Agrarpolitik eine Rolle.

Humanitäre Hilfe löst all diese Probleme jedenfalls nicht.

Nein. Aber häufig haben wir es nicht deshalb mit einer Hungerkrise zu tun, weil es in einer Region keine Nah-rungsmittel gibt. Sondern weil den Menschen die Kaufkraft fehlt, um sie zu erwerben. Wenn es dann wie in Somalia nicht einmal eine Regierung gibt, die ein-greifen kann, ist Katastrophenhilfe natürlich legitim.

Welche Rolle spielt die Landwirtschaft?

Sie hat bis zu den 1970er-Jahren eine prominentere Rol-le gespielt. Seit den frühen Neunzigerjahren liegt der Schwerpunkt auf dem „Private Sector Development“, der Förderung von Gewerbe, Handel und Industrie. Die Annahme lautet: Die Entwicklung des Privatsektors ist der Schlüssel für Wachstum und Armutsbekämpfung. Dabei wird übersehen, dass die Mehrzahl der Men-

schen vor allem in Afrika auf dem Land und von der Land-wirtschaft lebt. Die Ag rar politik müsste daher in der Entwick-lungspolitik eine grö-ßere Rolle spielen.

Ganz generell: Hat durch die wirtschaftliche Globalisie-rung die Armut auf der Welt ab- oder zugenommen?

Als absolut arm gelten Menschen, die mit weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag auskommen müssen. Wenn man sich den Zeitraum von 1980 bis 2005 ansieht, dann ist die Zahl der solcherart definierten Armen von 1,9 Milli-arden Menschen auf 1,4 Milliarden gesunken. Wenn man genauer hinsieht, erkennt man: Die Verringerung geht auf die Abnahme der Zahl absolut Armer in China zurück. Sie hat daher nur zu einem geringen Teil mit der Globalisierung, sondern vor allem mit Chinas nati-onaler Politik zu tun.

PolItIkER AM SPEnDEntElEfonÖsterreich spendet bei Katastrophen –

und kürzt die Entwicklungs-

zusammenarbeit.

InteRVIew: RobeRt DempfeR

foto: naDja meIsteR

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Aber die Globalisierung war eine Voraussetzung für den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas.

Schon, trotzdem kann man über solche Zusammen-hänge nur Vermutungen anstellen. Wenn man China nicht berücksichtigt, besteht kein eindeutiger Zusam-menhang mehr zwischen der Globalisierung und dem Rückgang der globalen Armut. Es gibt in dieser Frage aber nicht wirklich einen Konsens, eben weil es so schwierig ist, Kausalitäten herzustellen.

In Afrika ist die Zahl der Armen also nicht gesunken?

Sie ist sogar angestiegen. Außerdem hängt eine Beant-wortung der Frage auch vom Beobachtungszeitraum ab. Schaut man sich die Periode von 1980 bis 2010 an, dann hat die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise den Großteil des Rückgangs der Armut wieder zunichte-gemacht.

Stünde es den humanitären Soforthilfe-Organisationen nicht gut an, stärker Ursachenbekämpfung zu betreiben?

Ich sehe da schon eine Rolle für diese Organisationen. Gerade einige der größten und potentesten sind tradi-tionell in der humanitären Hilfe und in der Katastro-phenhilfe tätig. Das ist gut und schön. Aber auch sie müssten ein Interesse daran haben, dass die Politik nicht nur kurzfristig medienwirksam auftritt und am Spendentelefon sitzt, wenn gerade eine Katastrophe eingetreten ist. Sondern dass die staatliche Entwick-lungspolitik stärker dafür eingesetzt wird, nach solchen Katastrophen ein Follow-up zu erstellen und präven-tive Maßnahmen für das nächste Mal zu setzen.

An einer stabilen, langfristigen Finanzierung der staatli-chen Entwicklungspolitik mangelt es aber in Österreich?

Momentan sehe ich eine völlige Inkohärenz, was den Einsatz der Politik bei medienwirksamen Spenden-aktionen für die Katastrophenhilfe und gleichzeitig bei Kürzungen der Budgets für die Entwicklungszusam-menarbeit angeht. Die Kürzung der Mittel für die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit um ein Drit-tel bis 2014 ist wahrlich kein Ruhmesblatt. Darauf immer wieder hinzuweisen und die Politik in die Ver-antwortung zu nehmen ist eine verdienstvolle Tätig-keit für die humanitären Organisationen.

