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1 II. Weltmacht China? Aktuelle Entwicklungen in der chinesischen Sicherheitspolitik

II. Weltmacht China? Aktuelle Entwicklungen in der ......4 traditionell immer eine wichtige Rolle seit der Staatsgründung 1949 gespielt, wie auch Mao schon frühzeitig konzediert

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II. Weltmacht China?Aktuelle Entwicklungenin der chinesischenSicherheitspolitik

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Frank Umbach

Die chinesischen Streitkräfte auf dem Weg zu einer militärischenSupermacht? – Sicherheits-, rüstungs- und militärpolitische Strategien undihre Auswirkungen auf die regionale Stabilität1

1. Einleitung

Die Perspektive einer ökonomischen Supermacht mit entsprechenden militärischenKapazitäten hat in den letzten Jahren zunehmend Bedrohungsperzeptionen bei Chinasasiatischen Nachbarstaaten und den USA ausgelöst. Aus der Sicht alarmistischerBedrohungsszenarien hat China begonnen, das von den USA seit Anfang der 90er-Jahrehinterlassene Machtvakuum auszufüllen, nachdem die USA ihr politisches undmilitärstrategisches Engagemen substanzielll reduziert hatten, wie die Schließung der US-Basen auf den Philippinen im Jahr 1992 dokumentiert. Die Anwendung undInstrumentalisierung militärischer Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele durch diePekinger Führung, wie 1988 bei der Versenkung von zwei vietnamesischen Schiffen nach derInbesitznahme von sechs Spratly-Inseln oder Anfang 1995 durch Errichtung einermilitärischen Infrastruktur auf dem Mischief-Reef oder wie bei der Kanonenboot- undRaketendiplomatie während der Taiwankrise 1995/96, haben aus der Sicht der Nachbarstaatenmit aller Deutlichkeit signalisiert, dass China derzeit offenbar keine Status-quo Macht ist.

Auch historische Analogien bestätigen, dass autoritäre Regime und besonders aufsteigendeGroßmächte, die sich inmitten eines innenpolitischen Wandels und politisch-ökonomischerTransformation zu demokratischeren Staaten befinden, tendenziell häufiger zuGewaltanwendung zur Durchsetzung politischer Ziele in Innen- und Außenpolitik tendierenals autoritäre Staaten, die sich nicht in einer derartig kritischen Umbruchphase in derInnenpolitik befinden. Insofern scheint eine direkte Korrelation zwischen Regimestabilitätund -instabilität sowie dem konkreten außenpolitischen Verhalten zu bestehen. Dabeibedienen sich die um ihren Machterhalt kämpfenden politischen Eliten vor allem demInstrument des Nationalismus, um so ihre brüchige politische Basis und Legitimation wiederzu stärken. 2 Somit kann auch aus dieser Sicht ein aggressiveres außenpolitisches Verhalteneiner potenziellen Großmacht wie China, die ihren Platz in der internationalenStaatengemeinschaft auch aus der eigenen Sicht nach dem Jahrhundert der "Schande undErniedrigung" noch nicht gefunden hat, generell keineswegs ausgeschlossen werden. 3

Vor diesem Hintergrund kommt der Analyse der chinesischen Streitkräfte und derrüstungspolitischen Strategien Chinas eine wichtige Funktion zu. So wurde auch in denletzten Jahren der weiteren Modernisierung der chinesischen Streitkräfte hohe Prioritäteingeräumt und der Verteidigungshaushalt auch offiziell stets zweistellig erhöht. Gleichzeitigwurde jedoch der Außenwelt versichert, China stelle keine Gefahr für andere Staaten dar undwerde sich nicht am Wettrüsten beteiligen. Darüber hinaus haben die chinesischen Streitkräfte

1 Die folgende Analyse ist im Rahmen eines von der VW-Stiftung am Forschungsinstitut der DGAP in Berlin

finanzierten Forschungsprojektes entstanden.2 Vgl.: Mansfield, Edward D./Snyder, Jack: Democratization and the Danger of War, in: International

Security, No.1 (Summer) 1995, S.5-38.3 Vgl.: Shambaugh, David: Containment or Engagement of China? Calculating Beijing's Responses, in:

International Security (Fall 1996), S.180-209, hier S.185.

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traditionell immer eine wichtige Rolle seit der Staatsgründung 1949 gespielt, wie auch Maoschon frühzeitig konzediert hat: "Politische Macht resultiert aus den Gewehrläufen!". In derTat hat die Volksbefreiungsarmee (VBA) wiederholt das kommunistische Staatswesengerettet und so das Fortbestehen der Volksrepublik China garantiert. Zudem verstehen sichdie Streitkräfte Chinas als der eigentliche Beschützer der Staatssouveränität und sind dietreibende politische Kraft bei der Wiedervereinigung Chinas, die den Zusammenhalt Chinasbewahrt, jegliche separatische Tendenzen und ein Unabhängigkeitsstreben schon im Keimerstickt (Taiwan, Tibet, Innere Mongolei, Manchurei und Grenzregionen) und die historischlegitimierten territorialen Ansprüche im Ost- und Südchinesischen Meer aktiv gegenausländische Territoria lforderungen verteidigt.

Die daraus resultierende irredentistische Politik Chinas hat de facto zu einer beschleunigtenRüstungskonkurrenz (ein regionalweiter Rüstungswettlauf im engeren Sinne wird vonExperten zumeist negiert) in Ostasien wesentlich beigetragen und Unsicherheit über diezukünftige Stabilität und Friedenswahrung erzeugt.4 Darüber hinaus besteht unter Expertenweit gehend Konsens dahingehend, dass das chinesische Militär in den letzten Jahren derpolitischen Übergangszeit nach dem faktischen Ausscheiden Deng Xiaopings an politischemEinfluss, vor allem auf die Außen- und Sicherheitspolitik, zugenommen hat.5 Zugleich wirdkonstatiert, dass die politische Kontrolle der Partei zunehmend erodiert ist. Dies hat auch derBeschluss der Parteiführung aus dem Jahr 1997 unterstrichen, ein neues NationalesVerteidigungsgesetz zu erlassen, das die Kontrolle der KP Chinas über die Armee wiederstärken soll.6 Berücksichtigt man des Weiteren die wirtschaftliche Bedeutung deschinesischen Militärs (mit ca. 20.000 Firmen und einem jährlichen Umsatz von mindestens 8Milliarden DM), so kommt den chinesischen Streitkräften in der Innen- und Außenpolitik des"Reichs der Mitte" zentrale politische Bedeutung zu.

Potenzielle sicherheitspolitische Konflikte werden nach der Rückkehr Hong Kongs im Jahr1997 und Macaus (Dezember 1999) an China weiterhin vor allem in den konfligierendenTerritorialansprüchen im Südchinesischen Meer und in der für Peking ungelöstenTaiwanfrage bestehen. Vor diesem Hintergrund kommt der Modernisierung vor allem dertechnologieabhängigen Luft-, See- und Nuklearstreitkräfte7 der Volksbefreiungsarmee Chinas(VBA) besondere Aufmerksamkeit zu, die als Instrument chinesischer Machtpolitik undMachtprojektion agieren (können). So verwundert es nicht, dass zahlreiche Beobachterwährend der Ta iwankrise 1995/96 auch eine militärische Invasion der Volksbefreiungsarmee 4 Vgl. hierzu auch: Umbach, Frank: Strategic Changes in the Asia-Pacific Region: The Dimension of

Military-Technology Diffusion and Proliferation of Advanced Conventional Weaponry, in: Krause,Joachim/Umbach, Frank (Eds.): Perspectives of Regional Security Cooperation in Asia-Pacific: Learningfrom Europe or Developing Indigenous Models?, Arbeitspapiere zur Internationalen Politik (ed. by theResearch Institute of the German Society for Foreign Affairs, DGAP), No.100, Bonn, September 1998,S.43-69.

5 Vgl. auch: Yuan, Jing-Dong: Studying Chinese Security Policy: Toward an Analytic Framework, in: TheJournal of East Asian Affairs, Spring-Summer 1999, S.131-195, hier S.149ff.

6 Vgl. hierzu auch: Shambaugh, David: The People's Liberation Army and the People's Republic at 50:Reform at Last, in: The China Quarterly, September 1999, S.660-672, hier S.665.

7 Diese sind in der folgenden Analyse ausgenommen, obwohl sie in Verbindung mit der Entwicklung unddem Bau zahlreicher neuer Kurz-, Mittel- und Langstreckenraketen Chinas von herausragender Bedeutungsowohl für die regionale als auch globale Stabilität sind und dabei in ihrer militärstrategischen Bedeutungnoch häufig übersehen werden. Siehe hierzu auch Umbach, Frank: Nuclear Modernization and ProliferationChallenges in East Asia and Prospects for Cooperation – A View from Europe, in: Radtke, KurtW./Feddema, Raymond (Eds.): Asian Concepts of Comprehensive Security and Their Implications forEurope, S.66-133, hier S.101-114 und ders.: World Gets Wise to P'yongyang's Nuclear Blackmail – PartTwo, in: Jane's Intelligence Review (JIR), October 1999, S.35-39, hier insbes. S.37f.

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(VBA) zunächst nicht völlig ausschlossen. In der Retrospektive hat sich dieses "worst case"-Szenario als weit gehend überzogen und unrealistisch erwiesen. Demgegenüber war eineAnfang 1995 vom amerikanischen Verteidigungsministerium simulierter militärischerKonflikt zwischen den USA und China im Jahr 2010 bereits zu dem Ergebnis gekommen,dass die VBA die amerikanischen Streitkräfte vernichten könnten. 8 Vor diesem Hintergrundstellt sich die Frage, ob die chinesischen Streitkräfte bereits eine militärische Groß- oder garSupermacht sind, welche die USA bereits mittelfristig herausfordern können, oder aber nachwie vor "das größte militärische Museum" für obsolete Waffensysteme.9

Vor diesem widersprüchlichen Hintergrund sollen zunächst die Reform undModernisierungsanstrengungen der VBA im Zeitraum 1980-1995 analysiert werden. 10

Danach gilt es zu untersuchen, welchen Stellenwert die VBA bei den Reform- undModernisierungsanstrengungen unter Jiang Zemin einnimmt und welche Stärken sowieSchwächen die chinesischen Streitkräfte aufweisen. Dabei werden auch die spektakulärenRüstungskäufe aus Russland näher beleuchtet, um so die Frage zu beantworten, inwieweitdiese die militärischen Fähigkeiten und Optionen der VBA im nächsten Jahrzehnt signifikanterhöhen werden. Danach sollen detaillierter die Rüstungs- und Modernisierungsan-strengungen vor allem der technologieabhängigen Luft- und Seestreitkräfte untersuchtwerden11, da diese für einen potenziellen militärischen Konflikt in der Region und für einemögliche regionale oder sogar globale Machtprojektion Chinas von besonderer Relevanz sind.So haben die Territorialkonflikte, die Ausweitung der Territorialhoheit unter Einschluss der"Ausschließlichen Wirtschaftszonen" auf bis zu 200 Seemeilen und die Sicherung desZugriffs auf die Rohstoffe sowie industriewirtschaftliche Nutzung des SüdchinesischenMeeres ab den 80er-Jahren nicht nur zu Änderungen in der Prioritätensetzungen derallgemeinen chinesischen Außen- und Sicherheitspolitik geführt, sondern auch konkreteAuswirkungen auf die verteidigungspolitischen Planungen, das militärisch-strategischeDenken, die Formulierung der Militärdoktrin und -strategie sowie die Rüstungsbeschaffungenzur Umsetzung der veränderten militärpolitischen Zielsetzungen. 12 Da die militärischenOptionen der chinesischen Streitkräfte jedoch nicht nur allein von diesen selbst abhängen,

8 Vgl.: Opall, Barbara: China Sinks U.S. in Simulated War, in: Defense News, 5. Februar 1995, S.1 und 26.9 Zur kontroversen Debatte einer zunehmenden Bedrohung durch die Aufrüstung der chinesischen

Streitkräfte siehe auch die Kontroverse in der amerikanischen Zeitschrift "The National Interest" im letztenJahr: Bates, Gill/O'Hanlon, Michael: China's Hollow Military, in: ebda., Summer 1999, S.55-62. Diekritische Erwiderung von Lilley, James/Ford, Carl: China's Military: A Second Opinion, in: ebda., Fall1999, S.71-77 und die erneute Replik von Bates, Gill/O'Hanlon, Michael: China's Military, Take 3, in:ebda., Winter 1999/2000, S.117-119.

10 Zu neueren Monografien und Sammelbänden einer Militärmacht China siehe Lilley, James R./Shambaugh,David (Eds.): China's Military Faces the Future, Washington D.C./New York 1999; Gurtov, Mel/Hwang,Byong-Moo: China's Security. The New Roles of the Military, Boulder, Col.-London 1998; Zhu, Fang: GunBarrel Politics. Party-Army Relations in Mao's China, Boulder, Col.-Oxford 1998; Shambaugh,David/Yang, Richard H. (Eds.): China's Military in Transition, Oxford/New York 1997; Brömmelhörster,Jörn/Frankenstein, John (Eds.): Mixed Motives, Uncertain Outcomes. Defense Conversion in China,Boulder-London 1997 und Pillsbury, Michael (Ed.): Chinese Views of Future Warfare, National DefenseUniversity/INSS, Washington D.C. 1996.

11 Vgl. hierzu insbesondere auch: Downing, John: China's Evolving Maritime Strategy. Part 1: RestructuringBegins, in: JIR, March 1996, S.129-133; ders., Part 2: The Future, in: JIR, April 1996, S.186-191 undJacobs, Keith: China's Military Modernization and the South China Sea, in: JIR, June 1992, S.278-281.

12 Vgl. hierzu auch: Umbach, Frank: Geostrategische und geoökonomische Aspekte der chinesischenSicherheits- und Rüstungspolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts – Die Verknüpfung traditionellerSicherheitspolitik mit Ressourcenfragen im geopolitischen Denken Chinas und ihre Auswirkungen auf dieregionale sowie globale Stabilität, in: Schubert, Gunter (Hrsg.): China – Perspektiven für das 21.Jahrhundert (in Vorbereitung).

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sondern auch von den militärischen Fähigkeiten der Nachbarstaaten Chinas sowie den USA,soll im Kontext auch das regionale militärische Gleichgewicht in Nord- und Südostasienreflektiert werden, ohne dieses jeweils detailliert analysieren zu können. Abschließend sollendie aktuellen Auswirkungen des Kosovo-Krieges und der Bombardierung der chinesischenBotschaft durch die NATO und die USA auf die Sicherheits- und Verteidigungspolitik Chinasuntersucht werden.

2. Reformen und Modernisierung der chinesischen Streitkräfte 1980-1995

Die Militärreform und Modernisierung der chinesischen Streitkräfte verliefen zunächst eherlangsam und hatten die geringste Priorität bei den vier Modernisierungen. Ausgangspunkt derReformbestrebungen der VBA war der dreiwöchige chinesisch-vietnamesische Grenzkrieg imFebruar-März 1979. Dieser war von Peking als Strafaktion gegen den Einfall Vietnams inKambodscha gedacht und hatte zu schweren Verlusten auf chinesischer Seite geführt unddabei zahlreiche militärische Schwächen der VBA mit aller Deutlichkeit offen gelegt. Hierauserfolgte durch den chinesischen Generalstab eine grundlegende Neueinschätzung der Naturmoderner Kriege und potenziellen Bedrohungen, denen sich China zukünftig gegenüber sehenwürde. Gleichzeitig erklärte 1985 Deng Xiaoping die Notwendigkeit einer "strategischenTransformation" von Staat und Gesellschaft. Das von ihm postulierte Weltbild einer weitgehend friedlichen Umwelt erlaubte China, sich von nun an auf wirtschaftliche Reformen unddie Modernisierung der chinesischen Streitkräfte bei Verringerung der kriegsmäßigenEinsatzbereitschaft zu konzentrieren. In der chinesischen Militärdoktrin wurde nun anstatteines "totalen" und "globalen Krieges" die Vorbereitung auf einen "begrenzten" oder "lokalenKrieg" zur Priorität erhoben. Dies führte in den 80er-Jahren zu einschneidenden Änderungender Militärstrategie. Im Jahr 1993 wurde schließlich vom militärischen Oberkommando undGeneralstab Chinas die endgültige Abkehr eines "Volks- und Abnutzungskrieges" verkündetund stattdessen der Möglichkeit eines "begrenzten Krieges unter High-Tech-Bedingungen"sowie einer "aktiver Verteidigung" an der Peripherie des Landes die Priorität eingeräumt.13

Diese Veränderungen in den militärstrategischen Planungen Chinas sollten sich nach demEnde des Kalten Krieges unter dem Eindruck des Golf-Krieges ("Desert Storm") von 1991,der auch für große Teile der chinesischen (wie der russischen) Militärelite ein Schock war,noch erheblich verstärken. Auch der chinesische Generalstab hob nun die für den Ausgangdes Krieges ausschlaggebende Bedeutung qualitativer Parameter, modernster Technologienfortgeschrittener Kriegführung sowie die effiziente Koordination der einzelnen Teilstreitkräfteund Waffengattungen hervor. Daraufhin kam es zu einschneidenden Änderungen in denmilitärischen Strukturen der VBA sowie bei der taktischen Schulung und Übung der Truppen.Die neuen Postulate der Militärdoktrin und -strategie erforderten auch eine völlig neueKommandostruktur, die auf integrierte Teilstreitkräftestrukturen mit mobilenReaktionskräften (nach Vorbild des amerikanischen "Air-Land-Battle" Konzepts) zielten.

Die einschneidenden Militärreformen von 1985 sahen bereits eine Reduzierung der VBA von4,2 Millionen auf zunächst 3,2 Millionen Mann vor. So wurden allein zwischen 1985 und1987 etwa 1 Million Mann demobilisiert. 70 Prozent der Demobilisierungen betrafen allein

13 Vgl.: Li, Nan: The PLA's Evolving Warefighting Doctrine, Strategy and Tactics, 1985-95: A Chinese

Perspective, in: The China Quarterly, June 1996, S.443-463; Godwin, Paul H. B.: From Continent toPeriphery: PLA Doctrine, Strategy and Capabilities Towards 2000, in: ebda, S.464-487; Yao, Yunzhu: TheEvolution of Military Doctrine of the Chinese PLA from 1985 to 1995, in: The Korean Journal of DefenseAnalysis 2/1995, S.57-80 and China – Modernization Sees Slimmer Giant, in: Jane's Defence Weekly(JDW), 10.12.1997, S.24-32, hier S.25f.

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die Landstreitkräfte und 25 Prozent die Luftstreitkräfte. Insgesamt wurden nicht weniger als4.054 Divisions- und Regimentseinheiten aufgelöst. Die Reduzierungen setzten sich auch inden folgenden Jahren fort, einschließlich von 53.000 Offizieren im Jahr 1993 und 50.000weiteren im darauf folgenden Jahr. 1994 war auch das Jahr, in der die VBA ihr erstes großangelegtes Manöver aller drei integrierter Teilstreitkräfte durchführte, in der den "schnellenEingreifkräften" eine herausragende Rolle zugewiesen wurde.14 Die seit dem Golf-Krieg 1991forcierten einschneidenden Doktrin- und Strukturreformen der VBA zeigen, dass diechinesischen Streitkräfte die ausländischen Erfahrungen und Strukturkonzepte (insbesondereamerikanische und russische) eingehend studiert haben und diese – wenngleich mitbesonderen chinesischen Vorzeichen – pragmatisch zu adaptieren versuchen.

Gleichzeitig wurde seit 1985 dem Faktor eines größeren militärischen Professionalismusdurch die Schaffung von mehr als 100 militärischen Universitäten und Akademien erheblicheAufmerksamkeit gewidmet. Dies machte sich vor allem in der technischen Ausbildung derOffiziere positiv bemerkbar, wenngleich der Nachholbedarf für die chinesischen Streitkräftebesonders groß ist und auch weiterhin eine große Hürde auf dem Weg zu einervolltechnisierten Streitkraft darstellen wird. Darüber hinaus dürfen auch die außenpolitischenAuswirkungen des geringen technischen Ausbildungsstandes nicht übersehen werden. DieMehrheit des neuen höheren Militärkommandos hat seine Karriere als Feldkommandeure beiden Landstreitkräften auf Regionalebene im chinesischen Hinterland gemacht, wie deramerikanische China-Experte David Shambaugh hervorhebt: "They have generally nottravelled abroad and do not speak foreign languages. Accordingly, many display a distinctlyinsular and non-cosmopolitan world view. Some are highly xenophobic, suspicious of theWest, hostile towards Japan, condescending towards China's neighbours and anti-American inparticular. They have been trained in a world that prizes secrecy, and thus do not appreciatethe importance of defence transparency. Their backgrounds as field commanders make themmore comfortable with battlefield tactics than global security issues or political-militaryissues."15

Die organisatorischen Militärreformen erstreckten sich auch auf die 11 Militärregionen, vondenen vier abgeschafft und die Übrigen sieben neu strukturiert wurden. Gegenwärtig ist eineweitere Reduzierung von sieben auf fünf Militärregionen (Nanjing, Guangzhou, Jinan,Schenjang und Chengdu) in der Diskussion. 16 Gleichzeitig wurden 1995-96 so genannte"Kriegszonen" bzw. "Schauplätze von Operationen" gegründet, die als ein Gebiet definiertwerden, in der strategisches Planen und die Verfolgung taktischer Ziele durchgeführt werden.Diese Kriegszonen sollen die militärische Integration und das Zusammenwirken der dreiTeilstreitkräfte fördern. So wurde im Januar 1996 ein integriertes Kommandosystem für dielogistische Unterstützung der drei Teilstreitkräfte geschaffen. Die "Guangzhou Kriegszone"ist nach Angaben der Zentralen Militärkommission z.B. für die Verteidigung desSüdchinesischen Meeres zuständig. Derartige Kriegszonen sind aber offenbar nicht unbedingtstatischer Natur (wie etwa die früheren sowjetischen TV/TVD Strukturen). Als esbeispielsweise im März 1996 erneut zur Verschärfung des Konfliktes in der Taiwanstraßekam und umfangreiche Manöver der VBA zu Land, Luft und Wasser durchgeführt wurden(einschließlich mehrerer Raketentests), war offenbar kurzfristig eine "SüdwestlicheKriegszone" geschaffen worden, die die Militärregionen von Nanjing, Guangzhou und Teile

14 Vgl.: Shambaugh, David: China's Military in Transition: Politics, Professionalism, Procurement and Power

Projection, in: The China Quarterly, Juni 1996, S.265-298, hier S.285.15 Shambaugh, David: The People's Liberation Army, hier S.668.16 Vgl.: JDW, 29.4.1998, S.15.

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von Chengdu umfasste sowie den Einsatz von Kriegsschiffen der Östlichen und SüdlichenSeeflotte vorsah. 17

Im Juni 1999 wurde schließlich eine neue "National Defence Science and TechnologyUniversity" in Changsha (Haupstadt der südlichen Hunan-Provinz) ins Leben gerufen, die dieModernisierungsanstrengungen der VBA beschleunigen soll und direkt unter dem Kommandoder Zentralen Militärkommission unter Vorsitz Jiang Zemins steht. Der besondere Status derneuen Universität spiegelt sich auch in der militärischen Hierarchie – vergleichbar mit jenerdes Generalstabs oder eines großen Territorialkommandos – wider.18

Abbildung zur aktuellen Stärke der VBA (Gesamt: 2,82 Mio. Mann) im Jahr 1999

Landstreitkräfte (2,09 Mio.) Luftstreitkräfte (470.000) Seestreitkräfte (260.000)Kampfpanzer: 8.800 Kampfflugzeuge: 3.556 Zerstörer/Fregatten: 53Schützenpanzer/ge-panzerte Infanterie-fahrzeuge: 4.500

Hubschrauber: 190 Taktische U-Boote: 62

Hubschrauber: 113+ Transportflugzeuge: 425 Küstenverteidigungs-und Patrouillenboote: 747

Artillerie: 14.500 Luftverteidigungs-artillerie: 16.000

Marineinfanterie: 5.000

Quelle: IISS (Hrsg.), Military Balance 1998-1999, London-Oxford 1998, S.178ff.

3. Die VBA in der Ära Jiang Zemin: Stärkung des politischen Einflusses undBeschleunigung der Modernisierung der Streitkräfte

In den Modernisierungs- und Rüstungsanstrengungen sowie die Verteidigung nationalerSicherheitsinteressen Chinas seit Anfang der 90er-Jahre drückt sich auch das in den letztenJahren gewachsene politische Gewicht des chinesischen Militärs aus, das besonders in denJahren eines gewissen Machtvakuums und einer Übergangsperiode in Peking sowie der damitin Verbindung stehenden Fraktionskämpfe und der Bedeutung der Partei-Militär-Beziehungenzugenommen hat.19 So dürfte inzwischen die hohe Generalität sehr viel besser daraufvorbereitet ein, Einmischungen in die Militärpolitik von ziviler Parteiseite zurückzuweisenund sich nicht in innenpolitische Fraktionskämpfe oder Fragen der inneren Sicherheit gegenihren Willen hineinziehen zu lassen. 20

Auch Deng Xiaopings Nachfolger Jiang Zemin, der sich seit Jahren um die Unterstützung derVBA für seine Person nachhaltig bemüht, hatte auf den im Frühjahr 1997 und 1998 tagendenNationalen Volkskongressen noch einmal die langfristigen Modernisierungsanstrengungen

17 Vgl.: RIPS (Ed.), Asian Security 1997-98, London-Washington 1997, hier S.91f.18 Vgl.: Straits Times, 20.6.1999.19 Vgl.: hierzu auch Shambaugh, David: China's Military in Transition, hier S.269; Joffe, Ellis: The Military

and China's New Politics: Trends and Counter-Trends, CAPS-Papers (Chinese Council of Advanced PolicyStudies, Taipei), Nr.19, September 1997; ders.: Party-Army Relations in China: Retrospect and Prospect, in:The China Quarterly, June 1996, S.299-314 und Swaine, Michael D.: The PLA in China's National SecurityPolicy: Leaderships, Structures, Processes, in: ebda, S.360-393 und die Studie von Gurtov, Mel/Hwang,Byong-Moo: China:s Security. The New Roles of the Military.

20 Vgl: Shambaugh, David: The People's Liberation Army, hier S.667.

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Pekings hervorgehoben. 21 Unter Jiang Zemin wurde so die Modernisierung der chinesischenStreitkräfte nicht nur weiter vorangetrieben, sondern signifikant beschleunigt. Im September1997 wurde beschlossen, bis zum Jahr 2000 die Streitkräfte um weitere 500.000 Mann auf 2,6Millionen Soldaten zu reduzieren. 22 Mit Abschluss der zweiten Etappe der gegenwärtigenHeeresreform im Jahr 2001 soll das Land einen durchschnittlichen Entwicklungsstand erreichthaben, während mit dem Ende der Etappe 3 bis zum Jahr 2049 die VBA eine führende Rollein der Welt einnehmen soll.23 Zu Beginn des Jahres 1999 wurde die Wehrdienstzeit allerTeilstreitkräfte auf zwei Jahre reduziert. Die Anzahl der Wehrpflichtigen innerhalb der VBAwird so von 82 Prozent auf etwa 65 Prozent im Jahr 2000 zurückgehen, während die Anzahlder Freiwilligen im gleichen Jahr von 18 Prozent auf 35 Prozent zunimmt.24 Dies dürfte derbeabsichtigten Professionalisierung der Streitkräfte deutlich zugute kommen. Gleichzeitigwird auch die weitere Restrukturierung vorangetrieben. So wurden zu Beginn des Jahres 1999sechs der insgesamt 21 Armeegruppen von der bisherigen Divisions- auf eine neue kleinereund flexiblere Brigadestruktur reorganisiert – ein Prozess, der noch vor dem Jahr 2001abgeschlossen sein soll. 25

Die gegenwärtige Wirtschafts- und Finanzkrise in Asien, die auch zu einschneidendenKürzungen der Verteidigungshaushalte geführt hat, mag die Bedrohungsperzeptionen aufSeiten der ASEAN-Staaten noch stärken, da Chinas Wirtschaft und militärische Aufrüstungbisher von der Krise kaum betroffen ist.26 Während die meisten westlichen Experten die Höhedes chinesischen Verteidigungshaushaltes auf das drei- bis fünffache des offiziellenHaushaltes schätzen, könnte dieser in realer Kaufkraft inzwischen sogar der größte sein –noch vor Indiens und sogar Japans.27 So war der chinesische Verteidigungshaushalt 1998-99auch im zehnten Jahr hintereinander mit einer Zuwachsrate von 12,9 Prozent auf offiziell US-$10,99 Milliarden (dies beträgt 15,8 Prozent des gesamten Staatshaushaltes) gewachsen, waserneut besonders der Modernisierung der Luft- und Seestreitkräfte zugute kommen soll.28

Damit ist der Verteidigungshaushalt wie in den letzten 10 Jahren – unter Berücksichtigung derInflationsrate – schneller als das BIP und der Staatshaushalt angestiegen. Allerdings solltendie Streitkräfte mit der erneuten Erhöhung des Verteidigungshaushaltes auch für den Verlustihrer profitablen Wirtschaftsunternehmen entschädigt werden, deren offiziell verkündete

21 Zit. nach: BPA Fernseh-/Hörfunkspiegel Ausland, 11.3.1998, S.14f. Die Rede Ziang Zemins wurde am

10.3.1998 vor den Delegierten der VBA auf dem IX. Nationalen Volkskongress gehalten.22 Vgl.: Richardson, Michael: International Herald Tribune (IHT), 15.9.1997, S.1 und 10 und Karniol, Robert:

JDW, 24.9.1997, S.13.23 Vgl.: Kusar, Vladimir: Krasnaja zvezda, 25.11.1997.24 Vgl.: Karniol, Robert: China Drafts Law to Cut Enlistment Period for Troops, in: JDW, 11.11.1998, S.21

und Shambaugh, David: The People's Liberation Army, hier S.665.25 Vgl.: Robert, Sae-Liu: PLA Reorganises Group Armies, in: JDW, 15.9.1999, S.33.26 Siehe hierzu auch: Umbach, Frank: Financial Crisis Lows But Fails to Halt East Asian Arms Race – Part II,

in: JIR, September 1998, S.34-37, hier S.34 und ders.: Aufrüstung in Ostasien. Sicherheitspolitik imZeitalter der Globalisierung, in: Internationale Politik 5/1998, S.31-36, hier S.34ff.

27 Dreyer, June Teufel: State of the Field Report: Research on the Chinese Military, The National Bureau ofAsian Research, Washington 1997(via Internet: http://www.accessasia.org/products/aareview/Vol1No1/Article1.html), hier S.4.

28 Vgl.: Karniol, Robert: JDW, 12.3.1998, S.5, ders.: China's Defence Budget is Increased Again, in: ebda,17.3.1999, S.15; Süddeutsche Zeitung (SZ), 7.-8.3.1998, S.8 und Erling, Johnny: Die Welt, 7.3.1998, S.7.Zur tatsächlichen Höhe der Verteidigungshaushalte Chinas siehe auch China's Military Expenditure, in:IISS (Hrsg.): Military Balance 1995-1996, Oxford-London 1996, S.270-275 and Wang, Shaoguang:Estimating China's Defence Expenditure: Some Evidence from Chinese Sources, The China Quarterly,September 1996, S.889-911.

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Schließung am 22. Juli 1998 als ein für Präsident Jiang Zemin nicht ungefährlicher politischerAkt angesehen wurde.29

Gleichwohl hatte die Zunahme der kommerziellen Aktivitäten der VBA auch erheblichenegative Auswirkungen auf ihre Moral und Einsatzbereitschaft und war von daher imchinesischen Verteidigungsministerium eher kritisch verfolgt worden. So konnte der Chef desAllgemeinen Logistikabteilung im chinesischen Verteidigungsministerium im Jahr 1992 dieFrage nicht beantworten, über wie viele kommerzielle Geschäfte die VBA verfügt, da derenAnzahl sich kontinuierlich ändern würden. So würden täglich einige Geschäfte undUnternehmen geschlossen, andere eröffnet (oft mit zahlreichen Sub-Unternehmen) undwiederum andere würden ihre Namen ändern. 30 Eine wirkliche Professionalisierung war unterdiesen Umständen nur schwer zu verwirklichen. So klagten gleich zwei Vizevorsitzenden derZentralen Militärkommission, Liu Huaqing und Zhang Zhen, im Juli 1993, dass dieStreitkräfte derartig mit kommerziellen Geschäften beschäftigt seien, dass dies ernsthaft undnachhaltig die Kampfkraft der VBA schwäche. Vor diesem Hintergrund sprach sich Anfang1994 die Chinesische Akademie der Wissenschaften für eine Trennung derartigerkommerzieller Aktivitäten von den Streitkräften aus.31 Die Schließung fast allerWirtschaftstätigkeiten der Streitkräfte war zudem nicht zuletzt deshalb notwendig geworden,weil das Militär mit der Kommerzialisierung in den Streitkräften sich der Kontrolle durchStaat und Partei (ausufernde Korruption und Kriminalisierung) immer mehr entzogen hatte –ein Aspekt, der für die Partei und Jiang Zemin unter Umständen gefährlich werden könnte.32

Das Geschäfts- und Unternehmensimperium der Streitkräfte soll etwa 15.000 bis 20.000Betriebe, in denen fünf bis sechs Millionen Beschäftigte tätig gewesen sein sollen, umfassthaben. 33

Die eher skeptischen Analysen hinsichtlich der Umsetzung der Überführung der unter derVBA operierenden Unternehmen an die Zentralregierung aus dem Jahr 1998 haben sichinzwischen weit gehend bestätigt. Durch die Aufdeckung der Missstände – wie endemischeKorruption, Schmuggel und Missmanagement – hat das Sozialprestige der Streitkräfte in derÖffentlichkeit schwer gelitten. Auch die geringe Form der Kompensierung durch eineentsprechende Erhöhung des Verteidigungshaushaltes blieb zunächst offenbar aus, auch wenndie Erhöhung des Verteidigungshaushaltes für das Jahr 1999 erneut mit 15,01 Prozent fastdoppelt so hoch ausfiel wie das offizielle Wirtschaftswachstum mit 7,8%. Die PekingerFührung hatte die beträchtlichen Nebeneinkommen der Streitkräfte durch das florierendeWirtschaftsimperium auf lediglich 422,7 Millionen Dollar spezifiziert und damit künstlichniedrig gehalten, umso zusätzliche Ressourcen für die galoppierende Arbeitslosigkeit und einzunehmendes Staatsdefizit freizusetzen. Aus Sicht des Militärs ist die Form derKompensierung durch eine zusätzliche Erhöhung des Verteidigungshaushaltes jedoch völligungenügend, zumal selbst offiziell der Wert der kommerziellen Betriebe auf etwa 9,7

29 Vgl.: Erling, Johnny: Die Welt, 24.7.1998, S.7 und Kynge, James/Harding, James/Ridding, John: Financial

Times (FT), 24.7.1998, S.4. Zur jüngsten Erhöhung des chinesischen Verteidigungshaushaltes sieheKarniol, Robert: China's Defence Budget is Increased Again, in: Jane's Defence Weekly (JDW), 17.3.1999,S.15 und Mainland Military Expenditures Show Sustained Increase, in: Inside Mainland China, June 1999,S.35-38.

30 Vgl.: Cheung, Tai Ming: Serve the People, in: Far Eastern Economic Review (FEER), 14.10.1993, S.64-65.31 Vgl.: Dreyer, June Teufel: State of the Field Report: Research on the Chinese Military, hier S.13.32 Vgl.: Shambaugh, David: China's Military in Transition, hier S.278.33 Vgl.: Rappai, M.V.: Separation of Military and Business in China, in: Strategic Analysis, March 1999,

S.1967-1970 und Robert, Sae-Liu: China Moves to End PLA's Commercial Interests, in: JDW, 23.9.1998,S.21.

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Milliarden Dollar geschätzt wird, tatsächlich aber um ein vielfaches höher liegen dürfte.34

Während die VBA selbst kein Interesse daran hatte, konkrete Zahlen seiner Profite aus demWirtschaftsimperium offen zu legen und sie intern selbst mit 3,5 Milliarden Renminbiebenfalls künstlich niedrig beziffert hatte, dürften auch die tatsächlichen Profite erheblichhöher liegen. So sprach eine chinesische Zeitung erstmals öffentlich von Profiten in einerHöhe von 5 Milliarden Renminbi. Doch dürfte auch diese Summe viel zu gering sein.Westliche Expertenschätzungen gehen von dem Zehnfachen der 3,5 Milliarden Renminbi aus.Vor diesem Hintergrund steht inÜbereinstimmung mit Analysen unabhängiger chinesischer Experten zu befürchten, dassJiang Zemin persönlich mit dem für die Streitkräfte zumeist unpopulären Schritt der weitgehenden Auflösung des Wirtschaftsimperiums sogar mehr verloren als gewonnen habe.35

Tatsächlich sind keineswegs alle Wirtschaftsaktiviväten der Streitkräfte beendet worden, unddie Militärführung hat selbst über die jeweilige Schließung ihrer Betriebe und Beendigungihrer jeweiligen kommerziellen Aktivitäten zu entscheiden. So wurden anscheinend dietraditionellen industriellen und landwirtschaftlichen Produktionsstätten der VBA nichtgeschlossen. So erklärte ein chinesischer Vertreter der Staatlichen Wirtschafts- undHandelskommission (SETCO), an dessen "All China Enterprise Taking Over Office(ACHETOO)" die militärischen Betriebe und Unternehmen der VBA überführt worden sind:"The military woulddecide upon the principle for determining which enterprise should be transferred. Disbanded,or retained. It is the central authorities' set policy that troops will no longer engage incommercial activities. The military must let go their operating enterprises, but will continue tooperate service enterprise meeting their own needs such as clothing factories, military repairfactories and guest houses. But by and large, the military will make decisions on thismatter."36

Ende 1999 soll die VBA noch immer über etwa 10.000 kommerzielle Betriebe verfügen. DieVBA scheint – neben einigen prestigeträchtigen Unternehmen (wie Hotels, Discotheken undKaraoke-Bars) – zunächst vor allem verlustmachende Betriebe an die Zentralregierungabgegeben zu haben. Dies betraf nicht gerade wenige Unternehmen. Im Zuge derWirtschaftsreformen sollten sie einerseits Gewinn erwirtschaften, andererseits aber weiterhindie Armee billig versorgen. Neben der traditionellen planwirtschaftlichen Ineffizienz und demMissmanagement wirkten sich auch traditionelle Strukturen hemmend auf die Umstellungdieser Wirtschaftsbetriebe auf die Produktion ziviler Güter negativ aus.37 So waren vieleBetriebe in den 60er und 70er-Jahren aus militärstrategischen Überlegungen der Drohungeines Nuklearkrieges tief ins Hinterland Süd- und Innerchinas verlegt worden – und somitweit entfernt von Absatzmärkten und Absatznehmern. 38 Da zudem der Widerstand vonOffizieren vor allem der unteren Ränge, die bisher von den kommerziellen Aktivitätenerheblich profitiert hatten, beträchtlich ist und die Regierung unwillig ist, denVerteidigungshaushalt entsprechend der wirklichen Profite und des Wertes der betreffenden

34 Vgl.: Magnier, Mark: Los Angeles Times, 9.1.2000.35 Vgl.: Lawrence, Susan V./Gilley, Bruce: Bitter Harvest. The Handover of the Military's Business Empire

Has Stirred Up a Hornet's Nest, in: FEER, 29.4.1999, S.22-26 und Military Pressures Jiang and Zhu toIncrease Military Spending, in: Inside Mainland China, S.39-43

36 Zit. nach: Rappai, M.V.: Separation of Military and Business in China, hier S.1968f.37 Zu einigen Beispielen und Problemen derartiger Unternehmen siehe auch: Kynge, James: FT, 16.11.1998,

S.VIII (Beilage).38 Vgl. auch: Thielbeer, Siegfried: FAZ, 18.12.1998, S.7.

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Unternehmen zu erhöhen, wird das Militär faktisch auf weitere Jahre hinaus ein wichtigerökonomischer Akteur in der aufblühenden chinesischen Privatwirtschaft bleiben. Derursprüngliche Zeitplan für die Überführung der unter der VBA operierenden Unternehmen andie zivilen Stellen bis zum Jahr 1999 musste daher schon frühzeitig aufgegeben werden,zumal die Zentrale Militärkommission erst drei Monate später auf einem Treffen vom 6.-7.Oktober 1998 dem Plan der Regierung prinzipiell zustimmte.39 Gleichwohl werden dieökonomischen Aktivitäten in den nächsten Jahren sukzessive auf das Niveau von 1985,welches der VBA die Eröffnung oder den Erwerb von Unternehmen gestattete, die überhauptnicht in direktem Zusammenhang mit den Streitkräften stehen, und 1978 zurückgeführt, alsdie VBA mit der Duldung Deng Xiaopings seine kommerziellen Aktivitäten weit über dasNiveau der traditionellen logistischen Selbstversorgung hinaus ausdehnen konnte. Diegegenwärtige Zwischenbilanz muss somit allenfalls als gemischt und ambivalent bewertetwerden. 40

Sollen zudem die Wirtschaftsreformen weiter vorangetrieben werden, so könnte eszunehmend zu einem Wettlauf um Macht und Ressourcen ("Butter oder Kanonen?") unddamit zu weiteren Interessensgegensätzen sowie Entfremdung zwischen Partei undMilitärelite kommen, auch wenn von Seiten der Partei die negativen Erfahrungen in derUdSSR während der Gorbatschow-Ära berücksichtigt und vermieden werden sollen. Dahersteht zu befürchten, dass das Militär nicht nur auf eine noch kräftigere Erhöhung desVerteidigungshaushaltes drängen wird, sondern auch auf die Beachtung aller anderenlebenswichtigen Sicherheitsinteressen Chinas, wie sie die Führung der Volksbefreiungsarmeeversteht, interpretiert und definiert. Dies gilt namentlich für die Beziehungen mit Taiwan alsauch für die Politik im Südchinesischen Meer und schlägt sich schon heute in denRüstungsprogrammen sowie der Ausrichtung der Militärdoktrin und Strategie deutlich nieder.

