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Im Banne des fremden Kriegers

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Helen Perkins Band 10

Im Banne des fremden Kriegers von Helen Perkins

Mary Lewis – ein Leben zwischen Auflehnung und Gehorsam.

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»Was mir vorschwebt, was ich mir wünsche, ist, schlicht gesagt, die Welt zu erobern. Oder, in weniger anmaßenden Worten, ein neues Stück der Welt zu entdecken.« Der junge italienische Edelmann lächel­te ein wenig, seine sensible und doch kräftige Hand legte sich wie be­schützend auf den schmalen Kopf des sandfarbenen Windhundes, der daraufhin genießerisch die Augen schloss. »Ihr, Vater Pietro, habt mich Demut gelehrt, die Liebe zu den Menschen und Gottes Schöp­fung. Und dafür werde ich Euch ewig dankbar sein. Doch ich sehe kei­nen Widerspruch zwischen meinen Plänen und dem, was ich hier in diesen Mauern verinnerlicht habe.« Seine klugen samtbraunen Augen suchten den Blick seines Gegenübers.

Ein wenig gebeugt saß der schon betagte Vorsteher des Klosters vom heiligen Franziskus in seinem Stuhl, die sanfte Brise, die durch den Innenhof in den Wandelgang strich, wo die beiden un­terschiedlichen Männer an diesem heiteren Frühlingstag des Jahres 1568 ihr Gespräch führten, tat ihm wohl. Denn seit Fra Pietro die sieb­zig überschritten hatte, war er ein wenig empfindlich und gebrechlich geworden. Die Arbeit im Klostergarten ging ihm nicht mehr so leicht von der Hand. Und auch seine Aufgaben in den Ställen brauchten nun mehr Zeit. Doch der lebensweise Mönch wäre nie auf den Gedanken gekommen, sich zu beschweren. Und kam ihn einer seiner ehemaligen Schützlinge besuchen, so wie Francesco di Montoglia an diesem Vor­mittag, dann spürte er ein stilles Glück, beinahe so, als seien all die Zöglinge vornehmer römischer Familien, die zur Erziehung durch seine Hände gegangen waren, ein wenig auch die eigenen Kinder.

»Mein lieber Francesco«, ergriff er nun mit einer leisen und sehr wohlklingenden Stimme das Wort. »Ihr seid mir stets der Liebste von allen gewesen. Ich sage Euch das, denn ich bin gewiss, dass Ihr frei seid vom Laster der Eitelkeit. Ihr wart als Kind sehr gelehrig, habt Eu­ren Geist wie Euren Körper unter Anleitung der Brüder mit Freude entwickelt. Und doch... Was Ihr nun anstrebt, das führt Euch weit fort vom Schoß der Kirche und vom Glauben. Allein das weltliche Wissen kann uns nie ganz vollkommen machen. Die große Mode des Entde­ckens, die nun schon eine ganze Weile andauert, mag uns Aufschlüsse über die äußere Beschaffenheit von Gottes Werk vermitteln. Doch der

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Glaube allein kann uns führen. Das solltet Ihr nie vergessen, mein lie­ber Junge. Denn sonst werdet Ihr in dem Unbekannten, was Ihr sucht, verloren sein.«

Francesco ließ sich die Worte des alten Mönchs eine Weile durch den Kopf gehen, eh er eine Antwort gab. Und diese fiel dann auch recht im Sinne des Alten aus. »Ihr wisst, Vater, dass ich nicht eben aus einer sehr gottesfürchtigen Familie stamme. Die Montoglias stehen im Ruf, Macht und Reichtum zu ihrem Götzen erhoben zu haben. Und dies ist ja auch nicht völlig von der Hand zu weisen. Ich verdanke es einzig meiner lieben Mama, dass ich meine Lehrjahre in diesen Mauern verbringen durfte. Und Ihr könnt sicher sein; ich werde nie vergessen, was Ihr mich gelehrt habt. Wenn ich in die Welt ziehe, wird Gott in meinem Herzen und auf meinem Banner sein.«

Fra Pietro lächelte milde. »Mein lieber Francesco, ich sehe, ich muss mich um Euch nicht sorgen.« Sein Lächeln vertiefte sich ein we­nig, als er sich vorbeugte und verschmitzt hinzufügte: »Doch ich wer­de es trotzdem tun. Ein guter Hirte vergisst keines seiner Lämmer, solange nicht, bis der Herr sich seiner annimmt.«

»Und das wird ganz sicher noch lange nicht der Fall sein«, versi­cherte der junge Edelmann. Die Vorstellung, den Alten zu verlieren, würde sein Herz betrüben und seinem Verstand die wichtigste Anre­gung nehmen. Allein die Besuche im Kloster, die klugen Gespräche würde Francesco schon sehr bald ganz schmerzlich vermissen.

Der alte Mönch schmunzelte verhalten, enthielt sich aber eines weiteren Kommentars. Stattdessen sprach er ein anderes Thema an, das ihn weitaus mehr zu interessieren schien. »Sagt, wie werdet Ihr vorgehen, um Eure Pläne in die Tat umzusetzen? Gewiss verfügt Euer Vater über genügend Mittel, um eine solche Entdeckungsfahrt zu fi­nanzieren. Doch ich werde den Eindruck nicht los, dass dies nicht ganz nach Eurem Herze wäre.«

Der junge Edelmann konnte dem nicht widersprechen. »Ich werde zunächst nach England segeln. Die Königin ist bekannt für ihre groß­zügige Unterstützung solcher Vorhaben. Im eigenen Lande gilt der Prophet ja leider nur wenig. Sollte ich erfolgreich sein, werde ich ihr tausendfach vergelten können.«

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»So, so...« Ganz zufrieden schien der Mönch mit dieser Antwort nicht zu sein. Und als sein Besucher ihn nach dem Grund dafür fragte, sinnierte er: »Es ist ein zweischneidiges Schwert, sich von einem sol­chen Auftraggeber abhängig zu machen. Die englische Königin gilt als ebenso launisch wie gefährlich. Habt Ihr tatsächlich vor, Euch an sie zu wenden, seid vorsichtig und erzürnt sie nicht.«

Francesco lachte. »Das habe ich nicht vor. Und sollte sie mir aus irgendeinem Grund ihre Unterstützung versagen, werde ich es auf ei­gene Faust versuchen. Dann würde es allerdings ein wirkliches Aben­teuer!«

Fra Pietro wiegte sein in Ehren ergrautes Haupt skeptisch. »Es ist das Vorrecht der Jugend, ungestüm zu sein und Risiken einzugehen. Aber Ihr solltet auch am Leben hängen, mein lieber Junge. Es ist das kostbarste Geschenk, das der Herr uns macht.«

»Ich weiß. Ihr habt es mich gelehrt.« Er erhob sich. »Doch nun muss ich scheiden. Vor meiner Abreise werde ich noch einmal bei Euch vorbeisehen. Gelobt sei Jesus Christus...«

»... in Ewigkeit, Amen.« Der alte Mönch drückte dem jungen E­delmann herzlich die Hand, dann blickte er ihm wohlwollend nach. Francesco di Montoglia war ein besonderer Mensch, der, da war der Klostervorsteher sicher, noch Geschichte schreiben würde. Doch für Fra Pietro würde er immer der junge Zögling bleiben, der einen unaus­löschlichen Platz in seinem Herzen hatte.

*

Die Familie Montoglia bewohnte eine prächtige Villa im Herzen Roms. Seit sieben Generationen lebte man hier und zelebrierte auf ebenso dezente wie verschwenderische Weise den Reichtum, der im Laufe der Zeit angehäuft worden war. Als Francesco den Palazzo betrat, eilte sofort ein Diener herbei, um ihm den pelzverbrämten Mantel abzu­nehmen, der in diesem Jahr zur Mode gehörte. Der junge Edelmann erkundigte sich nach seinem Vater und erfuhr, dass dieser nicht da­heim war. Nur seine Mutter hielt sich im Innenhof auf. Der junge Mann beschloss, kurz mit ihr zu sprechen. Sie stand seinen Plänen, Neuland

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auf dem amerikanischen Kontinent zu entdecken, weitaus ablehnender gegenüber als der alte Mönch. Trotzdem versuchte er immer wieder, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Denn er wollte Italien nicht im Streit verlassen. Die Eintracht in der Familie war für Francesco wichtig.

Contessa Minerva di Montoglia saß im begrünten Atrium auf einer steinernen Bank und las. Ein plätschernder Springbrunnen in ihrer Nä­he vermittelte den Eindruck von Kühle und Friedlichkeit. Das hektische Leben Roms schien hier ausgesperrt. Als sie ihren Sohn gewahrte, lächelte sie erfreut.