„Häufig haben wir es nicht

mit einer Hungerkrise zu tun,

weil es keine nahrungsmittel gibt.

Sondern weil den Menschen die

kaufkraft fehlt, um sie zu erwerben“

Die Österreichische Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE) ist die größte österreichische Forschungs-, Dokumentations- und Informationsvermittlungsstelle zu Fragen der internationalen Entwicklung, Entwicklungsländern, Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit. Ge-meinsam mit vier weiteren entwicklungspolitischen Organisa-tionen bietet die ÖFSE im C3-Centrum für Internationale Entwicklung in Wien Raum für Dialog, Diskussion und Reflexi-on. Das Centrum enthält mit der C3-Bibliothek für Entwick-lungspolitik außerdem die größte wissenschaftliche und pädagogische Fachbibliothek zu internationaler Entwicklung, Frauen/Gender und globalem Lernen in Österreich. Informationen: www.oefse.at, www.centrum3.at

DIaloG Im c3-centRumDie Funktion der ÖFSE.

„Während die Zahl der

absolut Armen weltweit

gefallen ist, ist sie in

Afrika sogar gestiegen“

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Insgesamt rund 210.000 „humanitarian workers“ arbeiteten im Jahr 2008 auf der ganzen Welt. Mit Mitteln in der Höhe von 6,6 Milliarden US-Dollar für humanitäre Hilfe, zur Verfügung gestellt von der Staatengemeinschaft. Österreichs konkreter

finanzieller Beitrag betrug in diesem Jahr gerade ein-mal 30 Millionen Euro – der höchste seit Jahren, und trotzdem nicht einmal ein halbes Prozent.

Selbst die Austrian Development Agency (ADA) stellt in ihrem Bericht zur humanitären Hilfe der Österrei-chischen Entwicklungszusammenarbeit (OEZA) fest:

„Österreich gehört mit seiner geringen Mittelausstat-tung nicht zu den Key-Playern auf der internationalen Bühne.“

Gerade im Vergleich mit Ländern wie Deutschland, den Niederlanden, Norwegen und der Schweiz wird die finanzielle Unterausstattung der humanitären Hilfe in Österreich besonders deutlich. Der Anstieg des rela-tiven Anteils der humanitären Hilfe an der ODA 2008 und 2009 kann über die geringen absoluten Werte nicht hinwegtäuschen. Denn der Anstieg des Prozent-satzes ist auch auf den starken Rückgang der gesam-ten ODA-Leistungen zurückzuführen (siehe Tabelle: „Nur scheinbar mehr“).

Gute Performance?Betrachtet man die Entwicklung der humanitären Hilfe in Österreich im Detail, dann zeigt sich, dass in den Jahren 2005, 2008 und 2009 im Vergleich zu den beiden anderen Jahren auf den ersten Blick Steigerungen erzielt wurden. Rund 24 Millionen Euro im Jahr 2005, 33 Millionen im Jahr 2008 und noch immer 30 Millionen im Jahr 2009 sind in der Öffentlichkeit durchaus gut kommunizierbare Erfolge der humanitären Hilfe Öster-reichs. Dabei werden aber auch Maßnahmen wie etwa Minenräumung berücksichtigt.

VoM ERBARMEn ZuR VERAntWoRtunGDie öffentliche humanitäre Hilfe

in Österreich – zwischen Mitleid

und Budgetzwängen.

Von max santneR

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Die gute Performance hat ihre Ursachen einerseits auch in höheren öffentlichen Beiträgen zur Tsunami-Hilfe im Jahr 2005, geleistet vor allem im Rahmen der OEZA und vom Bundesministerium für Landesverteidi-gung und Sport (BMLV). Andererseits gehen die Steigerun gen der Jahre 2008 und 2009 auf die Berück-sichtigung des Tschad-Einsatzes (EUFOR-Beteiligung) des österreichischen Bundesheeres als humanitäre Hilfe zurück. Ohne die An rechnung die-ses Einsatzes läge das Ergebnis im Jahr 2008 nur knapp über 13 Mil-lionen Euro und im Jahr darauf bei rund 15 Millionen Euro.