Auch die im September 1997 angekündigte Verringerung der Streitkräfte um 500.000 Mannwurde mit der Notwendigkeit der Freisetzung zusätzlicher Finanzressourcen für dieModernisierung der Streitkräfte begründet.41 Hierzu wurde von einem chinesischenMilitärtheoretiker, General Sun Xiudua, und Professor an der Landesverteidigungsakademiein Peking erklärt: "Was die Vorbereitungen für einen militärischen Kampf angeht, so wollenwir uns von einem lokal begrenzten Krieg unter gewöhnlichen Bedingungen umstellen aufeinen lokal begrenzten Krieg unter High-Tech-Bedingungen. Hinsichtlich des Armeeaufbauswollen wir uns von Effizienz und vom massiven Einsatz menschlicher Arbeitskraft auf denEinsatz von Technik umstellen. Durch die Reduzierung um 500.000 Mann werden genaudiese beiden Veränderungen in die Tat umgesetzt. ... Ohne eine gewisse Quantität geht esnicht, aber man kann auch nicht die Quantität ohne Qualität betonen."42

39 Vgl.: FT, 9.10.1998, S.6. Auch danach verlief die Umsetzung offenbar schwierig, sodass hochrangige

Partei- und Wirtschaftsvertreter wiederholt den Beschluss verteidigten – Vgl.: z.B.: Pomfret, John: IHT,24.11.1998, S.7.

40 Vgl.: Magnier, Mark: Los Angeles Times, 9.1.2000.41 Vgl.: Richardson, Michael: IHT, 15.9.1997, S.1 und 10; Karniol, Robert: JDW, 24.9.1997, S.13. Dass auch

offizielle Angaben und die neue Transparenz bei militärischen Daten von Seiten Chinas mit Vorsicht zuübernehmen sind, belegt die Analyse von Thielbeer, Siegfried: FAZ, 10.2.1998, S.8, nach der China bereitsein "Minus von 200.000 Mann" haben müsste. Der Großteil der zu entlassenen 500.000 Mann soll in denBestand der "Bewaffneten Volkspolizei" übernommen werden – vgl. auch: Karniol, Robert: in: JDW,11.3.1998, S.5.

42 Zit. nach: BPA Fernseh-/Hörfunkspiegel Ausland, 17.9.1997, S.21.

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Aus diesem Grund hat China auch verstärkte Anstrengungen unternommen, das vom Westennach den blutigen Ereignissen auf dem Tiananmen-Platz vom Juni 1989 verhängteinternationale Waffen- und Technologieexportverbot nach China so schnell wie möglich zulockern und aufzuheben. 43 Denn nur mit Hilfe westlicher und anderer internationalerRüstungsfirmen wird es möglich sein, die klaffende Lücke zwischen moderner westlicherMilitärtechnologie (damit auch gegenüber Taiwan, Japan und einigen ASEAN-Staaten) undder eigenen Rückständigkeit zu schließen. Dabei gelten vor allem die EU und besondersFrankreich als Zielscheibe chinesischer Einflussnahme, um das internationale Exportverbotaufzuheben. 44

Da der Import westlicher Rüstungs- und Dual-use Technologien jedoch auch weiterhin aufGrund der eher restriktiven Rüstungsexportpolitik der EU-Staaten gegenüber China begrenztbleiben wird, war Peking seit Anfang der 90er-Jahre gezwungen, die frühereRüstungszusammenarbeit mit Russland wieder aufzunehmen. Für Russland wiederum, dessenVerteid igungshaushalte in den letzten Jahren keine wirklich signifikantenRüstungsprogramme konventioneller Waffensysteme ermöglichte und dessen "militärisch-industrieller Komplex" auch nach Jahren der Restrukturierungen weiterhin alsüberdimensioniert charakterisiert werden muss, ist der Export von Hochtechnologie zu einerFrage des faktischen Überlebens der eigenen Rüstungsindustrie geworden. Vor diesemHintergrund war Russland schließlich seit 1992 trotz kontroverser innenpolitischer Debattenzum Export modernster Militärtechnologie an den traditionellen Erzfeind China wiederholtbereit. Dieser schloss auch den Verkauf modernster Kampfflugzeuge, Kriegsschiffe,Marschflugkörper, Raketen und anderes Militärgerät an China ein. In den letzten Jahrenmachte der Export an Rüstungstechnologie an China so zuweilen bis zu 40 Prozent desgesamten jährlichen Waffenexportes Russlands aus.45 Damit wurde China wurde für Russlandzum größten bzw. zweitgrößten Rüstungsexporteur (vor und nach Indien) in den 90er-Jahren.Mehr noch als der eigentlich Rüstungsexport nach China ist jedoch der russischeTechnologietransfer von langfristig strategischer Bedeutung, da dies für die chinesischeRüstungsindustrie und die Programme der Entwicklung und Produktion eigenerWaffensysteme einen erheblichen Schub bedeuten könnte.

Abbildung: Größere russische Rüstungsexporte nach China seit Anfang der 90er-Jahre

Seestreitkräfte Luftstreitkräfte

43 Vgl.: Harding, James : IHT, 14.7.1997, S.1 und 16 sowie Walker, Tony: FT, 9.4.1997, S.16.44 Vgl. zu den Modernisierungsbestrebungen der VBA und der chinesischen Rüstungsindustrie auch: Post-

2000 Delays to China's Arms Goals, in: JDW, 21.1.1998, S.22-25 und China – Modernization SeesSlimmer Giant, in: ebda, 10.12.1997, S.24-32.

45 Vgl. auch: Krutikov, E. Segodnja, 14.5.1997, S.4. Vgl. hierzu auch: Zarzecki, Thomas W.: Are ArmsTransfers from the Former Soviet Union a Security Threat? The Case of Combat Aircraft, in: The Journal ofSlavic Military Studies, 1 (March 1999), S.124-148, hier insbes. S.141ff.; Umbach, Frank: Financial CrisisSlows But Fails to Halt East Asian Arms Race – Part Two, hier insbes. S.35ff.

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• 4 U-Boote der Kilo-Klasse;• 3 Raketenzerstörer der Sovremenny-Klasse, die u.a. mit jeweils 8 hochmodernen und über- schallschnellen 'Moskit' SS-N-22 'Sunburn' SSM Anti-Schiffs-Marschflugkörpern mit einer Reichweite von ca. 120 km bewaffnet sind;• 12 KA-28 Marinehubschrauber für die Zerstö- rer der Sovremenny- und Luhu-Klasse sowie der Fregatten der Jiangwei-Klasse.

• 72 moderne Kampfflugzeuge des Typs SU-27s; 200 weitere sollen in einem Zeitraum von 10-15 Jahren in Lizenz produziert werden;• Saturn/Lyulka AL-31F Triebwerke für das ein- heimisch entwickelte und produzierte Kampf- flugzeug vom Typ F-10;• 12 Luftabwehrbatterien vom Typ S-300 (vgl.bar der amerikanischen SAM vom Typ 'Patriot');• 7 russische Langstreckentransportflugzeuge vom Typ Ill-76MD long-range;• 15 Tor-M1 SAM- Luftverteidigungssysteme für kürzere Reichweiten;• (700 MIG-31 Langstreckenabfangjäger sollen nach russ. Quellen ab dem Jahr 2000 in Lizenz gefertigt werden*);• 40 russische SU-30 Kampfflugzeuge (August 1999);• Kauf von Il-78 Lufttankflugzeugen (laufende Verhandlungen).

* Anmerkung: Vgl. u.a.: Krutikov, Segodnja, E., 14.5.1997, S.4. Eine Bestätigung des Abschlusses einesentsprechenden Vertrages zwischen beiden Seiten ist bisher durch westliche Quellen jedochnicht erfolgt; zudem dürfte die Anzahl von 700 Kampfflugzeugen viel zu hoch sein.

Sonstige Quellen: Kontinuierliche Auswertung zahlreicher westlicher und russischer Fachzeitschriften sowieZeitungen durch den Autor dieses Artikels seit 1996.

Gleichzeitig sollen nach nicht zu verifizierenden Berichten mehr als tausend hoch qualifizierterussische Rüstungstechnologen inzwischen in Chinas Verteidigungsindustrie arbeiten. DerWunsch nach russischer oder westlicher High-Tech-Rüstung spiegelt zugleich die anhaltendeUnzufriedenheit der Militärführung der VBA über die Leistungsfähigkeit der eigenenRüstungsindustrie und der von ihr produzierten Rüstungsgüter für die eigenen Streitkräftewider.

Dennoch werden die innenpolitischen Diskussionen in Russland über die eigene Aufrüstungdes ehemaligen Erzfeindes auch weiterhin einem völlig unbegrenzten Rüstungsexport undTechnologietransfer nach China einen Riegel vorschieben, wie auch die Verhandlungen überden Rüstungsexport gezeigt haben. 46 Zudem dürfen die objektiven Schwierigkeiten undHerausforderungen nicht übersehen werden, denen sich China auch weiterhin in mittelfristigerPerspektive gegenübersieht. Dies betrifft insbesondere die Abhängigkeit vom Importmoderner Rüstungstechnologie aus Russland oder dem Westen und die bisher begrenztenFähigkeiten der eigenen Rüstungsindustrie, vom Ausland erworbene moderneRüstungstechnologie auch für die Entwicklung eigener moderner Waffensysteme undMunition effektiv zu nutzen und zu beherrschen. 47

Resümierend bleibt bei den Reform- und Modernisierungsbestrebungen für dengegenwärtigen Zeitpunkt daher festzustellen, dass einerseits die VBA seit 1985 gewaltige 46 Vgl. hierzu auch: Felgengauer, Pavel: An Uneasy Partnership: Sino Russian Defense Cooperation and Arms

Sales, in: Pierre, Andrew J./Trenin; Dimitri V. (Eds.): Russia in the World Arms Trade, Washington D.C.1997, S.87-103.

47 Vgl. auch: Juan, Jing-dong/Zhu, Yuchao: Sizing Up Chinese Military Buildup: The Limitations to DefenseModernization, in: The Korean Journal of Defense Analysis, Summer 1996, S.231-251 und Sengupta,Prasun K.: PLA Force Modernization Activities and Future Plans, in: Asian Defence Journal (ADJ) 4/1999,S.21-24.

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Fortschritte gemacht hat48, andererseits jedoch die Kampfbereitschaft auch weiterhin sowohlvon der zur Verfügung stehenden Hardware (Waffensystemen) als auch von der Software(Militärdoktrin und -strategie; Training, Ausbildung etc.) abhängig ist. In beiden Bereichensieht sich die VBA jedoch noch immer großen Problemen und Herausforderungen gegenüber.Trotz erheblichen Modernisierungsanstrengungen in den letzten 10 Jahren ist die Mehrheit derchinesischen Waffensysteme – mit Ausnahme von "some pockets of excellence" vonRussland – technologisch zumindest 10-15 Jahre hinter den modernsten westlichenWaffensystemen zurück. Der allgemeine Ausrüstungsbestand ist damit nach Ansichtzahlreicher westlicher Militärexperten noch immer weit gehend antiquiert, wenngleich dieModernisierungsdynamik seit 1995 deutlich gestiegen ist.

Zudem hat die militärische Ausbildung und das Training durch die zahlreichenwirtschaftlichen Aktivitäten der Streitkräfte in den letzten Jahren gelitten und zuentsprechenden Besorgnissen der Militärführung über eine mangelnde Kampfbereitschaft undEinsatzfähigkeit geführt. Ob die zum Teil bereits eingeleiteten Gegenmaßnahmen denAusbildungsstand in den nächsten Jahren nicht nur in den Elitedivisionen deutlich anhebenlassen, bleibt alsweilen unklar. Nach einigen Analysen dienen derzeit nur etwa 25 Prozentaller aktiven Einheiten der Landstreitkräfte, d.h. ca. 275.000 Mann, in wirklich kampffähigenund einsatzbereiten Verbänden, einschließlich der 11 schnellen Eingreifbrigaden ("rapidreaction brigades").49 Zudem haben die ausufernden Wirtschaftstätigkeiten der letzten zehnJahre sich – bis auf wenige Eliteeinheiten – negativ auf die Einsatzbereitschaft und die Moralder Streitkräfte ausgewirkt, auch wenn sie andererseits der dringend erforderlichenModernisierung zugute kamen. Seit 1992 hat der chinesische Generalstab erheblicheReformen auch beim Trainings- und Übungsprogramm der Streitkräfte vorgenommen, dassehr viel mehr Aufmerksamkeit der Zusammenarbeit der Teilstreitkräfte undWaffengattungen widmet. Dennoch wird diese Art von teilstreitkräfteübergreifendenOperationen in der Ausbildung oft nur bis zur Regiments- oder einer darunter liegendenEbene geübt, während sie auf Divisions- oder Armeeebene weiterhin eher die Ausnahme zusein scheint. Darüber hinaus haben einige westliche Beobachter festgestellt, dass gemeinsameÜbungen von Waffengattungen und Teilstreitkräften in der Realität oft nur bedeuten, dassdiese zwar gleichzeitig, aber nicht wirklich gemeinsam, sondern weiterhin getrennt in einemGebiet üben. Zudem sind das militärische Training, die Methoden, Inhalte und ihreEvaluierung häufig nach wie vor nicht standardisiert.50 Eine Ausnahme bilden offenbar nurdie schnellen Eingreifverbände. Gleichwohl hat die chinesische Militärführung die eigenenSchwächen deutlich erkannt und versucht sie schrittweise zu beheben. So fanden 1998 diegrößten landesweiten militärischen Übungen seit den 80er-Jahren für regionale Kriege unterHightech Bedingungen statt.51 Darüber hinaus hat sie eine ständige militärische Formation ausallen drei Teilstreitkräften (Heer, Luftwaffe, Marine) gebildet, die bei den Übungen undManövern die Rolle des feindlichen Aggressors übernimmt.52

48 Vgl. hierzu auch: Gu, Xuewu: Militärische Aufholjagd.49 Vgl.: Halloran, Richard: IHT, 29.1.1997, S.8.50 Vgl.: Blasko, Dennis: Better Late Than Never: Non-Equipment Aspects of PLA Ground Force

Modernization, in: Lane, C. Dennison/Weisenbloom, Mark/Liu, Dimon (Eds.): Chinese MilitaryModernization, Washington D.C. 1996, S.125-143, hier insbes. S.128 und Blasko, Dennis/Klapakis, PhilipT./Corbett Jr., John: Training Tomorrow's PLA: A Mixed Bag of Tricks, in: China Quarterly, Juni 1996,S.488-524, hier insbes. S.517.

51 Vgl.: JDW, 22.4.1998, S.16.52 Siehe: Karniol, Robert: JDW, 27.10.1999, S.13.

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Militärpolitische Intentionen dürfen jedoch nicht mit militärischen Fähigkeiten gleichgesetztwerden53, auch wenn die militärischen Großmanöver der See- und Luftstreitkräfte in denJahren 1994-96, einschließlich der amphibischen Übungen während der Taiwankrise 1995/96,Fortschritte bei der Modernisierung und taktisch-operativen Umsetzung deutlich gemachthaben. 54 Allerdings unterstreichen die Pläne des chinesischen Verteidigungsministeriums,schnelle Eingreiftruppen aufzustellen und Einheiten eines neu geschaffenen Marinekorps aufder Hainan-Insel (damit näher zu den Spratlys) aufzustellen sowie hierfür den notwendigenstrategischen Lufttransport (Kauf von 10 schweren russischen Transportflugzeugen vom TypIljuschin Il-76) bereitzustellen55, die strategischen Ambitionen und Ausrichtungen derchinesischen Außen- und Sicherheitspolitik in diesem Raum. Dennoch sind die militärischenKapazitäten für eine langfristige Besetzung und effektive Kontrolle der Südchinesischen Seegegenwärtig wohl kaum gegeben. Insgesamt verfügt China heute über bis zu 15 Divisionender schnellen Eingreiftruppen ("Rapid Reaction Forces" oder "RRF") mit möglicherweisezusätzlichen unabhängigen Regimentern und Bataillonen mit zusammen 200.000 – 300.000Mann. Dies entspricht etwa 10-15 Prozent der gesamten Landstreitkräfte der VBA. Aus Sichtamerikanischer Militäranalytiker ist die Einsatzfähigkeit dieser RRF derzeit jedoch durch diemangelnde Anzahl von Transportflugzeugen begrenzt. Gegenwärtig verfügt China nur überdie 10 Il-76 sowie 50 Yun-7 und Yun-8 Transporter, die gleichzeitig zusammen nur etwa3.000 bis 4.000 Mann befördern können. Aus chinesischer Sicht wurde diesesTransportproblem in einem Krisen- und Kriegsfall durch die Assignierung von bis zu 700zivilen Transportflugzeugen, wie bei mehreren Einsätzen in Tibet demonstriert, gemildert.56

Dies wäre allerdings bei einem Einsatz unter Berücksichtigung feindlicher Luftstreitkräfte imSüdchinesischen Meer viel risiko- und potenziell verlustreicher. Dessen ist sich auch dieMilitärführung Chinas bewusst.

Während so die chinesischen Streitkräfte versuchen, die allgemeine Modernisierung der VBASchritt für Schritt voranzutreiben, hat die chinesische Militärführung in den letzten Jahrenerhebliche Anstrengungen unternommen, die Auswirkungen der globalen "Revolution inmilitärischen Angelegenheiten" ("Revolution of Military Affairs" bzw. "RMA") detailliert zuuntersuchen. Sie studiert nicht nur mit großem Interesse diese zukünftigen Formen derKriegsführung und die Auswirkungen der globalen militärischen Revolution (wie z.B. eineInformationskriegführung), sondern versucht auch, die weit reichenden Folgen in konkreteSchlussfolgerungen für die eigene Militärreform umzusetzen. In diesem Zusammenhang hatsie nicht nur die zukünftigen Formen der elektronischer Kriegführung eingehend untersucht,sondern insbesondere auch jene der für die Zukunft noch entscheidenderen "IntelligenceWarfare". 57 Zwar sind auf diesem Feld ebenfalls die amerikanischen Streitkräfte amfortgeschrittensten, aber zugleich auf Grund ihrer Technologieabhängigkeit (insbesondere von

53 Vgl. auch: Shambaugh, David: China's Military: Real or Paper Tiger?, in: Washington Quarterly, Spring

1996, S.19-36.54 Vgl. auch: Downing, John: China's Evolving Maritime Strategy. Part 1, hier S.132.55 Vgl.: Zhan, Jun: China Goes to the Blue Waters: The Navy, Seapower Mentality and the South China Sea,

in: The Journal of Strategic Studies 3 (September) 1994, S.180-208.56 Vgl.: Rapid Deployment Key to PLA Modernization, in: JDW, 15.4.1998, S.30 und 32 und China –

Modernization Sees Slimmer Giant, in: ebda, 10.12.1997, S.24-32, hier S.31.57 Vgl. hierzu in: Ahrari, M. Ehsan: Chinese Prove to Be Attentive Students of Information Warfare, Jane's

Intelligence Review, October 1997, S.469-473; Holloway, Nigel: Revolutionary Defence, Far EasternEconomic Review, 24 July 1997, S.24-25; Thomas, Timothy L.: Behind the Great Firewall of China: ALook at RMA/IW Theory from 1996-1998, FMSO Studies, Fort Leavenworth, KS, November 1998 undPillsbury, Michael (Ed.): Chinese Views of Future Warfare sowie Wong, Ming-hsing: The Free ChinaJournal, 10.7.1998, S.7.

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Computern, Informationssystemen und –netzen etc.) auch am verwundbarsten. So habenjunge chinesische Offiziere, die an derartigen Formen zukünftiger Kriegsführung arbeiten,bereits propagiert: "Those who believe that the current revolution in military affairs will beunder the control of the U.S. or can develop only according to the speed and directions set bythe U.S. are extremely wrong and quite dangerous"' 58

Gleichwohl spricht vieles dafür, dass die USA ihren Vorsprung auf diesem Gebiet gegenüberallen anderen Mächten (einschließlich der europäischen Verbündeten) eher noch ausbauenwerden59, da die USA nicht nur über die fortgeschrittensten Technologien verfügen, sondernauch über die Software und die Fähigkeiten, diese zu operationalisieren und für eine effektiveSystemintegration zu nutzen. Gerade darin aber mangelt es den meisten anderen Streitkräftenin der Welt, einschließlich jener in Ostasien wie Chinas VBA. So kam J. Mohan Malik zumfolgenden Ergebnis, das auch die chinesischen Streitkräfte miteinschließt: "Still, it will take10 to 20 years for most Asian countries to integrate the burgeoning commercial electronicsurveillance and communications resources (such as, commercial satellites, informationnetworks, and electronic highways) with the needs of the military. Some fast-developingAsian countries (such as, India which already is a major software power), have the potential toemerge as information warfare powers."60

Das Interesse chinesischer Militärexperten an derartigen Formen zukünftiger Kriegsführungresultiert aber nicht so sehr aus der Erwartung, die USA wirklich auf diesem Gebiet besiegenzu können, sondern eher aus der Intention, die Verwundbarkeit der amerikanischen aufdiesem und anderen Feldern drastisch zu erhöhen und maximal auszunutzen, um dann – wennnotwendig – die eigene konventionelle Überlegenheit (vor allem in Form von Masse undzahlenmäßiger Überlegenheit) unter Berücksichtigung eines modernisierten nuklearenAbschreckungsdispositivs (gegenüber den USA) auszuspielen. Diese Tendenzen so genannter"asymmetrischer Kriegführungsstrategien" werden inzwischen von den USA sehr viel ernstergenommen, da sie die eigene politische und militärische Risikobereitschaft in einem Krisen-und Konfliktfall erheblich mindern könnte. Gerade aber diese politisch-militärischeRisikobereitschaft der USA, innenpolitisch auch einen längeren und verlustreichenmilitärischen Konflikt durchzustehen, gilt seit den Ereignissen in Somalia nicht nur inOstasien als fragwürdig.

4. Die Modernisierung der Marinestreitkräfte

"International competition and struggle will focus increasingly on scientific and technologicalsuperiority. But such traditional strategic objectives as control of natural resources, markets,land and sea lanes will by no means become insignificant. In many areas, contention overthese traditional objectives may lead to new acute conflicts. Because many will view eachinch of land as precious as gold and every drop of water as valuable as oil, especially in areaswith too many mouths to feed and too little to feed them with, new conflicts may be inevitableregardless of man's will. New and old land and sea border disputes – such as the invasion of[Communist] China's islands in the South China Sea – are intensifying with each passing day

58 Zit.: nach dem Artikel von Holloway, Nigel: Revolutionary Defence, hier S.24.59 Vgl. auch: Dibb, Paul: The Revolution in Military Affairs and Asian Security, in: Survival, Winter 1997-98,

S.93-116, hier insbes. S.100ff. und ders.: Defence Modernization in Asia: Towards 2000 and Beyond, in:Contemporary Southeast Asia, March 1997, S.347-360, hier insbes. S.355f.

60 Malik, J. Mohan: The Sources and Nature of Future Conflicts in the Asia-Pacific Region, in: ComparativeStrategy 1997, S.33-65, hier S.50.

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and may not necessarily wait until the next century. It seems particularly clear that the maindirection of future conflict is shifting toward the high seas." (So Prof. Zhang Zingyi derChinesischen Akademie der Sozialwissenschaften im April 198961)

Die machtpolitischen Ambitionen Chinas auf dem Weg zu einer ökonomischen undmilitärischen Supermacht wurden durch einen in Europa wenig beachteten Flottenbesuch derchinesischen Seestreitkräfte im März 1997 in Honolulu, San Diego, Mexiko, Chile und Perueindrucksvoll unterstrichen. Es war die längste Schiffsreise einer chinesischen Flotte seitmehr als 500 Jahren, an der sich einige der modernsten Kriegsschiffe Chinas beteiligten.China demonstrierte damit seine langfristige Absicht, eine wirklich militärisch schlagkräftigeHochseeflotte ("blue-water navy") aufzubauen, welche die maritimen SicherheitsinteressenChinas nicht länger nur im Ost- und Südchinesischen Meer zu verteidigen weiß.62

Bereits ab 1982 war die maritime Militärstrategie der chinesischen Volksmarine von AdmiralLi Huaqing (von 1982-88 Oberkommandeur der chinesischen Volksmarine) von einerVerteidigung der Küstenzonen auf die vorgelagerte hohe See ("offshore defence") hinausverlagert worden (siehe auch die folgende Abbildung), welche auch die Verteidigung vonTerritorien und Inseln in der Südchinesischen See mit einschließt.63 Während die früheremaritime Militärstrategie nur reaktiv ausgerichtet war und Bestandteil der defensivenAusrichtung "Volkskrieges unter modernen Bedingungen" war64, sieht die heutige Konzeptionausdrücklich eine "aktive Verteidigung" unter Einschluss von Offensivoperationen imRahmen der "Offshore"-Seestrategie vor und damit erstmals auch über die Möglichkeit, selbstüber Zeitpunkt und Ort einer militärischen Auseinandersetzung entscheiden zu können. 65

Die Verteidigung maritimer ökonomischer Interessen und insbesondere der eigenenTerritorialansprüche wurde nun zum festen Bestandteil der Legitimierung des langfristigkonzipierten Aufbaus einer schlagkräftigen Hochseeflotte ("blue-water navy"), auch wenngegenwärtig der Verteidigungsperimeter entlang der Küste ("jin'an") bis etwa 150-200 km aufdie hohe See hinaus ("jinhai") verläuft, da nur hier die chinesische Flotte die für erfolgreicheSeeoperationen notwendige Luft- und logistische Unterstützung verfügt.66

Abbildung: Die maritime Verteidigungsstrategie der hohen See Chinas

The "Offshore" Concept in Chinese Naval Strategy1949-1979 1980-2000 2001-beyond

StrategicConcept

Active Defense(Maoist)

Active Defense(modern)

Forward Defense

Term Coastal Inshore Offshore mid-distance far-distance 61 Zhang, Jingyi: After the Superpowers, in: FEER, April 1989, S.24f., hier S.24.62 Vgl. auch: Klintworth, Gary: The Chinese Navy: Developing Blue-Water Experience, in: A-PDR,

February-March 1998, S.20.63 Siehe: Zhan, Jun: China Goes to the Blue Waters, S.190 und Huang, Alexander Chieh-cheng: The Chinese

Navy's Offshore Active Defense Strategy. Conceptualization and Implications, in: Naval War CollegeReview 3 (Sommer) 1994, S.7-32.

64 Vgl. auch: Herrmann, Wilfried A.: Chinese Military Strategy and Its Maritime Aspects, in: Naval Forces2/1999, S.14-17, hier bes. S.15f.

65 Vgl.: Downing, John: China's Evolving Maritime Strategy, Part 1, hier S.129.66 Vgl. auch: Di, Hua: China's Security Dilemma to the Year 2010, CISAC, Stanford University, October

1997, hier S.11f.

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OtherName Inshore Coastal

near shorenear-distance

long-distance,high seas,blue-water

ChineseName

YanhaiHaian

BinhaiJinan

jinhai zhonghai yuanhaiyuanyang

Definition 1 0→200nm 200→600nm 600+ nmDefinition 2 -100km→12nm 12→350nm 350+ nmDefinition 3 territorial sea EEZ+ continental

shelfbeyond

Definition 4 inside the 1st

island chainbetween the1st and 2nd

island chainbeyond

Definition 1 is from Military Terms of the PLA, p. 430.Definitions 2 and 3 from Li Qianyuan, ´Strategy for the Defense of Exclusive Zone and

Continental Shelf: Thinking on National Defense Development Strategy´, Xueshu Yanjiu (Academic Studies), no. 8, 1988, pp. 7-9.

Definition 4 is a summary of Adm Liu Huaqing´s statement and A History of the PLA Navy.EEZ: Exclusive Economic Zone

Quelle: Huang, Alexander Chieh-cheng, ´The Chinese Navy´s Offshore Active Defense Strategy;Conceptualization and Implications´, in: Naval War College Review, No. 3, Summer 1994, S.33-50,hier S.19.

Die daraus resultierende Aufwertung der Teilstreitkraft der chinesischen Volksmarine drücktesich auch deutlich in den finanziellen Zuweisungen aus dem Verteidigungsbudget undanderen Haushalten aus.67 In einem 1992 publizierten 3-Stufen-Plan werden die langfristigenstrategischen Ausrichtungen der chinesischen Volksmarine ebenso deutlich wie die damit imZusammenhang stehende Politik Pekings in der Südchinesischen See und die Prioritäten beiden eigenen militärischen Beschaffungsprogrammen:

Abbildung: Strategische Zielsetzungen der maritimen Rüstungsbeschaffungspolitik imZeitraum 1992-2040

Zeitraum Strategische Zielsetzungen und Rüstungsbeschaffungspolitik1992-2019 Entwicklung einer Hochseeflotte mit großen Überwasserkampfschiffen und nuklear

angetriebenen Angriffs-U-Booten zum Schutz aller Territorialwässer Chinas;2019-2039 Beschaffung von 2-3 leichteren Flugzeugträgern, mit denen die chinesische Volksmarine

zu einer Hauptstreitmacht im westlichen Pazifik aufsteigen wird;ab 2040 die chinesische Volksmarine entwickelt sich zu einer weltweiten Seemacht analog der

US-Navy;

Quelle: Jun Zhan, 'China Goes to the Blue Waters: The Navy, Seapower Mentality and the South ChinaSea', in: The Journal of Strategic Studies 3 (September) 1994, S.180-208, hier S.191.

Admiral Li Huaqing – der Vater und Oberbefehlshaber der modernen chinesischenSeestreitkräfte, zugleich Vize-Vorsitzender der Zentralen Militärkommission und der einzigehohe Offizier im Pekinger Politbüro von 1992-9768 – hatte wiederholt die maritimen 67 Vgl. auch: Studeman, M.: Calculating China's Advances in the South China Sea (82ff.).68 Zu seinem Werdegang (als ehemaliger Absolvent der Woroschilow-Generalstabsakademie) und der

Beein flussung seiner und der chinesischen Seestrategie durch die sowjetische Seestrategie unter AdmiralGorschkow siehe: Zhan, Jun: China Goes to the Blue Waters, hier S.189ff. und Downing, John: China'sEvolving Maritime Strategy, Part 2, hier S.188.

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Sicherheitsinteressen Chinas innen- und außenpolitisch verteidigt sowie deren Beachtungangemahnt – so auch 1994 in einer Militärfachzeitschrift des chinesischen Verteidigungs-ministeriums: "History tells us that whether one has maritime sense and can pay attention tothe building of our coast defense is supremely important to the rise or decline and the honor ordisgrace of anation. Since the beginning of the 1970s, the strategic importance of the oceans has increasedday by day. Exploitation of the ocean has turned into an important condition for coastalcountries in developing their economy and overall strength of national power. It is certain thatthe ocean will be more and more significant to the long-term development of a country. Wemust understand the ocean from a strategic level and its importance to the whole nation. Weshould safeguard our maritime rights and interests and security at sea and build a powerfulcoastal defense. Comrades in our army must have an even deeper understanding of theimportance of enhancing our coastal defense."69

Auch wenn die chinesische Marine noch weit von wirklich regionaler und globalerMachtprojektion entfernt ist, so hat sie in den letzten Jahren denjenigen Rüstungsprojekteneine hohe Priorität eingeräumt, die der amerikanischen Marine im militärischen Ernstfall hoheVerluste zufügen kann. Insofern hat sie die Schwachstellen der amerikanischen Seestreitkräftesehr wohl erkannt. Damit folgt die Beschaffungspolitik zunächst primär der Schaffung einerso genannten "Risk-Fleet" wie das wilhelminische Kaiserreich Deutschlands zu Beginn des20. Jahrhunderts. Das Ziel ist somit weniger eine mit den USA ebenbürtige Kampfkraft aufSee zu schaffen als vielmehr, ein entsprechendes Risiko- und Abschreckungspotenzial inFriedenszeiten aufzubauen. Dagegen gilt es in Kriegszeiten dem Gegner vorab in seinerPerzeption militärischer Konfliktszenarien einen derartig potenziell hohen Schadenzuzufügen, die ihn entweder bewegen, von vornherein nicht in einen militärischen Konfliktauf Grund der entsprechend aus seiner Sicht ungünstigen Nutzen-Kosten Kalkulationeinzugreifen oder ihn im Konfliktfall zumindest in seinen operativen Möglichkeitennachhaltig zu beschränken. Angesichts der seit dem Vietnam-Krieg traditionell eherrisikoscheuen amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik (siehe Somalia 1993 undKosovo 1999), obwohl die USA gegenwärtig über eine nie vergleichbaremilitärtechnologische Überlegenheit gegenüber allen anderen Staaten der Welt (einschließlichihrer europäischen Verbündeten in der NATO) verfügen, haben derartige chinesischeRüstungsbeschaffungen mittel- und langfristig durchaus ihre militärstrategische Logik – auchwenn Zweifel an ihrer Umsetzung bleiben (insbesondere auch gegenüber der Erwartung einesähnlich hohen Wirtschaftswachstums während der nächsten 20 Jahre).

Dieses gilt insbesondere für die Beschaffung der vier russischen U-Boote der Kilo-Klasse,von denen das vierte U-Boot im Januar 1999 an China geliefert wurde70, und besonders fürden Kauf von zwei modernen russischen Flugkörperzerstörern der Sovremenny-Klasse (7.900Tonnen), die mit modernsten, 2.5 Mach überschallschnellen russischen Marschflugkörpernund Anti-Schiffsraketen vom Typ SS-N-22 Sunburn (auch 'Moskit' genannt; Reichweite 120km) bewaffnet sind.71 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass die amerikanischen

69 Liu, Huaqing: Defense Modernization in Historical Perspective, in: Pillsbury, Michael (Hrsg.): Chinese

Views of Future Warfare, S.115-118, hier S.118.70 Vgl.: Novichkov, Nikolai: JDW, 13. January 1999, S.19.71 Vgl. hierzu auch: Safonov, Dimitri: Kommersant-Daily, No.65, 14.4.1998, S.2. Nach russischen Angaben

werden allerdings lediglich 10-30 dieser Marschflugkörper für die Bewaffnung der zwei an China zuliefernden Sovremenny-Flugkörper Zerstörer an China in den Jahren 1999 und 2000 geliefert; Putilov,Sergei: Nezavisimaja Gazeta, 12. August 1997, S.2. Gleichwohl glauben westliche Militärexperten, dasslediglich die amerikanischen und japanischen Aegis -Flugkörperzerstörer zu einer Bekämpfung dieserMarschflugkörper in der Lage sind, doch stellen sie selbst für diese beiden modernsten Seestreitkräfte in

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See- und Luftstreitkräfte inzwischen zunehmend dazu übergehen, so genannte"asymmetrische Formen der Kriegführung" Chinas und anderer Staaten zu studieren undeinzuüben.

Auch die gegenwärtigen chinesischen Seestreitkräfte mit etwa 53 Hauptkampfschiffen und 62U-Booten sowie ihre Modernisierungen stellen in den Nächsten 10-15 Jahren kaum einewirkliche "Blue Water-Navy" mit entsprechender globaler Machtprojektion dar. Zwar wirdsowohl von westlichen als auch von chinesischen Militäranalytikern die militärischeBesetzung der Spratly-Inselgruppe und anderer Riffe sowie Atolle durch die chinesischeMarine für möglich gehalten. Aber ihre Verteidigung gegen die See- und Luftstreitkräfte derAnrainerstaaten, deren amphibische Kapazitäten denen Chinas wenn nicht quantitativ, sodoch qualitativ überlegen sind, und vor allem gegen jene der US-Marine wird auch in dennächsten Jahren wegen der fehlenden Lufthoheit und großen logistischen Problemen als weitgehend unrealistisch angesehen. 72 Daher empfiehlt das auch im Westen vielbeachtete Buch"Kann China den nächsten Krieg gewinnen?" auch die erfolgreiche Besetzung der Spratlysinnerhalb von 48 Stunden, um so den Rest der Welt mit einer "fait accompli" zukonfrontieren, die sie akzeptieren müssten. Denn nur dann bestehe Aussicht, dass der Kriegsich nicht in die Länge ziehe und durch eine Involvierung der USA und Japan eskaliere. Inden Worten der Autoren des Buches heißt es: "The best tactic is deception, the next isdiplomacy, then military deployment. The last is to attack the city. Attacking the city belongsto the category of 'having-no-alternative' tactics. ... Those who are good at using military forcedefeat the opponents'armies without fighting the battles, don't waste time in taking theopponents' cities or destroyingother countries."73

Dem Ausbau einer chinesischen Hochseeflotte, die über längere Zeit und Entfernungen weitgehend unabhängig von Land aus operieren kann, sind zudem auch weiterhin Grenzengesetzt. Dies gilt sowohl für den Zeitrahmen, eine solche auszubauen, als auch für diegewaltigen Kosten, die ein solcher Ausbau verursacht. Eine signifikante Erhöhung dermilitärischen Schlagkraft wäre nur durch den Bau oder den Erwerb von Flugzeugträgernmöglich. So hat es in den letzten Jahren immer wieder Gerüchte über den Kauf einesFlugzeugträgers (Russland und Ukraine) gegeben, die sich bisher aber zumeist nicht wirklichbestätigt haben. 74 Auf Grund finanzieller und technologischer Schwierigkeiten sowie derNichtverfügbarkeit eines senkrechtstartenden STOVL-Kampfflugzeuges75 ist der Bau einesgrößeren Flugzeugträgers derzeit nicht realistisch. Nach neueren Informationen wird Chinaüber einen größeren und voll funktionsfähigen Flugzeugträger nicht vor dem Jahr 2020

Ostasien ein erhebliches Bedrohungspotenzial dar – siehe hierzu auch: Klintworth, Gary: The Chinese Navyto Get Some Big Guns, at Last, in: A-PDR, April-Mai 1997, S.6 und Fisher, Richard D.: Dangerous Moves:Russia's Sale of Missile Destroyers to China, Backgrounder, Asia Studies Center, The Heritage Foundation,Washington D.C., 20.2.1997.

72 Siehe auch die Auszüge des Buches: Kann China den nächsten Krieg gewinnen?, in: Munro, Ross H.:Eavesdropping on the Chinese Military: Where It Expects War – Where It Doesn't, in: Orbis, Summer 1994,S.355-372, hier S.370f. Vgl. hierzu auch: Downing, John: China's Evolving Maritime Strategy, Part1, hierS.132f.

73 Zit. nach: Munro, Ross H.: Eavesdropping on the Chinese Military, hier S.368.74 Zum Hintergrund der Diskussionen siehe auch: Hirschfeld, Thomas J.: China's Aircraft Carrier Program: A

Virtual Dragonfly?, in: The Korean Journal of Defense Analysis, Sommer 1998, S.141-153.75 STOVL: Short Take-Off and Vertical Landing Aircraft. Hiervon gibt es nur zwei Flugzeuge auf der Welt:

die britische Harrier und die russische YAK-141. Während die Weiterentwicklung des russischen Modellsinzwischen eingestellt wurde, hat China derzeit auch keine Aussicht auf den Import der britischen Harrier.

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verfügen. 76 Allerdings wird der Bau eines kleineren Hubschrauber- und Flugzeugträgers – wiedes thailändischen Chakri Naruebet – sehr wohl für möglich gehalten. 77 Hierfür spricht auch,dass China im Jahr 1998 mit der Shichang eine Art Trainingsschiff mit einem Flugdeck fürHubschrauber in Dienst gestellt hat, mit dem erste operative Erfahrungen mit maritimenLuftoperationen gewonnen werden sollen. 78

Über den Bau von Flugzeugträgern scheint es im chinesischen Generalstab selbst größereDifferenzen über deren militärische Effizienz und Finanzierbarkeit zu geben, zumal dieVerfügbarkeit eines solchen noch keine zusätzliche Militäroption verschafft, da diese voneiner Reihe weiterer Faktoren (Ausbildung, Training, Einsatz im Verbund mit Zerstörern,Fregatten und anderen Kriegsschiffen zu ihrer Sicherheit gegen Raketen, Flugzeugen und U-Booten etc.) abhängig ist. Gleichwohl ist China am Erwerb von Blaupausen undTechnologien zum Bau eines Flugzeugträgers interessiert. So erwarb im März 1998 einechinesische Tarnfirma aus Macau eine Ausschreibung für die Verschrottung des zu 70Prozent fertig gestellten sowjetischen 67.000 Tonnen Flugzeugträger "Varjag" in der Ukraine.Chinesische Militär- und Rüstungsspezialisten hatten bereits 1992 den Flugzeugträgeruntersucht, umso Erkenntnisse des Designs und der vorhandenen Technologie der Varjag füreine Eigenentwicklung zu erhalten. Seitdem waren immer wieder Gerüchte im Umlauf, dievon einem bevorstehenden Kauf dieses oder eines anderen Flugzeugträgers zu berichtenwussten. Nun war die chinesische Tarnfirma aus Macau, die vermutlich zu einemmilitärischen Unternehmen der Volksbefreiungsarmee gehört, bereit, den dreifachenSchrottpreis des auf dem Weltmarkt üblichen Wertes für derartig große Schiffe zu bezahlen. 79

Inzwischen sollen zwei europäische Rüstungsfirmen – Marconi Electronic Systems vonGroßbritannien und Thomson CSF aus Frankreich – China angeboten haben, elektronischeAusrüstung für die Varjag zu liefern, wenn China sie behalten und in den Dienst stellen will.80

Darüber hinaus soll auch der frühere sowjetische Flugzeugträger "Minsk" der Kiew-Klasse andie chinesische Firma Shenzzen zur Verschrottung für lediglich 5 Millionen US-Dollarverkauft worden sein. 81 Des Weiteren soll nach russischen Quellen das Nevsk Design Bürodes "Staatlichen russischen Komitees für die Verteidigungsindustrie" ohne Konsultationen mitExperten von Rosvooruženie (der staatlichen Überwachungsbehörde für alleRüstungsexporte) für nur 896.000,-US-Dollar alle technischen Dokumentationen (die mehrals 4 Mrd. Dollar wert sein sollen) für einen Flugzeugträger an China verkauft haben. 82 Nacheiner chinesischen Quelle ist die Entscheidung über den Bau eines Flugzeugträgers vertagtworden. Danach soll im Jahr 2000 eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben werden, dieauch ein entsprechendes Design-Konzept vorsieht. Danach werden der Bau, die Ausrüstung

76 Vgl.: Beaver, Paul: China Will Delay Aircraft Carrier, in: JDW, 3.6.1998, S.26.77 Vgl.: Downing, John: China's Aircraft Carrier Program, in: A-PDR, October-November 1997, S.6f. Zum

Hintergrund siehe auch: The Strategic Value of Aircraft Carriers, in: Strategic Comments (IISS), 2.3.1998.78 Vgl.: Scott, Richard: China Charts New Waters with Air Capable Ship, in: JDW, 10.6.1998, S.13.79 Westliche Experten glauben, dass China den Kauf der 'Varjag' zur Verschrottung für ausgiebige

Untersuchungen für das eigene maritime Rüstungsprogramm nutzen will, um so die technologischenProbleme zu überwinden, um zukünftig einen eigenen Flugzeugträger zu bauen. China hatte bereits 1985den australischen 40.000 Tonnen Flugzeugträger HMAS Melbourne zur Verschrottung erworben unddiesen als Forschungsobjekt und das Flugdeck als Modell für eine Fluglandebahn auf einemLuftwaffenstützpunkt genutzt – siehe: Gilley, Bruce: Scrap Value, in: FEER, 9.4.1998, S.26 und 28,Strittmacher, Kai: SZ, 21.-22.3.1998, S.1 und Jahn, Olaf: Die Welt, 20.3.1998, S.1.