Mutter und Sohn waren einander recht ähnlich. Francesco hatte das klare, schöne Gesicht der Mutter geerbt, doch fand es sich bei ihm in männlich markanter Gestalt. Die hohe, klare Stirn, die ausgeprägte ›römische‹ Nase und das energische Kinn standen in reizvollem Kon­trast zu seinen sanften, dunkelbraunen Augen und den schmalen, sen­siblen Lippen. Minerva liebte ihren Sohn, doch sie war auch, wie es der Zeitgeist verlangte, eine distanzierte Mutter. Erzogen hatte sie nie, ihre Anwesenheit allein hatte eine gewisse Ehrerbietung geheischt, die auch heute noch das Verhalten Francescos bestimmte.

»Mein lieber Junge, du bist zurück«, stellte sie erfreut fest. »Setze dich ein wenig zu mir und berichte, was Fra Pietro Neues wusste. Oder habt ihr wieder nur über deine Grillen gesprochen?«

»Mama, ich bitte Euch! Meine geplante Reise ist keine Grille, ich werde sie sehr bald antreten. Und ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr mir Euer Wohlwollen mit auf den Weg gebt, nicht Euer Zürnen.«

Die Contessa bedachte ihren Sohn mit einem ausdrucksvollen Blick, der sowohl leisen Tadel als auch Unverständnis ausdrückte. »Francesco, du weißt, wie ich über diese Sache denke. Schließlich ist es nicht die erste Entdeckungsfahrt, die du unternimmst. Jedes Mal habe ich große Angst, dich niemals wieder zu sehen. Du bist unser einziger Sohn. Was soll werden, wenn du einmal nicht zurückkehrst? Ich bitte dich, zwinge mich nicht zu einem Segen, den ich dir reinen Gewissens nur verweigern kann.«

Der junge Mann senkte den Blick und seufzte leise. »Ich verstehe Euch, liebe Mama. Aber versteht auch mich! Es zieht mich hinaus in die Welt. Ich möchte Neues entdecken. Meine Art gleicht nun einmal

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nicht der Papas, dem gute Geschäfte über alles gehen und der sich damit zufrieden gibt.«

Minerva zeigte sich nachsichtig. »Schon als Junge warst du klug und neugierig. Daran hat sich nichts geändert. Manches Mal aber wünschte ich, du wärst ein wenig... tumber. Das würde meinem Her­zen viele Sorgen nehmen.«

»Ich bemühe mich stets, Eure Wünsche zu erfüllen«, unterstrich er daraufhin nicht ohne Humor. »In diesem Falle aber, so fürchte ich, wird mir das nicht gelingen...«

Die Contessa lächelte. »Ich sehe, du bist nicht umzustimmen. Al­lein dein Vater sorgt sich ebenso wie ich. Es ist auch die profane Frage nach dem pekuniären Stand deines Vorhabens, die ihm Kopf­zerbrechen bereitet. Wer wird deine Reise zahlen? Welche Mittel wen­dest du auf? Gewiss, die ›Carte d'Oro‹ liegt im Hafen von Ostia, sie müsste wohl nur Segel setzen. Doch eine Mannschaft, Verpflegung, all das kostet Geld...«

Francesco zeigte sich überrascht. »Mama, es war mir nicht klar, wie bewandert Ihr in diesen Dingen seid. Doch ich kann Euch versi­chern, dass alles aufs Beste gerichtet wird.«

»Bitte, Francesco, keine Ausreden! Ich möchte wissen, wie die Fi­nanzierung aussieht. Du hast eine Apanage, die bei weitem nicht aus­reichen kann für ein solches Abenteuer...«

»Nun, ich werde jemanden für meine Ziele begeistern und von dieser Person Unterstützung erhalten«, entgegnete er vage und merk­te, dass seine Mutter gleich noch eine Frage stellen wollte. »Bitte, Mama, dringt in diesem Punkt nicht weiter in mich. Es ist alles bereitet, alles geplant. Ihr müsst das verstehen: Ich kann von Papa kein Geld für meine Unternehmungen verlangen. Es ist an mir, dies selbst zu beschaffen, denn ich möchte nicht der Sklave meiner Verbindlichkeiten werden.«

»Du ziehst die Finanzierung durch Fremde der eigenen Familie vor? Das verstehe ich nicht.«

»Es ist eine ganz einfache Sache; bin ich erfolgreich, kann ich meinem Förderer aufs Hundertfache vergelten. Ist dies nicht der Fall,

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erweist sich das Investierte als verloren. Und ich möchte nicht mit ei­ner solchen Schuld heimkehren.«

Minerva di Montoglia schien ihrem Sohn nicht ganz zu glauben. Sie meinte, es sei vor allem sein Stolz, der ihn antrieb, ganz allein sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Die Contessa bedauerte es, dass Francesco nicht im gleichen Maße Vertrauen in sie setzte, wie er sie respektierte. Doch sie musste dies wohl oder übel hinnehmen.

»Also schön, wenn du darauf bestehst, will ich nicht mehr fragen. Erlaubst du zumindest, dass ich für dein leibliches Wohl sorgen lasse und dir auch genügend Hausrat zur Verfügung stelle? Es ist das We­nigste, was ich tun kann, um mich nicht dem Gefühl der völligen Nutz­losigkeit auszusetzen.«

Der junge Edelmann lächelte seiner Mutter zu. »Das ist sehr gütig von Euch und ich nehme gerne an. Nun entschuldigt mich bitte, ich habe noch einige Dinge zu erledigen.« Er verbeugte sich und verließ den Innenhof, während seine Mutter mit gemischten Gefühlen zurück­blieb. Sie war immer stolz auf ihren Sohn gewesen und hatte sich ge­wiss keine Krämerseele zum Nachkommen erträumt. Doch dass Fran­cesco solch ein Abenteurer und eine dermaßen furchtlose Entdecker­natur war, das ängstigte sie immerfort.

*

Kaum vierzehn Tage später stach die ›Carte d'Oro‹ von Ostia, dem Rom vorgelagerten Seehafen ins Tyrrhenische Meer. Das erste Ziel Francesco di Montoglias war England. In der Zwischenzeit war eine Mannschaft angeheuert und der große, schnelle Segler, ein leichter, wendiger und doch imposanter Zwölfmaster, überholt worden. Der junge Edelmann hatte noch manches wenig erquickliche Gespräch mit seinen Eltern führen müssen, das meist in einer temperamentvollen Diskussion gemündet hatte. Conti Allesandro war zwar ein gewiefter und sehr erfolgreicher Geschäftsmann, doch einen langweiligen Leise­treter konnte man ihn nicht nennen. Er liebte seinen Sohn, dem er einst alles übergeben würde, alle Besitztümer der Montoglias, die mehr als beachtlich waren. Und er hatte nicht das mindeste Verständnis da­

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für, dass Francesco sein Leben auf seinen ›Abenteuerfahrten‹, wie er es nannte, immer wieder aufs Spiel setzte. War es nun aber nicht zu verhindern, so wollte er seinem Sohn zumindest ein bequemes, finan­zielles Polster verschaffen, das für ein Gelingen des Unternehmens stehen konnte. Doch auch das lehnte der junge Edelmann ab. Fran­cesco wollte es auf eigene Faust schaffen. Und nichts, weder logische Argumente, noch Drohungen oder Beschwerden von Seiten der Eltern konnten ihn in seiner Einstellung beeinflussen.

Der Abschied von Rom war entsprechend kühl ausgefallen. Ob­wohl es dem jungen Mann natürlich lieber gewesen wäre, mit warmer Herzlichkeit von den Eltern zu scheiden, sah er sich doch nicht in der Lage, nun noch etwas zu ändern. Die Mutter war völlig gegen seine Pläne, der Vater gegen deren Ausführung. Was ihm blieb, war, erfolg­reich zu sein und sich selbst wie seinen Eltern damit zu beweisen, dass er recht gehandelt hatte...

Es war ein makelloser Frühlingsmorgen, an dem die ›Carte d'Oro‹ den Hafen verließ und bald westwärts ins Mittelmeer segelte, vorbei am sardischen Kap Spartivento. Die Winde standen günstig und blie­sen stetig, die großen Segel des Schiffes blähten sich knarrend und bewegten das elegante Gefährt wie von selbst in die gewünschte Rich­tung. Francesco hielt sich meist an Deck auf. Er liebte den Seewind, das Geräusch, das er im Leinen der Segel verursachte und die steife Brise, wenn der Segler rasche Fahrt machte. Paolo Carli, sein Kapitän, war ein erfahrener Mann, der bereits über zwanzig Jahre die Weltmee­re bereiste. Der Segler verbrachte meist Fracht über alle sieben Meere, bis in den entlegensten Winkel der bekannten Welt. Der drahtige See­mann mochte Francesco, hatte ihn als mutigen und klugen Mann ken­nen gelernt, der weder Mannschaft noch Schiff unnötigen Gefahren aussetzte und für ein ruhiges Klima an Bord sorgen konnte.