Ein Blick auf die ver-schiedenen Akteure der öffentlich finanzierten humanitären Hilfe macht außerdem deutlich, dass die im Rahmen der OEZA ver-fügbaren Mittel seit 2005 zurückgegangen sind, wäh-rend die Beiträge der anderen Ministerien stark anstei-gen. Vor allem das Bundesministerium für Landesver-teidigung und Sport hat aufgrund der Anrechenbarkeit des Tschad-Einsatzes als öffentliche Entwicklungszu-sammenarbeit in diesen beiden Jahren eine dominante Rolle innerhalb der Akteure der humanitären Hilfe ein-genommen.

Auffällig ist auch, dass die Leistungen des Landwirt-schaftsministeriums (BMLFUW) im Jahr 2009 stark an-gestiegen sind. Rund 2,5 Millionen Euro sind dabei auf Nahrungsmittelhilfe entfallen, rund 1,9 Millionen auf

Maßnahmen der humanitären Hilfe. Die Leistungen der Länder und Gemeinden bei der internationalen hu-manitären Hilfe waren sowohl 2005 und 2006 bedingt durch den Tsunami in Asien hoch, sind seitdem aber stark gesunken.

Der seit 2005 existierende Auslandskatastrophen-fonds (AKF), angesiedelt im Bundesministerium für eu-ropäische und internationale Angelegenheiten (BMeiA),

wurde 2009 erstmals mit fünf Millionen Euro dotiert. Die Tabelle „Geringe Beteiligung“ (S. 78) gibt Auskunft über die Empfängerländer und die Verwendung der Mittel des Fonds. Sowohl die Dotierung des AKF als auch die zur Verfügung gestellten Summen zeigen, dass Österreich für internationale Katastrophen bud-getär nicht ausreichend vorgesorgt hat und sich im Ka-tastrophenfall daher auch nur mit geringen Beiträgen beteiligen kann.

kein Akt des MitleidsUnabhängig davon, welche statistischen Daten und welchen Zeitraum man analysiert, ein Vergleich der humanitären Hilfe Österreichs mit der anderer europäi-

Österreich hat für

internationale katastrophen

budgetär nicht ausreichend

vorgesorgt

nuR scheInbaR mehRGesamte öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (ODA) und humanitäre Hilfe (HH) 2004–2009 in Millionen US-Dollar und in Prozent der ODA.

2004 2005 2006

ODA HH HH in % ODA HH HH in % ODA HH HH in %

Österreich 678 7 0,98 1.573 26 1,66 1.498 17 1,13

Deutschland 7.534 191 2,54 10.082 317 3,14 10.435 357 3,42

Niederlande 4.204 220 5,24 5.115 408 7,99 5.452 397 7,28

Norwegen 2.199 149 6,8 2.786 344 12,34 2.954 309 10,46

Schweiz 1.545 151 9,76 1.772 190 10.74 1.646 175 10,65

2007 2008 2009

ODA HH HH in % ODA HH HH in % ODA HH HH in %

Österreich 1.808 15 0,82 1.714 44 2,59 1.142 36 3,19

Deutschland 12.291 279 2,27 13.981 303 2,17 12.079 369 3,06

Niederlande 6.224 339 5,44 6.993 403 5,76 6.426 305 4,74

Norwegen 3.735 355 9,52 4.006 361 9,01 4.086 271 6,64

Schweiz 1.685 173 10,26 2.038 165 8,12 2.310 159 6,86

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scher Staaten lässt sich mit den Worten eines ADA- Berichts zusammenfassen: „Die humanitäre Hilfe/ OEZA verfügt über zu begrenzte Mittel, um als profi-lierter Akteur national oder international auftreten zu können. Da keine Behörde die Themenführerschaft in-nehat, ist die humanitäre Hilfe in Österreich sehr frag-mentiert und formal wenig koordiniert.“ Auch im Au-ßenpolitischen Bericht 2009 des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten wird diese Fragmentierung beschrieben: „Die bilate-rale humanitäre Hilfe Österreichs wird sowohl von der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit als auch dem Bundesministerium für Inneres, dem Bun-

desministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft und dem Bundesministerium für Landesverteidigung und Sport, von den Ländern und Gemeinden sowie von anderen öffentlichen Stellen fi-nanziert und abgewickelt.“

Hilfe basiert auf RechtenWährend das so ist, werden die weltweiten humani-tären Herausforderungen für die Staatengemeinschaft und die Zivilgesellschaft immer größer. Das Eurobaro-meter 2009 der Europäischen Kommission zeigt, dass sich die europäische Bevölkerung dessen durchaus be-wusst ist. Auch die österreichische Bevölkerung nimmt

Außenminister Spindelegger: fragmentierte

internationale Hilfe Österreichs

weR zahlt DIe hIlfe?Österreichs humanitäre Hilfe in Millionen Euro.