80 Vgl.: Gilley, Bruce: Flying Start, in: FEER, 11.3.1999, S.24.81 Vgl.: JDW, 9.9.1998, S.5.82 Vgl.: Urusov, M.: Moscow News, No.44, 2.-9.11.1997, S.62 und Shumilin, Alexander: Kommersant-Daily,

No.65, 7.5.1997, S.4.

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des Flugzeugträgers mit allen elektronischen Subsystemen, Erprobung und Training mitweiteren 18 Jahren veranschlagt, sodass China nicht vor dem Jahr 2020 über einen operativeinsetzbaren Flugzeugträger verfügen wird.83

Demgegenüber soll nach einer neueren chinesischen Informationsquelle von Anfang desneuen Jahres 2000 noch in diesem Jahr mit dem Bau eines 48.000t schweren Flugzeugträgers,der über 24 Kampfflugzeuge verfügen wird, begonnen werden. Nach der Fertigstellung imJahr 2003 soll er zwei Jahre später bereits einsatzfähig sein. Alle drei Jahre soll ein weitererFlugzeugträger in Bau gehen, sodass China bis zum Jahr 2009 zumindest über zwei imEinsatz befindliche Flugzeugträger verfügen würde. Nach dieser bislang unbestätigtenchinesischen Quelle soll dem Bau eines ersten Flugzeugträgers inzwischen höchste Prioritäteingeräumt worden sein, der sich nicht allein aus dem Konflikt in der Taiwanstraße erklärenlasse, sondern auch aus den anhaltenden und ungelösten Territorialkonflikten imSüdchinesischen Meer und insbesondere der Spratly-Inseln. 84

Während die Frage eines chinesischen Flugzeugträgers zu Beginn des 21. Jahrhunderts auchmit vielen Spekulationen verbunden ist, so liegen erheblich mehr Informationen hinsichtlichder chinesischen Anstrengungen zur Modernisierung seiner U-Boot-Flotte vor. Mit Hilferussischer Technologieunterstützung wird derzeitig der Entwicklung von zweinuklearangetriebenen U-Booten – einem nuklearangetriebenen Angriffs-U-Boot vom Typ 093SSN (welches voraussichtlich im Jahr 2000 fertig gestellt und im Zeitraum 2002-2004operativ einsetzbar sein wird)85 und eines nuklearangetriebenen U-Bootes mit ballistischenRaketen (SSBN mit 16 Julong-2 SLBMs) vom Typ 094 (welches aber nicht vor den Jahren2005-6 einsetzbar sein wird) – Priorität eingeräumt. Sie sollen die fünf veralteten U-Boote derHan-Klasse (SSN) und das eine U-Boot der Xia-Klasse (SSBN), die beide kaum mehroperieren, möglichst bald ablösen. Darüber hinaus steht die Entwicklung und Produktionsreifeneuer konventioneller Diesel-Elektrik U-Boote, der so genannten Song-Klasse, kurz vor demAbschluss.86 Mit ihrer modernen Bewaffnung in Form neuentwickelter Anti-Schiffs-Raketenvom Typ J-82 (bzw. YJ-82 oder YS – einer Weiterentwicklung der C-802 SSM Anti-Schiffsrakete mit einer Reichweite von etwa 50-60 km) erwarten westliche Experten einenQuantensprung für die chinesische Marine, obwohl auch diese U-Boot Klasse etwa zehn Jahrehinter den modernsten westlichen U-Booten zur konventionellen Kriegführung auf Seehinterherhinken wird. So kam eine neuere westliche Analyse im Herbst 1998 zum nüchternenErgebnis: "The Chinese Navy submarine force is in the process of stabilising, then increasingits submarine capability. All the Submarine Flotillas will be improved as smaller numbers ofbetter submarines are added. When the Romeos [submarines] are gone by about 2005-2010,the Chinese Navy will have a submarine force capable of confronting and wounding any forcetrying to operate inside the first island chain. Capabilities will expand again from thatbaseline."87

83 Vgl.: Beaver, Paul: China Will Delay Aircraft Carrier, in: JDW, 3.6.1998, S.26.84 So China's First Aircraft Carrier Ready for Service in 2005: Report, AFP, 12.1.2000, die sich auf eine

entsprechende Meldung der unabhängigen chinesischen Zeitung Ming Pao daily beruft(http://taiwansecurity.org/AFP/AFP-0112200-Aircarft-Carrier.htm).

85 Vgl.: Robert, Sae-Liu: Second Song Submarine Vital to China's Huge Programme, JDW, 18.8.1999, S.17.86 Vgl.: Russia Helps China Take New SSBNs into Silent Era, in: JDW, 13.8.1997, S.14.87 Farrer, Mark: Submarine Force in Change – the Peoples Republic of China, in: A-PDR, October-November

1998, S.12-14, hier S.14.

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Trotz der Probleme und objektiven Hindernisse beim Aufbau einer militärisch schlagkräftigenHochseeflotte zu Beginn des 21. Jahrhunderts88 sollte an den machtpolitischen Ambitionender politischen und militärischen Führung Chinas ebenso wenig gezweifelt werden wie an denstrategischen Auswirkungen der chinesischen Rüstungsmodernisierungen in denBedrohungsperzeptionen seiner Nachbarstaaten.

5. Die Rüstungsmodernisierungen bei den Luftwaffenstreitkräften:Militärstrategische Intentionen versus operativ-strategische Fähigkeiten

Auch der chinesische Generalstab hat durch die Lehren des Golf-Krieges von 1991 und imZuge der jüngsten militärischen NATO-Intervention im Kosovo erkannt, dass es der VBA vorallem an der Projizierung weit reichender Luftmacht mangelt. Daher hat sich China mitNachdruck um die Schließung dieser strategisch zentralen Lücke durch den Erwerb modernerrussischer Kampfflugzeuge mit größerer Reichweite (SU-27 und SU-30) und durch dieBeschaffung iranischer sowie israelischer Technologien zur Luftbetankung in den letztenJahren offenbar durchaus erfolgreich bemüht. Zwar verfügt China heute über mehr als 3.500Kampfflugzeuge. Doch die meisten sind völlig veraltet und haben nur eine Reichweite von700-900 km.

Die bisher gelieferten und noch zu liefernden 72 SU-2789 wurden/werden auf der Wuhu-Militärbasis, 270 km ostwärts von Schanghai, auf der Hainan-Insel (als Hauptstützpunkt fürMilitäroperationen im Südchinesischen Meer) und auf weiteren Basen in Südchina sowie einRegiment in Peking disloziert. Mit Ausnahme der auf der Hainan-Insel dislozierten SU-27Kampfflugzeuge mit einer Reichweite von etwa 1.500 km können sie jedoch erst weite Teileder umstrittenen Gebiete der Südchinesischen See und auch Okinawa (wo der größte Teil deramerikanischen Streitkräfte in Japan stationiert ist) dauerhaft kontrollieren, wenn sie überLuftbetankungsmöglichkeiten verfügen. Bis dahin können sie theoretisch nur wenige Minutenüber den Spratly-Inseln operieren, was in einem militärischen Konfliktfall als unzureichendangesehen werden muss. Ob China inzwischen eine solche Technologie über Iran oder Israelerhalten hat, war bis vor kurzem umstritten. 90 Gegenwärtig wird in Israel eine von Russlandgekaufte Il-76 Transportmaschine als Prototyp einer Luftbetankungsmaschine umgebaut.91 Dachinesische Piloten bisher jedoch keine Luftbetankung über hoher See trainiert haben, wird esallerdings einige Jahre dauern, bis sie über diese operative Fähigkeit auch wirklich verfügenwerden. Zudem hat China nach wie vor große Probleme bei der Instandhaltung und bei deroperativen Ausnutzung der erworbenen Technologien auf Grund restriktiverTrainingsvorschriften. So durften die bisher erworbenen 48 SU-27 Kampfflugzeugemonatlich nicht mehr als 10 Stunden geflogen werden und durften dabei auch nicht dieLeistungsgrenze des Kampfflugzeuges austesten. 92 Zwar hatte die chinesische Luftwaffe auf 88 Vgl. hierzu auch: Ahrari, Ehsan: China Naval Forces Look to Extend Their Blue-Water Reach, in: JIR,

April 1998, S.31-36.89 Zur Einschätzung der militärischen Leistungsfähigkeit des Kampfflugzeuges siehe: Fisher, Richard D.:

China's Purchase of Russian Fighters: A Challenge to the U.S., Backgrounder, Asian Studies Center, TheHeritage Foundation, Washington D.C., 31.7.1996.

90 Zur militärischen Technologiekooperation zwischen China und Israel siehe: Shichor, Yitzhak: Israel'sMilitary Transfers to China and Taiwan, in: Survival 1 (Frühling) 1998, S.68-91.

91 Vgl.: Farrer, Mark: China's Air Force – Kosovo Spurs a Race to Change, A-PDR, October-November 1999,S.20-21, hier S.21.

92 Vgl.: Brodie, Jonathan: China Moves to Buy More Russian Aircraft, Warships and Submarines, in: JDW,22.12.1999, S.13.

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Grund dieser restriktiven Trainingsmaßnahmen lediglich zwei Flugzeuge im Betrieb bisherverloren, doch wären die Verluste in einem Konfliktfall wohl umso höher.

Mit Ausnahme der 1992 und 1996 von Russland erworbenen Kampfflugzeuge vom Typ SU-27, von denen 72 gekauft worden sind und weitere 200 über einen Zeitraum von 10-15 Jahrenin Lizenz gefertigt werden sollen93, der (im August 1999 vereinbarten Lieferung von) 40hochmodernen zweisitzigen Mehrkampfflugzeugen vom Typ SU-30 MKK (Reichweite:1600km) im Wert von ca. 2 Milliarden US-Dollar94 und einigen älteren Bombertypen, diejedoch äußerst verwundbar sind, besitzt der Großteil der chinesischen Kampfflugzeuge keineentsprechende Reichweite für eine strategische Kontrolle des Luftraums über den Spratly-Inseln und der Südchinesischen See.95

Auch der auf dem Woody-Island angelegte Flugplatz kann hierfür nur sehr bedingt verwendetwerden. Zwar ist das Flugfeld mit 2,7 km lang genug, um beispielsweise auch die SU-27 dortlanden zu lassen. Aber die Insel ist ansonsten mit 1,88 km2 zu klein, um eine größere Anzahlvon Hangars, Treibstoff-, Munitionsdepots und andere militärische Infrastruktur errichten zukönnen. 96 Nur für Militäroperationen über wenige Tage ist dieser Flugplatz bedingt operativnutzbar, wie chinesische Quellen offen gelegt haben. 97

Allerdings ist die Errichtung von chinesischen Hoheitszeichen und militärisch nutzbarerInfrastruktur auf unbewohnten Inseln im Südchinesischen Meer Bestandteil der "Vorne-Verteidigungsstrategie" ("forward defence"), die militärische Außen- und Horchposten imRahmen des Aufbaus einer "neuen maritimen 'Großen Mauer' Chinas" im SüdchinesischenMeer ausdrücklich vorsieht.98 Während somit die Verteidigung der Spratly-Inseln immilitärischen Konfliktfall weiterhin die chinesischen Streitkräfte vor erhebliche logistischeProbleme stellt, sind Chinas Fähigkeiten zur Verteidigung der Paracel-Inseln, die – imGegensatz zu den Spratlys – in der Reichweite der auf der Hainan-Insel disloziertenKampfflugzeuge liegt, inzwischen deutlich gestiegen. So wurde einerseits die militärischeInfrastruktur weiter ausgebaut und umfasst heute auch einen Hubschrauberlandeplatz und eineKaianlage, an der Kriegsschiffe bis zu einer Größe von Fregatten und Korvetten anlegenkönnen. Mit der Dislozierung von SU-27 Kampfflugzeugen und der neuen Bewaffnung derälteren Bombertypen H-6 mit modernen Anti-Schiffsraketen und Marschflugkörpern vom TypC-601 und den leichteren H-5 Bombern mit C-801 Marschflugkörpern (Reichweite: 50 km)sowie vor allem den beiden hochmodernen Sovremenny-Lenkwaffenzerstörern von Russlandmit ihren jeweils acht überschallschnellen Marschflugkörpern vom Typ SS-N-22 (Reichweite

93 Vgl. auch: Golotyuk, Yurii: Izvestija, 9.6.1999, S.1. Seit 1992 wurden bisher 48 SU-27 geliefert. Die

Produktion der in Lizenz gefertigten SU-72 ist bereits im Sommer 1998 angelaufen, doch nach wie vor miterheblichen Problemen verbunden, da sich beide Seiten noch nicht über den genauen Anteil der weiterhin inRussland produzierten Teile der SU-27 geeinigt haben. Der chinesische Anteil dürfte dennoch bei etwa 70Prozent liegen – vgl. auch: Beijing Builds SU-27 Fighters from Russian Kits, in: JDW, 10.6.1998, S.2.

94 Vgl. hierzu die russischen Quellen: Bulavinov, Ilja: Kommersant-Daily, 6.8.1999, S.3; Kedrov, Ilia:Nezavisimaja gazeta, 27.8.1999, S.1; zu westlichen Quellen siehe: Pomfret, John: Washington Post,9.11.1999.

95 Vgl.: Chang, Felix K.: Beijing's Reach in the South China Sea, in: Orbis 3/1996, S.353-374, hier S.358ff.und Gallagher, Michael G.: China's Illusory Threat to the South China Sea, in: Brown, Michael/Lynn-Jones,Sean M./Miller, Steven (Hrsg.): East Asian Security, Cambridge/Mass.-London 1996, S.133-158, S.138ff.

96 Vgl.: ebda.97 Vgl. den Auszug aus einer Hong Konger Zeitung, zusammengefasst bei: Downing, John: China's Evolving

Maritime Strategy, Part 2, hier S.189.98 Siehe: ebda, hier S.190.

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bis 120 km) wird jedoch die militärische Schlagkraft in den nächsten Jahren trotz vielerStrukturprobleme signifikant steigen. 99

Die Modernisierungsanstrengungen bei den chinesischen Seestreitkräften beschränken sichkeineswegs allein auf die Hardware. So wurden nach Angaben der chinesischen Militärpressein den letzten fünf Jahren nicht weniger als 37 neue Flugplätze und 100 Kommandoposten,Operationsbüros und Luftkontrollzentren der Luftstreitkräfte für eine "regionale Kriegführungunter High-Tech-Bedingungen" neu errichtet.100 Auch die Modernisierung und Entwicklungeigener Kampfflugzeuge – wie der Kampfbomber JH-7/FBC-1, das J-12Langstreckenkampfflugzeug (vergleichbar der amerikanischen F-15, die jedoch kaum vordem Jahr 2015 im Dienst sein wird) und das Jagdflugzeug J-10 (vergleichbar deramerikanischen F-16; die in etwa zwei Jahren in Produktion gehen soll).101 Dennoch werdennoch einige Jahre vergehen, bis China diese für sie hochkomplexen Waffensysteme selbstproduzieren und vor allem auch wirklich voll operativ einsetzen kann. An den entsprechendenAmbitionen zum Aufbau einer den Nachbarstaaten weit überlegenen und zunehmend offensivnutzbaren Luftstreitmacht sollte jedoch nicht gezweifelt werden. 102 So wird China zwar fürdas Jahr 2010 mit etwa 1.000-1.350 Kampfflugzeugen eine wesentlich geringere Anzahl imArsenal als gegenwärtig verfügen. Doch wird sich diese Anzahl aus ca. 350 modernenrussischen Flanker-Varianten (SU-27 und SU-30), 300-500 F-10, 200-300 J-8 und über 100FB-7 Kampfflugzeugen sowie eine entsprechende Anzahl von Tankflugzeugen, AWAC-Maschinen103 und maritimen Patroullienflugzeugen zusammensetzen und damit überwesentlich – und vor allem auch offensiv – schlagkräftigere Luftstreitkräfte verfügen. 104

Vor diesem Hintergrund kann konstatiert werden, dass sich zwar in den nächsten 10 Jahrendas regionale militärische Gleichgewicht auch gegenüber Taiwan und den USA zumindest beiden offensiven Luftstreitkräften nicht dramatisch verändern wird, da die große Mehrheit derüber 2.500 Kampfflugzeuge veraltet ist. Dennoch kann eine graduelle und kontinuierlicheVerschiebung des militärischen Gleichgewichts bei den Luftstreitkräften im regionalen

99 Vgl. u.a.: Klintworth, Gary: The Chinese Navy to Get Some Big Guns, at Last; Young, Peter Lewis: The

South China Sea: Conflict to Occur or Conflict Averted?, in: ADJ 5/1997, S.17-19, hier S.18 und Flamm,Don: Impact of China's Military Modernization in the Pacific Region, in: ADJ 2/1997, S.16-21, hier S.18f.

100 Vgl.: South China Morning Post, 17.4.1999.101 Vgl.: First Flight for F-10 paves Way for Production, in: JDW, 27.5.1998, S.17; Gause, Ken: PLAAF

Continues to Modernize at a Slow Yet Steady Pace, JIR, June 1998, S.38-43; China Plans Progress WhileOthers Look On, JDW, 18.2.1998, S.22, 24-26 und Fisher, Richard D.: Heritage Report on China's 1998Zuhai Air Show – Part II: Aircraft, Electronic and Advanced Military Systems(via Internet: http://www.herítage.org/exclusive/zhuhai/part2.html).

102 Vgl. auch: Pomfret, John: Washington Post, 9.11.1999, S.A17.103 Ein Prototyp eines modernen, mit dem AWAC-System zur Luftraumüberwachung und Führung von

Luftstreitkräften vergleichbaren Flugzeuges wird derzeit in Israel auf der Basis eines russischen Il-76Transportflugzeuges und des elektronischen Frühwarnsystems Phalcon für China gebaut. Dies hat zumassiven Protesten Washingtons geführt, da dies für die chinesischen Luftstreitkräfte einen erheblichenModernisierungsschub bedeuten würde, der sich in erhöhten militärischen Fähigkeiten niederschlagenkönnte. Zudem liefert Israel auch andere hochmoderne Rüstungstechnik an China. Israel möchte neben demim Bau befindlichen Prototyp noch drei weitere derartige Frühwarnflugzeuge an Peking liefern – vgl.: OrneJr, William A.: New York Times, 2.12.1999; Rodan, Steve: Israel Urging China to Buying more AEWSystems, in: JDW, 24.11.1999, S.20; Myers, Steven Lee: IHT, 12.11.1999, S.1 und 8 sowie Ulfkotte, Udo:FAZ, 27.10.1998, S.16.

104 Vgl.: Farrer, Mark: China's Air Force, hier S.21.

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Maßstab nicht länger ausgeschlossen werden. 105 Dies gilt vor allem dann, wenn diechinesische Luftwaffe zukünftig auch über eine größere Anzahl als die bisher gelieferten 40hochmodernen Kampfflugzeuge des Typs SU-30MKK verfügen wird, die Russland bisher nuran Indien geliefert hat.106 Gegenwärtig verhandelt China mit Russland über weitereRüstungskäufe im Rahmen des nächsten 5-Jahresplans zur Stärkung der eigenenVerteidigungsfähigkeit, der mit dem Jahr 2001 beginnen wird. Neben dem Kauf von 2-3weiteren U-Booten der Kilo-Klasse und ebenfalls 2-3 weiteren Raketenzerstörern derSovremenny-Klasse, die möglicherweise sogar mit dem Marschflugkörper "Yakhont" überdie modernste Anti-Schiffs-Rakete der Welt (Reichweite 120-300km) verfügen wird, sollenauch weitere 40 Kampfflugzeuge vom Typ SU-30MK beschafft werden. 107

Die Erringung und Behauptung strategischer Luftüberlegenheit ist jedenfalls eine wesentlicheVoraussetzung für erfolgreiche maritime Operationen in der Südchinesischen See oder eineInvasion in Taiwan. 108 Da diese trotz der graduellen Verschiebungen des Kräfteverhältnissesbei den Luftstreitkräften zumindest bis zum Jahr 2005 kaum gegeben ist, sehen auchchinesische Militärexperten in den nächsten Jahren kaum eine realistische Möglichkeit,militärisch erfolgreiche Invasionen in Taiwan durchzuführen. 109 Dies bildete u.a. auch in demschon erwähnten, in China 1993 von Militärexperten publizierten und 1995 in Hong Kongnachgedruckten Buch, "Kann China den nächsten Krieg gewinnen?", eine wesentlicheSchlussfolgerung. 110 Allerdings ist der massive chinesische Militäreinsatz (Raketentests,Übungen amphibischer Landungen und Erprobung von Seeblockaden) wie in der Taiwankrise1995-96 Teil einer umfassenden psychologischen Kriegsführungsstrategie Pekings und zieltdaher wahrscheinlich ohnehin primär auf die Psychologie der Bevölkerung, die Medien unddie Börsenkurse in Taiwan ab.111 Die einzig wirklich realistischen Militäroptionen Pekingsgegenüber Taiwan bilden derzeit nur der Einsatz ballistischer Raketen mit möglicherweisenABC-Sprengköpfen112, deren Treffgenauigkeit in den letzten Jahren erheblich verbessert

105 Vgl.: die Studie von Allen, Kenneth W./Krumel, Glenn/Krumel, Jonathan D.: China's Airforce Enters the

21st Century, RAND, Santa Monica, 1995; Chang, Felix K.: Beijing's Reach in the South China Sea undGause, Ken: PLAAF Continues to Modernize at A Slow Yet Steady Pace, in: JIR, June 1998, S.38-43.

106 Vgl.: With SU-30s, China Would Pose Greater Threat to Taiwan, AFP, 22.6.1999 und RFE/RL DailyNewsline, 19.2.1999, Pomfret, John: IHT, 21.-22.11.1998, S.1 und 4.

107 Vgl.: Brodie, Jonathan: China Moves to Buy More Russian Aircraft, Warships and Submarines. Zur Anti-Schiffsrakete "Yakhont" siehe: Novichkov, Nikolai: Yakhont Production to be Launched in 2001, JDW,13.10.1999, S.13.

108 Vgl. auch: Chang, Felix K.: Beijing's Reach in the South China Sea, hier S.356.109 Zu westlichen Analysen, die ebenfalls zumeist skeptisch sind gegenüber einer derartigen chinesischen

Option gegenüber Taiwan siehe: Yu, Peter Kien-hong (Hrsg.): The Chinese PLA's Perception of anInvasion of Taiwan, New York 1996; ders.: Taking Taiwan, in: JIR, September 1998, S.29-33; Boyne,Sean: Taiwan's Troubles, in: ebda, S.25-28; Austin, Greg: Missile Diplomacy and Taiwan's Future:Innovations in Politics and Military Power (Canberra Papers on Strategy and Defence No.22), Canberra1997 und Godwin, Paul H.B.: Uncertainty, Insecurity, and China's Military Power, in: Current History,September 1997, S.252-257, hier S.255f. Zu den politischen Aspekten des Konflikts siehe: Cheng, Tun-jen/Huang, Chi/Wu, Samuel S. G.: Inherited Rivalry. Conflict Across the Taiwan Straits, Boulder, Col.-London 1995.

110 Zu Auszügen aus dem Buch siehe: Munro, Ross H.: Eavesdropping on the Chinese Military: Where ItExpects War – Where It Doesn't, in: Orbis, Summer 1994, S.233-372; Incapable of Invading Taiwan Now.A Chinese Assessment, in: Impact 21, July 1996, S.14 und Susumi, Yabuki: Pekings Außenpolitikverstehen, in: Japan Echo, Frühling 1996, S.39-43.

111 Vgl.: Gilley, Bruce: Operation Mind Games, in: FEER, 28.5.1998, S.31-32.112 Offiziell hat Peking allerdings zumindest den Einsatz von Nuklearwaffen gegen Taiwan ausgeschlossen.

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wurde113, und die chinesische U-Boot Bedrohung in Form einer Seeblockade Taiwans. Gegendiese beiden Militäroptionen hat Taiwan derzeit so gut wie keine effektiven militärischenGegenmittel114, versucht aber mittels eigener Rüstungsanstrengungen (Kauf fremder oder Baueigener U-Boote sowie Studien zur Möglichkeit einer "Theater Missile Defense"/TMD undden Erwerb derartiger Technologien) auch diese zunehmende militärische Bedrohung seinerSicherheit zukünftig durch Erhöhung der eigenen Abschreckungsoptionen zu begegnen. DieUSA haben inzwischen offenbar zugestimmt, vier 8.000 t-Raketenzerstörer der Aegis-Klasse(über die bisher nur die USA und Japan verfügen) mit einem Kaufwert von 4,8 MilliardenDollar an Taiwan zu liefern. 115 Diese könnten dann als seegestützte Plattform einer "TheaterMissile Defense" Taiwans dienen.

6. Die Auswirkungen des Kosovo-Kriegs – Wendepunkt chinesischer Außen-und Sicherheitspolitik?

Im Kontext des traditionellen chinesischen "Unter- und Überlegenheits-Paradigmas" als Teilseiner "strategischen Sicherheitskultur" ("strategic culture") hat die tragische Bombardierungder chinesischen Botschaft in Belgrad am 7. Mai 1999 durch die NATO-Luftstreitkräfte nichtnur zu einer (zeitweisen) Pekinger Blockadepolitik im UN-Sicherheitsrat hinsichtlich einerpolitischen Friedenslösung des Kosovo-Konfliktes geführt, sondern auch zu einer lebhaftenDiskussion über die Richtung und Strategie der zukünftigen Außen-, Sicherheits- sowieVerteid igungspolitik der Volksrepublik.116

Aus offizieller Sicht Pekings handelte es sich nicht um eine unbeabsichtigte Bombardierungder Botschaft durch die USA, sondern um eine "mutwillige, gewalttätige undvölkerrechtswidrige" Aktion des "amerikanischen Imperialismus". Während sich Chinawährend des Kosovo-Konfliktes als "Schutzmacht des Friedens" zu etablieren suchte117,verlangte es demonstrativ von der NATO und den USA eine offizielle Entschuldigung undeine detaillierte Aufklärung des Zwischenfalls sowie Bestrafung der Verantwortlichen. Auchnach der Reise des amerikanischen Staatsekretärs Thomas Pickering nach Peking, die vonSeiten der chinesischen Führung als "nicht überzeugend" und "ungenügend" gewertet wurde,hält die politische Führung Chinas offensichtlich an ihrer offiziellen Verschwörungstheoriefest.118 Dies kommt den eigenen nationalistischen Stimmungen119 ebenso entgegen wie der

113 Dies bildete eine wesentliche Erkenntnis der Auswertung der chinesischen Manöver und Raketentests vor

der Küste Taiwans 1995-96 – siehe: Gerardi, Greg/Fisher Jr., Richard: China's Missile Tests Show MoreMuscle, in: JIR, March 1997, S.125-129; Shimauchi, Tetsuya: Tensions in the Taiwan Strait and theSecurity of the Asia-Pacific Region, IIPS Policy Paper 166E, Tokio, February 1997, Rappai, M.V.: ChineseMilitary Exercises: A Study, in: Strategic Analysis, November 1996, S.1119-1131 und McVadon, Eric A.:Chinese Exercises, Doctrine and Tactics Toward Taiwan, PacNet-Newsletter Nr.48, 6.12.1996.

114 Vgl. auch: Baum, Julian: Defence Dilemma, in: FEER, 28.5.1998, S.33.115 Vgl.: US to Sell Four Destroyers to Taiwan: Official, Agence France Press, 8.1.2000.116 Vgl. auch: Kynge, James: FT, 12.5.1999, S.8.117 Vgl.: Neue Züricher Zeitung (NZZ), 12.-13.6.1999, S.2.118 Vgl.: Laris, Michael: IHT, 18.6.1999, S.1 und 4; FAZ, 18.6.1999, S.2 und Liu, Melinda/Pappas, Leslie:

How Low Would He Bow?, in: Newsweek International, 28.6.1999.119 So war bereits vor der NATO-Intervention im Kosovo eine zunehmende innenpolitische Kritik an der

Innen-, Wirtschafts- und Außenpolitik von Ministerpräsident Zhu Rongji erkennbar – siehe auch: Craig S.Smith: Wall Street Journal Europe (WSJE), 21.-22.5.1999, S.30.

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Verknüpfung mit westlichen Kompromissen bei Fragen des WTO-Beitrittes Chinas oderanderen strittigen Themen. 120

Die innenpolitischen Diskussionen über die zukünftige Außen- und Sicherheitspolitik wurdenallerdings bereits vor der militärischen Intervention der NATO im Kosovo-Konflikt durchanhaltende Kontroversen über Menschenrechts- und Proliferationsfragen, WashingtonsTaiwanpolitik, eine illegale Wahlkampfgeldaffäre (in die der Geheimdienst der VBAverwickelt ist121) ausgelöst und müssen so vor allem im Zusammenhang mit derVerschlechterung der amerikanisch-chinesischen Beziehungen im Jahr 1998 gesehen werden.Aus Sicht Chinas betreiben die USA eine globale Eindämmungspolitik gegenüber Peking,welche die Verhinderung des Aufstiegs Chinas zu einer Weltmacht zum Ziel hat.Dementsprechend waren sowohl die Bombardierung der chinesischen Botschaft als auch derCox-Report eines Sonderausschusses des US-Repräsentantenhauses, der detailliertchinesische Atom- und Militärspionageaktivitäten in amerikanischen Waffenlabors(einschließlich für die US-Nuklearstreitkräfte) belegt122, ein Instrument jenerEindämmungspolitik Washingtons. Des Weiteren stellt aus Sicht Pekings dieMilitärintervention der NATO und der USA im Kosovo-Konflikt einen gefährlichenPräzedenzfall dar.123 So könnten zukünftig die USA unilateral ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrates, indem Peking ein Veto-Recht besitzt, auch die nationale Souveränität Chinasin Frage stellen und politisch oder gar militärisch Partei für abtrünnige und nachSelbstbestimmung strebende Teile der Volksrepublik ergreifen. Insofern gelten Taiwan,Xinjiang oder Tibet als potenzielle Einfalltore neuer Interventionen durch imperialistischeMächte. Daher bilden für Peking der Respekt für die nationale Souveränität und das Gebot derNichteinmischung in innere Angelegenheiten weiterhin zentrale Bestandteile ihrer Außen-und Sicherheitspolitik. So wurden bereits in den letzten Jahren sowohl die Osterweiterung derNATO als auch die Stärkung der amerikanisch-japanischen Sicherheitsallianz (die inchinesischer Sicht zu einer Art "Ostasiatischer NATO" mutiert ist124) sowie ihre konkreteOperationalisierung in Form neuer Verteidigungsrichtlinien für die japanischenSelbstverteidigungsstreitkräfte und einer gemeinsamen Verteidigung gegen ballistischeFlugkörper (Theater Missile Defense oder TMD) als eine hegemoniale Globalstrategie (auchals "Two Ocean Strategy" betitelt125) der USA gewertet, die konkret gegen China gerichtet seiund daher als potenzielle Bedrohung gewertet werden müsse.126 Die Annahme der

120 Vgl.: Laris, Michael: IHT, 17.6.1999, S.1 and Harding, James/Fidler, Steven: FT, 12.5.1999, S.1.121 Wie inzwischen der Mittelsmann Johnny Chung am 11.5.1999 gegenüber einem Komitee des US-

Kongresses zugab, wurden vom Chef des militärischen Geheimdienstes Chinas für die Wiederwahl Clintonsbeim Präsidentschaftswahlkampf 1996 $ 300.000 der Clinton-Administration zur Verfügung gestellt – vgl.:Lawrence, Susan V.: Double-Edged Fury, in: FEER, 20.5.1999, S.10-13, hier S.12.

122 Während die chinesischen Spionageaktitvitäten in den amerikanischen Waffenlabors, vor allem in LosAlamos und Sandia in New Mexico sowie im kalifornischen Lawrence Livermore (darunter die Daten vonUS-Nuklearsprengköpfen, einschl. der modernsten Version W-88), inzwischen viel weniger umstritten sind,konzentriert sich die amerikanische Kritik an dem Cox-Report zunehmend vor allem auf die Fragen,inwieweit China wirklich so ohne weiteres von dem Datendiebstahl für die Modernisierung seiner eigenenNuklearstreitkräfte profitieren und diese beschleunigen kann – vgl.: Norris, Robert S.: Los Angeles Times,30. Mai 1999; Weiner, Tim: IHT, 27.5.1999, S.11; Lewis, Flora: ebda, 18.6.1999, S.8 und McGeary,Johanna: The Next Cold War?, in: Time, 7.6.1999.

123 Vgl. auch: Thielbeer, Siegfried: FAZ, 14.6.1999, S.6.124 Vgl.: Beijing Wary of East Asian NATO Threat, in: South China Morning Post, 31.5.1999.125 So z.B. in dem Artikel Pretexts and Options of America's New Global Strategy, in: (der bekannten

Wochenzeitschrift) Liaowang – wieder gegeben in: NAPSNET, Special Report, 19.5.1999, S.1.

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Gesetzesvorlagen für die neuen japanischen Verteidigungsrichtlinien kommentiertenbeispielsweise zwei chinesische Experten mit den Worten: "Die Neuen Gesetzesvorlagenhaben Japan an den US-Streitwagen angebunden und es für Japan möglich gemacht,gemeinsam mit den USA auf See zu kämpfen. Zusammen mit der Osterweiterung der NATObilden sie die beiden Hauptteile der globalen US-Sicherheitsstrategie nach dem Kalten Krieg.In Europa haben sich die USA mit der Europäischen Union verbunden, um Russland inSchranken zu halten; während sie sich in Asien mit Japan zusammengetan haben, um Chinazu bändigen. Die USA haben eine Doppelstrategie gegenüber Russland und Chinaübernommen. ... Die US-Sicherheitsstrategie in der Asiatisch-Pazifischen Region wird durchmilitärische Existenz unterstützt, die sich um die Japan-US-Union konzentriert, aufmilitärischer Einschüchterung gegründet ist, durch Mittelsmänner ausgeführt und durchmultipolarisierte Dialoge ergänzt wird. Das Endziel ist es, die Siche rheitssituation derAsiatisch-Pazifischen Region zu dominieren und den Aufstieg einer zukünftigen Großmachtin Schranken zu halten."127

Mit der Bombardierung der chinesischen Botschaft schlug nun eine sich schon seit längeremaufgestaute Frustration in China gegenüber den USA in eine offene anti-amerikanische undanti-westliche Stimmung mit stark nationalistisch gefärbten Untertönen um. Insofern ist dieheftige rhetorische Reaktion Chinas auf die Bombardierung der chinesischen Botschaft inBelgrad durch die NATO kein wirklicher Wendepunkt in den bilateralen Beziehungen mitden USA und dem Westen, sondern lediglich ein weiterer Kristallationspunkt für zunehmendenationalistische Strömungen in China. Dies macht einmal mehr deutlich, wie unterschiedlichder Westen und China die zukünftige Weltordnung betrachten. Dennoch sind beide Seitennicht zuletzt auf Grund der zunehmenden wirtschaftlichen Interdependenz aufeinanderangewiesen und so zumindest zu einem Mindestmaß an Kooperation gezwungen.

Gleichzeitig hat der Kosovo-Krieg der chinesischen Führung jedoch auch ihre eigeneMachtlosigkeit vor Augen geführt, da sie in vielerlei Hinsicht eher die eigene Schwäche alsStärke offen legte.128 Zudem scheint die Kriegführung der NATO im Kosovo der chinesischenMilitärführung – ähnlich wie beim Golf-Krieg 1990/91 – erneut die technologischeRückständigkeit ihrer eigenen Streitkräfte vor Augen geführt zu haben – zu einer Zeit, wo inder chinesischen Bedrohungsperzeption die NATO bis an die Grenzen des Reichs der Mitteheranzurücken beginnt (gemeinsame Aktivitäten von NATO und den zentralasiatischenStaaten im Rahmen der Kooperationsprogramme von "Partnerschaft für den Frieden") und woweiteres chinesisches Säbelrasseln in der Taiwanstraße wie 1995-96 auch für die naheZukunft aus Sicht Pekings keineswegs ausgeschlossen werden kann. Die Überlegenheit derwestlichen Streitkräfte und ihrer Militärtechnologie könnte aus dieser Perspektive sogar eherabschreckend wirken und viele chinesische Militärs an der Glaubwürdigkeit einer eigenen"Raketen- und Kanonendiplomatie" eher zweifeln lassen.

126 Vgl. hierzu u.a.: Mei, Zhaorong (Präsident des Instituts des Chinesischen Volkes für Auswärtige

Angelegenheiten), Entwicklung und Frieden in Asien-Pazifik, in: Europäische Sicherheit 3/1999, S.31f.,hier S.31. Zum Hintergrund siehe auch Umbach, Frank: The Future of the U.S.-Japanese Security Alliance,in: Mols, Manfred/Dosch, Joern (Eds.), International Relations in the Asia-Pacific. New Patterns of Interest,Power and Cooperation, 50 S. (im LIT-Verlag in Vorbereitung) und ders.: World Gets Wise to Pyongyang'sNuclear Blackmail – Part Two, S.37ff (siehe FN7).

127 Xu, Zhixian/Yang, Bojiang: Neue Gesetzesvorlagen – ein historischer Rückschritt, in: Beijing Rundschau24/1999, S.13-14, hier S.13.