Auf der Höhe der Balearen wurde noch Proviant aufgenommen, dann ging die Fahrt zügig durch die Straße von Gibraltar in den Atlan­tik. Ein Sturm zwang Montoglia, am spanischen Kap Roca für zwei Ta­ge vor Anker zu gehen. Schließlich erreichte man England aber ohne weitere Verzögerung.

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Als die ›Carte d'Oro‹ im Hafen von Plymouth einlief, wies Fran­cesco di Montoglia den Kapitän an, der Mannschaft eine Woche Land­urlaub zu geben. »Ich werde mich für ein paar Tage in London aufhal­ten«, erklärte er. »Und ich möchte, dass Sie mich begleiten, Carli. Es wird nicht leicht werden, die Königin von unserem Unternehmen zu überzeugen.«

Der Kapitän lächelte schmal. Die hellen Augen leuchteten wissend in seinem sonnenverbrannten kantigen Gesicht. »Sie ist eine schwieri­ge Frau. Und sie hat Launen. Doch ich glaube gewiss, dass Ihr sie ü­berzeugen könnt, Signore.«

Der junge Edelmann lachte. »Ich hoffe, Sie behalten recht...« Zusammen verließen die beiden unterschiedlichen Männer wenig

später das Schiff. Francesco hatte eine Kutsche gemietet und ließ ihre Ankunft per Depesche übermitteln. Er hatte bereits vor einiger Zeit ein Bittgesuch an Königin Elisabeth der Ersten gesandt, dem eine nicht förmliche Einladung an den Hof in London als Reaktion gefolgt war. Wie es schien, stand die Königin seinen Plänen nicht unbedingt ableh­nend gegenüber. In den vergangenen Jahren hatte sie einige Entde­cker gefördert; Sir Francis Drake, der bereits mehrfach Anstalten ge­macht hatte, die Welt zu umsegeln und dem dies wohl in absehbarer Zeit noch gelingen mochte und auch Sir Walter Raleigh, dessen In­teresse - ebenso wie das Francescos - der so genannten Neuen Welt galt, in der noch viel Neues zu entdecken war und sich womöglich im­mense Reichtümer in Form von Gold, Silber und Edelsteinen befanden. Die Königin liebte den Prunk und stand im Ruf, putzsüchtig zu sein. Es ging das Gerücht, dass sie einen Seefahrer nur aus dem Grund in den Adelsstand erhoben hatte, weil er ihr die bislang größten und schön­sten bekannten Smaragde zu Füßen gelegt hatte.

»Was wollt Ihr tun, wenn die Königin Eure Bitte ablehnt?«, fragte der Kapitän nach einer Weile des Schweigens. Sie hatten Plymouth hinter sich gelassen, berühren nun die Landstraße Richtung London.

»Darüber habe ich schon seit einer Weile nachgedacht«, gestand Francesco ein wenig bekümmert. »Leider bin ich noch zu keiner Lö­sung gelangt.«

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Der Kapitän zögerte kurz, eh er feststellte: »Die Fahrt über den Atlantik ist zu schaffen. Gewiss werden uns die Vorräte ausgehen. Doch es müsste sich auch hier eine Möglichkeit finden.«

»Ihr Vertrauen in meine Sache ehrt mich, Carli. Und ich habe auch schon selbst daran gedacht, auf Risiko zu spielen. Doch wenn es so kommt, werde ich die Mannschaft zuvor aufklären. Keiner soll sich unwissentlich in Gefahr begeben, es sei denn, er entscheidet sich so.« Der junge Edelmann lächelte schmal. »Doch ich bin noch immer der Hoffnung, dass meine Bitte am Hof in London Gehör findet. Ich sprach mit Männern, die im Westen des Kontinents gewesen sind. Es ist ein wildes Land voller Gefahren, unbestritten. Doch wer sein Herz in beide Hände nimmt und es schafft, sein Ziel zu erreichen, dem winken un­ermessliche Schätze. Goldbrocken, groß wie eine Männerfaust. Silber, Erze, Edelsteine der seltensten Farben. Halten wir durch, wird die ›Carte d'Oro‹ schwer beladen mit allerlei Kostbarkeiten den Heimweg antreten können. Und ich denke, dafür lohnt es sich, einen Kniefall vor der Königin zu tun.«

Der Kapitän nickte bedächtig. »Ihr werdet kaum knien müssen, denn Ihr habt die besseren Argumente«, meinte er.

Am späten Abend erreichte die Kutsche London. Francesco di Montoglia hatte zwei Zimmer im Hotel ›Regency‹ nahe dem Kö­nigspalast gemietet. Nachdem man sich ein wenig verschnauft und frisch gemacht hatte, nahmen die beiden Italiener gemeinsam ihr A­bendessen ein. Paolo Carli konnte sich nicht recht mit der Minzsoße anfreunden, die zum Lamm gereicht wurde und merkte an: »Auch wenn ich bereits in aller Herren Länder mein Brot gekaut habe, ist das englische Essen für mich doch ungenießbar.«

Der junge Edelmann amüsierte sich über das verdrießliche Ge­sicht, das sein Begleiter machte. Dann erschien ein Bote vom Palast mit einer Nachricht.

»Die Königin wünscht mich noch heute zu sehen«, las Francesco überrascht. »Zu dieser späten Stunde?« Er wandte sich an den Boten, der wartend heben dem Tisch stand. Sein Englisch war fließend, eben­so wie die fünf weiteren Sprachen, die der junge Edelmann beherrsch­te, bis hin zu einigen Brocken eines Dialekts, den angeblich die Einge­

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borenen auf dem amerikanischen Kontinent sprachen. »Bedeutet dies, dass ich mich sofort zum Palast begeben soll? Oder habe ich die Nach­richt falsch verstanden?«

Der Bote verbeugte sich. »Sir, Ihr wollt Euch stehenden Fußes zu Ihrer Majestät begeben!«, erklärte er förmlich.

Der junge Italiener tauschte einen kurzen irritierten Blick mit dem Kapitän, dann entschied er: »Nun gut, eine Königin soll man nicht war­ten lassen. Auch wenn Sie mit Ihrem Verhalten vielleicht gewisse Ma­rotten zeigt...«

Carli lächelte schmal. »Sie ist die Königin.« Also machte Francesco di Montoglia sich an diesem windigen

Frühlingsabend noch ganz unverhofft auf den Weg zum Palast der Königin von England. Der Bote führte ihn lediglich bis zum hohen Tor aus geschmiedetem Eisen, dann folgte er einem anderen Lakaien über lange Gänge, durch verschiedene Empfangszimmer und schließlich bis vor eine reich mit Blattgoldornamenten verzierte Tür, wo er warten musste. Ganz still war es hier. Ein schmales Fenster, vor dem kunstvoll gedrehte Gitter in die Höhe strebten, zeigte einen Ausblick auf die Themse und den nahen Tower. Francesco fühlte sich ein wenig verun­sichert. Er fragte sich, wieso die Königin ihm nicht eine offizielle Au­dienz gewährte, zu der ihn Carli hätte begleiten können. Wenn es um die Details der Seereise ging, war der Kapitän weitaus beschlagener. Doch wie es schien, verfolgte die Königin ein bestimmtes Ziel. Aber es sollte noch eine Weile dauern, bis er erfuhr, welches dies war.

Doch nun wurden die Türen leise geöffnet, ein Angehöriger der Leibgarde erschien und machte dem Gast ein Zeichen, ihm zu folgen. Obwohl der junge Montoglia selbst aus einer der reichsten Familien Italiens stammte, erstaunte ihn der Prunk dieses Empfangszimmers doch. Wände und Decke waren mit Goldstuck und üppigen, barock anmutenden Malereien über und über verziert. Feinste Teppiche dämpften jeden Schritt. Mehrere Gruppen verspielter Sitzmöbel luden zum Verweilen ein. An der Stirnseite des großen Raums fand sich eine etwas erhöhte Stelle, ähnlich einer Empore, darauf ein thronartiger, reich mit Gold und Edelsteinen verzierter Stuhl, über dem die Fahnen der englischen Countys und das Wappen der Herrscherin zu finden

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waren. Elisabeth war nicht hier. Der Leibgardist entfernte sich ohne ein Wort und ließ Francesco di Montoglia allein. Allmählich schien es die­sem, als spiele die Königin ein Spiel mit ihm. Er fühlte sich unwohl, wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Und je mehr Zeit er wartend verbrachte, desto verärgerter war er auch.