2005 2006 2007 2008 2009

OEZA/ADA 7.744.770 6.604.974 4.729.112 7.350.505 4.467.257

Bund/diverse Ministerien 11.745.204 3.694.477 6.426.974 23.990.626 24.716.462

Davon: BMLFUW 2.813.000 1.489.988 1.040.000 1.090.000 4.395.046

BLVS 3.976.122 1.074 842.042 19.844.774 13.658.829

BMI 1.845.082 1.192.914 1.730.222 1.862.789 2.572.096

BMeiA (inkl. Katastrophenfonds)

0 541.000 1.677.679 517.164 3.891.490

BMVIT 2.375.000 0 0 0 0

Länder & Gemeinden 4.281.431 5.497.434 2.461.845 1.643.254 821.752

Gesamt 23.771.405 15.796.885 13.617.931 32.984.285 30.005.471

GeRInGe beteIlIGunGHilfsempfänger, Mittel aus dem Auslandskatastrophenfonds (AKF) 2009, in Euro.

LAND PROjEKT IN €

Sri Lanka Linderung der humanitären Lage 200.000

Palästina (Gazastreifen) Humanitäre Hilfsprojekte; internationale Konferenz zur Unterstützung

2.500.000

Bhutan Hilfe nach dem Zyklon Ailia und den dadurch ausgelösten Überflutungen

400.000

Burkina Faso Koordinierung humanitärer Angelegenheiten nach Überflutung (UN-OCHA)

400.000

Philippinen Humanitäre Hilfe 200.000

Indonesien Humanitäre Hilfe 200.000

Summe 3.900.000

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humanitäre Notstände sehr sensibel wahr und ist be-reit, vor allem für die Katastrophenhilfe zu spenden. Besonders die großen Naturkatastrophen in Haiti und Pakistan haben das auch 2010 wieder gezeigt. Um aber den gesellschaftspolitischen Stellenwert der humani-tären Hilfe in Österreich wirklich zu heben, müsste Folgendes gelten: Humanitäre Hilfe ist kein Akt des Mitleids, ist nicht als Almosen zu verstehen und hat mit Mildtätigkeit nichts zu tun. Sie basiert auf Rechten, konkret auf Menschenrechten. Diese Ausrichtung be-dingt eine stärkere Professionalisierung aller Beteilig-ten – staatlicher Behörden ge-nauso wie zivilgesellschaftlicher Organisationen. Das bedeutet nicht nur die theoretische Aner-kennung von internationalen Konventionen, Verpflichtungen und Standards, sondern ihr ent-sprechendes Umsetzen in die tägliche Praxis.

Gerade bedingt durch die ge-genwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise und die da-mit verbundenen Einsparungen in den nächsten Jahren werden und müssen die berechtigten Forderungen nach Kohärenz und Effektivität lauter denn je sein: Strukturfragen und damit verbunden die viel kritisier-te Fragmentierung der humanitären Hilfe in Österrei-ch dürfen kein Tabu sein. Humanitäre Hilfe – und auch Entwicklungspolitik – müssen als Quer-schnittthema und als Elemente eines ko-härenten Systems wahrgenommen wer-den, ganzheitliche Ansätze („whole of go-vernment approach“) sind zu verfolgen und in internationaler Abstimmung um-zusetzen.

Zwei kernempfehlungen?Konflikte sind dabei vorprogrammiert, dürfen aber nicht gescheut werden. Erste Ansätze hat dabei der sogenannte Wiener 3-C-Prozess (siehe Interview auf Seite 74) aufgezeigt.