128 Vgl. auch: Segal, Gerald: IHT, 26.5.1999, S.12.

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Während so auf beiden Seiten die Hoffnungen auf eine "konstruktive strategischePartnerschaft" im 21. Jahrhundert erst einmal verflogen sind, versuchen gleichzeitigpragmatische politische Kräfte in Washington und Peking einer zunehmendenKonfrontationspolitik entgegenzuwirken. Sie suchen gegenwärtig eine für die Zukunftrealistischere bilaterale Außen- und Sicherheitspolitik, welche die beiderseitigenWirtschaftsinteressen (so wurden im Zeitraum 1979-98 nicht weniger als 21 Milliarden US-Dollar investiert) nicht allein auf dem Altar einer sicherheitspolitisch begründetenstrategischen Rivalität zu opfern sucht, zu initiieren. 129 Dennoch kann angenommen werden,dass zwar einerseits Formen des Dialogs und der Kooperation aufrechterhalten werden, dassandererseits aber auf Grund der jüngsten chinesischen Bedrohungsperzeptionen graduelleVerschiebungen auf der Achse von Kooperation und Konfrontation erfolgen könnten. Sowurden insbesondere von konservativen Hardlinern in Peking die folgenden Optionen eines"neuen chinesischen Sicherheitskonzeptes" propagiert:

− Ausbau der Beziehungen der Volksrepublik mit Russland, Indien und Nordkorea, die aucheine weitere Stärkung der militärpolitischen und militärtechnologischen Zusammenarbeitvorsieht.130

− Forcierung der eigenen Rüstungsanstrengungen, insbesondere der Luft- undSeestreitkräfte, bevor die USA die Kontrolle über chinesische Grenz- und Küstenregionenübernehmen. Ein militärischer Experte, Zhang Wenmu, konstatierte in der Zeitung"Guangzhou Daily": "If China cannot build up a comparative advantage in the air, sea andbeyond, it could once again lose control of sovereignty over Taiwan, the Spratly Islands aswell as Tibet and Xinjiang."131

− Wiederaufnahme des Exports von Massenvernichtungswaffen und relevanterTechnologien. 132

− Stärkung der Beziehungen zu Nicht-NATO-Ländern und den "Tauben" von NATO-Mitgliedsstaaten. 133

− Modifizierungen der chinesischen Militärstrategie: Danach soll sich Peking nicht längernur auf einen "begrenzten Krieg unter Hightech Bedingungen", sondern auf einen"(totalen) Krieg unter High-Tech-Bedingungen" vorbereiten. 134

Auffallend war bei derartigen Vorschlägen vor allem, dass Repräsentanten der Streitkräftebesonders häufig entsprechende politische und militärische Gegenmaßnahmen auf die"Provokationen" der USA forderten. Dies wird insbesondere dann verständlich, als dieStreitkräfte mit der Erhöhung des Verteidigungshaushaltes 1999 um 15,01 Prozent gegenüber1998135 – wie bereits angeführt – ohnehin unzufrieden sind.136 Die Bombardierung der

129 Vgl. auch: Gilley, Bruce, u.a.: Uneasy Together, in: FEER, 17.6.1999, S.10-12 und Ching, Frank: China

Keeps Open Policies, in: ebda, S.36.130 Vgl. auch: Lawrence, Susan V.: Brave New World, in: FEER, 17.6.1999, S.13-14.131 Zit. nach: Richardson, Michael: IHT, 28.5.1999, S.1 und 7, hier S.7.132 Pomfret, John: IHT, 12.-13.6.1999, S.1 und 4.133 Vgl.: Lam, Willy Wo-lap: South China Morning Post, 10.6.1999.134 Zit. nach: Montagnon, Peter/Kynge, James: FT, 26.5.1999, S.15.135 Vgl.: Karniol, Robert: China's Defence Budget is Increased Again, in: JDW, 17.3.1999, S.15.136 Vgl. zur Erhöhung des chinesischen Verteidigungshaushaltes: Karniol, Robert: China's Defence Budget is

Increased Again, in: Jane's Defence Weekly (JDW), 17.3.1999, S.15 und Mainland Military ExpendituresShow Sustained Increase, in: Inside Mainland China, June 1999, S.35-38. Zur Unzufriedenheit derchinesischen Militärelite mit der Erhöhung der Verteidigungsausgaben siehe: Military Pressures Jiang and

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chinesischen Botschaft durch die NATO lieferte nun insofern neue innenpolitische Munitionfür die Durchsetzung ihrer Forderungen. Dies blieb nicht ohne Wirkung. Bereits unmittelbarnach der Bombardierung der chinesischen Botschaft versprach Präsident Jiang Zemin einekontinuierliche Stärkung der nationalen Verteidigungsfähigkeiten. Zugleich fandenzusätzliche Militärmanöver statt. Vertreter des chinesischen Generalstabes betonten, dassdiese Übungen vor allem gegen einen von den USA initiierten High-Tech-Krieg unterbesonderer Berücksichtigung strategischer Luftangriffe mit weit reichenden und zielgenauenPräzisionswaffensystemen (wie Marschflugkörper, lasergesteuerten Bomben, weit reichendenÜberwachungsflugzeugen des Aggressors) gerichtet sein müssten. 137 Der StellvertretendeVorsitzende der Zentralen Militärmission, Zhang Wannian, erklärte für das Militär und sichdabei auch an die eigene politische Führung wendend: "With the US implementinginternational hegemonism and gunboat diplomacy, it is impossible to normalize relationsbetween China and the U.S. It is impractical for China and the US to establish a constructivestrategic partnership, and we will not be controlled by America's strategy of hegemonytowards China. Early on, back at the beginning of the 1990's, as well as the spring of 1996,the Chinese government openly stated that the existence of China and the US des not dependon mutual interdependence. The entire military has never had unrealistic expectationsconcerning US policy towards China. To the contrary, the entire military has staunchlyopposed US hegemonism, power policitics, and gunboat diplomacy, and considers UShegemoism as Public Enemy Nr.1."138

Auch Generalstabschef Fu Quanyou forderte am 10. Juni konkrete Vorbereitungen seinesLandes auf eine mögliche militärische Konfrontation mit den USA: "We must base ourselvesin fighting for victory in a limited-scale war under modern conditions, especially high-techconditions. We must prepare ourselves in fighting for victory against American hegemonistmilitary intimidation and attacks in the Taiwan Strait, in a modern air and naval war. We mustprepare to defeat the Japanese-American alliance in a modern war when it issues a naval andair attack upon China. We must prepare for a nuclear struggle in which we will meet theaggressive nuclear attacks of the American hegemonists with a strategic nuclearcounterattack. We must prepare in terms of ideology, organization, mobilization, and powerto fight World War Three."139

Vor diesem Hintergrund müsse sich China auf einen dreidimensionalen Krieg, auch unterBerücksichtigung des Einsatzes von Nuklearwaffen, mit den USA vorbereiten. Dieser könneeine, mehrere Wochen oder sogar Monate dauern, wie er des Weiteren erklärte.140 Darüberhinaus wurde ein "International Strategy Research Office" am Xishan Command Center fürmilitärische Haupquartiere ins Leben gerufen, das sich dem Studium von Strategien gegenAmerika und die NATO widmen soll. Dieses soll mit mehr als 80 militärischen Experten fürdie USA und Europa aus den Außen- und Verteidigungsministerien, der Nationalen

Zhu to Increase Military Spending, in: ebda, S.39-43 und vor allem: Lawrence, Susan V./Gilley, Bruce:Bitter Ha rvest, in: FEER, 29.4.1999, S.22-26.

137 Siehe: die Auszüge aus dem Artikel von Yi, Ran: in der Hong Konger Zeitung "The Mirror", 29.6.1999,S.28f., wieder gegeben: PLA Mounts Anti-Hegemony Exercises, Breakthroughs in Lethal WeaponsImminent, in: Inside China Mainland, August 1999, S.43-45. Siehe auch: Kynge, James: FT, 5.5.1999, S.1.

138 Zit. nach: dem Artikel von: Li, Zijing: Cheng, Ming: Hongkong, Juni 1999, S.15-17, wieder gegeben: Whythe PLA Has Taken a High Profile, in: Inside China Mainland, September 1999, S.39-42, hier S.41.

139 Zit. nach dem Artikel von Luo, Bing/Cheng, Ming: Hong Kong, Juli 1999, S.10-11, wieder gegeben: NewTrends in the PLA, in: Inside China Today, September 1999, S.29-33, hier S.32.

140 Vgl.: Li, Zijing: Cheng, Ming, Hongkong: Juni 1999, S.15-17, wieder gegeben: Why the PLA Has Taken aHigh Profile, S.41f.

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Verteid igungsuniversität, dem Forschungsbüro des Staatsrats und der Chinesischen Akademiefür Sozialwissenschaften entsprechende Geheimdienstberichte, politische Strategien undEmpfehlungen dem ZK, dem Staatsrat und der Zentralen Militärkommission unterbreiten. 141

Während einerseits die Kriegführung der USA und der NATO im Kosovo die militärischeFührung Chinas erneut schockte, da diese über große Distanz ohne jegliche Eigenverlusteerfolgte, zeigen sich chinesische Experten andererseits aber auch zuversichtlich, dass dieseArt der Kriegführung in Asien kaum möglich sei. Dafür sei China zu groß, militärisch vielstärker und verfüge vor allem auch über Nuklearwaffen. Daher würden sich für China völligandere Militäroptionen als Serbien ergeben, falls die USA eine entsprechende Aggressiongegen China starteten. 142

Während so kein einhelliger Konsens hinsichtlich der konkreten politischen und militärischenStrategie der USA in Asien und gegenüber China bei den Pekinger Experten bestehen, sohatte das chinesische Politbüro noch im gleichen Monat der NATO-Bombardierung derchinesischen Botschaft, am 25. Mai 1999, zusätzliche Verteidigungsausgaben beschlossen.Nach einer Hongkonger Quelle sollten noch 1999 20 Milliarden Rmb aus dem Etat für großeInfrastrukturprojekte für neue Verteidigungsprojekte zur Verfügung stehen. Bis zum Jahr2003 soll sich diese Summe auf insgesamt sogar 100 Milliarden Rmb belaufen. Darüberhinaus soll der Staatsrat weitere 80 Milliarden Rmb zur Beschaffung neuer konventionellerHigh-Tech-Waffensysteme sowie neuer strategischer und taktischer Nuklearwaffen bewilligthaben. Demnach hätte der Verteidigungshaushalt für 1999 nicht – wie ursprünglichvorgesehen – 115,2 Milliarden Rmb (1998: 92 Mrd. Rmb), sondern nach der Bewilligung derzusätzlichen Finanzmittel nicht weniger als 215, 2 Milliarden Rmb betragen. 143 Diesedrastische Erhöhung des Verteidigungshaushalts im Allgemeinen und bei den militärischenBeschaffungen im Besonderen ebnete u.a. den Weg zum Kauf von 40 hochmodernenrussischen Kampfflugzeugen des Typs SU-30 MK im August 1999.

7. Zusammenfassung und Perspektiven

Die Militärreformen und die Modernisierung der chinesischen Streitkräfte seit Dezember1985 hatten zunächst keine Priorität der Staatsführung, die sie nur als Letzte der vierModernisierungen betrachtete. Stattdessen konzentrierte sich die Staatsführung vor allem aufdie Wirtschaftsreformen. Dementsprechend verlief die Reform der VBA zunächst eherlangsam und schleppend. Seit Ende der 80er-Jahre und mehr noch seit dem Ende des KaltenKrieges ist jedoch eine schnellere Modernisierung der chinesischen Streitkräfte zubeobachten. Vor allem der Golf-Krieg 1990/91, die ungelöste und sich zuspitzendeTaiwanfrage sowie die historisch tradierten Territorialkonflikte im Südchinesischen Meer undnicht zuletzt eine zunehmende Bedrohungsperzeption durch die USA haben seit Anfang der90er-Jahre zu größeren Anstrengungen beim Umbau der Streitkräfte beigetragen. Seit etwa1995 hat sich diese Dynamik der Stärkung der chinesischen Verteidigungskraft noch durchmehrere spektakuläre Rüstungskäufe vor allem aus Russland zusätzlich verschärft.

141 Vgl.: Luo, Bing/Cheng, Ming: Hong Kong, Juli 1999, S.10-11, wieder gegeben: New Trends in the PLA,

S.29f.142 Vgl.: Lawrence, Susan V.: Doctrine of Deterrence, in: FEER, 14.10.1999, S.26f., hier S.26.143 Vgl. die Auszüge des Artikels von: Jing, Ren in "Trend", Hong Kong, Juni 1999, S.16-17, wieder gegeben:

An Additional Rmb 180 Billion for the Military, in: Inside China Mainland, September 1999, S.34-36, hierS.35f.

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In jüngster Zeit nutzte vor allem die chinesische Militärführung das Instrument eineschinesischen Patriotismus und Nationalismus, um zusätzliche Rüstungsressourcen von derzivilen Staatsführung zu erhalten, wie dies insbesondere auch während und nach derBombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad durch die NATO am 7. Mai 1999deutlich zu konstatieren ist. Gleichzeitig hat die Staats- und Parteiführung unter Jiang Zeminmit dem Nationalen Verteidigungsgesetz von 1997 und der Trennung der VBA von ihrenkommerziellen Unternehmen im Jahr 1998 versucht, den Primat der Politik wieder zu stärken– ohne damit jedoch bisher eindeutigen Erfolg verbuchen zu können.

Die politischen Konflikte mit den USA, Taiwan, Japan und die ungelösten Territorialkonflikteim Südchinesischen Meer sowie das latente Sezessions- und Unabhängigkeitsbestreben inSinkiang und Tibet werden den Streitkräften auch in Zukunft sowohl in der Innen- als auchAußenpolitik eine wichtige Rolle bei der Verteidigung und Wahrung der staatlichenSouveränität zukommen lassen. Diese größere Rolle der VBA könnte noch durchneuentstehende Probleme beim sozio-ökonomischen Transformation und bei derNotwendigkeit der Beschleunigung politischer Reformen in den nächsten Jahren zusätzlichakzentuiert werden.

Der chinesische Großmachtanspruch steht allerdings noch weit gehend auf tönernen Füßen.Anspruch und Wirklich klaffen sowohl auf politischem, ökonomischen und militärischenGebiet weiterhin auffällig auseinander.144 Dennoch hat es China dank geschickter Diplomatievermocht, dass sowohl der Westen als auch die Nachbarstaaten bereits heute China alsaufsteigende Großmacht mit regionalem Macht- sowie Dominanzanspruch nicht nur soperzipieren, sondern auch ihre Politik entsprechend so ausrichten. 145

Chinas Politik in der asiatisch-pazifischen Region sieht in der Tat bereits heute mehr als nureine regionale Rolle für Peking vor. Gleichzeitig ist sie sich jedoch auch bewusst, dass sie aufabsehbare Zeit keine globale Supermacht ist und mit den USA auf dieser Ebene nichtkonkurrieren kann. Sowohl Peking als auch seine Nachbarstaaten, aber auch Europa und dieUSA übersehen dabei häufig, welche strukturellen, historisch tradierten undsystemimmanenten Schwächen China überwinden muss, bevor "das Reich der Mitte" aufglobaler Ebene mit den USA konkurrieren kann. Insofern scheinen gegenwärtig häufiger diePerzeptionen als die objektive Realität die konkrete Politik gegenüber China auch imregionalen Maßstab zu determinieren. Daher kann es nicht verwundern, dass die Politik derwestlichen Selbstbindung gegenüber China (einschließlich Japans und der ASEAN-Staaten)in Wirklichkeit häufig ausgeprägter ist als die erhoffte politische KompromissbereitschaftPekings als Resultat einer zunehmenden ökonomischen Interdependenz Chinas mit denasiatischen Nachbarstaaten, Europas oder den USA. So hat Gerald Segal 1999 in seinemvielbeachteten Artikel "Does China Matter?" eine westliche Umorientierung seiner Politikgegenüber China – mit dem Schlagwort "constrainment" umschrieben – gefordert und dabeidie bisherige Politik der Nachbarstaaten Chinas als auch des Westens wie folgt kritisiert:"Such a strategy of 'constrainment' would lead to a new and very different Western approachto China. One would expect robust deterrence of threats to Taiwan, but no pusillanimousefforts to ease Chinese concerns about TMD. One would expect a tough negotiating stand on

144 Vgl.: Segal, Gerald: Does China Matter?, in: Foreign Affairs, September-Oktober 1999, S.24-36 sowie in

die gleiche Richtung argumentierend Gu, Xuewu: China's Aufstieg zur Weltmacht?, in: Reiter, Erich(Hrsg.): Jahrbuch für internationale Sicherheitspolitik 1999, Hamburg-Berlin-Bonn, S.631-646.

145 Zur Perzeption Chinas siehe den interessanten Artikel von: Müller-Hofstede, Christoph: Chinawatcher undZukunftsszenarien. Das Land der Mitte und der Rest der Welt, in: Das Parlament, Nr.35-36,27.8.1999/3.9.1999, S.9.

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the terms of China's WTO entry, but not Western concessions merely because China madelimited progress toward international transparency standards or made us feel guilty aboutbombing its embassy in Belgrade. One would expect Western leaders that theirauthoritarianism puts them on the wrong side of history, but one would not expect Westerncountries to stop trying to censure human rights abuses in the United Nations or to fall overthemselves to compete for the right to lose money in the China market. ... Until we stopsuspending our disbelief and recognize the theatrical power of China, we will continue toconstrain ourselves from pursing our own interests and fail to constrain China's excesses. Andperhaps most important, until we treat China as a normal middle power, we will make itharder for the Chinese people to understand their own fa ilings and limitations and get on withthe serious reforms that need to come."146

Bisher kann eine größere politische Kompromissbereitschaft Pekings in der Tat weder in derTaiwanfrage noch bei den chinesischen Territorialansprüchen im Südchinesischen Meerkonstatiert werden, zumal Peking auf das Instrument der Gewaltanwendung zur Durchsetzungpolitischer Ziele bis heute nicht verzichten will. Insofern ist auch das außenpolitische Resultatder ökonomischen Reformen bisher äußerst ambivalent geblieben. Zwar hat sich Peking fürdie Außenwelt geöffnet und kann nicht gänzlich den Faktor der ökonomischenInterdependenz negieren (wie bei der Berücksichtigung der für die Transformationsphaselebenswicht igen japanischen und amerikanischen Investitionen); doch gleichzeitig hat dasbeeindruckende Wirtschaftswachstum die Voraussetzung für eine schnellere Modernisierungder chinesischen Streitkräfte geschaffen und damit auch gesteigerten militärische Fähigkeitenzur chinesischen Machtprojektion jenseits der eigenen Küsten. 147 Die VBA wird imkommenden Jahrzehnt sehr viel besser in der Lage sein, den eigenen Machtanspruch nicht nurreaktiv, sondern auch aktiv und offensiv zu verteidigen – wenngleich das politisch-militärische Risiko eines verlustreichen militärischen Konfliktes mit den USA nach wie vorsehr hoch sein wird. Gleichwohl kommt schon heute der Rolle der Streitkräfte bei einerPolitik der "kalkulierten Ambiguität" und "schleichenden Besetzung" von Inseln und Riffenim Südchinesischen Meer eine größere sicherheitspolitische Bedeutung zu als dies noch vorzehn Jahren oder sogar fünf Jahren der Fall war. Zudem nimmt die Gefahr einesunbeabsichtigten oder eines auf chinesischen Fehlperzeptionen entstehenden Konfliktestendenziell zu, zumal auch die Anrainerstaaten in den letzten Jahren nicht zuletzt dank einerso wahrgenommenen zunehmenden chinesischen Bedrohung ihre eigenenRüstungsprogramme intensiviert haben. In diesem Zusammenhang werden die negativenAuswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise auf die Rüstungsmodernisierungen derbetroffenen Nachbarstaaten Chinas häufig überschätzt.148 Die Aufschiebung oder zeitlicheStreckung – anstatt der vermeintlichen Streichung oder Aufhebung – könnte möglicherweisein den nächsten Jahren nach der Überwindung der Krise und einer Rückkehr zu einemsubstanziellem Wirtschaftswachstum sogar zu einer nachholenden Rüstungspolitik führen.Darüber hinaus haben in den letzten Jahren die USA nach Drängen ihrer Verbündeten inNord- und Südostasien ihr politisch-militärisches Engagement in der asiatisch-pazifischenRegion als Resultat der Bedrohungsperzeptionen gegenüber China wieder gestärkt. Dies giltnamentlich für die militärischen Allianzen und Kooperationsbeziehungen mit Japan, Taiwan,Singapur, Thailand und den Philippinen. 146 Segal, Gerald: Does China Matter?, hier S.35f.147 Vgl.: Leifer, Michael: Chinese Economic Reform. The Impact on Policy in the South China Sea, in: Segal,

Gerald/Yang, Richard H. (Eds.): Chinese Economic Reform. The Impact on Security, London-New York1999, S.141-157.

148 Vgl.: Umbach, Frank: Financial Crisis Lows But Fails to Halt East Asian Arms Race – Part I, in: Jane'sIntelligence Review (JIR), August 1998, S.23-27; Part Two, in: ebda, September 1998, S.34-37 und ders.:Aufrüstung in Ostasien, hier S.34ff.

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Gleichzeitig sieht sich die chinesische Militärführung bei der zukünftigen Modernisierung derStreitkräfte im nächsten Jahrzehnt weiterhin objektiven Hemmnissen bei Finanzen, sonstigenRessourcen, der Adaption von Hochtechnologie und bei den bestehenden organisatorischenStrukturen gegenüber. Sie weiß inzwischen zwar, in welche Richtung sie zu marschieren hat;sie weiß aber gleichzeitig auch, dass sie die selbst gestreckten Ziele realistischerweise kaumalle erreichen wird – zumindest nicht in kurz- und mittelfristiger Perspektive.

Für die Militärplaner Chinas ist allerdings auch zukünftig weniger das globale militärischeGleichgewicht mit den USA entscheidend als die regionale militärische Kräftebalance mit denASEAN-Staaten, Taiwan und Japan. Auf dieser Ebene könnten auch graduelle Veränderungendes militärischen Gleichgewichts nicht zu unterschätzende außen- und sicherheitspolitischeAuswirkungen zur Folge haben, was vor allem mit dem Fehlen einer der NATOvergleichbaren Verteidigungsallianz in Ostasien und dem nach wie vor bestehendenMisstrauen zwischen den ostasiatischen Staaten (einschließlich zwischen einzelnen ASEAN-Staaten) zu erklären ist. So zielte das unilaterale Vorgehen Pekings im Südchinesischen Meerbisher vor allem auf die politisch oder militärisch schwächsten Konfliktparteien wie Vietnamund die Philippinen ab. Pekings Ziel ist dabei sicherlich weniger die militärisch riskante,handstreichartige Besetzung aller Inseln und Riffe im Südchinesischen Meer als mit Hilferegional überlegener Streitkräfte politische Dominanz und Hegemonie zur Respektierungchinesischer Interessen und Sicherheitsanliegen auszuüben. In Anlehnung an denchinesischen Kriegsphilosophen Sun Tzu sollen wohl eher die potenziellen Gegnergezwungen werden, die chinesischen Sicherheitsinteressen freiwillig zu akzeptieren, ohnedass Peking Zuflucht zur konkreten Gewaltanwendung suchen muss. Auch hier spielen nichtso sehr die konkreten militärischen Fähigkeiten, sondern politische Intentionen und vor allemdie Perzeptionen der Nachbarstaaten Chinas die ausschlaggebende Rolle, die für ein"Appeasement" oder "Bandwagoning" ihrer Staaten gegenüber China verantwortlich gemachtwerden können. Daher kann es kaum verwundern, dass derartig weit reichendeStrukturreformen der Volksbefreiungsarmee in den Nachbarstaaten mit größterAufmerksamkeit verfolgt werden und bereits zu Gegenreaktionen bei der eigenenBeschaffungspolitik geführt haben. 149

Noch entscheidender ist ein anderes Faktum: Peking hat noch immer nicht gelernt, dass es inseinem langfristigen strategischen Eigeninteresse ist, die Sicherheitsinteressen anderer Staatenzu respektieren und in der eigenen Außen- sowie Verteidigungspolitik zu berücksichtigen(den Modellen "kooperativer" oder "gemeinsamer Sicherheit" folgend). Dies aber wird für diezukünftige regionale und globale Stabilität von entscheidender Bedeutung sein. Zumindest bisdahin ist ein aktives politisch-militärisches Engagement der USA unentbehrlich. Gleichzeitigmuss aber auch Europa seine strategischen sicherheitspolitischen Interessen in der asiatisch-pazifischen Region, resultierend aus der zunehmenden ökonomischen Interdependenz und denglobalen sicherheitspolitischen Herausforderungen, in möglichst weit gehenderÜbereinstimmung mit den USA stärken. Hierfür ist jedoch zunächst nicht nur eine Definitionder eigenen strategischen Interessen im Rahmen der sich derzeit herausbildenden"Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)" dringend erforderlich, sonderngeradezu zwingend, wenn die EU als ein strategischer Akteur von China und anderenostasiatischen Staaten wirklich ernst genommen und darüber hinaus ihrem eigenen Anspruchgerecht werden will. 149 Eine Übersicht über die Rüstungsbeschaffungsprogramme in der asiatisch-pazifischen Region, ihre

Ursachen und Auswirkungen auf die regionale Stabilität und Sicherheit vor Ausbruch der Finanz- undWirtschaftskrise in Ostasien bietet Umbach, Frank: Strategic Changes in Asia-Pacific – The Dimension ofMilitary Diffusion and Proliferation of Advanced Conventional Weaponry.

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Martin Wagener

China und die Selbstmandatierung der NATO*

Die humanitäre Intervention der NATO im Kosovo hat ein neues Kapitel in deninternationalen Beziehungen aufgeschlagen, bisher allerdings mit einer noch strittigenÜberschrift. Militärisch trug die Operation die Bezeichnung "Allied Force"; offiziell wurdesie mit dem Argument "Stopp des Genozids für eine zivilisierte Welt" gerechtfertigt;tatsächlich könnte sich in den nächsten Jahren aber ein ganz anderes Ergebnis herausstellen,das den Titel "Untergrabung globaler Ordnungsstrukturen" trägt. Der Reaktion derNordatlantischen Allianz lagen wahrhaft ehrenwerte Motive zu Grunde. Es galt, endlich ausder zur Alltäglichkeit gewordenen Gräuel serbischer Paramilitärs die richtigenSchlussfolgerungen zu ziehen, die da lauteten: Schutz des Lebens unzähliger Kosovaren,Wiederherstellung ihres Rechtes auf Heimat, Stabilisierung einer äußerst unruhigen Regiondes Balkans. Neben allen kurz- und mittelfristigen Erfolgen hat die BrüsselerEntscheidungszentrale jedoch eine schwer wiegende langfristige Konsequenz ihresEngagements außer Acht gelassen: Die Selbstmandatierung150 der NATO, die im FernenOsten vor allem von China heftig kritisiert wurde, könnte die Fundamente internationalerSicherheitspolitik erschüttert haben151. Erosionsprozesse in diesem Bereich schweben wie einDamoklesschwert über der Staatengemeinschaft, wenn ein erheblicher Teil ihrer wichtigstenAkteure in der Interpretation des Völkerrechts weiter auseinander driftet.

Der Westen152 hat sich im ersten Jahrzehnt nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in einenordnungspolitischen Widerspruch manövriert. Auf der einen Seite strebt er dem Friedendienende, kooperative Weltordnungsstrukturen153 an. Auf der anderen Seite trägt seineVorgehensweise aber gerade dazu bei, Widerstand bei zentralen Akteuren derStaatengemeinschaft zu erzeugen. Der vorliegende Beitrag untersucht diesesSpannungsverhältnis am Beispiel der Reaktionen Chinas auf den humanitären out of area- * Der Beitrag stützt sich u.a. auf Ergebnisse eines Forschungsaufenthaltes, den der Verfasser von September

bis Dezember 1999 in Washington D.C. durchgeführt hat. Sämtliche nachfolgend erwähnten Interviewssind in der amerikanischen Hauptstadt geführt worden. Der Verfasser dankt der Hanns-Seidel-Stiftung sehrherzlich für ihre Unterstützung im Rahmen eines Promotionsstipendiums.

150 Der Begriff der "Selbstmandatierung" wird von China und Russland als Negativetikett gebraucht, um ihreAblehnung der Kosovo-Intervention der NATO zu unterstreichen. In der Debatte wurde die Bezeichnungdann vor allem von journalistischer Seite weiterverwendet. Der Verfasser benutzt "Selbstmandatierung" impolitisch-neutralen Sinne.

151 Vgl.: zu den unterschiedlichen Bewertungen und Darstellungen der Intervention der NATO im Kosovo:Roberts, Adam: NATO's 'Humanitarian War' over Kosovo, in: Survival, Nr.3, Herbst 1999, S.10ff.Anderson, James H./Phillips, James: Lessons from the War in Kosovo, in: Backgrounder der HeritageFoundation, Nr.1311, 22.7.1999; Spillmann, Markus: Der Westen und Kosovo. Ein leidvollerErfahrungsprozess, in: Internationale Politik, Nr.8, August 1999, S.41ff; Rodman, Peter W.: The Falloutfrom Kosovo, in: Foreign Affairs, Nr.4, Juli/August 1999, S.45ff; Feichtinger, Walter/Gustenau, Gustav E.:Das Ende der NATO-Operation Allied Force, in: Österreichische Militärische Zeitschrift (ÖMZ), Nr.5,September/Oktober 1999, S.620ff.

152 Zur westlichen Staatenwelt werden in diesem Beitrag vereinfachend die Akteure der NATO, vor allem ihreFührungsmacht USA, gezählt.

153 Die Begriffe "Weltordnungsstrukturen" resp. "internationale Ordnungsstrukturen" werden vom Verfassersynonym verwendet. Inhaltlich werden zu ihnen die Entwicklungen gezählt, die, wie etwa völkerrechtlicheNormen, zwischenstaatliche Anarchie reduzieren. Insbesondere die UNO kann als signifikanter Versuchbetrachtet werden, zumindest in Ansätzen das Interagieren der Akteure der Staatenwelt in eineninternationalen Ordnungsrahmen einzubetten.

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Einsatz der NATO im Kosovo. Dazu werden zunächst die Position Pekings und die ihr zuGrunde liegenden Sicherheitsperzeptionen analysiert. Es folgt eine Betrachtung dermöglichen Konsequenzen, die China aus den Ergebnissen des Kosovo-Krieges für seineSicherheitspolitik ziehen könnte. Abschließend wird der Frage nachgegangen, wiewahrscheinlich in der Zukunft selbstmandatierte Interventionen im Fernen Osten sind. Da derUntersuchungsgegenstand unmittelbar mit der amerikanischen Politik in Europa und Asien-Pazifik verbunden ist, findet die US-Perspektive besondere Berücksichtigung.

1. Der Kosovo-Krieg aus Pekinger Sicht

Je aggressiver die paramilitärischen Truppen des jugoslawischen Staatspräsidenten SlobodanMilo�eviæ im Kosovo vorgingen und je umfangreicher die Vertreibungswellen deralbanischstämmigen Bevölkerung dadurch wurden, desto hörbarer erklang der Ruf westlicherPolitiker nach einer adäquaten Antwort. Der UNO wurde nach den Misserfolgen der 90er-Jahre nicht zugetraut, eine eventuelle militärische Operation durchführen zu können. Fastzwangsläufig richtete sich deshalb der Blick auf die NATO, die seit Ende 1995 inverschiedenen Missionen in Bosnien-Herzegowina Stabilität zu schaffen sucht. Brüssel wurdezusätzlich in den Medien rhetorisch unter Druck gesetzt, da die größte Militärallianz der Erdeeinfach in der Lage sein müsse, an ihrer Peripherie Völkermord zu verhindern – anderenfallssolle sich diese Institution die Sinnfrage stellen. Forderungen nach einer militärischenIntervention im Kosovo nahmen daher Ende 1998 zu. Am 24. März 1999 griff die NATOschließlich Jugoslawien an.

1.1 Reaktionen und Standpunkte

Bereits zuvor waren aus dem Reich der Mitte unmissverständlich ablehnende Worte zuvernehmen, die sich gegen jede militärische Eingriffsvariante des Westens in Jugoslawienaussprachen154. Die Motive dieser Haltung lagen offen zu Tage: Sollte die NATO ohne UN-Mandat serbische Militäreinheiten attackieren, würde China aus dem Geschehen ausgegrenzt,da es als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates seine Veto-Macht nicht einsetzenkönnte. Darüber hinaus entdeckte Peking schnell den Präzedenzcharakter, den ein solchesEingreifen für die Unabhängigkeitswünsche nationaler Minderheiten haben könnte. Hierwurden Parallelen zur eigenen Situation gezogen, denn auch China verfügt – vor allem inXinjiang – über eine moslemische Minderheit, deren militante Widerstandsgruppenseparatistische Ziele anstreben. Daher war es nur folgerichtig, dass Peking von Anfang an die

154 Milo�eviæ hatte China vom 13.-16. November 1997 einen Staatsbesuch abgestattet, der u.a. zum

Abschluss einer "Gemeinsamen Erklärung über die bilateralen Freundschafts- undKooperationsbeziehungen" führte, in der die "Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität derBundesrepublik Jugoslawien" betont wurden. Zit. nach: China aktuell, Nr.7, Juli 1998, S.676.Konsequenterweise stellte sich Peking in den folgenden Monaten auf die Seite Belgrads. Der Sprecher deschinesischen Außenministeriums erklärte am 10.3.1998, dass China eine Einschaltung des UN-Sicherheitsrates in der Kosovo-Frage nicht wünsche. Diese sei eine innerjugoslawische Angelegenheit. Vgl.:China aktuell, Nr.3, März 1998, S.258. Am 16.6.1998 hieß es von gleicher Stelle noch wesentlich deutlicher:"China ist gegen eine militärische Einmischung im Kosovo." Zit. nach: China aktuell, Nr.6, Juni 1998,S.593. Siehe auch Zhang, Zhengdong: Will NATO Really Take Military Action Against the FederalRepublic of Yugoslavia?, in: Beijing Xinhua Domestic Service, 10.10.1998. Übersetzt in: Foreign BroadcastInformation Service (FBIS)-CHI-98-283; soweit in diesem Beitrag Artikel dieser Quelle zitiert werden, sindsie der Internet-Ausgabe von FBIS entnommen worden. Vgl.: zu weiteren grundlegenden Fragen: Weggel,Oskar: Chaos, Ratlosigkeit und Angst vor Präzedenzwirkungen. Chinas Haltung im Kosovo-Konflikt, in:China aktuell, Nr.3, März 1999, S.261ff.

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Angehörigen der Befreiungsarmee des Kosovo (UÈK) als "Separatisten und Terroristen"brandmarkte und keinerlei Mitleid für die vertriebenen Kosovaren zeigte, da diese mit derUÈK sympathisierten155. Hier konnte man fast den Eindruck gewinnen, die chinesischePresse erledigte propagandistische Auftragsarbeiten Milo�eviæs. Ein weiteres Motiv derParteinahme für Jugoslawien dürften sentimentale Erinnerungen an Zeiten sein, in denen mansich Seite an Seite mit dem Staate Titos gegen die sowjetische Hegemonialpolitik befand. Derwichtigste Grund aber war und ist die Ablehnung der Verletzung der territorialen Integritäteines souveränen Staates, da China nach Jahrzehnten selbsterlittener kolonialer Eingriffe diestrikte Beachtung staatlicher Souveränität als Basis internationaler Kooperation betrachtet.

Die NATO entschied sich für den Luftkrieg, ohne dabei die Einwände Chinas zuberücksichtigen. Die westliche Militärallianz sah keinen Sinn darin, im Fernen Osten für ihrVorgehen um Zustimmung zu werben. Wie schnell aber auch Staaten aus dieser Region ineinen europäischen Konflikt verwickelt werden können, zeigte der 7. Mai 1999156. Einamerikanisches Kampfflugzeug des Typs B-2 zerstörte mit ferngelenkten Distanzwaffenversehentlich das Botschaftsgebäude Chinas in Belgrad; ursprünglich hatte der Angriff demHauptquartier für Nachschub und Beschaffung der jugoslawischen Streitkräfte gegolten. DieUSA erklärten diesen völkerrechtlich schlicht als Kollateralschaden bezeichneten Vorfall miteiner Verkettung ungünstigster Umstände. Unterstaatssekretär Thomas Pickering, der sichMitte Juni als Sondergesandter von US-Präsident Bill Clinton in Peking aufhielt, legte derdortigen Führung drei Aufklärungsfehler dar: Die Zielkoordinaten seien auf der Basisveralteten Kartenmaterials fehlerhaft erstellt worden; zur Kontrolle des Angriffszieles habeman auf eine unvollständige Datenbasis zurückgegriffen; das Überprüfungsverfahren zurEntdeckung möglicher Mängel bei der Zielfestlegung habe versagt 157. DiesemErklärungsansatz standen jedoch bald eine Fülle von Verschwörungstheorien gegenüber, dieso weit gingen, den USA eine absichtliche Abstrafung Chinas zu unterstellen, stand diesesdoch seit Monaten wegen angeblicher Nuklearspionage in amerikanischen Labors in denSchlagzeilen158. Vor allem die chinesische Führung konnte sich nicht vorstellen, dass einmilitärisch-technologisch hochgerüsteter Staat wie die USA zu einem derartigenAufklärungsfehler wirklich fähig ist.

In den folgenden Tagen fanden in mehreren Städten Chinas gewaltsame Massenproteste statt,an denen Hunderttausende von Chinesen aus allen Bevölkerungsschichten teilnahmen159. In

155 Chinesische Medien sahen in der UÈK die Macht, die für die Gewalteskalation verantwortlich ist: "The

latest facts show that it is the 'Kosovo Liberation Army and not the Yugoslav Federation armed forces thatare continuing to engage in violence."; Lu, Yansong: NATO's Threat Is Unjustified and Groundless, in:Beijing Renmin Ribao, 2.11.1998. Übersetzt in: FBIS-CHI-98-306. Nach der Intervention der NATO wurdediese als "air force of the rebel Albanian fighters" bezeichnet. Gu, Zhenqiu: NATO Has Gone Too Far byBombing Yugoslavia, in: Beijing Xinhua, 25.3.1999. Übersetzt in: FBIS-CHI-1999-0325.

156 Vgl.: Weggel, Oskar: NATO-Bomben zerstören die chinesische Botschaft in Belgrad, in: China aktuell,Nr.5, Mai 1999, S.483ff; Martin Wagener: Die Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad.Ursachen, Reaktionen und Konsequenzen, S.23ff in: ASIEN, Nr.77, Oktober 2000.

157 Vgl.: Pickering, Thomas: Oral Presentation to the Chinese Government. Regarding the Accidental Bombingof the P.R.C. Embassy in Belgrade (17.6.1999), Washington D.C., 6.7.1999. Internetdokument:http://www.state.gov/www/policy_remarks/1999/990617_pickering_emb.html

158 Vgl. zu den unterschiedlichsten Verschwörungstheorien: Wagener (Oktober 2000), a.a.O.159 Vgl. zur Berichterstattung vor Ort: Crispin, Shawn W./Lawrence, Susan V.: Double-Edged Fury, in: Far

Eastern Economic Review (FEER), Nr.20, 20.5.1999, S.10ff; Florcruz, Jaime A./McCarthy, Terry:Collateral Damage, in: Time, Nr.20, 24.5.1999, S.40ff. The Economist (Bombs in Belgrade, bricks inBeijing), Nr.8119, 15.5.1999, S.65f.; Fang, Bay/Walsh, Kenneth T.: The worst of times?, in: U.S. News &World Report, Nr.20, 24.5.1999, S.18ff.

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Peking wurde die Fassade der US-Botschaft, die sich mehrere Tage im Belagerungszustandbefand, teilweise zerstört. Die chinesische Führung unterstützte diese Proteste zunächst,unterband sie dann aber relativ schnell, damit sie keine Eigendynamik entwickeln konnten.Entschuldigungen des Westens wies China als nicht ausreichend zurück und enthielt siezunächst sogar der Öffentlichkeit vor – wohl auch, um den Volkszorn nicht abebben zu lassenund so vom zehnten Jahrestag des Tiananmen-Massakers am 4. Juni 1999 ablenken zukönnen. Die Beziehungen Chinas zum Westen, insbesondere zu den USA, verschlechtertensich unmittelbar nach den Vorfällen auf mehreren Gebieten. Peking stellte die mitWashington geführten Dialoge in den Bereichen Menschenrechte, militärische Kontakte,Rüstungskontrolle, Nonproliferation und internationale Sicherheit ein. Die Verhandlungenüber einen Beitritt Chinas zur World Trade Organization (WTO) wurden ausgesetzt. Zu einemProblem entwickelten sich Entschädigungsfragen sowohl für das zerstörte chinesischeBotschaftsgebäude in Belgrad als auch für die beschädigten diplomatischen Vertretungen derUSA in China.

Die Staaten der NATO versuchten nach dem 7. Mai, mit einer Reihe von Initiativen China zubesänftigen. Dazu gehörten zahlreiche mündliche und schriftliche Entschuldigungen sowiedie Entsendung von Sonderemissären nach Peking. Am 8. Juni war der finnischeStaatspräsident Martti Ahtisaari nach Peking gereist, um als Kosovo-Unterhändler derEuropäischen Union (EU) China über die geplante Friedensregelung in Jugoslawien zuinformieren und ein Veto im UN-Sicherheitsrat zu verhindern. Als dann auch noch Russlandsignalisierte, unter bestimmten Bedingungen einer UN-Resolution zum Kosovo zuzustimmen,drohte dem Reich der Mitte die internationale Isolation. Aus diesem Grund lenkte China trotzals inakzeptabel angesehener Entschuldigungen des Westens, ungelösterKompensationsfragen und einer anhaltenden Ablehnung der Politik der NATO bei derFriedenssuche im jugoslawischen Staatsverband ein.

Am 10. Juni 1999 beschloss der UN-Sicherheitsrat in New York mit 14 Ja-Stimmen dieResolution 1244, die nach 78 Tagen Krieg zur Grundlage für die Entsendung der KosovoForce (KFOR) wurde160. Peking enthielt sich der Stimme – und feierte die Reaktivierung derUNO in der Balkan-Krise als Sieg seiner Außenpolitik. Innerlich jedoch dürften insbesonderedie chinesischen "Falken" im Reich der Mitte mit dieser Konfliktlösung völlig unzufriedensein, sanktionierte China auf diesem Wege doch genau die Politik der NATO, die es zuvor alseklatantes Menschheitsverbrechen verurteilt hatte.

Wie sich die Nachfolger Deng Xiaopings bei künftigen, zu verlängernden oderabzuändernden UN-Resolutionen zur Kosovo-Frage verhalten, darf als fraglich angesehenwerden. Beobachter vermuteten anfangs, dass China im Sicherheitsrat eine destruktive Rollespielen wird, um die NATO-Aktion im Kosovo nicht zum Sieg werden zu lassen161. Würdedieser Fall, ein ordnungspolitischer Erfolg der Allianz in einem Krisengebiet Südosteuropas,eintreten, dann könnte dies die humanitäre Intervention im Kosovo nachträglich mit Faktenrechtfertigen, wodurch der Präzedenzcharakter des ganzen Vorfalls positiv gestärkt würde.Legt man daher die im folgenden Abschnitt formulierte chinesische Sicherheitsperzeptionetwaigen Zukunft sprojektionen zu Grunde, dann muss China ein zentrales nationales Interessean einer Niederlage der NATO bei der "Befriedung" Jugoslawiens haben. Vorläufer für einedestruktive chinesische UN-Politik gibt es bereits, auch auf dem Balkan: Peking weigerte sicham 25. Februar 1999, nach der diplomatischen Anerkennung Taipehs durch Skopje das

160 Vgl.: Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates vom 10. Juni 1999 (Auszüge), in: Blätter für deutsche und

internationale Politik, Nr.7, Juni 1999, S.877ff.161 Vgl.: Bristow, Damon: Advantage, China, in: FEER, Nr.21, 27.5.1999, S.30.

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Mandat für die UN-Mission in Mazedonien zu verlängern – und legte dazu im Sicherheitsraterfolgreich sein Veto ein.

1.2 Sicherheitsperzeptionen

Der Kosovo-Krieg hat gezeigt, dass sich die NATO über außereuropäische Konsequenzenihres ersten großen out of area-Einsatzes nur am Rande Gedanken gemacht hat. DerWiderspruch zwischen global definierten Sicherheitsinteressen und regional begrenztemPerzeptionswillen wurde im vergangenen Sommer exemplarisch vorgeführt. Und auch heutedürfte die Analyse fernöstlicher Reaktionen auf die Politik der NATO nicht zum SchwerpunktBrüsseler Arbeit gehören. Im Gegensatz dazu beobachtet China bereits seit längerer Zeit sehrgenau die Sicherheitspolitik der Allianz.