Als der junge Italiener bereits daran dachte, einfach zu gehen -was nicht nur einem Affront gegen die Königin gleichgekommen wäre, sondern auch seine Chance auf eine Förderung seiner Ent­deckungsreise auf Null gebracht hätte - wurde eine Tür am anderen Ende des Raumes geöffnet und die Königin erschien. Sie war ganz allein. Weder ihre Hofdamen, noch die üblichen Schranzen, die sonst stets an ihrer Seite klebten, begleiteten sie.

Francesco beugte das Knie und verneigte sich tief, als die Königin näher kam. Mit einer beinahe mädchenhaften Stimme bat sie ihn, sich zu ihr zu gesellen. Sie wählte nicht den Empfangsstuhl, der nur zu offi­ziellen Zwecken benutzt wurde, sondern ließ sich auf einen verspielten Sessel nieder und wartete darauf, dass er es ihr gleichtat. Doch er zögerte.

»Was ist Euch, Signore?«, fragte sie verständnislos. »War es nicht Euer Ansinnen, mit mir zu sprechen?«

»Gewiss, Majestät. Und ich bin Euch auch zutiefst dankbar, dass Ihr mich so rasch und unkonventionell empfangt. Doch verzeiht; es geziemt sich nicht für mich, in Eurer Gegenwart zu sitzen.«

Sie lachte leise und entschied: »Nun gut, dann steht wenigstens bequem. Ich möchte Euch in die Augen sehen, wenn wir uns unter­halten.«

Der junge Italiener hob zögernd den Blick. »Ihr seid sehr großmü­tig, Majestät.«

»Nun, ich komme gerade von einem Empfang, der mich sehr ge­langweilt hat. Und da ich die Depesche von Eurer Ankunft vorfand, hoffte ich, im Gespräch mit einem weit gereisten Gentleman ein wenig Anregung und Zerstreuung zu finden. Bitte, berichtet von Eurer Fahrt hierher und auch von Euren Plänen...«

Francesco nickte. Während er redete, behielt die Königin ihn ge­nau im Auge, auch wenn sie sich entspannt gab. Ihr schmales blasses

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Gesicht blieb unbewegt, die klugen, aber auch kalten Augen aber wirk­ten sehr lebendig und interessiert.

Nach und nach gewöhnte di Montoglia sich an die unkonven­tionelle Situation, vergaß aber in keiner Sekunde, wo und in wessen Gesellschaft er sich befand. Die Königin mochte sich ihm gegenüber nachsichtig zeigen, doch dies konnte jederzeit anders werden. Er hatte nicht vergessen, welche Launen und welche Anfälle von unsinnigem Jähzorn man ihr nachsagte.

Als er schließlich verstummte, erhob sie sich und wanderte ein wenig im Empfangszimmer umher. Im weichen Schein vieler Kerzen wirkte sie beinahe wie die Hauptfigur auf einem prächtigen Gemälde. Ihre schwere, mit Edelsteinen besticke Festrobe rauschte leise wie die Schwingen eines müden Vogels. Ein Hauch von Unnahbarkeit ging ebenso von ihr aus wie eine gewisse, kaum zu greifende Schwermut, die wohl allen Herrschenden dieser Erde nicht fremd war. Francesco beobachtete sie mit leiser Faszination.

Endlich verhielt die Königin den Schritt, wandte sich ihrem Gast wieder zu und beschied: »Euer Vorhaben klingt ebenso phantastisch wie verlockend. In den vergangenen Jahren habe ich einige Entdecker auf Reisen geschickt, um die Welt ein wenig größer zu machen. Und ich bin beinahe überzeugt, dass dies auch Euch gelingen könnte, Sig­nore. Doch ganz frei bin ich in meinen Entscheidungen leider nicht. Ich werde mich zunächst mit einigen Vertrauten beraten, Euch erst dann Bescheid geben können. Werdet Ihr eine Weile in London bleiben kön­nen? Es würde mich freuen, Euch noch öfter meinen Gast zu nennen.«

Francesco, der noch mit keiner Zusage gerechnet hatte, war ange­nehm überrascht. Wie es schien, hatte er tatsächlich Eindruck ge­macht. »Ich fühle mich sehr geehrt, Majestät.«

»Schön. Dann kommt morgen zur offiziellen Stunde. Wir wollen noch etwas plaudern. Ich freue mich, Euch zu sehen.« Sie reichte ihm die Hand, die er angedeutet mit den Lippen berührte, dann verließ sie den Empfangsraum.

Auf dem Rückweg zum Hotel ließ der junge Italiener sich das eben Erlebte noch einmal durch den Kopf gehen. Und er war, ebenso wie

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Carli, nachdem der alles erfahren hatte, noch immer positiv über­rascht.

»Dass die Königin Euch zu dieser späten Stunde und ganz allein empfangen hat, ist mehr aus ungewöhnlich«, erklärte er. »Ich habe ein wenig mit dem Portier geplaudert. Und der hat mir anvertraut, dass die Queen normalerweise nur ganz bestimmte Herren ohne Be­gleitung empfängt. Nämlich solche, die ihr Wohlwollen in besonderem Maße besitzen.«

»Aber sie hat mich doch vorher nie gesehen«, wandte Francesco leicht befremdet ein.

Der Kapitän ließ dies nicht gelten. »Sie hörte von Euch. Und es heißt, sie besitzt eine Miniatur mit Euren Porträt.«

»So ein Unsinn!« Der junge Italiener wollte das nicht glauben. »Sie werden mich morgen begleiten. Dann können Sie sich selbst da­von überzeugen, dass die Königin über solchen Klatsch erhaben ist. Sie interessiert sich nur für meine Reise.«

»Sie ist eine Frau und scheint Gefallen an Euch gefunden zu ha­ben«, beharrte Carli. »Und ich finde, das muss nicht zu unserem Nach­teil sein. Die Königin hat viele Günstlinge. Und es heißt, dass es weit­aus besser ist, sie zum Freund denn zum Feind zu haben. Ihr solltet Euch glücklich schätzen.«

Francescos markante Miene verschloss sich, scharf wies er sein Gegenüber zurecht: »Ich will keine solch ehrabschneidenden Äußerun­gen mehr hören, Carli. Wenn Sie Ihre Zunge nicht im Zaum halten können, werde ich mir einen anderen Kapitän suchen müssen.« Damit verschwand er ärgerlich in seinem Zimmer.

Der Seemann seufzte leise. Wie es schien, hatte Francesco di Montoglia noch immer einen sehr hoch stehenden Ehrbegriff. Nach Carlis Meinung wurde es Zeit, dass der junge Entdecker sich ein wenig mehr mit der Wirklichkeit anfreundete. Denn wenn er die Königin wie­der sah, würde dies sicher vonnöten sein...

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»Mary, komme bitte zu mir, mein Kind. Ich möchte etwas Wichtiges mit dir besprechen.« Lady Deborah deMoin, eine vornehme Dame aus einer der ersten Familien Englands, winkte ihre Zofe zu sich, die gera­de damit beschäftigt gewesen war, ein etwas zerknittertes Seidenkleid ihrer Lady zu glätten. Das junge Mädchen verließ sogleich das Anklei­dezimmer und gesellte sich zu seiner Brotherrin in deren Beaudoir.

»Mylady, Ihr habt einen Wunsch?« »Ja, setze dich zu mir, Mary. Und höre gut zu.« Die Lady mit den

noch immer schönen, edlen Gesichtszügen und dem ergrauten Haar hatte ihre junge Zofe wie eine Tochter ins Herz geschlossen. Ihr selbst waren Kinder versagt geblieben, doch ihr freundliches Herz hatte sich dem liebenswerten Kind aus dem Volke mütterlich zugewandt. Mary diente der Lady seit drei Jahren. Damals war sie noch sehr jung gewe­sen, beinahe ein Kind. Und es hatte zu neidischem Getuschel unter den Dienstboten auf Holderness-Hall geführt, dass die Lady ein so jun­ges, unerfahrenes Ding in den Rang einer Zofe erhob. Doch Mary war klug und gelehrig und hatte sich rasch in alle ihr gestellten Aufgaben eingefunden. Nun verband Herrin und Zofe ein herzliches Verhältnis, das allerdings nichts von dem gebotenen Abstand vermissen ließ, den die gesellschaftlichen Zwänge des sechzehnten Jahrhunderts in Eng­land diktierten.