Die drei Kernforderungen der Globalen Verantwortung, des Dachverbandes der österreichischen entwicklungspolitischen und humanitären Organisationen, lauten:Politisch/strategisch: Die Mittel der humanitären Hilfe und generell das ope-rative Budget der Entwicklungszusam-menarbeit gehören gesetzlich verankert und dürfen nicht länger Ermessensausga-ben darstellen.Finanziell: Österreich sollte nach We-gen suchen, um den Auslandskatastro-

phenfonds (AKF) höher zu dotieren und eine von poli-tischen Entscheidungen unabhängige Budgetlinie für Soforthilfe einrichten.Strukturell: Österreich sollte die fragmentierte hu-manitäre Hilfe in einer einzigen Behörde zusammen-fassen.

Bei der humanitären Hilfe sind die gleichen finanziel-len wie strukturellen Probleme wie bei der Entwick-lungszusammenarbeit diagnostizierbar. Daher ist auch seit Jahren eine der Hauptforderungen der österrei-chischen humanitären und entwicklungspolitischen

Organisationen an die Bundesre-gierung die langfristige finanziel-le Absicherung der humanitären Hilfe.

Solange die humanitäre Hilfe als „Ermessensausgabe“ – im Sinne einer wohltätigen Spende – verstanden wird, kann Österrei-ch seiner internationalen Verant-wortung kaum nachkommen.

Ein gesetzlich verankerter Stufenplan zur Erreichung der internationalen Zielsetzungen in der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit für die kommenden Jahre, der auch die Mittel für die humanitäre Hilfe ein-deutig ausweist, ist die Grundvor aussetzung für die aktive Rolle Österreichs in der humanitären Hilfe, die wir heute nur vorgeben zu spielen.

GLOSSAR DER HILFE

ADA Austrian Development Agency. Setzt die vom Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten (BMeiA) geplanten Strategien und Programme gemeinsam mit öffentlichen Einrichtungen, NGOs und Unternehmen um.

OEZA Österreichische Entwicklungszusammenarbeit. Unterstützt Länder in Afrika, Asien, Zentralamerika sowie in Südost- und Osteuropa bei ihrer sozialen, wirtschaftlichen und demokratischen Entwicklung.

OECD Organisation for Economic Co-operation and Development. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung vereinigt 34 Länder, die sich zu Demokratie und Marktwirtschaft bekennen. Zu den Zielen der Organisation zählt neben der Förde-rung nachhaltigen Wirtschaftswachstums auch die Unterstützung der Entwicklung anderer Länder.

DAC Development Assistance Committee. Der Ausschuss für Entwick-lungshilfe ist das wichtigste Organ der OECD, in dem Kooperatio-nen mit Entwicklungsländern behandelt werden.

ODA Official Development Assistance. Die öffentliche Entwicklungszu-sammenarbeit umfasst die Bereitstellung von finanziellen, tech-nischen und personellen Leistungen im Rahmen der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit.

AKF Auslandskatastrophenfonds, im Jahr 2009 erstmals mit fünf Millio-nen Euro dotiert. Die Bundesregierung kann Mittel aus dem AKF zur Verfügung stellen, die für die unmittelbare Bewältigung einer Krisensituation sowie für den Wiederaufbau eingesetzt werden.

Humanitäre Hilfe ist kein Akt

des Mitleids, kein Almosen und

hat mit Mildtätigkeit nichts zu tun

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Von Hochwasser, Murenabgängen und anderen Unwetterkatastrophen bleibt leider auch Österreich nicht verschont. Das Rote Kreuz ist rund um die Uhr bereit, um in solchen Fällen schnell und eff izient Hilfe zu leisten. Dabei geht es nicht nur um medizinische Versorgung, Nahrungsmittel und Notunterkünfte, sondern vor allem auch darum, Trost zu spenden, wenn andere der Mut verlassen hat.

www.roteskreuz.at

KATASTROPHENHILFEÖSTERREICH

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Noch mehr WisseN? Die Internationale Hilfe des Österreichischen Roten Kreuzes zum Nachlesen.

p Die Trends: Humanitäre Hilfe im Fokus.

p Die Analysen: Desaster zwischen Hype und Randnotiz.

p Die Daten: 2010 – das Ausnahmejahr der Katastrophen.

p Die Menschen: Einsätze, Projekte, Finanzierung, Delegierte.

p Der Steckbrief: Die Internationale Hilfe des Österreichischen Roten Kreuzes.

Der Jahresbericht 2010. Kostenlos unter [email protected] oder 01/589 00-356.