Die dabei zu beobachtende Sicherheitsperzeption wird von den meisten Experten wie folgtbeschrieben: China betrachte den Verlauf der 90er-Jahre als globale Machtverschiebung zuseinen Ungunsten. Unter Führung der USA werde eine geostrategische Einkreisung (en-circlement) des Reiches der Mitte organisiert, um dessen weltpolitischen Aufstiegeinzudämmen. Das Eingreifen der Nordatlantischen Allianz könne langfristig als weitererSchritt zur Durchsetzung dieses Ziels betrachtet werden.

In den vergangenen Jahren dürfte das Gefühl Chinas, sicherheitspolitisch eingekreist zuwerden, zugenommen haben162. Zur Entstehung dieser Weltsicht trug insbesondere dasEngagement der Clinton-Administration in Europa und im asiatisch-pazifischen Raum bei163.In beiden Regionen unterhalten die USA, die in China vor allem vom Militär als die zentraleHerausforderung des neuen Jahrhunderts begriffen werden, eine umfangreiche militärischeVornepräsenz. Sie erreicht in Asien-Pazifik eine Gesamtstärke von über 90.000 Soldaten(Schwerpunkte der Stationierung: Japan und Südkorea) und erscheint wie ein Sperrriegelgegenüber Ansätzen einer Pax Sinica. Zwar können die USA in der Region keineMilitärallianz wie die NATO nutzen; sie verfügen dort aber über ein bilateralesSicherheitsnetz, das von China als Bedrohung wahrgenommen wird. Besondere Besorgniserregt die Vertiefung der Sicherheitsbeziehungen zwischen den USA und Japan. ImSeptember 1997 vereinbarten beide Staaten neue Verteidigungsrichtlinien, die im Mai 1999auch vom japanischen Parlament ratifiziert worden sind. Sie sehen eine engereZusammenarbeit in Krisenfällen "in Gebieten um Japan" vor, wozu – und dies ist daseigentliche Problem für die chinesische Führung – Taiwan zählen könnte164. Peking betrachtetdiese Entwicklung als eine Art voranschreitende "NATO-Osterweiterung Asien-Pazifiks".Eine weitere Zunahme des Drucks an seinen Grenzen sieht China in der Debatte über dieErrichtung eines amerikanischen Raketenabwehrsystems in Nordostasien, das neben Japanund Südkorea auch Taiwan in seinen Schutzbereich einbeziehen könnte165. Die USA haben

162 Cole, Bernard D.: China-Experte am National War College der National Defense University (NDU),

betrachtet diesen Zusammenhang als zentralen Faktor der chinesischen Sicherheitsperzeption. Cole äußertesich entsprechend in einem Gespräch mit dem Verfasser am 19.11.1999.

163 Vgl.: Wagener, Martin: Amerikanische Asien-Pazifik-Politik aus der Sicht des Pentagons. Anmerkungenzum East Asian Strategy Report 1998, in: ÖMZ, Nr.3, Mai/Juni 1999, S.269ff.

164 Vor dem Hintergrund dieser Verteidigungsrichtlinien vermutet He Chong: "[...] it is not difficult for Japanand the United States to stir up an Asian-style Kosovo crisis." Ders.: Be On Guard Against the United Statesand Japan Stirring Up Asian-Style Kosovo Crisis, in: Hong Kong Zhongguo Tongxun She, 27.5.1999.Übersetzt in: FBIS-CHI-1999-0527.

165 Vgl.: Wagener, Martin: Raketenabwehrsysteme und die strategische Gleichung der Taiwan-Straße.Stabilisierung oder Bruch des Status quo?, in ÖMZ, Nr.4, Juli/August 2000, S.413ff.

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dieses Projekt seit dem Test der nordkoreanischen Mittelstreckenrakete Taepo-Dong 1 am 31.August 1998 verstärkt vorangetrieben. Hinzu kämen schließlich, so Peking, trotz mehrfacherBestätigung der "Ein-China-Politik" durch die Clinton-Administration Waffenlieferungen anTaiwan – wie z.B. die Taipeh Anfang Mai 1999 gemachte Zusage über die Lieferung einesmodernen amerikanischen Frühwarnsystems. China hat daher in den vergangenen Jahren denEindruck gewonnen, dass die USA eine zweischneidige Strategie verfolgen: Zum einen setzeWashington auf Kooperation mit Peking. Zum anderen werde aber ein unkalkulierbarerAufstieg des Giganten befürchtet, dem man bereits heute präventiv durch Errichtung einesEindämmungsgürtels entgegenwirken wolle. Dazu gehöre auch die Modernisierung weitererbilateraler Sicherheitsbeziehungen der USA (u.a. mit Singapur, Australien und denPhilippinen). Diese Eindämmungsfront könnte dann im Ernstfall von ihrer gegenwärtigstatischen Form in einen aktiven Status überführt werden.

Die Mittellage Chinas im geopolitischen Gefüge des asiatisch-pazifischen Raums wäre bereitsohne das Engagement der USA dazu geeignet, Einkreisungsängste aufkommen zu lassen. ImNorden und Südwesten stehen dem Reich der Mitte mit Russland und Indien zweiNuklearmächte gegenüber, mit denen es noch während des Ost-West-Konflikts inGrenzkriege verwickelt war. Das ebenfalls seit Mai 1998 nuklear gerüstete Pakistan gilt zwarals Verbündeter, könnte aber zu einer weiteren Bedrohung werden, wenn das im Oktober1999 von General Pervez Musharraf errichtete Militärregime versagt und einer radikalislamistischen Gruppierung weichen müsste. Über den afghanischen Wakhan-Korridor imWesten wird eine Infiltration durch die Anhänger der fundamentalistisch-islamistischenTaliban befürchtet, die im chinesischen Xinjiang für Aufstände unter den mehrheitlich demIslam anhängenden Bevölkerungsgruppen sorgen könnten. Einige chinesische Strategengehen sogar noch weiter. Sie befürchten, dass das NATO-Mitglied Türkei seinen Einfluss inXinjiang nutzen wird, um die Autonome Region zu ermuntern, sich vom chinesischenStaatsverband zu trennen – was nur durch einen Aufstand geschehen könnte. Anschließendwürde Xinjiang dann als neuer staatlicher Akteur der Nordatlantischen Allianz beitreten166.Eine weitere beunruhigende Entwicklung wird in den Aktivitäten Taiwans gesehen. PekingerVerschwörungstheoretiker fühlten sich in ihren Annahmen erneut bestätigt, als ihre"abtrünnige Provinz" auf dem Balkan Anfang 1999 mit der Aufnahme diplomatischerBeziehungen zu Mazedonien Flagge zeigte und während der Jugoslawien-Intervention derNATO ankündigte, Finanzhilfen für den Wiederaufbau des Kosovos leisten zu wollen167. Seitdem spektakulären Interview Lee Teng-huis mit der Deutschen Welle am 9. Juli 1999 wirdzudem die Wahrscheinlichkeit, dass Taiwan sich für unabhängig erklären könnte, in Pekingmit zunehmender Sorge betrachtet. Konfliktreich ist darüber hinaus die Situation imSüdchinesischen Meer, wo sich China mit fünf Anrainern um verschiedene Inselgruppen,insbesondere das Spratly-Archipel, streitet. Der von Peking 1992 verkündete Anspruch, dasSüdchinesische Meer fast komplett als chinesisches Binnengewässer zu betrachten, wird inSüdostasien abgelehnt. Auch gegenüber dem Erzrivalen Vie tnam sieht China seine Positiongeschwächt: Hanoi hatte seine sicherheitspolitische Lage Mitte der 90er-Jahre durch denBeitritt zur Association of Southeast Asian Nations (ASEAN) sowie die Aufnahmediplomatischer Beziehungen mit den USA verbessert. Zwar könnten an dieser Stelle diverseVertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen sowie Kooperationsformen genannt

166 Vgl.: Thielbeer, Siegfried: Nach Jugoslawien: Taiwan, Tibet, Xinjiang. China betrachtet die Kosovo-Krise

als einen Präzedenzfall, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Nr.134, 14.6.1999, S.6.167 Lee Teng-hui gab hierzu bekannt, dass Taiwan sich mit 300 Millionen US-Dollar an der Kosovo-Hilfe

beteiligen werde. Taipeh scheint diesbezüglich eine Chance erkannt zu haben, seine Reputation in Europa zustärken und als Verhandlungspartner akzeptiert zu werden. Vgl.: China aktuell, Nr.6, Juni 1999, S.581f.

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werden, die die chinesische Sicherheitslage an allen Fronten klar optimiert haben168.Offensichtlich konnten diese aber bis heute nicht verhindern, dass China sich langfristig vonpotenziellen Feinden umgeben sieht. Die NATO nimmt in diesem Gedankengebäudespätestens seit dem Kosovo-Krieg eine Schlüsselstellung ein169.

Die chinesische Sicherheitsperzeption wird durch historische Vergleiche erhärtet. Wie bereitsin der Vergangenheit, in den mehr als 100 Jahren vor Ausrufung der Volksrepublik imOktober 1949, scheint China wieder zum Spielball westlicher Mächte geworden zu sein, dieerneut zum Kreuzzug gegen die Asiaten angetreten sind, nun im Namen von Demokratie undMenschenrechten170. Diese Botschaft wird der breiten Bevölkerung über die Staatsmedienvermittelt. Sie sendeten z.B. parallel zu Berichten über die Trauerfeiern für die drei in derBelgrader Botschaft getöteten chinesischen Journalisten filmische Antiquitäten über den"Boxeraufstand" im Jahre 1900171. Er wurde von einer europäischen Interventionsstreitmachtniedergeschlagen, assistiert von den USA und Japan. Ergebnis waren die Festigung vonMachtinteressen und Einflusssphären innerhalb Chinas, in denen eine europäisch geprägteZivilisation die Vormundschaft über weite Teile der chinesischen Bevölkerung übernahm.Peking befürchtet nun, dass die Herren der Vergangenheit dem Reich der Mitte erneutvorschreiben wollen, wie es seine innere Lebensform zu gestalten hat. In einem Kommentarder Beijing Renmin Ribao hieß es dazu: "The 'gunboat policy' of colonial times has againbeen used and the 'law of the jungle' – the weak are the prey of the strong – is again appearingon the modern international stage."172 Anspielungen an eine Rückkehr der Geschichte, in derChina wieder zum Opfer des westlichen Imperialismus wird, sind unübersehbar. Und in derTat: Haben die Staaten der NATO nicht bereits durch ihren Diktatfrieden mit Milo�eviæ inneokolonialer Manier gezeigt, dass das Zeitalter "ungleicher Verträge" wieder belebt werdenkönnte? Ermöglicht nicht erneut die militärisch-technologische Überlegenheit einereuropäisch-amerikanisch-japanischen Allianz, widerwillige Staaten nach dem Vorbild derVergangenheit zur Raison zu bringen? Von Beobachtern wird desgleichen in diesemZusammenhang darauf verwiesen, dass das Eingreifen der NATO im Kosovo bei derchinesischen Führung Erinnerungen an die Breschnew-Doktrin von 1968 geweckt habe173. Siesprach den sozialistischen Staaten nur eine begrenzte Souveränität zu und wurde damals vonChina heftig kritisiert. Die Wirkung derartiger historischer Analogien auf chinesischeEntscheidungsträger der Gegenwart sollte nicht unterschätzt werden.

168 Vgl.: Möller, Kay: Sicherheitspartner Peking? Die Beteiligung der Volksrepublik China an Vertrauens- und

Sicherheitsbildenden Maßnahmen seit Ende des Kalten Krieges, Baden-Baden 1998.169 "Aus chinesischer Sicht ist der Kosovo-Einsatz ein Baustein auf dem Weg zu einer amerikanisch

dominierten Welt." Kreuzer, Peter: Asiatische Weltsichten: Der Kosovo als Baustein zur amerikanischenglobalen Hegemonie. Reihe: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK)-Standpunkte,Nr.1, Juni 1999, S.11.

170 Vgl.: Ching, Frank: Sovereignty vs. Human Rights, in: FEER, Nr.29, 22.7.1999, S.33.171 Vgl.: Thielbeer (14.6.1999), a.a.O., S.6. Siehe dazu auch den Kommentar von Liu Wenzong vom

chinesischen Foreign Affairs College, in: Beijing Xinhua, 14.5.1999. Übersetzt in: FBIS-CHI-1999-0514.172 Anonymus, Hegemonic Logic of "New Strategic Concept", in: Beijing Renmin Ribao, 10.4.1999. Übersetzt

in: FBIS-CHI-1999-0410. Wang Jincun pflichtet dem bei: "The words and deeds of the hegemonists headedby the United States are no more than updated versions of those advocated by the old imperialists thataggression is reasonable and meritorious, which represent power politics, the gunboat policy and the logic ofa thief." Ders.: Global Democratization – Camouflage of US Hegemony, in: Beijing Xinhua Hong KongService, 27.5.1999. Übersetzt in: FBIS-CHI-1999-0527.

173 Diese Interpretation äußerte James R. Lilley, ehemaliger Botschafter der USA in China, in einem Gesprächmit dem Verfasser am 1.12.1999.

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Die Politik der NATO und ihrer Führungsmacht USA wird von China als zielgerichteterProzess begriffen, der sich negativ auf die Sicherheit des Reiches der Mitte auswirke.Zunächst habe die Allianz im Gewande der Partnership for Peace (PfP) ihren Einflussbereicherweitert und im Sommer 1994 durch den Beitritt Kasachstans und Kirgistans zur PfP diemilitärischen Strukturen des Bündnisses bis an die Westgrenze Chinas ausgedehnt. Ergebnissei, dass die USA nun mit Staaten wie Kasachstan Militärmanöver quasi im chinesischenHinterhof durchführen könnten, wie z.B. 1999 mit der Übung "Zhardem 99". Zu befürchtensei, dass diese zentralasiatischen Staaten eines Tages der NATO als Vollmitglieder beitreten.Für diesen Prozess wiederum gebe es Beweise, was die Aufnahme der ehemaligen PfP-Teilnehmer Polen, Ungarn und Tschechien in die NATO im März 1999 gezeigt habe174. DerOstdrang der Allianz reiche bereits bis in den Kaukasus, was diverse Ereignisse zeigten: ImJanuar 1999 bot Aserbaidschan als erste ehemalige Sowjetrepublik der NATO und den USAan, Militärbasen auf seinem Territorium zu errichten175. Der georgische Staatspräsident,Eduard Schewardnadse, forderte im vergangenen Jahr nachdrücklich, dass sein Land bis zumJahr 2005 Mitglied des westlichen Militärbündnisses werden müsse176. China dürfte auchdiesen Prozess nur beobachten können, da die NATO bereits zuvor Einwände gegen ihreOsterweiterung abgelehnt hatte. Diese Entwicklungen berücksichtigend, könnte sich der vom24. März bis zum 9. Juni 1999 gewaltsam durchgeführte Kosovo-Einsatz der NATO alszukunftsweisender Präzedenzfall für den Wandel dieser Institution vom Verteidigungs- zumOffensivbündnis erweisen177. Die NATO verhehle dieses neue Selbstverständnis auch nicht,sondern habe ihre globale Interventionsbereitschaft im "Neuen Strategischen Konzept" (NSK)vom 24. April 1999 in aller Öffentlichkeit schriftlich fixiert178. Welche Dimensionen dieservon den USA in ihrer Rolle als Weltpolizist179 maßgeblich geförderte Prozess dersicherheitspolitischen Modifikation der NATO bereits jetzt für China habe, zeigten dieEreignisse vom 7. Mai 1999. Es wurden nicht nur chinesische Bürger getötet und chinesischesEigentum zerstört, sondern es wurde gewaltsam in eine Zone unter hoheitlichem EinflussChinas eingegriffen – ein Akt von hoher symbolischer Bedeutung.

In der Konsequenz dieser Sicherheitsperzeptionen liegt die Befürchtung, dass die NATO nunauch out of area-Einsätze im Fernen Osten durchführen wird180. Um ein solches Szenario zu

174 Als die 16 Mitglieder der NATO während ihres Gipfeltreffens in Madrid am 8.7.1997 beschlossen, im

Frühjahr 1999 Polen, Ungarn und Tschechien in ihren Kreis aufzunehmen, kommentierte Xinhua dies mitden Worten, dass die USA die Osterweiterung benutzen würden, um "ihre Kontrolle über Europaaufrechtzuerhalten". Zit. nach: China aktuell, Nr.7, Juli 1997, S.625.

175 Vgl.: FAZ, Nr.21, 26.1.1999, S.2.176 Vgl.: Neue Zürcher Zeitung (NZZ), Nr.268, 17.11.1999, S.5.177 Wang Shubai sieht den Kosovo-Krieg als Testfall des NSK an: "The invasion against Yugoslavia was in

essence a trial made by the US-led western powers of NATO's new concept." Ders.: Yearender. Review ofInternational Situation in 1999, 7.12.1999. Übersetzt in: FBIS-CHI-1999-1207.

178 Vgl.: Gao, Shijun: NATO's New Strategic Concept Emerges, in: Beijing Renmin Ribao, 26.4.1999.Übersetzt in: FBIS-CHI-1999-0426. Liu Jiang: NATO's New Strategies Endanger International Security, in:Beijing Xinhua Domestic Service, 26.4.1999. Übersetzt in: FBIS-CHI-1999-0427. Das NSK wurde vonZhou Zunnan mit der Truman-Doktrin von 1947 verglichen: "This is no new strategic concept, it is newinterventionism and a new Truman doctrine!", Ders.: New Concept, Old Doctrine, in: Beijing RenminRibao, 23.4.1999. Übersetzt in: FBIS-CHI-1999-0423.

179 Vgl.: He, Chong: NATO Has Changed Its Role and Become International Police, in: Hong Kong ZhongguoTongxun She, 24.4.1999. Übersetzt in: FBIS-CHI-1999-0425.

180 Wang Yizhou, stellvertretender Direktor des World Economic and Political Research Institute der ChineseAcademy of Social Science, geht davon aus, dass die NATO ihr Einflussgebiet weiter ausdehnt: "[...] first toeast Europe (in a kind of peaceful form), then to southeast Europe and the Balkans (relying on the presentviolent means), and the next step after that may be north Africa, the Middle East, or central Asia, or indeed

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durchleuchten, bereisten chinesische Militärdelegationen bereits vor dem Kosovo-Krieg u.a.Deutschland, wo sie in diversen Veranstaltungen ihre große Sorge vor möglichen out of area-Einsätzen der Nordatlantischen Allianz im asiatisch-pazifischen Raum deutlich erkennenließen181. Pekinger Führungszirkel dürften sich daher mit folgenden Fragen beschäftigen: Inwelcher geografischen Ausdehnung werden künftig out of area-Einsätze der NATOdurchgeführt? Welche Interessen müssen verletzt werden, um derartige Interventionen auf denPlan zu rufen? Liegen Anzeichen für eine gewachsene Interventionsbereitschaft des Westensvor? Befürchtungen reichen so weit, dass die NATO in den nächsten Jahren unter Berufungauf demokratische und menschenrechtliche Prinzipien zum Schutze der Minderheiten in Tibetund Xinjiang gewaltsam eingreifen könnte182. Während des Kosovo-Krieges brachte einLeitartikler der in Guangzhou erscheinenden Tageszeitung Nanfang Zhoumo diese Bedenkenauf den Punkt, indem er titelte "Heute der Balkan, morgen China"183.

Der Kosovo-Krieg könnte sich dann als Fanal für neue Weltordnungsstrukturen entpuppen184.Den USA wird diesbezüglich vorgeworfen, unter dem Deckmantel der Humanität ein neueszwischenstaatliches Interventionsrecht begründen zu wollen185. Dies komme, so Peking, einerAushöhlung des geltenden Völkerrechts gleich, zu dessen Grundlagen die Souveränität derStaaten – und damit das Gebot der Nichteinmischung – gehöre186. Zudem liege dieHauptverantwortung für den "Weltfrieden und die internationale Sicherheit"187 beim UN-Sicherheitsrat (Art. 24 UNCh). Peking scheint nun zu befürchten, dass Washington auf Grund

the whole world". Ders.: Danger Warnings, in: Beijing Renmin Ribao, 12.4.1999. Übersetzt in: FBIS-CHI-1999-0413.

181 Der Verfasser hat im Februar 1999 an einem Kolloquium teilgenommen, das von einem deutschen thinktank mit Vertretern des Instituts für Strategische Studien der Nationalen Verteidigungsuniversität derVolksrepublik China durchgeführt worden ist. Die chinesische Seite ließ dabei unmissverständlich ihreSorge vor out of area-Einsätzen der NATO im Fernen Osten erkennen.

182 Vgl.: Ai, Yu: Kosovo Crisis and Stability in China's Tibet and Xinjiang, in: Hong Kong Ta Kung Pao,2.6.1999. Übersetzt in: FBIS-CHI-1999-0624. Shi Yinhong, Experte für internationale Beziehungen, führtedazu aus: "I feel that hegemonists could possibly intervene in China's affairs on the following issues: theTaiwan issue, the Tibet and Xinjiang issue, the South China Sea islands issue, China internal politicalsystem or China's strategic weapons." Interview Yu Chiehs mit Shi Yinhong, in: Hong Kong Ta Kung Pao,2.7.1999. Übersetzt in: FBIS-CHI-1999-0802.

183 Zit. nach: China aktuell, Nr.4, April 1999, S.328.184 Die Pekinger Führung sehe im Kosovo-Krieg der NATO "einen Präzedenzfall für ein mögliches

militärisches Eingreifen des politischen Westens bzw. der Vereinigten Staaten auch in China." Wacker,Gudrun: Machtpolitik und Hegemoniestreben der USA. China und der NATO-Einsatz in Jugoslawien.Reihe: Aktuelle Analysen des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Nr.21,24.6.1999, S.3.

185 "Using this as precedence, NATO may in the future use 'human rights' as an excuse and carry out militaryintervention against any other country in the world, bypassing the UNSC." Tang Tianri in Liaowang,abgedruckt in: Beijing Xinhua Hong Kong Service, 9.4.1999. Übersetzt in: FBIS-CHI-1999-0409.

186 Vgl. zur chinesischen Völkerrechtsinterpretation den ausführlichen Bericht: Human Rights TranscendSovereignty': The Banner of the New Gunboat Policy, in: Beijing Renmin Ribao, 14.5.1999. Übersetzt in:FBIS-CHI-1999-0515. Si Jiuyue: No More Talk on Human Rights Overriding Sovereignty Please, in:Beijing Xinhua Domestic Service, 26.5.1999. Übersetzt in: FBIS-CHI-1999-0527. Zhen, Yan: Laws CannotTolerate 'Humanitarian Interference', in: Beijing Renmin Ribao, 21.6.1999. Übersetzt in: FBIS-CHI-1999-0623.

187 Diese Formulierung zieht sich wie ein roter Faden durch die Charta der Vereinten Nation (UNCh). Derbesondere Stellenwert des Zieles "Weltfrieden und internationale Sicherheit" ergibt sich u.a. aus seinerPositionierung in der UNCh, wo er nach der Präambel das erste Mal in Art.1, Ziff.1 genannt wird. Vgl. dazu:die Charta der Vereinten Nationen vom 26.6.1945, abgedruckt in: Sartorius II, InternationaleVerträge/Europarecht, München 1992, Dokument Nr.1, S.2.

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seines überlegenen militärischen Instrumentariums grundsätzlich mit zweierlei Maß messenund folglich de facto das Recht des Stärkeren etablieren will. Nebeneffekt dieser Politik sei,dass die Allianz selbst gegen Menschenrechte verstoße, indem sie durch die BombardierungJugoslawiens eine Massenflucht auslöste188. Die USA ließen sich dabei von ihnen genehmenStaaten assistieren, die zu willfährigen Instrumenten des Weltpolizisten würden. EinKommentator der China Daily schlug daher Anfang April 1999 vor, "NATO" künftig mit"Naked Aggression Team Organisation"189 zu übersetzen. Diesem amerikanischen Ansatz derUnipolarität und globalen Hegemonie setzt China eine multipolare Weltordnungsvorstellungsowie die Beachtung der "Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz" entgegen – ohne dabeijedoch über die entsprechenden Instrumente zur Zielumsetzung zu verfügen.

2. Konsequenzen für die chinesische Sicherheitspolitik

Die chinesische Sicherheitsperzeption und ihre Bestätigung durch den Kosovo-Konflikt istinsofern relevant, als sie zum Anlass genommen werden kann, möglicheverteidigungspolitische Schlussfolgerungen der Strategiezentralen Pekings zu reflektieren.Diese sich im Westen, vor allem in den USA, bewusst zu machen, ist unabdingbareVoraussetzung für eine angemessene Gegenreaktion (die hier allerdings nur angedeutetwerden kann).

2.1 Der Strategiediskurs in China

Überlegungen zur Anpassung der chinesischen Sicherheitsstrategie an neueHerausforderungen sind als permanenter Prozess in einem nicht-statischen,sicherheitspolitischen Umfeld anzusehen. Der Kosovo-Krieg kann daher für den derzeitigenDiskurs in Peking nicht als singuläres und isoliertes Element betrachtet werden, das allein fürdie Auslösung aktueller Debatten verantwortlich ist. Seit dem Ende des Ost-West-Konflikteswerden in der chinesischen Führung Konsequenzen für die eigene Sicherheitsstrategiediskutiert, die sich vor allem auf zwei Faktoren konzentrieren: (1) die allgemeine, globaleÜbermacht der USA; (2) den militärtechnologischen Vorsprung der amerikanischenStreitkräfte. Spätestens seit der überlegenen Machtdemonstration der USA während deszweiten Golfkrieges 1991 sieht sich China sicherheitspolitisch unter Handlungs- und vorallem Aufholzwang gesetzt. Der Kosovo-Krieg hat diese Einschätzung bestärkt190; er hatsämtliche chinesischen Befürchtungen – und hier liegt seine besondere Bedeutung für dieaktuelle Debatte – gleichzeitig verschlimmert: Hegemonie-Vorwürfe an die NATO wurdendurch deren Vorgehen auf dem Balkan als bestätigt angesehen; die beklagte eigeneHilflosigkeit fand durch die Ausschaltung des UN-Sicherheitsrates und die Bombardierungder Botschaft in Belgrad ihre Beweisführung.

188 Vgl.: Zhang, Dezhen: Differentiation and Analysis of 'Clean War', in: Beijing Renmin Ribao, 24.8.1999.

Übersetzt in: FBIS-CHI-1999-0825.189 Zit. nach: Thielbeer, Siegfried: Gegen den "Menschenrechtsverletzer Nummer Eins". China macht

Propaganda gegen Washington wegen des Kosovo-Konflikts, in: FAZ, Nr.84, 12.4.1999, S.4.190 Der Kosovo-Krieg habe bei der chinesischen Führung insofern große Sorge ausgelöst, als diese

offensichtlich überrascht gewesen sei, wie groß die Fortschritte der USA im Bereich der militärischenHochtechnologie seit dem Golf-Krieg sind. Diese Sichtweise gab Bates Gill, Direktor des Center forNortheast Asian Policy Studies der Brookings Institution, in einem Gespräch mit dem Verfasser am6.12.1999 wieder.

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Der aktuelle Diskurs über die spezifischen Konsequenzen des Kosovo-Krieges dürfte in Chinaweder einseitig noch abgeschlossen sein. Ursache dafür sind ganz unterschiedlichepersönliche Erfahrungen und Sicherheitsperzeptionen der am Entscheidungsprozessbeteiligten Personen – zu denen sowohl der General, der China nie verließ, als auch derOffizier, der seinen Doktorgrad von einer amerikanischen Universität erhielt, gehören. DieUSA werden daher in der chinesischen Führung ebenso als Freund wie auch als Feindwahrgenommen. Bei der Einschätzung möglicher Anpassungen der chinesischenSicherheitsstrategie kann es daher nur darum gehen, (mögliche) Trends zu erkennen.

Aus einem Memorandum191 eines hochrangigen Asienberaters des Pentagons gehtdiesbezüglich hervor, dass die Debatten in Pekinger Führungszirkeln hinsichtlich derKonsequenzen des Kosovo-Krieges äußerst kontrovers geführt werden. Gleichzeitig scheinensie auf inoffizieller Ebene wesentlich sachlicher zu sein, da z.B. – wie dies im Memorandumbeschrieben wird – nur eine Minderheit es wirklich für möglich halte, dass die USA einesTages in Tibet oder Xinjiang intervenieren192. Die Mehrheit der chinesischen Experten gehtseit dem Kosovo-Krieg jedoch davon aus, "that China's security environment is moreuncertain and less stable than previously thought."193 Peking sehe in Washington einenHegemon, der mache, was er wolle. "Many civilian and military experts say that there is ageneral feeling that Beijing has to prepare for the worst."194 Das Memorandum drückt dieSorge chinesischer Experten aus, "that the U.S. will draw the lesson that air power alonewithout the support of ground forces can be applied successfully to future conflicts, thusincreasing U.S. willingness to rely on military force in the future."195 Daneben gibt es vomKonfrontations- bis zum Kooperationsanhänger jeden nur denkbaren Vorschlag für eineAnpassung der chinesischen Sicherheitsstrategie. Der Asienberater des Pentagons kommtinsgesamt zu einer nüchternen Einschätzung: "Thus, the main thrust of China's foreign policyis likely to remain unchanged. Underlying this policy are two key assessments: China requiresa stable, peaceful environment for economic development; and China is a weak developingcountry that cannot alter the main trends in the international situation."196 NachhaltigeVerbesserungen in den Beziehungen zu den USA werden erst erwartet, wenn im Frühjahr2001 ein neuer Präsident in Washington seine Amtsgeschäfte aufnimmt.

Bei der Beurteilung sicherheitspolitischer Strategievorschläge aus dem Reich der Mitte musszwischen theoretischer Rhetorik und praktischer Wirklichkeit unterschieden werden. In derHitze verbaler Gefechte hat China schon oft Konsequenzen angedroht, die es dann nichtumsetzte. Die chinesische Führung hätte z.B. unmittelbar nach der Bombardierung ihrerBotschaft in Belgrad auf Fragen von Reportern, ob sie sich einen Abschluss der WTO-Verhandlungen mit den USA noch 1999 vorstellen könnte, mit großer Wahrscheinlichkeit mit"Nein" geantwortet. Zahlreiche Beobachter weisen daher Überlegungen, ob sich China 191 Das Memorandum trägt das Datum vom 30.6.1999 und ist mit der Überschrift "Strategic Ferment in China

After NATO's Military Operation in Kosovo" betitelt. Basis der Einschätzung sind Gespräche des Autorsdes Memorandums, die dieser im Juni 1999 mit chinesischen Militäranalytikern und offiziellen Stellen inPeking geführt hat. Der Name des Autors liegt dem Verfasser vor. Weitere Zitation: Asienberater/Pentagon(1999).

192 Marvin Ott, Südostasien-Experte des National War College der NDU, wies in einem Gespräch mit demVerfasser am 29.11.1999 ebenfalls darauf hin, dass chinesische Entscheidungsträger hinter vorgehaltenerHand NATO-Interventionen im Fernen Osten wahrscheinlich nicht für möglich halten.

193 Asienberater/Pentagon (1999), a.a.O.194 Ebd.195 Ebd.196 Ebd.

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außenpolitisch radikalisieren könnte, mit dem Hinweis auf den Pragmatismus der PekingerFührung zurück. Diese wisse sehr genau, dass sie ihr wirtschaftlichesModernisierungsprogramm nur durch fortgesetzte Kooperation mit dem Westenverwirklichen könne. Der Entwicklung der eigenen Ökonomie wird von chinesischen Militärshohe sicherheitspolitische Relevanz zugesprochen. Im Verteidigungsweißbuch "China'sNational Defense" vom Juli 1998 heißt es dazu: "Economic security is becoming daily moreimportant for state security. In international relations, geopolitical, military security andideological factors still play a role that cannot be ignored, but the role of economic factors isbecoming more outstanding, along with growing economic contacts among nations."197

Eine weitere zwangsläufige Relativierung chinesischer Ankündigungen imVerteidigungsbereich ergibt sich aus den begrenzten Mitteln, die für Rüstungsmaßnahmen zurVerfügung stehen. Angesichts eines chinesischen Verteidigungsetats von geschätzten 37,5Mrd. US-Dollar198 im Jahr 1998 – die Verteidigungsausgaben der USA lagen in jenemZeitraum bei 271,3 Mrd. US-Dollar199 – klafft eine große Lücke zwischen dem, was mangerne anschaffen würde, und dem, was finanzierbar ist. Dieses chinesische Dilemma lässt sichexemplarisch an der Debatte der Revolution in Military Affairs (RMA) verdeutlichen. Diechinesische Militärelite hat in zahlreichen Publikationen deutlich gemacht, dass der RMA im21. Jahrhundert eine kriegsentscheidende Bedeutung zukommt200. Experten weisen jedochdarauf hin, dass China in der praktischen RMA-Entwicklung weit zurückliege 201. Die in den90er-Jahren entstandene strategische Vorgabe, in der Zukunft einen local, limited war underhigh-tech conditions führen und gewinnen zu können202, dürfte daher mittelfristig nur schwerumfassend umzusetzen sein.

Solche Zusammenhänge relativieren chinesische Aussagen, Pläne und Optionserwägungen fürdie sicherheitspolitische Zukunft des Landes. Dies kann jedoch nur für den Regelfall gelten;es ist nicht garantierbar, dass Peking stets Handlungsmustern folgt, die sich aus seinemVerhalten in der Vergangenheit und praktischen Zwängen ableiten lassen.

2.2 Sicherheitspolitik im Lichte eines latenten Nationalismus

197 Information Office of the State Council Of the People's Republic of China: China's National Defense,

Peking, Juli 1998. Zitation: Verteidigungsweißbuch (1998). Der Vorgänger dieses Verteidigungsweißbucheserschien 1995 unter dem Titel "China: Arms Control and Disarmament".Internet-Dokument: http://www.chinanews.org/WhitePapers/NationalDefense/NationalDefense.html

198 Vgl.: IISS: The Military Balance 1999/2000, London 1999, S. 186.199 Vgl.: ebd., S.20.200 Die wohl umfangreichste und aussagekräftigste englischsprachige Publikation über chinesische

Überlegungen zur Zukunft der Kriegsführung ist vom Institute for National Strategic Studies (INSS) derNDU veröffentlicht worden. Vgl.: Pillsbury, Michael (ed.): Chinese Views of Future Warfare, WashingtonD.C. 1998. Ab S.249f. äußern sich chinesische Offiziere zur RMA.

201 "It is not likely that China will in any meaningful way close the RMA gap with the US." Dibb, Paul: TheRevolution in Military Affairs and Asian Security, in: Survival, Nr.4, Winter 1997-98, S.108.

202 Im chinesischen Verteidigungsweißbuch von 1998 wird zwar am "strategic concept of people's war"festgehalten. Es besagt aber auch: "[China] makes proper preparations for defensive combat in the situationwhere modern technology, especially high technology, prevails." Verteidigungsweißbuch (1998), a.a.O. Vgl.dazu auch: Shulong Chu: China and Strategy. The PRC Girds for Limited, High-Tech War, in: Orbis, Nr.2,Frühjahr 1994, S.177ff. Godwin, Paul H.B.: The PLA Faces the Twenty-First Century. Reflections onTechnology, Doctrine, Strategy, and Operations, in: Lilley, James R./Shambaugh, David (ed.): China'sMilitary Faces The Future, Washington D.C. 1999, S.39ff.

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Nach der Bombardierung seiner Botschaft in Belgrad ließ China wie wohl nur selten zuvor inden 90er-Jahren die Maske fallen. Das Reich der Mitte erlebte die größten Demonstrationenseit 1989, die sich gegen die "U.S.-led NATO" richteten. US-Flaggen wurden unter Absingender chinesischen Nationalhymne verbrannt, Clinton als "Hitler" und die NordatlantischeAllianz als "faschistische Bande" bezeichnet. Westliche Beobachter fühlten sich an Szenenzurzeit der Kulturrevolution erinnert203. Die chinesischen Behörden duldeten dieMassenproteste in den ersten Tagen, ja die Demonstrierenden erhielten sogar am 9. Mai 1999von Hu Jintao, Vize-Präsident Chinas, offizielle Sympathiebekundungen. Führung und Volkwaren zumindest vorübergehend in nationalistischer Empörung vereint.

Das während dieser Ereignisse beobachtete Ausmaß an chinesischem Nationalismus dürftelangfristig zu den beunruhigendsten Entwicklungen im Fernen Osten gehören. Zwar ist nichtneu, dass die in Peking Regierenden seit einiger Zeit versuchen, Nationalismus alsErsatzvehikel verblasster kommunistischer Ideale zur Legitimation der eigenen Herrschaft zuinstrumentalisieren204. Erstaunlich waren jedoch zwei Ereignisse. Erstens scheint einebeträchtliche Zahl der chinesischen Bevölkerung für nationalistische Parolen offen zu sein.Dies trifft nicht nur für den einfachen Arbeiter zu, sondern auch für die, die als intellektuelleTräger von mehr Demokratie in China gelten: 1989 demonstrierten die Studenten Pekingsgegen ihre Führung und für mehr Demokratie. 1999 dagegen richtete sich ihr Protest imInteresse ihrer Führung gegen das einstige freiheitliche Vorbild, die USA205. Kaum einZweifel besteht daran, dass diese Massenproteste auch ohne Unterstützung durch offizielleStellen stattgefunden hätten. Ganz im Gegenteil: Umfang und Dynamik der Demonstrationendürften nicht wenige in der Pekinger Regierungszentrale überrascht haben. Zweitens ist esäußerst bedenklich, wie einfach es der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) gefallen ist,den Volkszorn zu lenken. Bereits lange vor dem 7. Mai hatte diese behauptet, dass diealbanischstämmige Bevölkerung des Kosovos ihre Heimat wegen der NATO-Luftschlägeverlasse. Folglich sei auch der Bombenangriff gegen das eigene Botschaftsgebäude in derjugoslawischen Hauptstadt Absicht gewesen.

Dem Westen stellen sich nun drei wichtige Fragen: Wie leicht könnte der beobachteteNationalismus in vergleichbaren Situationen eskalieren? Wie sehr wäre eine solche Eskalationvon der KPCh lenkbar und instrumentalisierbar? Welche Konsequenzen könnte dies für diechinesische Außen- und Sicherheitspolitik haben? Zumindest eines dürfte absehbar sein:Kooperation wird mit einem nationalistischeren China nicht einfacher werden.

2.3 Abnehmende Kooperationsbereitschaft

Pekinger Frustrationen nach dem Kosovo-Krieg sowie ein gestärkter Nationalismus könntendazu führen, dass das Interesse Chinas an internationalen Belangen geringer wird, z.B. durcheine noch inaktivere Nonproliferationspolitik. Auch könnte es von seinem angekündigtenVorhaben, eventuell dem Missile Technology Control Regime (MTCR) beizutreten,abrücken. Ebenso wäre eine weitere Hinauszögerung der Ratifikation des Comprehensive

203 Vgl.: Weggel (Mai 1999), a.a.O., S.488.204 Dazu differenziert: Müller-Hofstede, Christoph: Patriotismus in der VR China im Widerstreit zentraler und

regionaler Interessen, in: Staiger, Brunhild (Hrsg.): Nationalismus und regionale Kooperation in Asien,Hamburg 1995, S.99ff.

205 Die angesehene britische Zeitschrift The Economist kommentierte diese Entwicklung süffisant: "Wherestudents a decade ago chanted 'Give us a Gorbachev', most people today say 'Thank God for DengXiaoping'." The Economist, Nr.8122, 5.6.1999, S.69.

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Test Ban Treaty (CTBT) denkbar – wobei sich China nach der Ablehnung dieses Vertragesdurch den US-Senat am 13. Oktober 1999 mit 51 zu 48 Stimmen in einer solchen Absichtohnehin bestätigt fühlen dürfte. In dieser Hinsicht hätte die Intervention der NATO auf demBalkan dazu beigetragen, Abrüstungs- und Rüstungskontrollprozesse durch eine provozierteAbwendung Chinas zu schwächen. Angesichts seiner Hilflosigkeit gegenüber den USA innichtasiatischen Regionen könnte das Reich der Mitte desgleichen dazu übergehen, sichsicherheitspolitisch auf den Fernen Osten zu konzentrieren206. So weit China weiter imSicherheitsrat übergangen wird, dürfte sich ein solcher Trend verstärken. In der erwähnteninoffiziellen Lageeinschätzung des Pentagons heißt es hierzu: "China will continue tocooperate with the U.S.where it has vital interests at stake, but it will be less amenable on issues that in the past it hasworked together with Washington for the primary purpose of promoting better Sino-Americanrelations."207

Eine Verweigerungshaltung Pekings könnte sich aber auch innenpolitisch äußern. Beobachtergehen z.B. davon aus, dass China nach dem Kosovo-Krieg seine Minderheitenpolitiküberdenken wird208. Denn Peking könnte nun zu dem Schluss gelangen, im schlimmsten Fallsogar mit einer westlichen Intervention rechnen zu müssen, sollten in Zukunft Berichte überUnterdrückungsmaßnahmen in Tibet oder Xinjiang an die Öffentlichkeit gelangen. Diechinesische Führung kann darauf auf zweifache Weise reagieren: Entweder versucht sie,durch gewisse Zugeständnisse den Unmut ihrer Minderheiten zu besänftigen. Oder sieverstärkt ihre Anstrengungen, Informationen aus den Minderheitengebieten gar nicht erst andie Weltpresse gelangen zu lassen – mit allen Konsequenzen für die Berichterstattungausländischer Agenturen. Kritiker der KPCh verweisen darauf, dass China selbst etwas fürseine Minderheiten unternehmen müsse, wenn seine Kritik an der Kosovo-Intervention derNATO ernst genommen werden soll209.