Mary nahm auf einem Schemel zu Füßen ihrer Herrin Platz und richtete das ebenmäßige Angesicht zu der Lady empor. Sie war zu einer wahren Schönheit erblüht, ihr honigblondes, glänzendes Haar umrahmte ein Antlitz von seltener Anmut. Die klare Stirn, die rosa ü­berhauchten Wangen, die kleine Stupsnase und nicht zuletzt die him­melblauen Augen fügten sich zu einem bezaubernden Bild zusammen. Lady Deborah lächelte gütig.

»Mein liebes Kind, du weißt, es ist nun beinahe ein Jahr her, seit mein geliebter Mann das Zeitliche gesegnet hat. Es war eine sehr schmerzliche Zeit für mich. Doch es ist mir ein kleiner Trost gewesen, dass Francois um einiges älter als ich war und ein erfülltes Leben hat­te.«

Mary hörte aufmerksam zu und warf nun leise ein: »Ihr wart sehr tapfer und gefasst in Eurem Schmerz, Mylady.«

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»Nun, da das Trauerjahr vorüber ist, geziemt es sich, dass ich mich um das Erbe kümmere, welches auf dem Kontinent meiner harrt. Du weißt, mein Mann war Franzose. Der Stammsitz seiner Familie, deren letzter Spross er sich nennen musste, liegt nahe Rouen. Und ich werde nun dorthin reisen, um alles zu regeln.«

Mary erschrak. »Aber, Mylady, Eure Gesundheit ist nicht die beste. Ich möchte Euch an das gemahnen, was der Arzt Euch riet, denn Euer Herz darf nicht überanstrengt werden.«

Die Adlige lächelte ein wenig. »Deine Fürsorge berührt mein Herz, liebe Mary. Doch es muss sein, ich habe diese Pflicht zu erfüllen, die mich auch als Letztes an meinen lieben verblichenen Gatten bindet. Es war ihm wichtig, zu wissen, dass sein Erbe in die richtigen Hände ge­rät, die Besitzungen auf dem Kontinent nicht dem Verfall preisgegeben werden. Geld ist freilich genug vorhanden, doch alles muss geregelt, ein Verwalter eingesetzt werden, bis das Schloss und alles Land, das es umgibt, eines Tages bewohnt sein wird.«

Mary nickte stumm. Es wäre ihr weitaus lieber gewesen, hätte die Lady diese anstrengende Reise einem anderen überlassen, aber es schien ihr ernst damit zu sein. Und es stand dem jungen Mädchen nicht zu, die Entscheidungen seiner Herrin zu kritisieren.

»Ich habe deshalb beschlossen, in zwei Wochen nach Frankreich aufzubrechen. Allerdings möchte ich mich nicht allein den Be­schwernissen dieser Reise aussetzen. Deshalb sollst du mich begleiten, Mary.«

»Ich?« Sie errötete ein wenig. »Aber ich habe ja England noch nie im Leben verlassen. Und ich weiß auch nicht, wie man sich auf dem Kontinent benimmt«, warf sie naiv ein.

Lady Deborah musste schmunzeln. »Keine Angst, du wirst dich gewiss nicht blamieren. Schließlich verfügst du über eine angeborene Zurückhaltung und einen natürlichen Instinkt für das Rechte. Zudem werden wir keine Gesellschaften besuchen oder andere offizielle Anläs­se wahrnehmen. Dazu ist meine Gesundheit tatsächlich zu angegriffen. Sobald das Erbe geregelt ist, kehren wir nach England zurück.«

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»Ich fürchte mich ein wenig vor dieser Reise«, bekannte Mary zö­gernd. »Nicht nur wegen mir selbst, sondern vor allem, weil es Euch nicht gut genug für solch ein Beschwernis geht, Mylady.«

»Du brauchst dich nicht zu ängstigen, mein liebes Kind«, unter­strich die Lady noch einmal geduldig. »Wir überqueren ja nur den Ka­nal, das ist keine anstrengende Seereise. Hier erwarten uns keinerlei Gefahren. Und du wirst sehen, dass Frankreich zu dieser Jahreszeit recht lieblich sein kann.« Sie lächelte versonnen. »Als ich dort meinen Mann traf, war auch Frühling...«

Mary zog sich dezent zurück und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu, denn sie spürte, dass ihre Herrin sich in Erinnerungen an frühere Zeiten verlor. Dies geschah öfter seit dem Tod von Lord deMoin. Der gebürtige Franzose, der sich politisch um die englische Krone verdient gemacht hatte und deshalb geadelt worden war, hatte eine sehr glück­liche Ehe mit Lady Deborah geführt, das wusste Mary von der alten Köchin Mrs. Bowers, die nun schon an die dreißig Jahre im Haushalt war. Der Tod des Lords war für seine Frau lange Zeit schwer zu ertra­gen gewesen. Und auch heute schien sie noch in Trauer versunken und oft war die gedankliche Flucht in die Vergangenheit für sie der einzige, dünne Trost.

Mary, die aus einfachen Verhältnissen stammte, hatte Hochach­tung vor der stolzen Dame, die ihr wie eine gütige Mutter begegnete. Sie selbst hatte nie Mutterliebe erfahren. Als siebtes Kind armer Bau­ern war sie im nahen Dorf aufgewachsen, hatte die Mutter früh verlo­ren und vor der Zeit erwachsen werden müssen. Fred Lewis, ihr Vater, hatte unter immer stärkerem Gelenkrheuma zu leiden gehabt und war schließlich nicht mehr in der Lage gewesen, seine Kinder zu ernähren. Und so war es gekommen, dass Mary, kaum siebzehn Jahre alt, Haus und Hof verlassen musste, ebenso wie ihre Geschwister, um bei neuen Herren in Dienst zu gehen. Dabei hatte sie Glück, denn eine Anstellung auf Holderness-Hall, dem Sitz der Herzöge von Holderness, war sehr begehrt. Mary hatte sich ein wenig davor gefürchtet, für solch eine vornehme Herrschaft zu arbeiten. Lady Deborah war eine geborene Prinzessin, hatte aber durch die Heirat mit einem Ausländer auf ihren Titel verzichtet. Ihr überaus kultiviertes Wesen wies sie allerdings auch

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ohne diesen Namenszusatz als Angehörige des Hochadels aus, jener hauchdünnen Minderheit, die das Land im Stillen leitete und be­herrschte, sei es auch nur auf kulturellem Niveau.

Als Mary die Lady zum ersten Mal gesprochen hatte, war ihr gleich bewusst geworden, wie herzensgut ihre neue Herrin war. Und sie empfand es als großes Glück, dieser Dame dienen zu dürfen.

Daran hatte sich bis auf diesen Tag nichts geändert. Und während das schöne Mädchen nun fortfuhr, die kostbare Garderobe ihrer Herrin zu richten, machte sie sich große Sorgen um die Zukunft. Lady Debo­rah mutete sich mit der geplanten Reise einfach zuviel zu. Mary hatte noch die mahnenden Worte ihres Arztes im Ohr, der ihr nach dem Tod des Lords geraten hatte, sich zu schonen, bis ihre Beschwerden etwas nachließen.

»Euer Herz könnte ganz plötzlich den Dienst versagen, wenn Ihr nicht vernünftiger damit umgeht, Mylady«, hatte er gesagt.

Was, wenn dies gerade auf der Reise nach Frankreich geschah? Mary fürchtete sich davor, auch noch den letzten Menschen zu verlie­ren, der ihr auf Erden wohl gesonnen war. Der Vater hatte vor weni­gen Monaten das Zeitliche gesegnet, ihr kleiner Hof war anderweitig verpachtet. Nun gab es für Mary keine Heimat mehr, keinen Platz, an den sie zurückkehren konnte, wenn sie auf Holderness-Hall nicht mehr gebraucht wurde. Ein trostloses Gefühl der Einsamkeit beschlich das junge Mädchen. Und zugleich wünschte Mary sich, dass ihre Herrin es sich doch noch einmal anders überlegte und auf die Reise nach Frank­reich verzichtete. Gewiss war es auch möglich, alles Nötige durch Bo­ten und Depeschen zu regeln. Mary beschloss, die Lady bei passender Gelegenheit noch einmal darauf anzusprechen. Vielleicht gelang es ihr ja doch, die Fahrt über den Kanal, die viel zu anstrengend für die ge­brechliche Witwe war, zu verhindern...

*

Francesco di Montoglia stand hinter dem Fenster in seinem Gastzim­mer im Hotel und schaute nachdenklich nach draußen in den verregne­ten Tag. Seit ihrer Ankunft in London war nun fast eine Woche ver­

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gangen. In Plymouth würde sich die Mannschaft bald wieder auf der ›Carte d'Oro‹ sammeln. Und doch war noch nichts entschieden, keine Unterstützung für die lange Reise zugesagt.