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Die nächsten Ausgaben

DAS MAGAZIN, DAS FEHLT

DAS MAGAZIN, DAS FEHLT

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13wir sind da, um zu helfen

Der Antriebsriemen in föderalen Organisationen ist die Kommunikation. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen für die Idee gewonnen werden, müssen die gleiche Vision haben. Nur so ist vorgesorgt, dass sie nach dem Mission Statement handeln können. Wie wird das Leitbild des Roten Kreuzes gelebt? henri hat Rotkreuz-Helfer in ganz Österreich besucht.

DAS MAGAZIN, DAS FEHLT

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14Der Preis des Alter(n)s

„I hope I die before I get old“ (Pete Townshend) gilt schon lange nicht mehr. Die Lebenserwartung steigt, Menschen werden älter und bleiben dabei gesünder als jemals zuvor in der Geschichte. Was ist der Preis dafür – für die Jungen, die Sozialsysteme, für den Arbeitsmarkt? Und für die Älteren und Hochaltrigen selbst?

Back Issueshenri zum Nachbestellen. Kostenlos, solange der Vorrat reicht. Kein Nachdruck.

DAS MAGAZIN, DAS FEHLT

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10 – FremdIntegration: Die neuen Österreicher in der Schule, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft. Wer profitiert vom anderen, wer ist Nettozahler?

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11 – PerspektivenWohlstand und Sozialstaat erhalten – geht das noch? Welche Maßnahmen sind dazu nötig? Und wie setzt das Rote Kreuz in ganz Europa sie um?

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5 – Blut – Leben ist keine WareSind unsere Blutkonserven sicher? Und: Sind uns genug Blutkonserven sicher? Wenn Blut in der EU als Ware deklariert wird, ist beides in Gefahr.

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6 – Die vielen Gesichter der PflegePflege und Betreuung sind ein wesentliches Zukunfts thema für Österreich. henri 6 bietet eine Bestandsaufnahme, in der viele Akteure zu Wort kommen.

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7 – Migration und IntegrationÖsterreich hat Angst vor Zuwanderern. Anderswo sind sie willkommen. henri 7 schlägt vor, wie Migration und Integration geplant und gesteuert werden können.

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8 – Alle wollen. Alle nehmen. Wer gibt?Die vielen Gesichter der freiwilligen Hilfe. Menschen, die helfen, weil sie es für sich und andere tun. Die interessantesten Projekte aus ganz Österreich.

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9 – Was wir sehen. Was wir tunHumanitäre Hilfe und Entwicklungs- zusammenarbeit, Armut und Klimawandel: Die neuen Wege der Rotkreuz-Bewegung.

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4 – Krieg der Generationen?Immer mehr Alte, immer weniger Junge: Brechen unsere Sozialsysteme zusammen? Wie wichtig sind Beruf und Familie? Die fünf großen Alterslügen.Vergriffen, PDF auf http://henri.roteskreuz.at

Alle Back Issues von henri jetzt kostenlos bestellen unter

E-Mail: [email protected]

Tel.: 01/589 00-356

Fremd

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Alle wollen. Alle nehmen. Wer gibt?

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FReIwILLIge hILFe – DeR MoToR unseRes ZusaMMenLeBens

Was wir tunWas wir sehen

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Vor über 75 Jahren entwickelte der japanische Wissenschafter Dr. Minoru Shirota Yakult.Schon damals war er davon überzeugt, dass die Gesundheit des Menschen von der Gesundheit des Darms abhängt. Prävention war dabei ein zentraler Gedanke. Seine Vision „Working on a healthy society“ gilt noch heute als Unternehmensphilosophie bei Yakult. Dabei steht ein ganzheitlicher Ansatz im Vordergrund, der neben körperlicher Gesundheit auch die Stärkung des geistigen und sozialen Wohlbefindens einschließt.

Yakult und das Rote Kreuz –eine gesunde Partnerschaft. Das Österreichische Rote Kreuz als Partner von Yakult verfolgt das Ziel, Menschen zu helfen. Yakult unterstützt seit 2006 verschiedene Forschungsprojekte des Roten Kreuzes. Unter dem Motto „Hilfe für Helfer“ wurden bisher über eine Million Fläschchen Yakult an freiwillige Blutspender verteilt.

www.yakult.atwww.roteskreuz.at

Yakult und das Rote Kreuz:

eine Partnerschaft im Dienste der ganzheitlichen Gesundheit