Wenn der Westen einer abnehmenden chinesischen Kooperationsbereitschaft entgegenwirkenwill, muss er vor allem die Gesprächspartner in Peking stärken, die für eine Öffnung desLandes eintreten. Denn seit der Bombardierung des chinesischen Botschaftsgebäudes habendie "Falken" um den ehemaligen Ministerpräsidenten Li Peng, der derzeit dem NationalenVolkskongress vorsteht, ein Argument mehr, um ihre Warnungen vor einer zu nachgiebigenHaltung gegenüber dem Westen zu untermauern. Führungsfiguren wie Staats- und ParteichefJiang Zemin sowie Ministerpräsident Zhu Rongji stehen bei den Pekinger Hardlinern seitlängerer Zeit in der Kritik. Jiang hatte es Clinton während dessen Staatsbesuch in Peking imSommer 1998 ermöglicht, dem chinesischen Volk während einer live übertragenenPressekonferenz eine Unterrichtsstunde in Sachen Demokratie zu erteilen. Zhu musste nachseiner Visite in Washington im April 1999 mit leeren Händen zurückreisen, nachdem seineBemühungen, den Beitritt Chinas zur WTO voranzutreiben, trotz chinesischer Zugeständnisseim Weißen Haus auf Ablehnung gestoßen waren. Die Clinton-Administration hat zu dieserSchwächung ihrer wichtigsten Ansprechpartner beigetragen, indem sie es u.a. unterließ, diechinesische Führung via den seit April 1998 zwischen beiden Staaten existierenden "heißenDraht" über ihre Jugoslawien-Politik zu unterrichten. Chinesische Ansichten wurden dadurchim Brüsseler Entscheidungsprozess ignoriert. 206 Kay Möller beobachtete hierzu bereits einen sich abzeichnenden chinesischen "Rückzug aus der Weltpolitik

und die neue Konzentration auf die ostasiatische Peripherie". Möller, Kay: China mauert sich ein. Reihe:Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)-aktuell, Nr.38, Juli 1999, S.1.

207 Asienberater/Pentagon (1999), a.a.O.208 Vgl.: Wacker (1999), a.a.O., S.4f.209 Vgl.: Ching, Frank: China's Opposition to NATO, in: FEER, Nr.18, 6.5.1999, S.35.

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Die Frage der Einbindbarkeit und weiteren Öffnung Chinas wird ein dominierendes Themader angebrochenen Dekade bleiben. Etappensiege wie die WTO-Vereinbarung, die zwischenamerikanischen und chinesischen Unterhändlern am 15. November 1999 in Pekingabgeschlossen worden ist, haben die bekannten Differenzen beider Akteure nur kurzfristiggedämpft, aber letztlich nicht nachhaltig gelöst. Dies haben bereits die jüngsten Ereignissenach der WTO-Vereinbarung deutlich gemacht: Während des Gipfeltreffens vom 9.-10.Dezember zwischen Boris Jelzin und Jiang Zemin in China wurde auf breiter Front erneutKritik amamerikanischen Unilateralismus, vor allem in seiner Form von Raketenabwehrplänen,geäußert. Im selben Monat sorgte ein von Clinton unterzeichnetes Gesetz, das die AufnahmeTaiwans in die World Health Organization (WHO) unterstützt, für Unmut in Peking. ImJanuar 2000 kündigten die USA an, sich in diesem Jahr für eine Verurteilung Chinas in derUN-Menschenrechtskommission einzusetzen, u.a. weil die chinesische Führung weiter an derUnterdrückung der religiösen Sekte Falun Gong fest halte. Entsetzen löste schließlich inChina am 2. Februar die Verabschiedung des "Taiwan Security Enhancement Act" durch dasamerikanische Repräsentantenhaus aus. Eine deutliche Mehrheit von 341 zu 70 Stimmensetzte sich für engere Militärbeziehungen zwischen Taipeh und Washington ein.Unterschiedliche Ansichten in Wert- und Systemfragen sowie ein mangelndersicherheitsstrategischer Konsens bleiben daher die beiden Kernprobleme zwischen China undden USA210. Der Kosovo-Krieg hat erneut offen gelegt, auf welch tönernen Füßen beideAkteure kooperieren und wie groß das gegenseitige Misstrauen ist. Zwar sind mittlerweileeinige zerbrochene Scherben wieder verklebt worden. Ende Juli 1999 stellten die USA eineEntschädigungssumme von 4,5 Mio. US-Dollar für die Opfer der Bombardierung derchinesischen Botschaft zur Verfügung; im Dezember einigten sich beide Regierungen dannauf ein wechselseitiges Kompensationsabkommen für die in Belgrad und Peking beschädigtendiplomatischen Vertretungen (die USA zahlen demnach China 28 Mio. US-Dollar underhalten im Gegenzug 2,87 Mio. US-Dollar211). Zudem haben beide Seiten ihreMilitärbeziehungen am 24. Januar 2000 durch den offiziellen Washington-Besuch vonGeneralleutnant Xiong Guangkai wieder aufgenommen. Das im Herbst 1997 von Jiang undClinton in Washington vollmundig erklärte Ziel einer constructive strategic partnership kannman heute aber trotzdem nur noch als Farce bezeichnen.

2.4 Der Kosovo-Krieg als Katalysator zusätzlicher Rüstungsmaßnahmen undstrategischer Anpassungen

China dürfte den Kosovo-Krieg zum Anlass nehmen, sein Rüstungsprogramm noch stärkervoranzutreiben bzw. für bereits vorhandene Aufrüstungspläne einen weiterenRechtfertigungsgrund ins Feld zu führen. Teilweise scheint sogar überlegt zu werden, dieGewichte innerhalb des nach dem Tode Maos entwickelten Programms der "VierModernisierungen" zu Gunsten einer Konzentration auf den Aspekt der Verteidigung zuverlagern212. Beschaffungsüberlegungen dürften sich dabei auf zwei Bereiche konzentrieren:

210 Vgl.: Wagener, Martin: Plädoyer für einen neuen "strategischen Konsens" zwischen China und den USA, in:

ÖMZ, Nr.6, November/Dezember 1998, S.649ff.211 Vgl.: Laris, Michael: U.S., China Reach Deal On Embassy Payments, in: The Washington Post, 16.12.1999,

S.A32.212 Eine entsprechende Andeutung machte Donglai Ren in einem Gespräch mit dem Verfasser am 6.12.1999.

Ren war zu jenem Zeitpunkt Visiting Fellow an der Washingtoner School of Advanced International Studies(SAIS).

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Zum einen geht es grundsätzlich darum, wie erwähnt, auf die erwarteten High-Tech-Kriegeder Zukunft besser vorbereitet zu sein. Die Waffenschau der NATO im Kosovo-Krieg hat allediesbezüglichen chinesischen Sicherheitsüberlegungen nachhaltig bestätigt. GeneralleutnantZheng Bingqing, stellvertretender Kommandeur der Militärregion Nanjing, merkte hierzu an:"The war in Kosovo has made us more sober-minded. If we do not master the ever-changinghigh technology, it is hard for us to gain the initiative in modern war."213 Zum anderen wirdChina versuchen, auf eine konkrete Schwäche zu reagieren, die bei den Serben besonders zubeobachten war. Denn um auf ein Kosovo-Szenario besser vorbereitet zu sein, müssten vorallem die Kapazitäten im Bereich der Luftabwehr verbessert werden214. ChinesischeBeobachter weisen darauf hin, dass sich die USA sowohl gegen Libyen als auch gegen denIrak und Jugoslawien darauf konzentriert hätten, mittels strategischer Luftschläge ihreKriegsziele entscheidend zu beeinflussen. Basis seien militärtechnologische Fortschritte, dieden digitalen Distanz-Krieg ermöglichten. Die Hong Kong Ta Kung Pao zog daraus währendder NATO-Operationen gegen das Milo�eviæ-Regime den Schluss: "In view of this, weshould place the greatest strategic importance on anti-air raid operations and beef up ourpreparations in this respect."215 Dass Peking auf diesem Felde nicht wehrlos ist, wurde derWeltöffentlichkeit am 1. Oktober 1999 demonstriert. Während der Militärparade zu Ehren des50-jährigen Bestehens der Volksrepublik China führte die People's Liberation Army (PLA)u.a. die Boden-Luft-Rakete S-300 vor.

Neben der Frage der Beschaffung spezifischer Rüstungsgüter ist zu überlegen, ob China auchstrategische Schlussfolgerungen hinsichtlich der Kriegsführung ziehen könnte. Die haushoheamerikanische Überlegenheit wird zwar durch das bekannte Potenzial chinesischerNuklearwaffen im Sinne der Abschreckung relativiert. Unterhalb der Schwelle desAtomkrieges haben es die Chinesen dagegen schwer, eine glaubhafte deterrence aufzubauen,da die USA ihnen auf jedem konventionellen Waffengebiet weit voraus sind. Der Weg ausdiesem Dilemma könnte in einer neuen Konzentration auf Formen des asymmetric warfareliegen – eine Einschätzung, die von der großen Mehrheit der Washingtoner China watchersgeteilt wird216. Im asymmetric warfare würde sich China auf die empfindlichen Stellen desamerikanischen Verteidigungsapparates konzentrieren, um einer direkten Konfrontation aufgleicher Ebene, die der Schwache gegen den Starken verlieren muss, auszuweichen (wie esdereinst bereits die Vietnamesen mit ihrer Guerilla-Taktik im Krieg gegen die Amerikanertaten). Denkbar wären z.B. Angriffe gegen die auf Informationstechnologie gestützteInfrastruktur der USA im Rahmen des information warfare217, den sich China finanziell besser

213 Zit. nach: Xi, Qixin/Zhao, Yo ngxin: Advancing Toward High Technology. High-Ranking Military Cadres

Attending a Hi-Tech Training Course, in: Beijing Xinhua Domestic Service, 13.6.1999. Übersetzt in: FBIS-CHI-1999-0615.

214 Vgl.: Wacker (1999), a.a.O., S.5f.215 Kung, Shuang-yin: Science and Technology Are Most Needed for Strengthening National Strength, in:

Hong Kong Ta Kung Pao, 21.5.1999. Übersetzt in: FBIS-CHI-1999-0604.216 Darauf wies James R. Lilley im erwähnten Gespräch mit dem Verfasser nachdrücklich hin. China werde sich

in einem möglichen asymmetric warfare gegen die USA auf die Neutralisierung folgender Faktorenkonzentrieren: (1) Satellitensysteme, (2) Kommunikationssysteme, (3) Flugzeugträgergruppen und (4)Stealth-Bomber.

217 Vgl.: zu den chinesischen Anstrengungen in diesem Bereich: Ahrari, M. Ehsan: Chinese prove to beattentive students of information warfare, in: Jane's Intelligence Review, Nr.10, Oktober 1997, S.469ff.RichardClarke, Nationaler Koordinator des Critical Infrastructure Assurance Office der USA, bezeichnet dieSchädigungsmöglichkeiten im information warfare als ungleich dramatischer als den japanischen Angriffauf Pearl Harbor. Vgl.: Rötzer, Florian: Infowar gegen die USA. Schlimmer als Pearl Harbor, 10.12.1998.Internet-Dokument: http://www.heise.de/tp/deutsch/special/info/6339/1.html

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leisten kann und für den die Pekinger National Defense University bereits führende Offiziereausbildet218. Zum asymmetric warfare werden desgleichen militärische Präventivschlägegehören219, um etwa den Truppenaufmarsch der USA bzw. sich anschließende Luft- und/oderLandeoperationen bereits im Keim zu ersticken. Die PLA könnte dazu sowohl B- als auch C-Waffen gegen Häfen und Flugplätze in Südkorea sowie Japan einsetzen, um deren Nutzungdurch Kontamination zu verhindern. Zudem könnte erwogen werden, in Frage kommendeKüstengebiete Chinas chemisch zu verseuchen. Ziel wäre, zu verhindern, dass sich die USAeine komfortable Position für ihre Interventionsvorhaben schaffen können – ein Vorgehen,das von chinesischen Militärexperten als Konsequenz des Kosovo-Krieges ernsthaft erdachtwird220. In der radikalsten Form könnte Peking sogar dazu übergehen, sich künftig die Optionoffen zu halten, im Ernstfall alle anerkannten Regeln des Kriegsvölkerrechtes zu ignorierenund zu einer Strategie des "totalen Krieges" überzugehen – wie dies Milo�eviæexemplarisch durch die rücksichtslose Vertreibung der Kosovaren vorgeführt hat.

Für Aufsehen sorgte diesbezüglich im vergangenen Jahr die Publikation des Buches"Unrestricted Warfare: Assumptions on War and Tactics in the Age of Globalization"221. Eswurde von zwei chinesischen Offizieren, Oberst Qiao Liang und Oberst Wang Xiangsui,verfasst. Beobachter interpretierten den spektakulären Titel sogleich dahingehend, dass dieAutoren Krieg im Sinne der Gewaltanwendung auf allen denkbaren Ebenen für angebrachthalten, wenn es um die Bekämpfung eines übermächtigen Gegners geht. Demnach seienterroristische Anschläge, die Zerstörung der Umwelt oder eine Forcierung des Drogenhandelsals legitime Instrumente zu betrachten222. Es verwundert kaum, dass amerikanische Militärsaus einer solchen Perspektive sehr nervös auf dieses Werk reagiert haben. Von anderer Stellewird jedoch darauf hingewiesen, dass unter "unrestricted warfare" lediglich ganzgrundsätzlich zu verstehen sei, dass der Krieg der Zukunft in jeder denkbaren Weise geführtwerden wird – also nicht nur auf der militärischen, sondern auch auf der politischen,ökonomischen, kulturellen oder psychologischen Ebene. Auch richteten sich die Autoren mitihrer Abhandlung nicht direkt gegen die USA. Sie würden aber angesichts begrenzterfinanzieller Ressourcen eruieren, was China unternehmen muss, um auf eine nichtauszuschließende Auseinandersetzung mit den USA wenigstens vorbereitet zu sein223.

218 Vgl.: Si, Liang: Chinese Armed Forces Are Increasing Their Capacity for Fighting Electronic Information

Warfare, in: Hong Kong Zhongguo Tongxun She, 9.8.1999. Übersetzt in: FBIS-CHI-1999-0810.219 Aus der chinesischen Perspektive wird dies mit "gaining the initiative by striking first" umschrieben. Vgl.:

Stokes, Mark A.: China's Strategic Modernization: Implications for the United States, Washington D.C.,September 1999, S.9. "Absorbing lessons learned from the Gulf War, the PLA believes an enemy such as theUnited States is most vulnerable when it is deploying forces and logistics to the area of operations. Apreemptive strike during this phase, many PLA strategists believe, will significantly offset the an enemy'stechnological advantages." Ebd., S.97.

220 Vgl.: Lawrence, Susan V.: Doctrine of Deterrence, in: FEER, Nr.41, 14.10.1999, S.27.221 Bislang gibt es keine englischsprachige Übersetzung dieses Werkes. Es existiert lediglich eine Übersetzung

des Vor- und Nachwortes, abgedruckt am 10.8.1999 in: FBIS-FMN-99-00481.222 Vgl.: Pomfret, John: Wars, Past and Future. China Looks Beyond Old Rules, in: International Herald

Tribune (IHT), 9.8.1999, S.1 u. 4.223 Vgl.: dazu die Buchrezension von Dean Cheng, abgedruckt voraussichtlich in: Small Wars and Insurgencies,

Nr.1/2000. Cheng ist Senior Analyst der Force Analysis Division der Science Applications InternationalCorporation (SAIC) in Washington D.C.; er umschreibt die Position der Autoren hinsichtlich der Zukunftder amerikanisch-chinesischen Beziehungen wie folgt: "In their opinion, the United States is intent onmaintaining its position as the world's only superpower, and therefore will act in pursuit of its own interests.Maintaining its position will, therefore, probably place the US in opposition to the PRC; not out of malice,but out of simple power politics. The United States will almost certainly view the PRC as being at least apotenzial opponent. Thus, the PRC, too, must be prepared to deal with the United States."

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"Unrestricted Warfare" gibt nicht die offizielle Position der PLA wieder. Beobachter weisenjedoch darauf hin, dass der große Verkaufserfolg dieses Buches eine gewisse Zustimmung zuseinen Grundaussagen impliziert.

Jenseits des Reiches der Mitte könnten Akteure des Fernen Ostens mit einer ähnlichenSicherheitsperzeption versuchen, verstärkt nach Massenvernichtungswaffen undentsprechenden Trägersystemen zu streben, bei denen bereits ein geringes Potenzial ausreicht,um eine Abschreckungswirkung selbst gegenüber humanitären Interventionsabsichten einerhochüberlegenen Supermacht aufzubauen. Derartige "strategische Gleichmacher" sind in derStaatenwelt äußerst begehrt, was zuletzt die Atombombentests Pakistans und Indiens im Mai1998 gezeigt haben224. Die Befindlichkeiten Neu-Delhis wurden deutlich, als nach dem Testder Mittelstreckenrakete Agni II (Reichweite je nach Nutzlast bis zu 2.500 km) am 11. April1999 dem empörten Westen die Motive dieser Waffenvorführung erläutert wurden. DerGeschäftsführer des indischen National Security Advisory Board (NSAB), K.Subrahmanyam, wies darauf hin, dass die NATO-Luftangriffe gegen Serbien gezeigt hätten,dass Raketen als legitimes Verteidigungsmittel eines Landes betrachtet werden müssten225.Hardliner des NSAB, wie z.B. Bharat Karnad, vertreten sogar die Auffassung, dass Indienüber ICBMs verfügen müsse, die im Ernstfall gegen die USA eingesetzt werden könnten226.Auch die im Jahr 1999 mehrfach geäußerte Ankündigung Nordkoreas, die LangstreckenraketeTaepo-Dong 2 (Reichweite je nach Nutzlast bis zu 10.000 km) testen zu wollen, könnteteilweise durch den Kosovo-Krieg beeinflusst gewesen sein – als Hinweis darauf, einermöglichen Intervention der USA nicht völlig hilflos gegenüberstehen zu wollen. Beobachtergehen davon aus, dass die nordkoreanische Führung geschockt auf die amerikanischeMachtdemonstration auf dem Balkan reagiert habe, weshalb der Führung um Kim Jong-il ein"Kosovo syndrome"227 attestiert wird. Offensichtlich ist aus dem Kosovo-Krieg der Schlussgezogen worden, dass die USA auch gegenüber Nordkorea dazu übergehen könnten,Streitfragen mit Gewalt zu lösen228.

Die wohl deutlichsten Konsequenzen hat aber diesbezüglich Moskau gezogen, Pekingswichtigster Verbündeter in der Kritik des Vorgehens der NATO. Am 10. Januar 2000 verfügteder amtierende Präsident, Wladimir Putin, zentrale Änderungen des "Konzepts der nationalenSicherheit" Russlands, das in seiner neuen Form Ausdruck abgekühlter Beziehungen zu denUSA ist229. Das Sicherheitskonzept sieht das Land zu Beginn des neuen Jahrhundertszunehmenden militärischen Bedrohungen ausgesetzt. Dafür werden vor allem die veränderteMilitärstrategie der NATO sowie der eigene wissenschaftlich-technische Rückstand

224 Die NZZ wies in diesem Zusammenhang Ende Juli 1999 auf "Rückschläge für die internationale Abrüstung"

hin, die unvermeidbar seien, wenn immer mehr Staaten "zunehmend ABC-Waffen als Gegengewicht zurglobalen Führungsposition Amerikas" betrachten. NZZ, Nr.171, 27.7.1999, S.3.

225 Vgl.: NZZ, Nr.86, 15.4.1999, S.9.226 Vgl.: Dhume, Sadanand: Choosing the Target, in: FEER, Nr.37, 16.9.1999, S.30.227 Diese Formulierung benutzte Oknim Chung in einem Gespräch mit dem Verfasser am 30.11.1999. Chung

war zu jenem Zeitpunkt Visiting Fellow am Center for Northeast Asian Policy Studies der BrookingsInstitution.

228 In einem solchen Fall hält es Charles Shotwell, Fachmann für Sicherheitspolitik am INSS der NDU, fürmöglich, dass NATO-Komponenten wie etwa Airborne Warning and Control Systems (AWACS) auf dieKoreanische Halbinsel abbeordert werden. Shotwell äußerte diese Ansicht in einem Gespräch mit demVerfasser am 19.11.1999.

229 Vgl.: Adomeit, Hannes: Widersprüchlich und wenig Erfolg versprechend. Das neue Sicherheitskonzeptkönnte den Niedergang Russlands als Großmacht noch beschleunigen, in: FAZ, Nr.38, 15.2.2000, S.11.NZZ, Nr.17, 21.1.2000, S.7.

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verantwortlich gemacht. Vor diesem Hintergrund wurde die Nukleardoktrin modifiziert. DerEinsatz von Atomwaffen wird nun im "Falle einer bewaffneten Aggression, wenn alleanderen Mittel der Lösung einer Konfliktlage ausgeschöpft oder nicht wirksam sind", als"notwendig und gerechtfertigt"230 betrachtet (das alte Sicherheitskonzept von 1997 sah einenNukleareinsatz erst dann vor, wenn "die Existenz Russlands als souveräner Staat bedrohtist"231). Seit dem Kosovo-Krieg hat Moskau durch diverse Militärmanöver, die an die Musterdes kalten Krieges erinnern, vorgeführt, dass es sich gegen Interventionen wie die der NATOzur Wehr setzen könnte. Die Absenkung der Schwelle des Einsatzes von Atomwaffen imneuen Sicherheitskonzept kann als Höhepunkt dieser Entwicklung betrachtet werden. Moskausignalisiert Washington auf diese Weise, sich aus inneren russischen Angelegenheiten wiedem Tschetschenien-Konflikt herauszuhalten. In diesem Sinne sind auch Mahnungenrussischer Politiker an ihre amerikanischen Gäste zu verstehen, dass Russland nichtJugoslawien und Tschetschenien nicht Kosovo sei. Der Oberkommandierende der russischenLuftstreitkräfte, Generalleutnant Anatoli Kornukov, warnte den Westen am 17. November1999 unverblümt: "We will deal decisively with any interference. Let them not think we aretotally impotent."232 Boris Jelzin ging während seines Staatsbesuchs in China im vergangenenDezember noch einen Schritt weiter, als er die Kritik Bill Clintons am russischenTschetschenien-Feldzug drohend zurückwies: "It seems he has for a minute, for a second, forhalf a minute, forgotten that Russia has a full arsenal of nuclear weapons."233 Zumindestoffiziell scheinen die USA die verbale und physische show of force Russlands nicht ernst zunehmen, da diese mit Verweis auf die ökonomische und militärische Rückständigkeit ihreseinstigen Angstgegners stets heruntergespielt wird.

Humanitäre Interventionen unter US-Führung mögen ein Segen für unterdrückteBevölkerungsgruppen sein sowie wenigstens kurz- und mittelfristig subregional stabilisierendwirken, einen langfristigen Beitrag zum Weltfrieden und der internationalen Sicherheit –oberste Ziele der Charta der Vereinten Nationen – dürften sie dagegen kaum liefern. Dennfalls Staaten den Eindruck gewinnen, dass das Prinzip nationaler Souveränität keinenvölkerrechtlichen Schutz mehr bietet, gibt es Ersatzschutz jenseits westlicherNormübernahme respektive Kooperationsbereitschaft nur auf zwei Wegen: Aufrüstungund/oder Verschärfung der Militärstrategie.

2.5 Rückwirkungen auf die Lage in der Taiwan-Straße

Es ist relativ wahrscheinlich, dass China mehrere Parallelen zwischen dem Kosovo-Krieg undeiner möglichen Konfrontation in der Taiwan-Straße sieht. Zum einen dürften chinesischeStrategen befürchten, dass die USA tatsächlich gewillt sind, Drohungen Taten folgen zulassen. Wenn sie sich außerdem bereits auf dem Balkan aus rein humanitären Gründenengagieren, dann könnten sie dort, wo es wie im Falle einer möglichen Verteidigung Taiwansum strategische Interessen geht, wesentlich schneller den Einsatz ihres Militärapparatesbefehligen. Peking dürfte folglich die Frage, ob Washington Taipeh im Ernstfall militärisch

230 Zit. nach: FAZ, Nr.11, 14.1.2000, S.1.231 Zit. nach: ebd.232 Zit. nach: Suro, Roberto: Russia's Ailing Military Flexes Muscles to West, in: IHT, 19.11.1999, S.7.233 Zit. nach: Laris, Michael: In China, Yeltsin Lashes Out at Clinton, in: The Washington Post, 10.12.1999,

S.A35.

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beistehen wird, nach dem Kosovo-Krieg eher mit "Ja" beantworten234. Dies könnte Chinasowohl abschrecken, worauf das Pentagon hofft, als auch dazu veranlassen, sich nun erst rechtauf asymmetric warfare vorzubereiten. Letzteres dürfte von der PLA als Option in derTaiwan-Straße klar angestrebt werden. Darauf wies jüngst der Kauf von zwei russischenZerstörern der Sovremenny-Klasse hin, von denen das erste Exemplar im Februar 2000 diechinesische Küste erreichte235. Sie sind mit Überschall-Antischiffs-Raketen des Typs SS-N-22("Sunburn") ausgerüstet, gegen die die amerikanische Navy derzeit wohl keinVerteidigungsmittel besitzt236. Bestückt mit einem nuklearen Sprengkopf, wären sie aus einerDistanz von geschätzten 100-160 km in der Lage, eine komplette US-Flugzeugträgergruppezu neutralisieren – die sich folglich de facto in Geiselhaft befindet, würde sie sich wie imMärz 1996 im Krisenfall erneut in Richtung Taiwan-Straße bewegen. Die Sovremenny-Zerstörer könnten insbesondere im Zusammenspiel mit den U-Booten der Kilo-Klasse237 vonChina dazu benutzt werden, die USA zu zwingen, sich eine militärische Intervention zuGunsten Formosas doppelt zu überlegen238.

Des Weiteren dürfte Peking die Länge des ungleichen Krieges im Kosovo sehr zu denkengegeben haben. Deutlich wurde, wie schwer es einer Übermacht wie der NordatlantischenAllianz fallen kann, einen vermeintlich weit unterlegenen Akteur zu besiegen. Der Vergleichmit der Lage in der Taiwan-Straße fällt auf der abstrakten Ebene für Peking negativ aus: Dennder potenzielle Angreifer China ist ungleich schwächer als die NATO, der potenzielleVerteidiger Taiwan dagegen wesentlich schlagkräftiger als Jugoslawien. Dies wird denchinesischen Militärs plastisch vor Augen geführt haben, wie schwierig eine OkkupationFormosas wäre. Folglich müsste China, so ein Beobachter, entsprechende Maßnahmenergreifen und könnte dabei eventuell sogar zu dem Schluss gelangen, die Taiwan-Frage nunmöglichst schnell lösen zu müssen239. Am 21. Februar 2000 kündigte der chinesische Staatsratin einem Weißbuch zur Taiwanfrage exakt diese Intention an: Taipeh wird mit militärischenMaßnahmen gedroht, sollte es sich Verhandlungen über eine Wiedervereinigung aufunbestimmte Zeit entziehen240.

Eine chinesische Invasion ("Normandie-Szenario") zur Eroberung Taiwans wird auf Grundmangelnder amphibischer Kapazitäten Chinas und umfangreicher taiwanischerLuftstreitkräfte seit langer Zeit für wenig wahrscheinlich gehalten. Für die Kriegsführung in

234 "Many researchers, especially in the PLA say they are now certain that the U.S. will use force to defend

Taiwan in the event of a Chinese attack and they are worried that the likelihood of a Sino-American militaryconfrontation in the Taiwan Strait has increased." Asienberater/Pentagon (1999), a.a.O.

235 Vgl.: Pomfret, John: China, Russia Solidifying Military Ties, in: The Washington Post, 10.2.2000, S.A1 u.17. Smith, Craig S.: China's Missile-Laden Ship a Risk to U.S.'s Asian Fleet, in: IHT, 10.2.2000, S.5.

236 Vgl.: FEER, Nr.45, 11.11.1999, S.8. Siehe dazu auch den kritischen Kommentar von Bates, Gill: China'sNewest Warships, in: FEER, Nr.4, 27.1.2000, S.30.

237 Seit 1999 verfügt China über insgesamt vier U-Boote dieses Typs, die aus russischer Produktion stammen.Sie gelten als besonders schlagkräftig, da sie sich äußerst leise fortbewegen. Zudem sind ihre Torpedosschwer zu orten, weil sie sich dem anzugreifenden Schiff von hinten nähern und dabei die Geräusche derSchiffsschraube als Tarnung nutzen können.

238 Stokes führt dazu aus, dass die chinesische Rüstungsmodernisierung "appears to be geared towardcountering U.S. ability to intervene in a cross-Strait conflict. This anti-access strategy is centered ontargeting operational centers of gravity, including C2 centers, airbases, and aircraft carrier battle groupslocated around the periphery of China." Ders. (1999), a.a.O., S.142f.

239 Diese Conclusio erwähnte James C. Mulvenon, China-Experte der RAND Corporation, in einem Interviewmit dem Verfasser am 7.12.1999.

240 Vgl.: Pomfret, John: China Issues New Taiwan Ultimatum, in: The Washington Post, 22.2.2000, S.A01.

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einer Auseinandersetzung mit Taiwan bleiben folglich zwei Optionen übrig: (1) Eine Strategieder Erschöpfung des Gegners könnte entweder durch einen Stellungs- und Abnutzungskriegoder durch eine Untergrabung der Stabilität Taiwans, was im Sinne Sun Tzus als Sieg ohneKampf zu bevorzugen wäre241, erfolgen. Letzteres könnte z.B. wie im März 1996 durch eineVerunsicherung des taiwanischen Marktes mittels chinesischer Raketentests in der maritimenWirtschaftszone Formosas geschehen, dann nur wesentlich intensiver. (2) Eine Strategie derÜberrumpelung könnte eine Invasion möglich machen, wenn sie quasi über Nacht erfolgt.Überlegungen hierzu konzentrieren sich auf zwei Elemente: Zum einen müsste durchRaketenschläge die militärtechnische Infrastruktur geschädigt werden. Im Visier solcherOperationen, die als paralyzing strikes bezeichnet werden, lägen dann vor allem C4I-Knotenpunkte (C4I = Command, Control, Communications, Computers, Intelligence) undFlughäfen, um die für eine Landeoperation notwendige Lufthoheit zu erringen. China könntedes Weiteren durch den Einsatz von Grafitbomben Hochspannungsleitungen, aber auch ganzeElektrizitäts- und Umspannwerke außer Betrieb setzen. Dabei würde der SprengsatzGrafitfäden über ein breites Gebiet streuen, die, wenn sie sich über nicht isolierteStromleitungen legen, Kurzschlüsse hervorrufen. Auch hier könnte Peking aus dem Kosovo-Krieg lernen: Nach dem Einsatz der ersten Grafitbombe am 2. Mai 1999 fiel in 70 % desjugoslawischen Staatsgebietes für sieben Stunden der Strom aus 242. Ziel derartiger Angriffewäre, durch Schädigung sensitiver Punkte des Zivillebens Panik im Inselstaat auszulösen. Dasdann entstehende Chaos – vergleichbar mit der Situation nach dem großen Erdbeben aufTaiwan am 21. September 1999, nur wesentlich umfassender –, verbunden mit einer Lähmungder militärischen Infrastruktur, könnte von China zur Invasion ausgenutzt werden, die wegenmangelnder und schlecht organisierter Gegenwehr wesentlich bessere Erfolgschancen hätte.Kurzum: Je ungebräuchlicher he rkömmliche Eroberungspläne den chinesischen Militärs –auch und gerade nach den Erfahrungen des Kosovo-Krieges – erscheinen, desto stärkerwerden sie nun geneigt sein, Alternativen zu erwägen. Das Ergebnis dieses Prozesses könntedie USA vor wesentlich größere Herausforderungen in der Taiwan-Straße stellen, da China inseinen Kriegsüberlegungen unkalkulierbarer wird.

Die unsichere Variable in diesen Strategiespielen ist Taiwan. Seit Lee Teng-hui in einemInterview mit der Deutschen Welle am 9. Juli 1999 die Beziehungen zwischen China undTaiwan als "special state-to-state relationship"243 beschrieben hat, sieht Peking dieMöglichkeit, dass Formosa offiziell seine Unabhängigkeit erklärt, als wesentlichwahrscheinlicher an. Lee dürfte bei seinem Vorstoß ebenfalls durch den Kosovo-Kriegbeeinflusst gewesen sein – stets hoffend, dass ihm die USA im Ernstfall die Hilfe zukommenlassen würden, die auch die Kosovaren erhielten244.

241 "In all deinen Schlachten zu kämpfen und zu siegen ist nicht die größte Leistung. Die größte Leistung

besteht darin, den Widerstand des Feindes ohne einen Kampf zu brechen. In der praktischen Kriegskunst istes das Beste überhaupt, das Land des Feindes heil und intakt einzunehmen; es zu zerschmettern und zuzerstören ist nicht so gut." Sunzi: Die Kunst des Krieges (herausgegeben und mit einem Vorwort von JamesClavell), München 1998, S.35. "Sun Tzu" ist in der allgemeinen Debatte gebräuchlicher als "Sunzi".

242 Vgl.: FAZ, Nr.112, 17.5.1999, S.6.243 Diese Formulierung wiederholte er in einem Beitrag für die Foreign Affairs. Vgl.: Lee, Teng-hui:

Understanding Taiwan. Bridging the Perception Gap, in: Foreign Affairs, Nr.6, November/Dezember 1999,S.12. Der Text seines Gesprächs mit der Deutschen Welle am 9.7.1999 ist abgedruckt in: InternationalePolitik, Nr.9, September 1999, S.114ff. Vgl. dazu auch die Analyse von: Kindermann, Gottfried-Karl:Machtprobe oder Semantik. Die Zeitbombe in der Straße von Taiwan, in: Internationale Politik, Nr.10,Oktober 1999, S.53ff.

244 Vgl. hierzu den Kommentar von: Madsen, Robert: Taiwan's Kosovo Precedent, in: FEER, Nr.39, 30.9.1999,S.28.

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2.6 China als potenzieller Profiteur amerikanischer Kriegsführungsschw ächen

Die chinesische Führung könnte in gewisser Weise aber auch beruhigendeSchlussfolgerungen aus dem Kosovo-Krieg ziehen. Denn in der Machtdemonstration derUSA wurden Grenzen ihrer militärischen Schlagkraft deutlich. Trotz massivster Luftangriffekonnte das kleine Jugoslawien mehr als zweieinhalb Monate Widerstand leisten – der vonmancher Seite erwartete Blitzkrieg blieb aus. Washington konnte dabei auch erleben, wieschwierig die Konsensbildung in einem Bündnis von 19 Staaten ist, die z.T. jeder für sichganz eigene Interessen auf dem Balkan verfolgten (Griechenland verweigerte z.B. vollendsseine Beteiligung an den Luftoperationen) und damit ein geschlossenes Auftreten der Allianzerschwerten. China wurde vorgeführt, dass ein Koalitionskrieg nicht unproblematisch ist245.Im Falle der Kosovo-Operation scheint er nur mit viel Glück zum Erfolg geführt zu haben, da– hätte Milo�eviæ nicht eingelenkt – innerhalb der NATO der Handlungskonsens mitzunehmender Kriegsdauer sank.

In ihrer Konzentration auf Luftschläge haben die USA gezeigt, Krieg ohne eigene Verlusteführen zu wollen246. Ergebnis ist eine beeindruckende Bilanz: Das Bündnis verlor in 37.465Lufteinsätzen der Operation "Allied Force", von denen 14.006 Angriffsflüge waren247, nichteinen einzigen Piloten und gerade einmal zwei Flugzeuge durch Kampfeinwirkung (eine F-117 und eine F-16). Beobachter gehen davon aus, dass Russland sich während desTschetschenien-Krieges eng an diese NATO-Strategie angelehnt hat, da es zunächst ebenfallsmassiv Luftschläge durchführte248 – eine Vorgehensweise, die China eines Tages gegenbeherrschbare Gegner in gleicher Weise zum Vorbild erklären könnte. Peking dürfte aberauch erkannt haben, dass der Luftkrieg der Allianz Schwierigkeiten offenbarte: Durch denVerzicht auf kombinierte Militäroperationen, in denen zusätzlich Bodentruppen zum Einsatzgekommen wären, nahm sich die NATO strategische Optionen – ein psychologischer Defekt,der künftig nur schwer zu beheben sein wird. Die panische Berichterstattung amerikanischerMedien nach der am 31. März 1999 erfolgten Gefangennahme von drei US-Soldaten durchdas serbische Militär deutete an, welchem innenpolitischen Druck sich das Weiße Haus imFalle eines fehlgeschlagenen Einsatzes von Bodentruppen ausgesetzt sehen könnte. DieLuftschläge offenbarten zudem in ihrer Wirkung diverse Schwächen. Die Schadensbilanz derNATO musste im Nachhinein sogar korrigiert werden, da die Allianz u.a. infolge serbischerTäuschungsmanöver wesentlich weniger Ziele als zunächst angegeben neutralisiert hatte (sowurden statt der zunächst vermuteten ca. 180 Panzer nur 93 getroffen; ob sie auch vollständigzerstört worden sind, ist unklar249). Auch hier machte sich neben technischem Versagen250

mangelnde kontrollierte Risikobereitschaft bemerkbar, weil die Verantwortlichen der AllianzKampfeinsätze überwiegend aus einer Höhe von mehr als 5.000 m durchführen ließen. EigeneVerluste konnten gänzlich ausgeschlossen werden, eine bessere Trefferquote allerdings auch.

245 Vgl.: Rühl, Lothar: Die strategische Lage zum Jahreswechsel, in: ÖMZ, Nr.1, Januar/Februar 2000, S.5f.246 Vgl. zu den Problemen dieser Strategie: Korkisch, Friedrich: Luftkriegsdoktrin in Diskussion. Kann Air

Power allein politische Ziele erreichen?, in: ÖMZ, Nr.5, September/Oktober 1999, S.575ff.247 Vgl.: Clark, Wesley K.: Wenn Waffengewalt nötig ist: Die militärische Reaktion der NATO auf die Kosovo-

Krise, in: NATO Brief, Nr.2, Sommer 1999, S.16.248 Vgl.: Gordon, Michael R.: In Chechnya, Russia Makes NATO Its Model, in: IHT, 29.9.1999, S.4.249 Vgl.: NZZ, Nr.216, 17.9.1999, S.5.250 Gerry Roncolato, stellvertretender Leiter der Asia Pacific Division im US-Generalstab, ging in einem

Gespräch mit dem Verfasser am 14.12.1999 davon aus, dass China aus dem Kosovo-Krieg die Lehre ziehenwerde, dass sich die USA nicht immer auf ihre militärische Hochtechnologie verlassen könnten.

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Ähnliche Gedankengänge waren zu beobachten, als 24 AH-64 Apache KampfhubschrauberEnde April 1999 nach Albanien verlegt wurden. Sie sind für die Panzerbekämpfung besondersgeeignet, allerdings sehr verwundbar, da sie relativ unbeweglich sind und in geringen Höhenoperieren müssen. Sie hätten daher von der serbischen Flugabwehr wesentlich einfacherabgeschossen werden können, weshalb auf ihren Einsatz schließlich verzichtet wurde.Chinesische Strategen werden aus amerikanischen Kriegsführungsschwächen kaum eigenemilitärische Überlegenheit im asiatisch-pazifischen Raum ableiten können. Dagegen könntensie im Falle einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit den USA versuchen, derenSchwierigkeiten und Grenzen der Machtprojektion auszunutzen. Konkret hieße dies, dassPeking – ganz im Sinne des asymmetric warfare – versucht, durch die Erzeugung täglicher,möglichst medienwirksamer menschlicher US-Verluste die Washingtoner Kriegsmaschineriezu schwächen.

Beobachter machten schließlich darauf aufmerksam, dass der Kosovo-Krieg erneut gezeigthabe, dass die USA global militärisch überdehnt seien (imperial overstretch) 251. Zweifelhaftsei, ob die USA ihrem verteidigungstheoretischen Anspruch, fast parallel zwei Major TheaterWars (MTWs) führen und gewinnen zu können, künftig angesichts zunehmenderVerwicklungen in Smaller-Scale Contingencies (SSC) – Einsätze wie jene in Somalia, Haitioder auf dem Balkan – gerecht werden können252. Amerikanische Alliierte betrachteten es mitgroßer Sorge, dass die USA Flugzeugträgergruppen aus Nordostasien in Richtung Mittelmeerverlagerten und damit möglicherweise die Sicherheit Japans und Südkoreas hätten schwächenkönnen253. Admiral Dennis Blair, seit Februar 1999 Oberkommandierender des US-Pazifik-kommandos, wies dies jedoch zurück: "Current operations in Europe have drawn some of thePacific Command's forces to other theaters, but the Pacific Command retains forces to deteraggression in Korea, and to exercise with friends and allies throughout the region."254 Pekingkönnte in einem Konflikt dennoch versuchen, Washington durch die Eröffnung mehrerer,paralleler Kriegsfronten zu überfordern. Außerdem könnte China künftig als territorial nichtsaturierte Macht die Gunst der Stunde ergreifen und alte Rechnungen (etwa im Spratly-Konflikt) zu begleichen suchen, sollten die Amerikaner erneut in einen Krieg in Europa oderdem Nahen Osten verwickelt werden. Die USA müssten dann Prioritäten setzen und könntenunter bestimmten Bedingungen geneigt sein, China Zugeständnisse zu machen.

Ein weiterer Faktor sollte Befürchtungen Pekings, nach denen auch die NATO eines Tages inChina eine humanitäre Intervention durchführen könnte, stark relativieren. Während und nachdem Kosovo-Krieg zeigte sich nämlich deutlich, dass die Allianz erhebliche Probleme imzügigen Truppen- und Materialtransport hat (der ohne US-Unterstützung fast nicht möglichist). So hatte die NATO auch zwei Monate nach Beginn der KFOR-Mission (Start: 12. Juni

251 Vgl.: Donnelly, Tom: One war too many, in: Janes's Defense Weekly, Vol.32, Nr.23, 8.12.1999, S.28ff.252 An diesem Anspruch hat sich auch im jüngsten Strategiebericht des Weißen Hauses nichts geändert: "For the

foreseeable future, the United States, preferably in concert with allies, must have the capability to deter and,if deterrence fails, defeat large-scale, cross-border aggression in two distant theaters in overlapping timeframes." The White House: A National Security Strategy for a New Century, Washington D.C., Dezember1999, S.19. Donnelly stellte dazu fest: "The unexpected length and scope of the size of Operation 'AlliedForce' over the former Yugoslavia has called into question the ability of US forces to meet their warfightingmissions." Ders. (8.12.1999), a.a.O., S.28.