So hoffnungsvoll das erste Gespräch mit der Königin auf den jun­gen Italiener gewirkt hatte; in der Zwischenzeit hatte er nichts weiter erreichen können, auch wenn noch einige Gespräche mit Elisabeth gefolgt waren. Francesco hatte feststellen können, dass die Königin ihm, wie Carli es bereits vermutet hatte, wohl gesonnen war. Sie schien ihn sympathisch zu finden. Und sie stand auch seinen Plänen eher positiv gegenüber. Aber eine Entscheidung war bislang noch nicht getroffen worden. Und der junge Edelmann begann zu mutmaßen, dass die Königin ihn mit Absicht hinhielt, um seine Gesellschaft noch eine Weile genießen zu können. Bei diesem Gedanken wäre der junge Mann lieber heute als morgen abgereist. Francesco war ein Mann der Tat, er verabscheute die Hofschranzen, deren Lebensinhalt in Flüstern, Lauschen und Intrigieren bestand. Wie Carli aus zuverlässiger Quelle erfahren hatte, beruhte diese Abneigung auf Gegenseitigkeit. Denn es schien, dass die Königin allein wegen der Einflüsterungen dieser Leute zögerte, di Montoglia ihre Unterstützung zuzusagen. Allerdings war dieser weder gewillt, sich mit solchen Machenschaften auseinander zu setzen, noch sie in irgendeiner Art und Weise zu beeinflussen. Erreich­te er nur so sein Ziel, wollte er lieber auf die Reise verzichten oder sie auf eigenes Risiko antreten. Alles andere erschien ihm falsch und un­würdig.

Ein Klopfen an der Zimmertür unterbrach den Fluss seiner Ge­danken. Und als nach entsprechender Aufforderung Paolo Carli er­schien, stellte der junge Edelmann unwillig fest: »Ich sehe keinen rechten Sinn mehr darin, hier zu verharren. Wenn Sie einverstanden sind, Carli, verlassen wir London und brechen Richtung Plymouth auf. Noch heute...«

»Das wäre, mit Verlaub gesagt, keine kluge Entscheidung«, stellte der Kapitän fest und reichte seinem Gegenüber eine Depesche. »Die Königin wünscht Euch unverzüglich zu sehen. Der Bote wartet. Und wie es scheint, ist endlich eine Entscheidung gefallen. Zu Euren Guns­ten, wie zu vermuten steht.«

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Francesco überflog die wenigen Zeilen und nickte. Ein angedeute­tes Lächeln zeigte sich auf seinen markanten Zügen, als er entgegne­te: »Es geht also auch auf redliche Art und Weise. Ich habe Ihnen doch gleich gesagt, ich werde nicht intrigieren und buhlen um eine Unterstützung.«

»Wie es scheint, hat das mehr Eindruck auf die Königin gemacht als die Redereien der Hofschranzen. Man hat stark gegen Euch in­trigiert, Euren Status als Ausländer zum Stolperstein jeglicher Unter­stützung erklärt. Doch die Königin hat selbst entschieden, wie sie es für angemessen hält...«

Die Worte des italienischen Kapitäns sollten sich umgehend als richtig erweisen. Elisabeth erwartete den Entdecker in Gesellschaft mehrerer ihrer Berater, die Francesco allesamt abschätzig bis feindse­lig musterten und seinen Gruß kaum erwiderten. Lord Henry Ponsen­by, ein schmaler, alter Mann, den bereits mit Elisabeths Vater eine enge Freundschaft verbunden hatte, stand zur Rechten der Königin, so, als warte er nur darauf, ihr etwas Nachteiliges über den Landes­fremden ins Ohr zu flüstern.

Der Earl of Wessex, ein Cousin der Queen, stellte ironisch fest: »Eure Ausdauer in Bittgängen wird hoffentlich Euren Qualitäten als Seefahrer und Entdecker entsprechen, Sire. Im anderen Falle sehe ich Euch bereits rettungslos verloren.«

»Wessex!« Die Königin gebot ihm, zu schweigen. Dann wandte sie sich an Francesco, begrüßte ihn freundlich und erklärte: »Es tut mir leid, dass Ihr unnötig langen Aufenthalt in London hattet, Signore. Doch ich bin leider gezwungen, alle Entscheidungen finanzieller Art gut zu durchdenken. Schnell ist das Geld ausgegeben und lässt manches Mal allzu lange auf sich warten...«

»Ich bin überzeugt, Ihr habt die richtige Entscheidung getroffen, Majestät«, erwiderte der junge Italiener sachlich.

»Ich hoffe.« Die Königin machte dem Mann, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte, ein Zeichen, sich zu ihnen zu gesellen. »Die Gentlemen kennen sich noch nicht. Dies hier ist Philip Duke of Hampshire, mein Berater in Finanzfragen. Philip, Francesco di Mon­toglia.« Der etwas hagere, aber nicht unsympathische junge Herzog

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verbeugte sich angedeutet und ergriff dann das Wort. Er hatte eine angenehme Stimme und sprach sehr sachlich.

»Ihre Majestät hat entschieden, Eurer Bitte stattzugeben und die geplante Unternehmung, namentlich die Reise in unerforschte Gebiete der Neuen Welt zum Zwecke der Auffindung wertvoller Edelmetalle, mit einer Summe von zehntausend Florence zu unterstützen. Die ein­zige Bedingung, die sich an die Unterstützung knüpft, ist die Durchfüh­rung der Unternehmung und Rückkehr nach England innerhalb eines Jahres.« Der Duke warf seinem Gegenüber einen fragenden Blick zu. »Möchtet Ihr dazu Stellung beziehen?«

Francesco zögerte nur kurz. Diese Bedingung war nicht leicht zu erfüllen. Widrige Wetterverhältnisse, Kämpfe mit Wilden und eventuel­le Gefangenschaft konnten das Unternehmen ebenso in die Länge zie­hen wie Angriffe von Piraten oder eine Havarie. All dies war zu beden­ken. Zog man aber die überaus großzügige Fördersumme in Erwä­gung, war die Bitte der Königin eher bescheiden und durchaus zu ak­zeptieren.

»Ich fühle mich geehrt durch Euer Vertrauen, Majestät«, sagte er deshalb zu der edlen Frau, die ihn abwartend musterte. »Und ich will mein Bestes tun, um an einem Tag wie heute in einem Jahr wieder vor Euch zu stehen, um Euren Großmut reichlich zu vergelten.«

Elisabeth lächelte angedeutet, dann schickte sie die Anwesenden hinaus, um noch allein ein Wort mit dem jungen Italiener wechseln zu können. Sie verließ ihren Empfangsstuhl, trat neben Francesco und suchte seinen Blick.

»Ich habe mich gegen den Rat all meiner Berater entschieden«, ließ sie ihn offen wissen. »Und ich hoffe sehr, Ihr werdet mich nicht enttäuschen.«

»Gewiss nicht. Ich will alles tun...« »Das sagtet Ihr bereits.« Sie betrachtete ihn mit einem schwer zu

verstehenden Ausdruck in den hellen Augen. »Ich möchte, dass Ihr wohlbehalten nach London zurückkehrt, Francesco. Eure Gesellschaft tut mir wohl und ich werde mit leiser Sehnsucht auf die Fortsetzung unserer Gespräche warten.«

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»Majestät.« Er verbeugte sich und wollte gehen, doch die Königin ließ noch mit verhaltener Strenge anklingen: »Enttäuscht mich nicht. Ihr habt bislang nur meinen Großmut zu schätzen gelernt. Versagt Ihr, haltet Euch lieber in Zukunft von England fern. Denn mein Zorn steht allen anderen Regungen in nichts nach. Ihr solltet auf das hören, was man Euch über die strenge Gerechtigkeit einer Frau erzählt, die im Richten ebenso blind ist wie die Justitia. Das Schwert der Rache trifft jeden...«

»Ich verstehe und werde mich danach richten, Majestät«, versi­cherte der junge Italiener, bevor er sich endgültig zurückzog.