253 Vgl.: Baum, Julian/Crispin, Shawn W./Shim, Jae Hoon/Vatikiotis, Michael: Playing by New Rules?, in:FEER, Nr.16, 22.4.1999, S.19. Diese Sichtweise vertrat auch Ronald N. Montaperto, Asienexperte des INSSder NDU in Washington, in einem Gespräch mit dem Verfasser am 15.12.1999.

254 Blair, Dennis: Collective Responsibilities for Security in the Asia-Pacific Region, Remarks at the Institutefor Defense and Strategic Studies, Singapur, 22.5.1999.Internet-Dokument: http://www.pacom.mil/ref/past/99/sst/sst-04.htm

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1999) noch nicht ihre angepeilte Truppenstärke in Höhe von 52.000 Mann erreicht. DasInternational Institute for Strategic Studies in London geht davon aus, dass zurzeit nur 2-3 %der über 2.000.000 europäischen NATO-Soldaten (ohne die Türkei) Missionen im Stile vonKFOR oder der Stabilisation Force (SFOR) zur Verfügung gestellt werden können255. Zudembleiben sämtliche Pläne, einen eigenständigen Militärpfeiler in der NATO zu schaffen,Makulatur, wenn westeuropäische Verteidigungshaushalte weiter reduziert werden. Es istdaher aus materieller und technisch-logistischer Perspektive kaum vorstellbar, dass dieeuropäischen Mitglieder der Allianz mittelfristig in der Lage sein könnten, an der Seite derUSA eine militärische Intervention jenseits der unmittelbaren Peripherie des Bündnisgebietesdurchzuführen.

255 Vgl.: IISS (1999), a.a.O., S.290.

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2.7 Überlegungen zur Formierung eines asiatisch-pazifischen Ostblocks

Die USA haben in den 90er-Jahren an den drei zentralen Fronten des Weltgeschehens –Europa, dem Nahen Osten und Asien-Pazifik – unter Beweis gestellt, dass sie die letzteverbliebene Supermacht sind. Den übrigen Akteuren der Staatengemeinschaft wird dabeibewusst, wie machtlos sie regionalen Ansätzen einer Pax Americana gegenüberstehen. Daraufkann grundsätzlich in zweifacher Weise reagiert werden:

− Staaten, die den USA wohlgesonnen sind, werden sich an diese anlehnen (bandwagoning),um von ihrem Sicherheitsschirm zu profitieren. Eine weitere Gruppe von Akteuren wirdeine Pax Americana zumindest hinnehmen, soweit sie den Interessen dieser Staaten nichtgrundsätzlich entgegensteht, ja sie eventuell sogar implizit begünstigt.

− Staaten, die den USA negativ gegenüberstehen, könnten im günstigsten Fall Kooperationverweigern. Sie könnten jedoch auch versuchen, Gegenmacht zu organisieren (balancing),um einer sich ausbreitenden Pax Americana nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Gemäß derTheorie der Balance of Power, der das Prinzip der Macht- und Gegenmachtbildunginhärent ist, wäre es demnach eine logische Konsequenz, wenn China versuchen würde,Gegengewichte zu den USA aufzubauen256.

Eine solche Politik Chinas muss nicht unbedingt im Clash of Civilizations münden257. Pekingkönnte aber versuchen, sich unübersehbare Bruchlinien zwischen Kulturräumen – u.a.Ergebnis einer wie im Kosovo-Krieg als arrogant und bevormundend wahrgenommenenMachtausübung des Westens – zu Nutze zu machen. Zwar hegen fast alle asiatischen Akteuregrundsätzliche Befürchtungen hinsichtlich des weiteren Aufstiegs Chinas. Diesem kommtaber zugute, dass sie dennoch oft Verständnis für dessen Kritik am amerikanischen Hegemonzeigen. Anfang Juni 1999 ergab z.B. eine Umfrage unter asiatischen Führungspersonen einedurchschnittliche Zustimmung von 60,3 % für die chinesische Reaktion nach derBombardierung des Botschaftsgebäudes in Belgrad258. Und wie China reagierte eine ganzeReihe von Staaten des Fernen Ostens äußerst negativ auf die Kosovo-Intervention der NATO.Indien zeigte sich skeptisch, da es eine westliche Einmischung in den Kaschmir-Konfliktbefürchtet259. Ebenso gehörte Vietnam von Anfang an zu den Kritikern des Bombardementsgegen Jugoslawien260. In einem internen Papier warnen Militärs sogar vor einer Interventionamerikanischer Truppen im Süden Vietnams, die nach dem Kosovo-Muster erfolgenkönnte261. Kritisiert wurde die Balkan-Operation der Allianz darüber hinaus von Indonesien,das zu jener Zeit mit seiner Ablehnung einer vergleichbaren Einmischung in Ost-Timorvorbeugen wollte. Positive Reaktionen kamen neben klassischen US-Verbündeten wie Japanironischerweise vom stets kritischen Malaysia, dessen islamische Gesellschaftsprägung auf

256 Vgl.: zu den Wechselwirkungen zwischen Macht- und Gegenmachtbildung (auch: Hegemonie und

Gleichgewicht): Link, Werner: Die Neuordnung der Weltpolitik. Grundprobleme globaler Politik an derSchwelle zum 21. Jahrhundert, München 1998. Link umschreibt die amerikanische Situation wie folgt: "Dadie USA [...] nachweislich eine herausragende Machtposition in der Staatenwelt einnehmen und einenweltpolitischen Führungsanspruch erheben, war und ist zu erwarten, dass die anderen großen Mächte miteiner Balancepolitik reagieren, um die Tendenz zur Multipolarität zu stärken oder doch wenigstens dienegativen Wirkungen des amerikanischen Übergewichts zu neutralisieren." Ebd., S.135.

257 Vgl.: Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen (The Clash of Civilizations). Die Neugestaltung derWeltpolitik im 21. Jahrhundert, München-Wien 1996.

258 Vgl.: FEER, Nr.23, 10.6.1999, S.34.259 Vgl.: Baum/Crispin/Shim/Vatikiotis (22.4.1999), a.a.O., S.18.260 Vgl.: Südostasien aktuell, Nr.3, Mai 1999, S.223.261 Vgl.: Chanda, Nayan: Pulled Two Ways, in: FEER, Nr.34, 26.8.1999, S.25.

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die Außenpolitik wirkte. Ministerpräsident Mohamad Mahathir unterstützte sämtlicheAktionen der NATO und sprach sich bereits sehr früh sogar für die Entsendung vonBodentruppen in das Kosovo aus262.

Der Kosovo-Krieg könnte nun von China dahingehend instrumentalisiert werden,sicherheitspolitisch auf anti-westliche, vor allem aber anti-amerikanische Blockbildung zusetzen. Zumindest auf symbolischer Ebene ist dies bereits seit längerer Zeit im Verhältnis zuRussland gelungen. 1996 schlossen Moskau und Peking eine "strategische Partnerschaft", diemachtpolitisch gegen amerikanischen Unilateralismus und für internationale Multipolaritäteintritt. Beide Staaten sprechen sich nachdrücklich gegen humanitäre Interventionen im Stiledes Kosovo-Einsatzes der NATO aus. Diese Themen, verbunden vor allem mit dergemeinsamen Sorge, dass die USA in den nächsten Jahren umfassendeRaketenabwehrsysteme entwickeln und dislozieren, gehören mittlerweile zumDiskussionsstandard bilateraler Treffen. Während des Pekinger Gipfeltreffens imvergangenen Dezember unterstützte die chinesische Seite demonstrativ das russischeVorgehen gegen Tschetschenien, wohingegen Russland bei solchen Gelegenheiten stetsdarauf verweist, dass es Taiwan als integralen Bestandteil Chinas betrachtet – gemäß demMotto: do ut des. Beide Akteure nutzen aber auch multilaterale, von ihnen dominierte Foren,um Gegenpositionen zur USA aufzubauen. Während des Treffens der Schanghai-Gruppe, zuder China, Russland, Kirgistan, Tadschikistan und Kasachstan gehören, vom 24.-25. August1999 im kirgisischen Bischkek rief Boris Jelzin seine asiatischen Kollegen auf, einenGegenpol zu den USA zu bilden263. Ostentativ werden zudem die Militärbeziehungen Chinasund Russlands ausgebaut. Peking orderte im vergangenen Jahr zwischen 30 und 60 russischeKampfflugzeuge des Typs Su-30 und zeigt sich auch an der Su-37 sehr interessiert. Aufsymbolischer Ebene hielten beide Staaten ihre ersten gemeinsamen Seemanöver vom 2.-6.Oktober 1999 vor der Küste Schanghais ab – Ergebnis einer demonstrativen Vereinbarungnach der Zerstörung des chinesischen Botschaftsgebäudes in Belgrad. Am 17. Januar 2000hatten in Moskau der russische Verteidigungsminister Igor Sergejew und sein chinesischerAmtskollege Chi Haotian ein Memorandum unterzeichnet, das die militärische Kooperationbeider Staaten weiter ausbauen soll. Unbestätigten Berichten zufolge soll es mittlerweilesogar gegenseitige Beistandszusagen für den Fall eines amerikanischen Angriffs geben264.Dies würde ganz auf der Linie von Überlegungen liegen, nach denen China im Zuge desKosovo-Krieges von seinem Prinzip, Militärallianzen nicht einzugehen, abrücken könnte265.Die militärische Kooperation zwischen Moskau und Peking dürfte durch das Vorgehen derNATO auf dem Balkan einen erheblichen Schub bekommen haben.

China versucht zudem, was ebenso neu wie im Ergebnis unsicher ist, densicherheitspolitischen Dialog mit Indien zu vertiefen. Während des Besuchs des indischenAußenministers Jaswant Singh im Reich der Mitte im Juni 1999 soll es zu einerentsprechenden Vereinbarung gekommen sein266. Sollten derartige Trends eines Tages anSubstanz gewinnen, dann würde der Vorschlag des ehemaligen russischenMinisterpräsidenten Jewgenij Primakow, der im Dezember 1998 die Schaffung eines"strategischen Dreiecks" zwischen Neu-Delhi, Moskau und Peking anregte, in einem ganz

262 Vgl.: Südostasien aktuell, Nr.3, Mai 1999, S.189f.263 Vgl.: NZZ, Nr.197, 26.8.1999, S.1.264 Vgl.: NZZ, Nr.243, 19.10.1999, S.5.265 Vgl.: Lawrence, Susan V.: Brave New World, in: FEER, Nr.24, 17.6.1999, S.14.266 Vgl.: Lawrence, Susan V.: Take Four, in: FEER, Nr.25, 24.6.1999, S.19.

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anderen Licht erscheinen267. Von Beobachtern wird diese Machtkonfiguration immer wiederins Spiel gebracht, gleichzeitig aber auf Grund diverser bilateraler Probleme unter allenBeteiligten sehr skeptisch beurteilt 268.

Noch wesentlich spekulativer sind dagegen Überlegungen in chinesischenEntscheidungszentralen, ob es langfristig nicht sinnvoller wäre, nach immer wiedererfolglosen Bemühungen jede engere Bindung mit den USA endlich offiziell einzustellen, umdann auf ein Bündnis mit Japan setzen zu können. Solche Gedankenspiele konnten währenddes Besuches des japanischen Ministerpräsidenten Keizo Obuchi in Peking Anfang Juli 1999vernommen werden269. Die chinesische Seite empfing ihren Gast auffallend freundlich,obwohl Jiang Zemin während seiner Japan-Visite im November 1998 ein diplomatischesFiasko erlebt hatte. Zhang Yunling, Direktor des Institute of Asia-Pacific Studies an derChinese Academy of Social Sciences, hält eine solche Entwicklung trotz aller Hindernisse fürdenkbar: "It will need a lot of effort, but this discussion is starting."270

Im Verhältnis zu Südkorea setzt China ebenfalls auf eine Verbesserung dersicherheitspolitischen Beziehungen. Der chinesische Verteidigungsminister Chi Haotian hataus diesem Grund im Januar 2000 Südkorea einen fünftägigen Besuch abgestattet, der alshistorisch bewertet werden kann, da es der Erste eines Verteidigungsministers aus dem Reichder Mitte war. Bereits zuvor hatte sich dieser im August 1999 mit seinem südkoreanischenKollegen Cho Seong Tae in Peking auf eine engere militärische Zusammenarbeit geeinigt.Sowohl Südkorea als auch Japan scheinen an solchen Kontakten zu China Interesse zu haben,was ein weiteres historisches Ereignis belegt: Am Rande des 3rd ASEAN Informal Summit("ASEAN+3") am 28. November 1999 hielten Keizo Obuchi, Kim Dae-jung und Jiang Zeminein trilaterales Gipfeltreffen ab, das Erste dieser Art in der Geschichte Nordostasiens. Durchsolche verbesserten diplomatischen Kontakte zu Japan und Seoul könnte Peking künftigversuchen, enge Bündnispartner Washingtons aus dessen sicherheitspolitischerUmklammerung etwas zu lösen. Hier wird man zwar noch lange nicht vonGegenmachtbildungen sprechen können, wenigstens aber von ausbaubaren Ansätzen, die dieMachtprojektion der USA im Fernen Osten komplizieren und dadurch ihreHegemonialstellung abschwächen könnten.

Nach dem gleichen Muster scheint China in Südostasien vorzugehen. Auffällig waren Endedes vergangenen Jahres vor allem zwei Ereignisse: Anfang September besuchte Jiang ZeminThailand und wurde dort herzlich von König Bhumibol empfangen. Der chinesische Präsidentnutzte in einer Rede die Gelegenheit, für das Konzept der Multipolarität zu werben. InAnspielung an den Kosovo-Krieg der NATO – und wohl auch mit Blick auf 20 % ethnischeMinderheiten in Thailand – wurde er dabei sehr deutlich: "Hegemonism and power politics 267 Vgl.: FAZ, Nr.297, 22.12.1998, S.7; Nr.298, 23.12.1998, S.4. Am 14.6.1999 kündigte der stellvertretende

Verteidigungsminister Russlands, Michailow, an, stärker militärisch mit China und Indienzusammenarbeiten zu wollen: "Die Ereignisse in Jugoslawien haben uns unausweichlich dazu gezwungen,Schritte zur Stärkung der russischen Verteidigungsfähigkeit zu ergreifen und dafür Partner zu finden." Zit.nach: FAZ, Nr.135, 15.6.1999, S.9.

268 Vgl.: Marshall, Tyler: Russia, China And India: Do Closer Ties Bode U.S. Ill?, in: IHT, 28.9.1999, S.6.Thakur, Ramesh/Zhang ,Yunling: China, India, Russia: Eyeing New Alignments, in: IHT, 30.11.1999, S.8.Siehe auch: NZZ, Nr.243, 19.10.1999, S.5.

269 Vgl.: Thielbeer, Siegfried: China entdeckt die Freundschaft zu Japan neu. Entschuldigungen fürKriegsgräuel werden nicht mehr gefordert, in: FAZ, Nr.158, 12.7.1999, S.6. Auch in dem erwähntenMemorandum eines Asienberaters des Pentagons wird darauf hingewiesen, dass Sicherheitsexperten inChina bessere Beziehungen mit Japan als Konsequenz des Kosovo-Krieges empfehlen.

270 Zit. nach: Lawrence (17.6.1999), a.a.O., S.14.

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still exist and have even developed in the international political, economic and security fields.The new 'Gunboat Policy' and the economic neo-colonialism pursued by some big powershave severely undermined the sovereign independence and the development interests of manysmall- and medium-sized countries, and have threatened world peace and internationalsecurity."271 Jiang versuchte ganz offensichtlich, die Achse Bangkok-Washington zuschwächen. Reflektiert wird des Weiteren, ob China den sicherheitspolitischen Bruchzwischen Australien und Indonesien – beide hatten sich 1995 auf ein Sicherheitsabkommengeeinigt, das Jakarta am 16. September 1999 aufkündigte – ausnutzen wird, indem es seineBeziehungen zum Archipelstaat verbessert. Auf diese Weise würde auch Washingtongetroffen werden, das bislang über Canberra zusätzlichen Einfluss auf Jakarta ausübenkonnte. China und Indonesien haben Anfang Dezember 1999 Stellung gegen das Vorgehender NATO im Kosovo bezogen, als sie zum Abschluss eines Staatsbesuches des neuenindonesischen Präsidenten, Abdurrahman Wahid, in einer Gemeinsamen Erklärungverkündeten: "Human rights issues cannot be solved by sacrificing the principles of statesovereignty and sovereign equality among nations" oder durch die Anwendung von Mitteln,die "contravene or undermine the principles on which the United Nations itself wasfounded."272

Einer möglichen sicherheitspolitischen Blockbildung könnte die ökonomische vorausgehen.Auch hier lassen sich Beispiele nennen. So versucht Mahathir bereits seit Jahren, das Projekteines East Asian Economic Caucus (EAEC) voranzutreiben. Es sieht eine asiatisch-pazifischeWirtschaftsgemeinschaft ohne Beteiligung der USA vor und wäre damit ein Gegenstück zurexistierenden Asia-Pacific Economic Cooperation (APEC). Für kurzfristige Aufregung sorgteauch der japanische Vorschlag vom Herbst 1997, für den Fernen Osten einen Asian MonetaryFund (AMF) als Ergänzung (mit der Perspektive der Alternative) zum International MonetaryFund (IMF) aufzubauen, was auf amerikanischen Druck hin gestoppt wurde. Bemerkenswertsind in diesem Zusammenhang die erwähnten ASEAN Informal Summits, deren dritteZusammenkunft vom 27.-28. November 1999 in Manila stattfand 273. China, Südkorea undJapan verkündeten zusammen mit den zehn Staaten der ASEAN, sich künftig der Welt alsGemeinschaft präsentieren zu wollen. Im Sinne des Blockdenkens wurden sowohl eingemeinsamer Markt als auch eine gemeinsame Währung diskutiert (gedacht offensichtlich imSinne einer Asiatisierung des Yens, orientiert an der zum Euro vergemeinschafteten DM).Desgleichen war von einem asiatisch-pazifischen Sicherheitsforum ohne US-Beteiligung dieRede274. Die Teilnehmer dieses informellen Treffens sprachen sich ebenso für jährlicheGipfeltreffen aus 275.

Aus chinesischer Sicht fallen bisher sämtliche Versuche, auch nur Ansätze eines asiatisch-pazifischen Ostblocks zu schaffen, ernüchternd aus. Oft sind sie nicht mehr als eineinnenpolitisch motivierte, ebenso polemische wie verzweifelte Reaktion auf eine Politiktransatlantischer Akteure, gegen die man praktisch keine Handhabe besitzt. Zu groß sind dieAbhängigkeiten von westlicher Kooperation, zu gering die eigenen nichtmilitärischenDrohkapazitäten und zu vertieft die Interessengegensätze zwischen den zentralen Mächten

271 Jiang, Zemin: Enhance Good Neighbourliness and Friendship and Build a Better Future Together, Rede des

chinesischen Staatspräsidenten am 3.9.1999 in Thailand, in: Südostasien aktuell, Nr.6, November 1999,S.559.

272 Zit. nach: Lawrence, Susan V.: Charm Offensive, in: FEER, Nr.50, 16.12.1999, S.18.273 Vgl.: Südostasien aktuell, Nr.1, Januar 2000, S.5f.274 Vgl.: Richardson, Michael: Wary of Rivals, East Asia Weighs Closer Integration, in: IHT, 26.11.1999, S.1.275 Vgl.: Vatikiotis, Michael: Bloc Mentality, in: FEER, Nr.49, 9.12.1999, S.22ff.

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Asien-Pazifiks. Hinzu kommt, dass die USA natürlich durch eigene Strategieänderungenchinesische Versuche der Gegenmachtbildung durchkreuzen können. In Washington wirdderzeit z.B. überlegt, eventuell einen strategic dialogue mit Neu-Delhi aufzubauen. Seiteiniger Zeit ist bereits relativ unstrittig, dass die USA in Südasien ihre Prioritäten in RichtungIndien und zu Ungunsten Pakistans, das seine strategische Stellung vorerst eingebüßt hat,verschieben. Clinton wird diesen Politikwandel auf oberster Ebene bestätigen, wenn er IndienEnde März 2000 tatsächlich den geplanten Staatsbesuch abstattet – der Erste einesamerikanischen Präsidenten seit 1978. Zwar dürfte es zwischen beiden Akteuren vorerst nurum grundsätzlich verbesserte Beziehungen gehen. Beobachter in Washington sprechen abervon einer "growing minority"276 im Pentagon und dem U.S. Pacific Command (USPACOM),die eine strategic partnership mit Indien als Gegengewicht zu China befürwortet. Offenfordern dies bislang nur sehr wenige Experten in Washington277. Sollte sich diese Entwicklungverfestigen, dann müsste Peking wohl sämtliche Versuche der Gegenmachtbildung an derSeite Neu-Delhis vorerst ad acta legen.

China kann daher derzeit höchstens konzediert werden, selektive rhetorische Gegenmachtaufgebaut zu haben. Dies darf für die Entscheidungsträger der NATO-Mächte dennoch keinAnlass zur Beruhigung sein. Denn sollten diverse Akteure Asien-Pazifiks eines Tageswirtschaftlich unabhängiger werden, in militärischer Hinsicht globale Fähigkeiten derMachtprojektion aufbauen und Interdependenzzwänge nach einer ideologischenRadikalisierung zu Gunsten eines neu erwachenden Nationalismus ignorieren, dann könntedie akkumulierte Ignoranz und Arroganz diverser westlicher Staaten wie ein Bumerangwirken. In diesem Zusammenhang ist unter Politikern und Wissenschaftlern destransatlantischen Raums ein gefährlicher Glaube an den Vernunft anwendenden Akteurfestzustellen. Demnach würde z.B. China nie Formosa wirklich umfassend angreifen, weil einKrieg in der Taiwan-Straße die wirtschaftliche Modernisierung des Festlandes um Jahrezurückwerfen würde. Neben dieser rationalen Sichtweise existiert in der Realität aber immerauch eine irrationale Verhaltensoption, nach der eben nicht ausgeschlossen werden kann, dassin der chinesischen Führung eine emotional argumentierende Gruppierung dieEntscheidungsoberhoheit gewinnt. Sie dürfte den "US-Hegemonismus" als Demütigungwahrnehmen und könnte dies als Vorwand nutzen, um der nationalen Ehre willen einGegenzeichen setzen zu wollen. Dann könnten dem rhetorischen Säbelrasseln eines TagesTaten folgen, die in der Zeitung "Befreiungsarmee", Organ der Streitkräfte, Mitte August1999 angedeutet wurden. Demnach wolle China lieber tausend Soldaten im Kampf opfern alsauch nur einen Zentimeter Land preisgeben278.

3. Humanitäre Interventionen im Fernen Osten?

Die entscheidende Frage für Peking lautet nach dem Kosovo-Krieg: Wie wahrscheinlich sindhumanitäre Interventionen der USA bzw. der NATO im Fernen Osten, möglicherweise sogardirekt in China? Mehrere hinleitende Fragen sind dabei zu berücksichtigen: Wie sindhumanitäre Interventionen insbesondere im Lichte jüngster Ereignisse aus völkerrechtlicherPerspektive zu bewerten? Welche Schlussfolgerungen lässt das "Neue Strategische Konzept"der NATO für out of area-Einsätze zu? Wie ist die Befriedung Ost-Timors mit Blick auf 276 Ronald N. Montaperto im erwähnten Gespräch mit dem Verfasser.277 In einem Interview mit dem Verfasser am 16.12.1999 wies Karl D. Jackson, Direktor des Southeast Asia

Studies Program an der SAIS, darauf hin, dass er bereits seit zehn Jahren fordere, dass die USA mit Indienein Gegengewicht zu China bilden sollten.

278 Vgl.: FAZ, Nr.191, 19.8.1999, S.1.

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künftige humanitäre Einsätze im asiatisch-pazifischen Raum einzuordnen? Abschließend sollder Frage nachgegangen werden, ob sich der Westen mit Blick auf humanitäre Interventionenmehr an den Maßstäben des Rechts oder denen der Gerechtigkeit orientieren sollte.

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3.1 Zur Zukunft des Völkerrechts

Bereits vor der militärischen Intervention im Kosovo deutete die NATO an, bei derVerfolgung ihrer Ziele neben einem generellen Bekenntnis zur Achtung völkerrechtlicherNormen diese letztlich sehr weit auslegen zu wollen. Dementsprechend arbeitete der Westenwährend der Verhandlungen in Rambouillet im Februar 1999 stets mit der Drohung, im Falleeines Scheiterns der Gespräche Ziele im jugoslawischen Staatsverband aus der Luftanzugreifen. Es gab daher eigentlich nichts, worüber die Delegation Milo�eviæs hätteverhandeln können. Außer einem unterschriftsreifen "serbischen Versailles" (zu dem u.a. dieuneingeschränkte Bewegungsfreiheit von NATO-Truppen in ganz Jugoslawien gehörthätte279) stand kein anderer Verhandlungsgegenstand zur Debatte. Diese Vorgehensweise istvölkerrechtlich mehr als bedenklich, denn gemäß Art. 52 des Wiener Übereinkommens überdas Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 ist ein Vertrag nichtig, "wenn sein Abschluss durchAndrohung oder Anwendung von Gewalt unter Verletzung der in der Charta der VereintenNationen niedergelegten Grundsätze des Völkerrechts herbeigeführt wurde."280 Vor diesemHintergrund mutet es dann schon abenteuerlich an, wenn westliche Politiker die von ihnen zuverantwortende Kosovo-Aktion mit der Weigerung Jugoslawiens, das Rambouillet-Schriftstück unterschreiben zu wollen, rechtfertigen.

Die sich anschließende Intervention des Westens war ohne Zweifel politisch geboten,völkerrechtlich aber kaum zulässig281. In der UNCh stehen staatliche Souveränität und 279 In Anhang B, Ziff. 8 des Vertragsentwurfes von Rambouillet heißt es dazu: "Das NATO-Personal wird,

zusammen mit seinen Fahrzeugen, Schiffen, Flugzeugen und Ausrüstungsgegenständen, in der gesamtenBundesrepublik Jugoslawien freien und ungehinderten Zugang genießen, unter Einschluss ihres Luftraumsund ihrer Territorialgewässer." Vorläufiges Abkommen für Frieden und Selbstverwaltung im Kosovo,Rambouillet, 23. Februar 1999 (Auszüge), in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr.5, Mai1999, S.627.

280 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969, abgedruckt in: Sartorius II,Internationale Verträge/Europarecht, München 1992, Dokument Nr.320, S.17.

281 Zum Lager derjenigen, die die Intervention der NATO im Kosovo als (zumindest mehrheitlich)völkerrechtlich zulässig betrachten, gehören u.a.: Klein, Eckart: Keine innere Angelegenheit. Warum dieNATO-Aktion im Kosovo aus völkerrechtlicher Sicht zulässig war, in: FAZ, Nr.140, 21.6.1999, S.15.Müller, Reinhard: Tauglich und angemessen? Eine humanitäre Intervention muss strengen Voraussetzungengenügen, in: FAZ, Nr.169, 24.7.1999, S.12. Pescatore, Pierre: Die NATO war in Kosovo aktionsberechtigt,in: NZZ, Nr.179, 5.8.1999, S.7. Senghaas, Dieter: Recht auf Nothilfe. Wenn die Intervention nicht nurerlaubt, sondern regelrecht geboten ist, in: FAZ, Nr.158, 12.7.1999, S.12. Roberts (1999), a.a.O., S.105ff.Simma, Brunno: Die NATO-Bomben sind eine lässliche Sünde (Interview), in: Süddeutsche Zeitung (SZ),Nr.70, 25.3.1999, S.5. Stadlmeier, Sigmar: Völkerrechtliche Aspekte des Kosovo-Konflikts, in: ÖMZ, Nr.5,September/Oktober 1999, S.567ff. Dagegen halten u.a. folgende Autoren die Operation "Allied Force" fürvölkerrechtlich bedenklich oder gänzlich unzulässig: Blumenwitz, Dieter: Souveränität – Gewaltverbot –Menschenrechte. Eine völkerrechtliche Bestandsaufnahme nach Abschluss des nicht mandatierten NATO-Einsatzes in Ex-Jugoslawien, in: POLITISCHE STUDIEN , Sonderheft 4 (Die Kosovo-Krise – einevorläufige Bilanz), Dezember 1999, S.19ff. Brock, Lothar: Weltbürger und Vigilanten. Lehren aus demKosovo-Krieg. Reihe: HSFK-Standpunkte, Nr.2, Juli 1999. Astrid Epiney: Völkerrecht und Anwendung vonMilitärgewalt. Ein Nachtrag zu den NATO-Angriffen in Serbien, in: NZZ, Nr.4, 6.1.2000, S.5. Fastenrath,Ulrich: Intervention ohne UN-Mandat? Menschenrechte contra Gewaltverbot, in: FAZ, Nr.93, 22.4.1999,S.5. Pradetto, August: Die NATO, humanitäre Intervention und Völkerrecht, in: Aus Politik undZeitgeschichte (APuZ), Nr.B11, 12.3.1999, S.26ff. Preuß, Ulrich K.: Zwischen Legalität und Gerechtigkeit.Der Kosovo-Krieg, das Völkerrecht und die Moral, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr.7,Juli 1999, S.816ff. Weber, Hermann: Rechtsverstoß, Fortentwicklung oder Neuinterpretation? Wie dieNATO-Aktion gegen Serbien im Lichte des Völkerrechts zu würdigen ist, in: FAZ, Nr.156, 9.7.1999, S.8.Winrich Kühne hat als Ausweg vorgeschlagen, Kap. VIII UNCh dahingehend neu zu interpretieren,humanitäre Interventionen regionaler Abmachungen unter bestimmten Bedingungen zuzulassen. Vgl.: ders.:Blockade oder Selbstmandatierung? Zwischen politischem Handlungsdruck und Völkerrecht, in: Blätter fürdeutsche und internationale Politik, Nr.5, Mai 1999, S.561ff.

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zwischenstaatliches Gewaltverbot (Art. 2, Ziff. 4 UNCh) als Fundamentalnormen desVölkerrechts in einem Spannungsverhältnis zum Schutz der Menschenrechte (u.a. Art. 55UNCh). Sowohl das Gewaltverbot als auch etwa das Genozidverbot gehören zum ius cogens,wobei vor allem hinsichtlich des Schutzes der Menschenrechte eine Wirkung erga omnesangenommen wird. Oblag die Behandlung der Bürger eines Staates während des Ost-West-Konflikts noch ausschließlich der Autorität der jeweiligen Regierung, kann in den 90er-Jahrendurchaus eine Weiterentwicklung des modernen Völkerrechts konstatiert werden. Sie will denSchutz eines humanitären Kerns (Verbot des Genozids, der Folter u.ä. Delikte) zurAngelegenheit der Völkergemeinschaft machen, wodurch er der innerenEntscheidungsfreiheit der Staaten entzogen würde282. In diesem Sinne ist auch die im Juli1998 beschlossene Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes zu verstehen, derentsprechende Menschenrechtsverbrechen ahnden soll. Relativ unstrittig ist, dass dasGewaltverbot der Selbstverteidigung eines Staates nicht im Wege steht (Art. 51 UNCh). Auchkann es durch ein Mandat des UN-Sicherheitsrates aufgehoben werden, womit einehumanitäre Intervention völkerrechtlich möglich ist (Art. 39ff. UNCh). Der Kosovo-Fall hataber gerade dadurch einen problematischen Charakter bekommen, dass die NATO vonJugoslawien nicht angegriffen worden ist und sie im Verfahren der so genannten"Selbstmandatierung" die UNO außen vor gelassen hat.

Was die Völkergemeinschaft im vergangenen Jahr erlebt hat, ist der Versuch der radikalenNeuinterpretation des Völkerrechts durch Vertreter des Bündnisses283. Bei einer Fortsetzungdieses Trends könnte eine regionale, nur partielle Gültigkeit besitzende Völkerrechtsnormgeschaffen werden, die vorerst ausschließlich in der Interessensphäre der NATO (zu der dieMitgliedsstaaten, ihre Peripherie und ausgewählte Gebiete out of area zählen) gelten würdeund umsetzbar wäre. Von einem allgemeinen, neuen Völkergewohnheitsrechtselbstmandatierter humanitärer Interventionen kann gegenwärtig aber nicht die Rede sein, dadiesbezüglich globale Staatenpraxis und Rechtsüberzeugung (opinio iuris) fehlen. EineWeiterentwicklung des Völkerrechts quasi über Nacht widerspricht allen bisherigenÜberlegungen zum evolutionären Charakter, den das internationale Recht besitzt. Was amEnde eines solchen Prozesses entstünde, wäre faktisch ein Zweiklassen-Völkerrecht, dasAnsätze eines ganzheitlichen internationalen Rechts relativieren und das Recht desmilitärisch-technologisch Stärkeren etablieren dürfte. Zu den Verlierern dieser Entwicklunggehört schon jetzt wieder einmal die UNO, die erst in das Geschehen involviert wurde, als die 282 Die völkerrechtliche Zulässigkeit humanitärer Interventionen war bereits in der Zeit des klassischen

Völkerrechts Diskussionsgegenstand. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde die Debatte erstmalsim Zusammenhang mit der historischen UN-Resolution 688 vom 5. April 1991, durch die Flugverbotszonenzum Schutz irakischer Minderheiten errichtet wurden, aus einer neuen Perspektive geführt (dazu seiangemerkt, dass die Flugverbotszonen heute insbesondere von den USA zur Eindämmung des Iraks genutztwerden). Der Rechtsstreit fand seine Fortsetzung während der Krisen in Somalia, Haiti, Ruanda und auf demBalkan. Fast alle Völkerrechtler erkennen diesbezüglich Veränderungen des Völkerrechts im Sinne einerAufweichung des staatlichen Souveränitätsprinzips an, schätzen die Intensität dieses Wandels aberunterschiedlich ein.

283 Brigadegeneral Klaus Wittmann, Abteilungsleiter Militärpolitik an der Deutschen NATO-Vertretung inBrüssel, zeigt durch seine Interpretation der Zulässigkeit einer Selbstmandatierung, in welchem Widerspruchsich die Allianz befindet: "Bezüglich der Mandatierung von Nicht-Artikel-5-Operationen bleibt die primäreVerantwortung des VN-Sicherheitsrates für Weltfrieden und internationale Sicherheit erhalten, alsAusnahme wird aber die Möglichkeit von NATO-Aktionen im Einzelfall und im Bündniskonsens auch ohneexplizite Mandatierung, jedoch in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht, nicht ausgeschlossen". Wittmann,Klaus: Gewandeltes Selbstverständnis und erweitertes Aufgabenspektrum. Der Weg zum neuenStrategischen Konzept der NATO, in: Europäische Sicherheit, Nr.8, August 1999, S.19. Zu fragen ist, mitwelchem, von Wittmann nicht näher erläuterten Völkerrecht eine Mandatierung ohne Ermächtigung durchden UN-Sicherheitsrat übereinstimmen soll. Hier verwechseln die Verantwortlichen das politisch Gewolltemit dem völkerrechtlich Zulässigen.

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NATO in einer vorläufigen Einschätzung zu dem Ergebnis kommen konnte, wesentlicheKriegsziele erreicht zu haben.Schaden hat aber auch die Glaubwürdigkeit des Westens genommen. Die USA und ihreVerbündeten haben ihr humanitäres Eingreifen unter Berufung auf weltweit gültige,menschenrechtliche Mindeststandards gerechtfertigt. Diese altruistisch anmutendeArgumentation findet dort ihre Grenzen, wo out of area nicht mehr zum Interessengebiet desWestens gehört, etwa in afrikanischen Hunger- und Bürgerkriegszonen. Auch werden mitNuklearwaffen ausgerüstete Staaten unabhängig von ihrer inneren Situation kaum mit einerhumanitären Intervention der NATO rechnen müssen – es sei denn, der Westen willMenschenrechte mit Massenvernichtungswaffen durchsetzen. Die Nordatlantische Allianzwird also künftig nicht bereits im Falle der bloßen Verletzung eigener Normvorstellungenintervenieren, sondern nur dann, wenn die entsprechende Situation weiter gehende Zieleberührt, und nur dort, wo das Zielobjekt beherrschbar ist. In diesem Zusammenhang ist zubedenken, dass im Kosovo zwar keine strategischen Interessen des Westens tangiert wordensind. Es ging aber auch nicht ausschließlich, wie dies über die Medien vermittelt wurde, ummenschenrechtliche Fragen. Die NATO, die seit dem Untergang des Warschauer Paktesimmer wieder unter Legitimationsdruck steht, wollte ihre militärische Funktionsfähigkeitsowie ihre Existenzberechtigung unter Beweis stellen284. Die USA konnten dabei gleichzeitigihre Führungsfähigkeiten demonstrieren, um den rogue states dieser Welt eine abschreckendeBotschaft zu senden285.

Relativ wahrscheinlich ist, dass China zur Verhinderung umfassender Interventionen an seinerPeripherie bzw. auf seinem Staatsgebiet an einer konservativen Auslegung des Völkerrechtsfest halten wird. Nie zuvor fühlte es sich dermaßen der UNCh verpflichtet, die es in ihreralten Interpretation als Schild gegen westliche Modernisierungen nutzt286. Während seinesBesuches in Peking Mitte November 1999 wurde UN-Generalsekretär Kofi Annan von derchinesischen Führung erneut darauf hingewiesen, dass man am Prinzip der absolutenVorrangigkeit nationaler Souveränität fest halte und darüber hinaus auch auf einerabweichenden Interpretation der Menschenrechte beharre. Einige Tage später rief Annan denSicherheitsrat auf, Kriege künftig dadurch zu verhindern, dass bessere Frühwarnsystemeentwickelt und Untersuchungskommissionen präventiv in Krisengebiete entsandt werden. DerSicherheitsrat solle einschreiten, wenn es Belege für grobe Verletzungen der Menschenrechtegebe. Die Vertreter Moskaus und Pekings wiesen dies erwartungsgemäß mit dem Verweis aufdas Nichteinmischungsprinzip zurück.

284 Vgl.: Rodman (1999), a.a.O., S.46.285 Ein Vertreter der südkoreanischen Regierung ging sogar soweit zu behaupten, dass Nordkorea im Falle eines

Versagens der NATO-Luftschläge in Jugoslawien außenpolitisch aggressiver auftreten werde: "The NATOair strike against Yugoslavia is strategically meaningful because state-of-the-art weapons are being used in amountainous geography for the first time. Should the NATO operation not be effective, military deterrenceagainst North Korea will be reduced by half." Zit. nach: Kim, Min-sok/Kim, Song-chin: Policy on NorthKorea Changes Following the Results of the NATO Air Strike Against Yugoslavia, in: Seoul ChungangIlbo, 1.4.1999. Übersetzt in: FBIS-EAS-1999-0402.

286 David Lampton, Direktor für China-Studien an der SAIS, vertrat in einem Interview mit dem Verfasser am13.12.1999 die Auffassung, dass China den UN-Sicherheitsrat nutzen wolle, um die USA einzudämmen.

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3.2 Offene Fragen des "Neuen Strategischen Konzepts" der NATO

Die Weiterentwicklung des Völkerrechts wird ganz fundamental vom Verhalten der Staatender NATO abhängen287. Wie dieses aussehen könnte, hat die Nordatlantische Allianz in ihremam 24. April 1999 verabschiedeten "Neuen Strategischen Konzept", das von Peking heftigkritisiert worden ist, angedeutet288. Nimmt man offizielle Stellungnahmen der NATO alsGradmesser, dann scheinen derzeit sämtliche chinesischen Befürchtungen unbegründet zusein. Javier Solana, zu jenem Zeitpunkt NATO-Generalsekretär, erklärte: "Die NATO istkeine universale, sondern eine territorial begrenzte Organisation."289 Diesbezüglich ergänzteder damalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Klaus Naumann: "Aus der NATOwird keine Allianz zur Intervention werden."290 Die Verantwortlichen in Brüssel betonen, dassdie NATO out of area lediglich in ihrem unmittelbaren geografischen Umfeld eingreifen will– und dies auch nur auf einer Fall-zu-Fall-Basis. Wichtigste Aufgabe der NATO bleibe dieVerteidigung des Bündnisgebietes der 19 Vertragsstaaten im Sinne der Art. 5 und 6 desNordatlantikvertrages (auch Washingtoner Vertrag genannt) vom 4. April 1949291. Das NSKder Allianz erwähnt an keiner Stelle expressis verbis eine mögliche Einmischung infernöstliche Angelegenheiten.

Die Befürchtung Chinas, dass die NATO eines Tages im Fernen Osten intervenieren könnte,wird von Beobachtern in Washington fast ausnahmslos für absurd erklärt. Dabei wird daraufverwiesen, dass ein entsprechender Konsens für eine Intervention innerhalb der NATO nichtherzustellen sei292. Auch müssten die USA in einem solchen Falle ohnehin die militärischeHauptlast tragen293, weshalb sich die Frage stelle, warum sie dann ein solches Unternehmen 287 In einer offiziösen Publikation der Nordatlantischen Allianz wurde dazu jüngst ein provokativer Beitrag

eines schwedischen Völkerrechtlers veröffentlicht. Vgl.: Bring, Ove: Sollte die NATO bei der Konzeptioneiner Doktrin der humanitären Intervention die Führung übernehmen?, in: NATO Brief, Nr.3, Herbst 1999,S.24ff. Bring beantwortet diese Frage mit einem klaren "Ja". Zu einem modernen Völkerrecht solltegehören, "dass regionale Organisationen intervenieren können, wenn der politische Wille und diemilitärische Fähigkeit dazu vorhanden sind". Ebd., S.26.