»Sie hält viel von Euch«, sagte Wessex, der sich im Vorraum auf­gehalten hatte, als Francesco erschien. »Aber Ihr solltet Euch nicht allein darauf verlassen. Mancher Günstling verlor schneller seinen Kopf, als er sich für eine Dummheit entschuldigen konnte.«

Der italienische Edelmann lächelte schmal, als er erwiderte: »Die­sen Rat gebt Ihr wohl besser Euch selbst, Sire. Ich bin frei in meinen Entscheidungen und werde London noch in dieser Stunde verlassen.«

»Daran tut Ihr gut«, behauptete der Earl eisig. »Denn eines kann ich Euch versichern: Ihr habt hier keine Freunde. Und die Launen der Königin wechseln oft mit dem Wind...«

*

Mary Lewis warf einen bekümmerten Blick auf das Gepäck, das fein säuberlich in der Halle von Holderness-Hall aufgereiht stand und nun von einem Kutscher eingeladen wurde. Bis zuletzt hatte die Zofe von Lady Deborah gehofft, ihrer Brotherrin diese Reise ausreden zu kön­nen. Leider war und blieb diese aber fest in ihrem Entschluss und so ging es an diesem sonnigen Frühlingsmorgen nach Dover, wo man die Fähre zum Festland besteigen wollte. Die Lady fühlte sich leidlich, das Herz hatte ihr in den vergangenen Tagen kaum noch Beschwerden verursacht und sie glaubte, stabil genug für diese Reise zu sein. Dass Mary ganz anders darüber dachte, musste sie nun für sich behalten, denn die Lady verbot sich jede weitere Einmischung in ihren Ent­

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schluss. Sie würde reisen und das Erbe ihres Mannes in gute Hände legen, um beruhigt nach Canterbury zurückkehren zu können.

»Ach, Mary, da bist du ja. Ich denke, es ist alles für unsere Reise vorbereitet. Wir können fahren. Oder fehlt noch etwas?« Lady De­borah ließ ihren Blick kurz über das umfangreiche Gepäck schweifen und schaute ihre Zofe dann fragend an. »Was ist dir, mein Kind? Du bist so blass...«

Mary senkte verlegen den Blick. »Es ist nichts, Mylady.« »Aber, aber, ich kann mich nicht entsinnen, dass du mich schon

einmal beschwindelt hast, mein liebes Kind. Du wirst doch jetzt nicht damit anfangen wollen. Nun, frank und frei, was hast du? Ängstigt dich der Gedanke, England zu verlassen? Ich könnte es verstehen, denn schließlich bist du noch nie im Ausland gewesen. Doch es ist nichts zum Fürchten. Ich bin ja bei dir.«

»Eben deshalb sorge ich mich«, gestand die junge Zofe da leise und bekümmert ein. »Eure Gesundheit...«

»Aber, Mary, darüber haben wir doch nun bereits so oft gespro­chen«, erinnerte die Lady sie langmütig. »Die Reise nach Frankreich ist eine beschlossene Sache, an der nichts zu rütteln ist. Wenn du dich aber gar so sehr um mein Wohlergehen sorgst, so will ich dir etwas verraten. Gestern hat mich der Arzt noch einmal streng untersucht. Und er ist mit meinem Zustand zufrieden. Nun, wenn Dr. Quimper es ist, so solltest du es ebenso sein.«

»Der Doktor...« Mary atmete tief durch und lächelte verhalten. »Bitte, entschuldigt, Mylady. Ich habe mich kindisch benommen.«

»Oh nein, das gewiss nicht. Deine ehrliche Fürsorge berührt mein Herz und macht mich froh. Und nun komm, wir haben eine Fähre zu erreichen und dürfen nicht länger mit der Abreise zögern.« Lady Debo­rah verließ die Halle und stieg gleich darauf in die Kutsche. Ihre junge Zofe tat es ihr gleich. Und als es dann in rascher Fahrt nach Dover hinunter ging, durch die liebliche Landschaft des frühlingshaften Kent, da wurde auch dem jungen Mädchen das Herz ein wenig leichter und eine leise Vorfreude auf dieses kleine Abenteuer regte sich in seinem reinen Herzen...

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Bereits zwei Stunden später hatte man die Hafenstadt am Kanal erreicht. Lady Deborah überließ es Mary, sich um das Gepäck zu kümmern. Sie machte noch ein paar Besorgungen und kehrte dann rechtzeitig vor dem Ablegen der Fähre zum Hafen zurück. Mary hatte ihre Brotherrin bereits ungeduldig erwartet. Sie hatte zufällig das Ge­spräch zweier Seeleute mit angehört und war nun völlig aufgewühlt und verstört.

»Mylady, bitte verzeiht, wenn ich Euch schon wieder warnen muss. Aber ich hörte eben zufällig mit an, wie zwei erfahrene Seeleute sich unterhielten. Und dabei kam die Sprache auf einen Seeräuber, der mit seinen Mannen im Kanal sein Unwesen treiben soll. Denkt Ihr nicht, es wäre unter diesen Umständen das Beste, auf die Fahrt zu verzichten?«

Die Adlige lächelte milde. »Seemannsgarn. Vermutlich wollten die Männer dich nur auf den Arm nehmen«, unterstellte sie beschwichti­gend, aber davon wollte Mary nichts wissen.

»Es klang wirklich sehr überzeugend. Und sie konnten mich gar nicht sehen. Bitte, Mylady, ich glaube, es ist unter diesen Umständen einfach zu gefährlich. Bedenkt nur, wie sehr ein Überfall und sei er auch nur harmlos, Eurer Gesundheit schaden und Eurem angegriffe­nen Herzen zusetzen würde...«

Lady Deborah dachte kurz nach, dann entschied sie: »Nun gut, Mary, da du partout nicht Ruhe geben willst, mache ich dir einen Vor­schlag: Ich rede mit dem Kapitän, höre, was er zu dieser Angelegen­heit zu sagen hat. Wenn du willst, kannst du mich auch begleiten. Soll­te der Mann allerdings anderer Meinung sein als diese beiden Seeleu­te, dann möchte ich von alldem nichts mehr hören, bevor wir nicht in Frankreich sind. Einverstanden?«

Die junge Zofe senkte den Blick. »Ihr müsst mich für einfältig hal­ten, nicht wahr?«

»Nun komm, bevor wir ablegen. Ich möchte gleich mit dem Ka­pitän sprechen. Ganz sicher sind deine Sorgen unbegründet...«

John Mills war ein kleiner, drahtiger Mann mit Glatze und wachen Augen. Er fuhr bereits seit über dreißig Jahren zur See und steuerte die Fähre zwischen Dover und Calais nun schon beinahe zehn Jahre

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lang. Er zeigte sich ein wenig überrascht von dem Anliegen seiner bei­den Passagiere aus Canterbury, war aber Gentleman genug, um Lady Deborah Rede und Antwort zu stehen. Nachdem sie ihre Frage vorge­bracht hatte, antwortete er nicht gleich, schien sich seine Worte genau zu überlegen. Für Mary bereits ein Zeichen, dass ihre Ängste nicht ganz unbegründet waren.

»Nun, Mylady, was Ihre Zofe hörte, ist leider nicht ganz aus der Luft gegriffen. Ich kann nicht leugnen, dass gewisse Subjekte den Ka­nal seit einiger Zeit unsicher machen. Es gab Überfälle auf kleinere Trawler. Aber die Fähre wurde nie angegriffen. Schließlich haben wir Wachen an Bord. Und die Piraten sind nicht dumm. Sie machen nur schnelle, leichte Beute. Es besteht also nicht der geringste Anlass zur Beunruhigung.«

»Sie können uns also versichern, dass wir nichts zu befürchten haben, Captain?«

»Das kann ich. Sie sind hier auf der Fähre so sicher wie in Abra­hams Schoß, wie es so schön heißt. Ich hoffe, Sie werden die Fahrt genießen, Mylady.«

Lady Deborah bedankte sich und verließ die Brücke, Mary folgte ihr nur widerstrebend. Die Worte des Kapitäns hatten sie keineswegs beruhigt; im Gegenteil. Schließlich hatte er zugeben müssen, dass es Seeräuber gab, die vielleicht dieses Mal auf ein größeres Ziel ausgin­gen, es leid waren, immer nur ›kleine Fische‹ zu angeln. Mary durfte gar nicht näher darüber nachdenken. Sie fürchtete sich wirklich sehr. Und sie machte sich zugleich ganz große Sorgen um ihre Brotherrin, die allerdings mit der Auskunft des Schiffsführers ganz zufrieden zu sein schien.

»Nun, mein liebes Kind, du siehst, wir sind hier sicher. Es gibt kei­nen Grund für dich, noch ängstlich zu sein. Also, mache kein so be­kümmertes Gesicht mehr. Lächle ein wenig, denn es spricht nichts dagegen, dass diese Reise für uns beide ein Vergnügen werden wird. Auch wenn der Anlass ein trauriger ist, so wollen wir das schöne Wet­ter und die neuen Eindrücke, die uns erwarten, doch nach Kräften ge­nießen.«

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»Ja, Mylady«, murmelte Mary. Doch ihr Herz blieb schwer und es gelang ihr nicht, die trüben Gedanken so schnell zu verscheuchen. Eine düstere Vorahnung wollte einfach nicht weichen...