288 Vgl.: zur Vorgeschichte des NSK: Kamp, Karl-Heinz: Das neue Strategische Konzept der NATO.Entwicklungen und Perspektiven, in: APuZ, Nr.B11, 12.3.1999, S.19ff. Lübkemeier, Eckhard: Wennweniger mehr ist. Im "Neuen Strategischen Konzept" dürfen die NATO-Partner sich und die Allianz nichtüberfordern, in: FAZ, Nr.90, 19.4.1999, S.11. Vgl.: zur Bewertung des verabschiedeten NSK: denausführlichen Beitrag in der NZZ, Nr.95, 26.4.1999, S.5. Cragg, Anthony: Ein neues Strategisches Konzeptfür eine neue Ära, in: NATO Brief, Nr.2, Sommer 1999, S.19ff. Dembinski, Matthias: Von der kollektivenVerteidigung in Europa zur weltweiten Intervention? Das neue strategische Konzept, der Kosovo-Krieg unddie Zukunft der NATO. Reihe: HSFK-Standpunkte, Nr.3, Juli 1999. Frankenberger, Klaus-Dieter:Entscheidung von Fall zu Fall. Die NATO will nicht und wird nicht in aller Welt auftreten, in: FAZ, Nr.97,27.4.1999, S.16. Pradetto,August: Zurück zu den Interessen. Das Strategische Konzept der NATO und die Lehren des Krieges, in:Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr.7, Juli 1999, S.805ff. Wehrschütz, Christian: Eine Allianzfür das 21. Jahrhundert? Der NATO-Jubiläumsgipfel in Washington, in: ÖMZ, Nr.4, Juli/August 1999,S.486ff. Wittmann (1999): a.a.O., S.12ff.

289 Zit. nach: FAZ, Nr.96, 26.4.1999, S.1. Vgl. auch: Wittmann (1999): a.a.O., S.19. Clayton, Alison/Rogers,Marc: Will NATO go global?, in: Jane's Defense Weekly, Vol.31, Nr.15, 14.4.1999, S.24ff.

290 Zit. nach: FAZ, Nr.96, 26.4.1999, S.1.291 Vgl.: Nordatlantikvertrag vom 4. April 1949, abgedruckt in: Sartorius II, Internationale Verträge/

Europarecht, München 1992, Dokument Nr.55, S.1ff.292 Sollte die NATO im Fernen Osten eine größere Rolle spielen wollen, dann würde dies zum Konsensbruch in

der Allianz führen. Darauf wies Generalmajor Norton Schwartz in einem Interview mit dem Verfasser am18.11.1999 hin.

293 So Miles A. Baldwin, Direktor des War Gaming and Simulation Center am INSS der NDU, in einemGespräch mit dem Verfasser am 15.11.1999.

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im Rahmen der Allianz komplizieren sollten. Wenn daher der amerikanische Senator RichardLugar bereits Anfang November 1997 gefordert hatte, dass die NATO grundsätzlich globalaktiv werden müsste und dabei auch in eine Krise in der Taiwan-Straße eingreifen sollte294,dann gehören solche Stimmen unter den gegenwärtigen Bedingungen eindeutig zu eineräußerst kleinen Minderheit.

Dennoch bietet das NSK berechtigte Ansätze zu Spekulationen über geografisch weitergehende, humanitäre out of area-Einsätze als neues zentrales Aufgabenfeld der NATO295.Deutlich definiert das NSK globale Sicherheitsbedrohungen, zu denen u.a. Proliferation,Terrorismus, Sabotage, organisiertes Verbrechen, "disruption of the flow of vital resources"(Art. 24) und die "existence of powerful nuclear forces outside the Alliance" (Art. 21) gezähltwerden. Die chinesischen Bedenken finden sich vor allem in Art. 20 wieder. Er spricht von"uncertainty and instability in and around the Euro-Atlantic area [...]. Ethnic and religiousrivalries [...], the abuse of human rights, and the dissolution of states can lead to local andeven regional instability. The resulting tensions could lead to crises affecting Euro-Atlanticstability [...]. Such conflicts could affect the security of the Alliance by spilling over intoneighbouring countries, including NATO countries". In diesem Sinne ist auch Art. 49 zuverstehen, der u.a. ausführt: "In contributing to the management of crises through militaryoperations, the Alliance's forces will have to deal with a complex and diverse range of actors,risks, situations and demands, including humanitarian emergencies." Anlass für Planspiele istnun insofern geboten, als die NATO eine globale Sicherheitsstrategie benötigt, um ihreweltweit identifizierten Interessen glaubhaft umsetzen zu können. Dazu heißt es in Art. 24:"However, Alliance security must also take account of the global context." Mehrfach ist desWeiteren von "non-Article 5 crisis response operations" die Rede. Art. 48 führt aus, wo diesenGefahren zu begegnen ist: "An important aim of the Alliance and its forces is to keep risks ata distance by dealing with potential crises at an early stage." Dies kann sich auf jede Regionder Erde beziehen. Bei der Bewältigung der Sicherheitsherausforderungen muss China davonausgehen, ausgegrenzt zu werden, denn das Bündnis will Kooperation mit der UNO lediglichanstreben (Art. 11), was ganz auf der amerikanischen Linie liegt, dass die NATO durch denUN-Sicherheitsrat in ihrer Funktionsfähigkeit nicht blockiert werden dürfe296.Selbstmandatierungen bleiben damit weiter möglich. Hinzu kommt, dass Art. 53 C von derNATO geführte Operationen außerhalb des Art. 5 des Washingtoner Vertrages (folglich auchaußerhalb von Art. 51 und Kap. VIII UNCh) in Aussicht stellt, "in which partners and othercountries may participate". Dies könnte theoretisch jeder Staat, also auch jeder GrenznachbarChinas, sein.

Selbst bei einer engen Auslegung des NSK scheinen derzeit out of area-Einsätze der NATOwenigstens bis zum Iran/Irak zu reichen, was von Solana bestätigt wurde. Trotz einerAufgabenbegrenzung mit direktem Bezug zum Bündnisgebiet dürfe es, so der ehemaligeGeneralsekretär, keine Frage der geografischen Definition, sondern der politischenEntscheidung sein, ob etwa Vorgänge am Persischen Golf die Sicherheit des euro-atlantischenRaumes gefährden und deswegen eine Reaktion der NATO zur Folge haben könnten297.

294 Vgl.: Kamp (1999), a.a.O., S.23.295 Die nachfolgenden Zitate beziehen sich auf das NATO Alliance Strategic Concept, Washington D.C., 24.

April 1999. Internetdokument: http://www.state.gov/www/regions/eur/nato/nato_990424_stratcncpt.html296 "Das Konzept ermöglicht es der NATO grundsätzlich, auch ohne ein Mandat des UNO-Sicherheitsrats zu

intervenieren." Wehrschütz (1999): a.a.O., S.487.297 Vgl.: FAZ, Nr.96, 26.4.1999, S.2.

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Beobachter spekulieren diesbezüglich auch über einen NATO-Einsatz im Kaspischen Becken.Ein Zusammenstoß zwischen der Allianz und den Akteuren dieser Region könnte sich aneiner ganzen Reihe von Faktoren entzünden, etwa einer als ungerecht empfundenen Form derAufteilung und des Transports der Erdöl- und Erdgasvorräte. Der Kaukasus und Zentralasienkönnten zum Hort radikaler islamischer Gruppen werden, die im Stile Osama Ibn LadinsTerroranschläge im NATO-Vertragsgebiet durchführen. Islamischer Separatismus könnte dasKaspische Becken destabilisieren und Entwicklungen auslösen, die auf angrenzende Regionenübergreifen. Schließlich könnten humanitäre Katastrophen den Ruf nach einer Interventionaufkommen lassen. Dass die NATO in den genannten Fällen als Organisation aktiv wird,dürfte mehr als fraglich sein. Denn eine solche Operation würde in der InteressensphäreRusslands erfolgen und den Bruch zwischen Moskau und dem Westen besiegeln - einZusammenhang, von dem China profitiert. Experten warnen Brüssel sogar davor, dasKaspische Becken als künftiges Operationsgebiet zu entdecken: Die Allianz habe dort keinevitalen Interessen zu verteidigen; die vorhandenen Konflikte hätten lediglich lokalenCharakter; weder Russland noch ein anderer Staat seien derzeit in der Lage, in der Regionhegemoniale Strukturen zu errichten; die Akteure der NATO seien auf die Energiereservendes Kaspischen Beckens nicht angewiesen; ein Konsens werde für eine Intervention nurschwer herzustellen sein; für wenigstens zehn Jahre gehe von jenem Erdteil keine Gefahr inForm von Massenvernichtungswaffen aus. Die Allianz müsse daher vermeiden, in Konfliktedes Kaspischen Beckens hineingezogen zu werden. Insbesondere solle sie es unterlassen,Sicherheitsgarantien an die Akteure vor Ort abzugeben, durch die falsche Hoffnungen genährtwerden könnten298. Solche Sicherheitszusagen wären im Verhältnis zu Russland derNeubeginn des Kalten Krieges. Auch China würde vehement gegen sie vorgehen, könnte diesdoch im Falle von Abspaltungstendenzen Xinjiangs dazu führen, dass die NATO plötzlich dieInteressen der Grenznachbarn des Reiches der Mitte ve rtritt.

Die Akteure der NATO dürften im Kaspischen Becken aber dennoch in Zukunft Einflussausüben: Diverse Staaten sind der Allianz im Rahmen der PfP verbunden. Diese Strukturenkönnte Brüssel im Ernstfall nutzen, um UN-Missionen in der Region hinter den Kulissenmitzugestalten. Selektiv steht den USA die Option offen, gegen sich zu rogue stateswandelnde Akteure sowie Terrorismus-Infrastrukturen sanktionierend mit Marschflugkörpernvorzugehen – eine Politik, die Washington bereits global zur Anwendung gebracht hat.Sämtliche Aktionen dürften aber unterhalb der Schwelle eines offenen out of area-Einsatzesder Allianz stattfinden. Vorläufig erscheint lediglich ein Szenario denkbar, in dem die NATOin eine kriegerische Auseinandersetzung im Kaspischen Becken verwickelt werden könnte:eine nichtfriedliche Lösung der Interessengegensätze zwischen Ankara auf der einen undMoskau sowie Teheran auf der anderen Seite299. Denn sollten Russland bzw. der Iran dieTürkei angreifen, dann tritt für die Allianz der Bündnisfall ein. Sie müsste gemäß Artikel 5des Washingtoner Vertrages mit kollektiven Verteidigungsmaßnahmen reagieren. Ob sie diesauch tatsächlich tun würde, dürfte von der jeweiligen Konstellation abhängen; Beobachter

298 Vgl.: Sokolsky, Richard/Charlick-Paley, Tanya: NATO and Caspian Security. A Mission Too Far?, Santa

Monica 1999, S.xiii ff u.81ff. "Given the meager benefits and potentially high costs of extending NATO'ssecurity responsibilities in the region, the Alliance's more pressing priorities, and finite resources andcommitments, deepening NATO's engagement in the Caspian region should not command a high priority interms of resources, planning, or attention. Instead, NATO should concentrate on other tasks and challengeson its security agenda for the 21st century." Ebd., S.98.

299 Vgl. hierzu: Herrmann, Wilfried A.: Das Kaspische Meer – neue Einsatzoptionen der NATO?, in: Soldatund Technik, Nr. 9, September 1998, S.553ff.

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vermuten hier zumindest keinen Automatismus 300. Im Falle der Beistandseinhaltung könntedies nach einem Waffenstillstand zu dem Ergebnis führen, dass die NATO in bestimmtenGrenzregionen dauerhafte Präsenz in Form von Peace Keeping Operations (PKOs) zeigt – wiederzeit durch die KFOR im Kosovo. Dies wiederum würde nicht nur in Russland, sondernauch in China als Bestätigung des angenommenen Dranges der Allianz nach Osten perzipiertwerden.

Das Fazit zu diesem Fragenkomplex fällt ambivalent aus: Nicht ein Akteur der NATO dürftegegenwärtig ernsthaft in Betracht ziehen, im Rahmen der Allianz im Kaspischen Becken odersogar im Fernen Osten zu intervenieren. Zwar sind eine Reihe von Szenarien denkbar, dieBrüssel zum Umdenken zwingen könnten. Vorerst dürften sie aber alle äußerstunwahrscheinlich sein. Auf der anderen Seite signalisierte die EU während ihresGipfeltreffens in Helsinki im Dezember 1999, künftig militärisch operationsfähiger werden zuwollen. Bis zum Jahr 2003 soll ein europäisches Interventionskorps mit einer Stärke von biszu 60.000 Mann aufgestellt werden. Des Weiteren sind auch heute noch Staaten Europas inmilitärische Allianzen des Fernen Ostens eingebunden, wie z.B. Großbritannien durch seineMitgliedschaft in den Five Power Defense Arrangements (FPDA). Und so unwahrscheinlichein fernöstliches Interventionsszenario heute sein mag301, es wird durch das NSK nichtausgeschlossen – insbesondere dann nicht, wenn sich die dortige Sicherheitslage negativ aufdie Interessen des Bündnisses auswirkt. Menschenrechtsverletzungen wären dabei gemäßNSK ein möglicher Eingriffsgrund. Eine Entscheidung würde, wie so oft, von aktuellenInteressenkonstellationen und entsprechenden semantischen Interpretationen der vorhandenenBeschlusslage abhängen. Schriftliche Hintertüren existieren dafür seit dem 24. April 1999.Das chinesische Dilemma ist damit offensichtlich: Der NATO werden wachsende militärischeHandlungsfähigkeiten attestiert. Daraus nicht auch den Schluss zu ziehen, dass die Allianzeinen globalen Handlungswillen entwickelt, fällt Peking sichtlich schwer.

3.3 Ost-Timor und die Perspektiven des Interventionismus in Asien-Pazifik

Der offensive Einsatz der NATO für Menschenrechte auf etwas mehr als 10.000 km² – gut0,002 % der Erdoberfläche – dürfte negative Folgen für jede kooperative Form vonWeltordnungspolitik haben. Regelmäßig ist der UN-Sicherheitsrat in der Vergangenheitumgangen worden, um bestimmte nationalstaatliche Interessen effektiver durchzusetzen. Diefortgesetzte amerikanische Eindämmung des Iraks seit dem Ende des Golfkrieges oder dieLuftschläge Washingtons gegen im Sudan und in Afghanistan vermutete Terrorismus-Infrastrukturen im August 1998 können in diesem Zusammenhang als weitere Beispieleangeführt werden. Diese Schwächung der UNO, die gleichzeitig jeden Versuch des Aufbausinternationaler Ordnungsstrukturen unterwandert, wird vor allem von den USA bewusst inKauf genommen. Washington gibt offen zu, jederzeit zu unilateralen Aktionen bereit zu sein,wenn dies das amerikanische Interesse erfordere. In dem Strategiebericht des Weißen Hauses"A National Security Strategy For A New Century" vom Dezember 1999 heißt es dazu: "[...]we must always be prepared to act alone when that is our most advantageous course, or whenwe have no alternative."302

300 Die NATO könnte z.B. dann den Beistand verweigern, wenn sich die Türkei in einen Konflikt mit dem Iran

verwickelt, bei dem zwischen Angreifer und Verteidiger schwer zu unterscheiden ist. Vgl.:Sokolsky/Charlick-Paley (1999), a.a.O., S.95.

301 Pradetto weist darauf hin, dass die Europäer auf absehbare Zeit kein Interesse an vergleichbaren Aktionenwie der im Kosovo hätten. Zudem seien in den USA die Vorbehalte gegenüber militärischen Aktionen "fürund mit Europa" im Rahmen der NATO gewachsen. Vgl.: Pradetto (Juli 1999), a.a.O., S.813f.

302 The White House (1999), a.a.O., S.3.

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Der Westen schafft auf diese Weise Präzedenzfälle, auf die sich eines Tages auchnichtwestliche Akteure berufen könnten, wenn dies ihre Sicherheitslage zu erfordernscheint303. Russland bediente sich dieses Argumentationsmusters, nachdem es im September1999 den Tschetschenien-Krieg wieder aufgenommen hatte. Westliche Einwände wurden mitdem Hinweis, dass die NATO im Kosovo ja auch nach Belieben vorgegangen sei,zurückgewiesen. China könnte in Zukunft ähnlich argumentieren. Denkbar wäre, dass es inkommenden Konflikten in seiner geopolitischen Interessensphäre den UN-Sicherheitsratignoriert oder für westliche Mitsprache zumindest einen hohen Preis verlangt. Eine weitereÜberlegung liegt dabei nahe: Wenn sich die NATO außerhalb ihres Vertragsgebietes für dieRechte unterdrückter Menschen gewaltsam einsetzt, warum sollte dann nicht auch China zuGunsten seiner Landsleute im Ausland militärisch intervenieren, etwa während neuerAusschreitungen gegen die chinesische Minderheit in Indonesien304? Im Übrigen könntePeking fragen: Wenn die Nordatlant ische Allianz im Kosovo zugleich als Exekutive,Legislative und Judikative agiert, warum beschwert sich der Westen dann über die Tibet-Politik Chinas, wo man schließlich nichts Anderes macht? Kontrollierter Interventionismus inEuropa könnte auf den Fernen Osten eine verheerende Vorbildwirkung haben, deren Ergebniswahrscheinlich nur schlecht zu kontrollieren wäre. Die schützende Wirkung anerkannterstaatlicher Souveränität für regionale und globale Sicherheit würde durch willkürlichenInterventionismus aufgeweicht werden. In diesem Sinne mahnte das Stockholm InternationalPeace Research Institute (SIPRI): "No state in the international system has the monopoly onenforcing international law."305

Die Lage in Jugoslawien wurde von Beobachtern immer wieder mit der sich zuspitzendenSituation in Indonesien verglichen306. Die Unruhen in Ost-Timor, die sich nach demUnabhängigkeitsreferendum am 30. August 1999 verschärften, führten dann zu Vergleichenmit der Lage im Kosovo 307. Fraglich war, ob die USA nun wirklich der so genannten "Clinton-Doktrin" folgen würden. Sie wurde von wissenschaftlicher Seite während des Kosovo-Krieges skizziert308 und schien vom amerikanischen Präsidenten offizielle Weihen zubekommen, als dieser am 22. Juni 1999 eine programmatische Erklärung während einesBesuches bei KFOR-Truppen auf dem Flugplatz von Skopje abgab: "[...] whether you live inAfrica, or Central Europe, or any other place, if somebody comes after innocent civilians andtries to kill them en masse because of their race, their ethnic background or their religion, andit's within our power to stop it, we will stop it."309 Washington hatte jedoch seit Beginn derAufstände pro-indonesischer Milizen deutlich gemacht, dass Ost-Timor nicht das asiatische

303 "Der Westen kann sich darauf einstellen, dass Moskau und Peking ihre Kooperation im bilateralen Kontext

wie im Rahmen der UNO zukünftig nicht weniger utilitaristischen Erwägungen unterziehen als Washington.Das Klima in den internationalen Beziehungen hat sich auf absehbare Zeit verschlechtert." Pradetto (Juli1999), a.a.O., S.813.

304 David I. Steinberg, Leiter des Asian Studies Program der Georgetown University, hält ein solches Szenariodurchaus für denkbar. Darauf wies er in einem Gespräch mit dem Verfasser am 16.12.1999 hin.

305 Rotfeld, Adam Daniel: Rethinking the contemporary security system, in: SIPRI (ed.): SIPRI Yearbook 1999.Armaments, Disarmament and International Security, Oxford 1999, S.4.

306 Vgl.: Bolton, John R.: Indonesia: Asia's Yugoslavia?, in: FEER, Nr.13, 1.4.1999, S.31.307 Vgl.: IHT, 11.-12.9.1999, S.6.308 Vgl.: Mandelbaum, Michael: A Perfect Failure. NATO's War Against Yugoslavia, in: Foreign Affairs, Nr.5,

September/Oktober 1999, S.5ff.309 Clinton, Bill: Remarks to the KFOR Troops (Skopje, Macedonia Airport), Washington D.C., 22.6.1999.

Internet-Dokument: http://www.pub.whitehouse.gov/uri-res/I2R?urn:pdi://oma.eop.gov.us/1999/6/23/6.text.1

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Kosovo sei, wodurch es den selektiven Charakter seiner Interventionsbereitschaftunterstrich310. Frühzeitig war signalisiert worden, keine Bodentruppen entsenden zu wollen.Hier dürfte das Vietnam-Trauma eine Rolle gespielt haben, wohl aber auch die HinweiseChinas, jede einseitige militärische Einmischung amerikanischer Verbände an seinererweiterten Südflanke abzulehnen. Die Clinton-Administration dürfte dabei erkannt haben,durch eine unilaterale Intervention auf dem Boden der ehemaligen Kolonie Portugals denBogen im Verhältnis zu China zu überspannen. Die Problematik wurde auf derGroßmachtebene dadurch entschärft, dass Jakarta am 12. September 1999 seine Zustimmungfür die Entsendung einer UN-Truppe unter australischer Führung nach Ost-Timor gab. DreiTage später fasste der UN-Sicherheitsrat mit Zustimmung Chinas einen entsprechendenBeschluss311; die ersten Kontingente der International Force in East Timor (INTERFET) trafenam 20. September im Operationsgebiet ein. Eine erneute Dehnung des Völkerrechts wurdedamit vermieden. Gleichzeitig zeigt dieser Fall, dass von einer "Clinton-Doktrin" beliebigerhumanitärer Interventionen nicht gesprochen werden kann – zumal ein US-Präsident in derEndphase seiner Regierungszeit kaum noch glaubhaft Doktrinen wird begründen können.

Aus einer anderen Perspektive könnte die Befriedung Ost-Timors aber dennoch herangezogenwerden, um auf eine Form des verdeckten Interventionismus hinzuweisen. Oberflächlichbetrachtet, scheinen die USA auf der kleinen Insel keine große Rolle zu spielen. Dennoch istes ihnen gelungen, auf äußerst geschickte Weise das Geschehen zu beeinflussen. So war dieZustimmung Jakartas zu einer UN-Mission nur durch erheblichen amerikanischen Druck zuStande gekommen. Unübersehbar war in jener Zeit, wie sehr sich Indonesien – vor allemdessen Militärs – gegen die Stationierung ausländischer Streitkräfte sträubte. Die ForderungJakartas, ein möglichst asiatisches Expeditionskorps zusammenzustellen, enthieltunausgesprochen ein gehöriges Maß an Anti-Amerikanismus. Die USA beteiligten sich dannzwar nicht mit Bodentruppen an der Befriedungsaktion. Sie stellten aber ca. 260 Soldaten inden Bereichen Nachrichtendienst, Logistik, Kommunikation, Aufklärung und Transport zurVerfügung, ohne die die Operation kaum durchzuführen gewesen wäre. Australien, einer derengsten Verbündeten der USA im asiatisch-pazifischen Raum, kommandierte dieINTERFET-Truppen (Eigenbeitrag: ca. 4.500 Mann). Thailand, einer der zentralenamerikanischen Sicherheitspartner in Südostasien, schloss sich der Aktion mit demzweitgrößten Truppenkontingent (ca. 1.500 Mann) an und übernahm gleichzeitig diestellvertretende Kommandoführung. Hier stellt sich nun die Frage, ob wirklich von einemZufall gesprochen werden kann, wenn mit Australien und Thailand ausgerechnet zwei derfünf asiatischen Bündnispartner der USA an vorderster Front der INTERFET-Missionstanden. Vielmehr drängt sich der Schluss auf, dass Washington verstärkt seine deputies insRennen bringen möchte, wenn es selbst nicht intervenieren will oder kann312. Die Kontrolleentsprechender Aktionen bliebe bei den USA, indem sie ihr militärtechnologisches Know-how und weitere unterstützende Maßnahmen im Hintergrund zur Verfügung stellen.Washington lieh z.B. den australischen Truppen schusssichere Westen und Nachtsichtgeräte

310 US-Verteidigungsminister William Cohen antwortete diesbezüglich auf die Frage, warum die USA zwar

bereit seien, sich militärisch im Kosovo für Menschenrechte einzusetzen, nicht jedoch in Ost-Timor: "Wehave to be selective where we commit our forces and, under the circumstances, this is not an area that we areprepared to commit forces." Zit. nach: Richardson, Michael: World Can't Agree on What to Do, in: IHT,9.9.1999, S.1.

311 Vgl.: zu den chinesischen Motiven: Malik, J. Mohan: Why Beijing Is Cooperating With the Timor Action,in: IHT, 8.10.1999, S.14.

312 Diese These des Verfassers ist in sämtlichen Interviews mit am sicherheitspolitischen Entscheidungsprozessbeteiligten Personen in Washington zurückgewiesen worden, u.a. in einem Gespräch am 12.11.1999 mitGeneralmajor Wallace C. Gregson, dem im Pentagon zuständigen Asien-Pazifik Dire ktor.

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aus313; die thailändischen wie auch die philippinischen Einheiten – Manila zählt ebenfalls zuden fünf US-Bündnispartnern in der Region – wurden von amerikanischenTransportflugzeugen nach Ost-Timor gebracht 314.

Die INTERFET hat ihre Mission am 23. Februar 2000 beendet. Der militärische Auftrag wirdseitdem von Friedenstruppen der am 25. Oktober 1999 autorisierten United NationsTransitional Administration in East Timor (UNTAET) wahrgenommen, für die bis zu 8.950Blauhelm-Soldaten, 200 Militärbeobachter und 1.640 Polizisten vorgesehen sind 315. DerOberbefehl ist vom australischen Generalmajor Peter Cosgrove an den philippinischenGeneralleutnant Jaimie de los Santos übergeben worden.

3.4 Recht oder Gerechtigkeit?

Westliche Entscheidungsträger offenbaren in humanitären Fragen häufig ein erstaunlichesMaß an Fehleinschätzungen und Vergesslichkeit. Falsch ist die Annahme, dass sich in Europaund Nordamerika durchgesetzte und als richtig erkannte Wertmaßstäbe automatisch und ohneGegenwehr auf andere Regionen übertragen lassen. Vergessen wird dabei, wie lange dertransatlantische Raum brauchte, bis in ihm die Würde des Menschen unantastbar wurde.Wenn westliche Sicherheitspolitik künftig nicht nur der Verteidigung des Bündnisterritoriumsund der Konfliktprävention in dessen unmittelbarer Peripherie dienen soll, sondern out of areazum Schutz der Menschenrechte eingesetzt wird, dann mutiert die NATO zwar zu einerglobaler Gerechtigkeit verpflichteten Institution. Sie würde damit aber auch zum ius adbellum zurückkehren, das anzuwenden ex iusta causa und in intentio recta von der westlichenStaatengemeinschaft als legitim betrachtet werden würde. Ergebnis wäre eine Ausdehnungstruktureller internationaler Anarchie – das Gegenteil dessen, was Ziel der UNO ist316.

Ein großer Vorteil des Völkerrechts ist, dass es ein halbwegs geregeltes Miteinander innerhalbder Staatenwelt wahr werden lässt. Dies hat ohne Zweifel eine friedensstiftende Wirkung, daes Kooperation zwischen völlig unterschiedlichen Systemen zulässt. Während des Ost-West-Konflikts ermöglichten völkerrechtliche Eckpfeiler wie Souveränität und Gleichheit derAkteure Verständigung unter den Supermächten, wodurch die nukleare Katastropheverhindert wurde. Vor der Ära der Entspannung war es ja gerade das Beharren auf einseitigenSystemvorstellungen, das nachhaltige Kommunikation zwischen den USA und derSowjetunion unmöglich werden ließ. Kooperation konnte erst durch Einigung auf einenMinimalkonsens, so unbefriedigend dieser auch gewesen sein mag, erfolgen. Gleichzeitig warund ist es nur natürlich, dass sich Staaten in völlig unterschiedlichen Entwicklungsstadien mitentsprechend auseinander gehenden Wertvorstellungen zunächst auf den kleinstengemeinsamen Kooperationsnenner einigen müssen, der nur über Dekaden wachsen kann.Westliche Ungeduld wird dies nicht ändern. Entsprechend sollte bei Debatten aus derPolitologie, die Begriffen wie "Weltinnenrecht", "Weltinnenpolitik", "Weltbürgerrechte" oder

313 Vgl.: NZZ, Nr.232, 6.10.1999, S.3.314 Vgl.: Cohen, William: Press Conference in Bangkok, Thailand, 1.10.1999.

Internet-Dokument: http://usa.or.th/relation/visits/cohen1099-1.htm315 Vgl.: UNO, East Timor - UNTAET. Facts and figures, o.O., 1999.

Internet-Dokument: http://www.un.org/peace/etimor/UntaetF.htm316 Pradetto wies bereits 1998 darauf hin, dass eine Intervention der NATO "die bestehende Sicherheitsstruktur

stärker belasten [würde] als die politischen und völkerrechtlichen Folgen eines Nichteingreifens." Pradetto,August: NATO-Intervention in Kosovo? Kein Eingreifen ohne UN-Mandat, in: Internationale Politik, Nr.9,September 1998, S.46.

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"Weltgesellschaft" gewidmet sind, zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Soll- undIst-Zuständen unterschieden werden317.

Will die NATO an der Entwicklung funktionierender globaler Ordnungsstrukturen mitwirken,wird dies nur durch Aufrechterhaltung eines völkerrechtlichen Minimalkonsenses gelingen.Nichts spricht dagegen, dass zu diesem Kern selektive humanitäre Interventionen gehören. Siesollten aber nur dann erfolgen, wenn sie von der Überzeugung wenigstens aller ständigenMitglieder des UN-Sicherheitsrates getragen werden. Beabsichtigt die NATO also künftigerneut, an ihrer Peripherie Völkermord zu stoppen, dann darf dies nicht gegen den WillenRusslands und Chinas erfolgen. Ein solches Verhalten würde Art. 7 des Nordatlantikvertragesentsprechen, in dem eine "in erster Linie bestehende Verantwortlichkeit des Sicherheitsratsfür die Erhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit"318 – unddamit die subsidiäre Rolle der NATO – bestätigt wird. Jede Versuchung, dennoch imVerfahren der Selbstmandatierung zu intervenieren, wird sich langfristig negativ auf dieGestaltung der internationalen Sicherheit auswirken. Diese sollte vorrangiges Ziel desWestens sein, wozu er mit den regionalen Großmächten kooperieren muss. Dazu könnte dieNATO z.B. wie in ihren Beziehungen zu Russland auch mit China ein Konsultativforumgründen, um für mehr Verständnis für die eigene Politik zu werben. Nur auf diese Weise kannein Klima entstehen, das auf globaler Ebene stabile Beziehungen zwischen denNuklearmächten schafft und Nonproliferationsbemühungen Erfolg verspricht. Für kleinere,bilaterale militärische Auseinandersetzungen und Bürgerkriege kann dies zu derschmerzhaften Einsicht führen, die Edward N. Luttwak, Senior Fellow am Center forStrategic and International Studies in Washington D.C., formuliert hat: "It might be best forall parties to let minor wars burn themselves out."319

317 Oder um mit Blumenwitz zu sprechen: "Die Argumentation mit dem Weltstaat, mit einer neuen

'Weltbürgergesellschaft', mit 'Weltinnenpolitik' ist gefährlich, da sie Illusionen schürt, durch einüberzeichnetes Idealbild die Rechtswirklichkeit destabilisiert oder gelegentlich auch nur derSelbstrechtfertigung höchst eigennütziger politischer Ziele dient." Ders. (1999), a.a.O., S.20.

318 Nordatlantikvertrag vom 4. April 1949 (1992), a.a.O., S.3.319 Luttwak, Edward N.: Give War a Chance, in: Foreign Affairs, Nr.4, Juli/August 1999, S.37. Eine kritische

Auseinandersetzung mit dieser Position findet sich in: The Economist, Nr.8130, 31.7.1999, S.13f. Im SinneLuttwaks äußerte sich auch Krauthammer, Charles: The Short, Unhappy Life of Humanitarian War, in: TheNational Interest, Nr.57, Herbst 1999, S.5ff.

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Oskar Weggel

Vom Unruhestifter zur Ordnungsmacht – China in der UNO

1. Gezeiten

Analog zu ihrer wechselvollen inneren Entwicklung hat die VRCh in den ersten fünfJahrzehnten ihrer Geschichte bei der Begegnung mit den Vereinten Nationen mehrereWendungen vollzogen. Rückblickend lassen sich unter den Stichworten Ablehnung,Revolution und Stabilität deutlich drei Phasen unterscheiden:

Phase 1 begann im Oktober 1950, als die VRCh zwar einen Vertreter zum Sicherheitsratentsandte, dort aber – zusammen mit Nordkorea – als "Aggressor" im Koreakrieggebrandmarkt wurde. Seit dieser Zeit lehnte Beijing die UNO als ein "Werkzeug des US-Imperialismus" ab und verfolgte vorübergehend, Hand in Hand mit dem 1965 aus der UNOausgetretenen Indonesien Sukarnos, sogar den Plan, eine Art Gegenorganisation zur UNO –mit Sitz in Jakarta – zu gründen.

Phase 2 setzte am 25. Oktober 1971 ein, als die UNO-Generalversammlung – in spontanerReaktion auf die Ankündigung eines Chinabesuchs des US-Präsidenten Nixon – dieAufnahme der VR China und den gleichzeitigen Ausschluss Taiwans beschloss.

Beijing nutzte diese Chance, um fortan drei Ziele zu verfolgen, nämlich erstens die IsolierungTaiwans zu betreiben, das bisher unter der Bezeichnung "Republik China" den KonkurrentenVRCh im diplomatischen Bereich fast an die Wand gedrückt hatte, zweitens den damaligenHauptgegner, nämlich die "hegemonistische" Sowjetunion verstärkt anzuprangern und,drittens, zu einer Art Sprecher der Dritten Welt zu werden.

Die "Provinz Taiwan" wurde in der Tat Schritt für Schritt nicht nur aus der UNO und ihrenUnterorganisationen(ILO, UNESCO, WHO, WMO usw.), sondern auch aus den vierFinanzinstitutionen des WF, der Weltbank, der IFC und der IDA hinausgedrängt. Hand inHand damit brachen die meisten Länder ihre diplomatischen Beziehungen zu Taibei ab. AmEnde blieben den Taiwanern – bis auf den heutigen Tag – diplomatische Vertretungen in nurnoch rund drei Dutzend Ländern (vor allem Mittelamerikas und Afrikas).

Zweitens setzte China seit 1971 alle Hebel in Bewegung, um die "hegemonistische"Sowjetunion, die seit 1968 (Prag, Ussuri-Zwischenfälle) zum Hauptgegner geworden war,"maximal zu isolieren", indem es möglichst viele Länder der Dritten Welt auf seine Seite zuziehen versuchte. Bereits im Dezember 1971 bereitete es der Sowjetunion im Zusammenhangmit dem indisch-pakistanischen Krieg eine vernichtende Abstimmungsniederlage. Im Übrigeninstrumentalisierte Beijing vor allem vier UNO-Unterausschüsse, wandte sich also z.B. imMeeresbodenausschuss gegen die angeblich immer ruchloser ausgreifende SeewegestrategieMoskaus, prangerte im Entkolonialisierungsausschuss, dem "subversivsten" aller UNO-Komitees, in dem es übrigens schon bald den Vorsitzenden stellen konnte, den sowjetischenEinmarsch in Prag sowie die Moskauer Politik in der Äußeren Mongolei an, und verstand esüberdies, auch vor der UNCTAD und vor dem Umweltausschuss die UdSSR alsMitverantwortlichen für zunehmende Armut in der Welt sowie für wachsendeUmweltschäden (Folge von ABC-Waffen!) anzuprangern.

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Darüber hinaus ging China dazu über, den in der UNO-Charta so zentralen – Aggressionsbe-griff zu politisieren: Während die kontinentaleuropäischen Vertreter für die Definition einekurze elegant-abstrakte Begriffsbestimmung, die Sowjetunion eine enumerative und dieVertreter des angloamerikanischen Rechtskreises eine case-law-Interpretation forderten,stellten die Vertreter der VRCh von vornherein nicht auf eine "Verrechtlichung", sondern aufeine "Politisierung" des Begriffs ab: "Aggression" sollte demnach sein, was 95% "allerVölker" im jeweils konkreten Fall als "Aggression" bewerten. Diese dezisionistische, d.h. imEinzelfall zu treffende und in der damaligen chinesischen Innenpolitik so häufig praktizierte"prozessuale" Lösung sollte nun auch im Rahmen der UNO überall dort greifen, wo es galt,den angeblichen Hauptfeind Chinas und der Dritten Welt, nämlich den"Sowjethegemonismus" "maximal zu isolieren".

Diese Stigmatisierung Moskaus konnte nur gelingen, wenn sich China auf der anderen Seitemit den Ländern der Dritten Welt "maximal solidarisierte" – entsprechend richtete es in derTat seine Politik aus und vergaß auch nie, darauf hinzuweisen, dass China einEntwicklungsland und damit ein authentischer Angehöriger der Dritten Welt sei.Messerscharf wurde diese Gemeinsamkeit 1974 bei Verkündung der "Drei-Welten-Theorie"durch Deng Xiaoping herausgestellt.

Im Dezember 1978 – zwei Jahre nach dem Tod Maos und dem Sturz der so genannten"Viererbande" – begann Phase 3: Die Reformer unter Führung Deng Xiaopings stellten dieAußenpolitik nun vom "Klassenkampf auf Modernisierung" um, leiteten also eine Wende um180 Grad ein, und richteten den neuen Kurs nach dem Motto "Friede und Entwicklung" aus.Konkret verlief dieser Wandel in dreifacher Richtung:

Erstens forderte die VRCh, dass die(von ihr 1954 mit aus der Taufe gehobenen) "FünfPrinzipien der friedlichen Koexistenz" (Souveränität, Nichtangriff, Nichteinmischung,Gleichheit und friedliches Nebeneinander) zum Leitmotiv einer neuen internationalen Politikerhoben werden müssten: Ein Verlangen, das sie jedoch keineswegs hinderte, eines von fünfMitgliedern des Ständigen Sicherheitsrats mit hierarchischer Vorrangstellung zu werden.Anders als die Sowjetunion machte sie jedoch vom Veto-Privileg kaum Gebrauch. Bei ihren"Fünf Prinzipien" legte Beijing das Schwergewicht auf die "Nichteinmischung" undentwickelte sich in den nachfolgenden Jahren nicht nur zur Gegnerin von Militäreinsätzen derUNO, sondern wurde überdies zur Hauptverfechterin des Grundsatzes, dass die westlicheMenschenrechtsauffassung keineswegs "universalistisch" sei, dass vielmehr dieverschiedenen Kulturen ihre jeweils eigenen Ansätze hervorgebracht hätten (in China stündenbeispielsweise Sozial- vor Individualrechten) und dass die "Menschenrechtsfrage" von"gewissen Supermächten" als Hauptvorwand zur Einmischung in innere Angelegenheitenbenutzt werde.

Zweitens rückte China nun in aller Eile von seiner (noch unter Mao Zedong so stark betonten)Funktion als revolutionärer Unruhestifter ab und kehrte zu seiner traditionellen Ordnungs-und Stabilisierungsrolle zurück. Kein Geringerer als Deng Xiaoping benutzte WendingStabilität) als Lieblingsvokabel, wobei es für ihn als ausgemacht galt, dass Stabilität ihrerseitsvon wirtschaftlichem Wohlergehen abhänge. Konsequenterweise rückte die Wirtschaft in den90er-Jahren vollends ins "Zentrum" der gesamten KPCh-Politik. Entsprechend dieserNeuorientierung wurden für China nun andere, bisher vernachlässigte UNO-Unterausschüsseinteressant, vor allem – UNDP und – UNIDO, die ihrerseits positiv auf China reagierten undihm zahlreiche Entwicklungsprojekte in der Dritten Welt anvertrauten, angefangen von derSüßwasserfischzucht über die Entwicklung von Biogasnutzung und Seidenraupenzucht bishin zur Akupunktur, zum elementaren Gesundheitsschutz, zu kleinen Wasserkraftstationen

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und zur "umfassenden Entwicklung auf den Dörfern". UNDP erklärte überdies Chinas – HDI-und – GEM-Politik für vorbildlich.

In den 90er-Jahren unterzeichnete die Volksrepublik zahlreiche Sicherheitsabkommen, u.a.den Atomwaffensperrvertrag und den Vertrag über das allseitige Verbot von Kernwaffentestsund richtete überdies mehrere UNO-Konferenzen aus, u.a. 1995 die Bevölkerungs- und dieWeltfrauenkonferenz.

Drittens versucht Beijing, die seit Jahrhunderten im Reich der Mitte praktizierten"Beziehungs"-Vorstellungen auf die neuen Interdependenz-Verhältnisse im internationalenSystem zu übertragen – und damit ein neues Verständnis von Außenpolitik anzumahnen, beidem nicht mehr, wie noch in der "realistischen" Schule Morgenthaus, die Nation imVordergrund steht, sondern in dem die Beziehungen zwischen den Nationen zum Dreh- undAngelpunkt werden. Wo dies gelingt, geht es in erster Linie nicht mehr um die "Sicherheit"der einzelnen Nation, sondern um Frieden ("Harmonie") zwischen den am internationalenSystem Beteiligten, werden Konflikte nicht mehr als unvermeidlich in Kauf genommen("nationale Interessen sind unantastbar!"), sondern möglichst "wegdiskutiert" (kaum einanderer Terminus wird häufiger verwendet als xie, d.h. Konsultation und Ausgleich) undfindet kein Nullsummen-, sondern ein positives Summenspiel statt, da von erfolgreichpraktizierter Interdependenz ja nicht die einzelne Nation auf Kosten der anderen gewinnen,sondern da – bei "wechselseitiger" Abstimmung – jeder Beteiligte profitieren kann.

Für die Durchsetzung dieses Vermaschungs-Denkens erscheint den Chinesen die UNO alsideales Forum.

Literaturangaben

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