*

Francesco di Montoglia hatte London tatsächlich direkt nach seiner Audienz bei der Königin verlassen. Paolo Carli zeigte sich erstaunt, dass es dem jungen Edelmann letztlich doch noch gelungen war, die Unterstützung Elisabeths zu erhalten.

»Wieso haben Sie eigentlich daran gezweifelt, Carli?«, fragte die­ser ihn auf der Rückfahrt nach Plymouth. »Als wir nach London unter­wegs waren, zeigten Sie sich doch sehr zuversichtlich.«

»Nun, da wusste ich ja auch noch nichts von den Intrigen, die ge­gen Euch gesponnen werden sollten. Soviel ich erfahren konnte, ist es den Hof schranzen beinahe gelungen, Euer Unterfangen zu verhin­dern. Einzig die Wohlgesonnenheit der Königin hat diesen Hintertrei­bern letztlich noch einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wie es aussieht, war man hauptsächlich gegen Euch, weil Ihr kein Engländer seid. Und in gewissen Kreisen, die nicht ohne Einfluss sind, ist man wohl der Auffassung, dass es nur einem Briten zukommt, die Welt zu bereisen und Neues zu entdecken.«

Montoglia lächelte amüsiert. »So bigott können doch nicht alle bei Hofe sein. Die Königin machte einen recht aufgeschlossenen Eindruck auf mich.«

»Ihr habt ihre Sympathie errungen...« »Carli, ich bitte Sie! Ich möchte nicht noch länger solche falschen

Töne hören. Die Königin ist ehrenhaft, sie gewährt mir eine Chance, die ich nicht ungenützt verstreichen lassen will. Wenn auch unter einer Bedingung, die nur mit einem wohl gesonnenen Schicksal im Rücken zu erfüllen ist.«

Der Kapitän nickte. »Ein Jahr ist knapp bemessen für diese Reise ins Ungewisse. Doch mit der Summe, die Ihr nun Euer eigen nennen dürft, wird vieles leichter.«

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»Sie macht das Wirtschaften einfach und wird uns auch in frem­den Landen manche Tür öffnen«, stimmte der junge Edelmann seinem Begleiter zu. »Eines aber kann sie nicht: Die Winde günstig beeinflus­sen oder unser Glück beherrschen.«

»Wohl wahr«, musste der Seemann seinen Brotherren bei­pflichten.

Bei ihrer Rückkehr nach Plymouth fanden Francesco di Montoglia und Paolo Carli die Mannschaft bereits wieder vollzählig an Bord. So­fort gab der junge Entdecker Befehl, genügend Proviant für die Reise über den Atlantik an Bord zu nehmen. Die angeheuerten Mann arbeite­ten zügig und schon zwei Tage später konnte man Plymouth verlas­sen, um westwärts in See zu stechen. Zur gleichen Zeit verließ die Fähre, auf der Lady Deborah und ihre Zofe Mary Lewis reisten, den Hafen von Dover Richtung Calais. Francesco di Montoglia ahnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass es allzu bald zu einer schicksal­haften Begegnung mit den Reisenden auf der Fähre kommen sollte, die nicht nur sein weiteres Leben und Schicksal für immer verändern würde...

*

War man bei schönem Frühlingswetter aufgebrochen, so mussten Lady Deborah und ihre Zofe bald erleben, wie sich dieses verschlechterte. Sturm kam auf, wühlte im ansonsten eher stillen Wasser des Kanals und sorgte dafür, dass es einigen Reisenden übel wurde. Der Kapitän hielt die Fähre so ruhig wie möglich, doch auch er war kein Meister der Elemente. So rasch der Sturm gekommen war, so schnell flaute er auch wieder ab. Und als dichter Nebel aufzog, murmelte Mary ängst­lich: »Was für ein seltsames Wetter. So etwas habe ich noch nie er­lebt. Gewiss ein schlechtes Omen...«

»Mary, ich bitte dich!« Die Edelfrau konnte nur nachsichtig den Kopf schütteln. »Seit wann bist du denn so abergläubisch? Das kenne ich gar nicht an dir...«

»Ach, Mylady, ich weiß auch nicht. Ihr müsst mich für ganz töricht halten. Und vielleicht bin ich das ja auch. Aber ich habe das sichere

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Gefühl, dass uns Gefahr droht. Obwohl ich es nicht begründen kann. Es ist einfach da...«

»Nun beruhige dich ein wenig, mein Kind. Das Beste wird sein, wir legen beide eine kleine Ruhepause ein. Ich fühle mich auch recht er­mattet und glaube, es wäre klüger...« Die Lady verstummte, als Mary plötzlich die Augen aufriss und auf etwas deutete, das sich vor dem Bug der Fähre als noch schwacher Schatten abmalte. »Seht doch, da kommt ein Schiff direkt auf uns zu!«

Nicht nur die junge Zofe hatte den massiven Schatten wahrge­nommen, der sich trotz des dichten Nebels rasch der Fähre näherte. Auch der Kapitän hatte es gesehen, fluchte saftig und wies seinen Steuermann an, ein Ausweichmanöver zu starten. »Wenn das die Pira­ten sind, werden wir wohl kaum entkommen können, dazu ist unser Gefährt nicht wendig genug. Doch ich will es Ihnen nicht leichter als unbedingt nötig machen«, knurrte John Mills.

»Die werden uns alle die Hälse abschneiden«, prophezeite der Steuermann düster. »Hab schon mal was mit diesen Kerlen zu tun gehabt. Reines Glück, zu überleben...«

»Seien Sie doch still, Hanks«, mahnte der Kapitän. »Wollen Sie die Leute rebellisch machen?«

In der Zwischenzeit hatte das Piratenschiff beigedreht und sich der Fähre auf kaum zwei Meter genähert. Unter den Passagieren brach Panik aus. Einige sprangen in die kalten Fluten des Kanals und ertran­ken. Andere versuchten, in die Rettungsboote zu gelangen, mussten aber einsehen, dass es schon zu spät war. Die Räuber enterten die Fähre und fingen sofort an, die Mannschaft anzugreifen. Einige der Seeleute starben, noch ehe sie recht begriffen, was überhaupt ge­schah. Kapitän und Steuermann fielen bei dem Versuch, ihr Schiff ge­gen die Angreifer zu verteidigen. In dem allgemeinen Durcheinander, das folgte, versuchten die Reisenden, sich in Sicherheit zu bringen. Aber auch der Versuch, sich unter Deck zu verbarrikadieren war nicht von Erfolg gekrönt. Nach kaum einer Stunde war die Mannschaft der Fähre hingemetzelt, ein Großteil der Passagiere gefangen genommen, der Rest hatte ein Ungewisses Schicksal erlitten. Mary Lewis erlebte all

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das wie einen bösen Traum, der aber nur die Begleitmusik zu dem eigentlichen Drama darstellte, das sie durchlitt.

Denn der Überfall auf die Fähre hatte genauso auf Lady Deborah gewirkt, wie Mary befürchtet hatte. Sie war zusammengebrochen, lag nun bewusstlos in den Armen des jungen Mädchens, das helfen wollte und doch nicht konnte. Unter normalen Umständen hätte Mary nach einem Arzt gefragt. Doch nun war jeder mit sich selbst beschäftigt. Und den Piraten kam es gewiss nicht auf ein Menschenleben mehr oder weniger an.

Mit tränenfeuchten Augen blickte das junge Mädchen in das blas­se, wie wächsern wirkende Gesicht der Lady. Das Leben schien bereits aus ihr gewichen, aber Mary mochte das nicht glauben. Allein die Vor­stellung, den einzigen Menschen, zu dem sie auf Erden gehörte, in dieser schrecklichen Situation zu verlieren, raubte ihr beinahe den Ver­stand. Sie sprach leise und beruhigend auf ihre Brotherrin ein, strich über deren kühle Stirn und versicherte immer wieder: »Es wird alles gut, Lady Deborah. Ihr werdet wieder gesund, dafür sorge ich...«

»He, du!« Mary zuckte zusammen, als ein kleiner, fetter Kerl mit Glatze und einer Augenklappe sie ansprach. »Auf die Füße. Und lass die Alte, der kann keiner mehr helfen!«

»Verschwinden Sie!«, fauchte das Mädchen verzweifelt. »Wie können Sie es wagen, so von Lady Deborah deMoin zu sprechen? Sie ist eine geborene Prinzessin und...«

»Interessiert mich nicht! Und wenn Sie die Königin von China ist«, unterbrach der Pirat sie grob. »Komm hoch oder ich pack dich!« Er grinste schmierig. »Na los, her mit den Wertsachen!«

Mary dachte nicht daran, der Forderung nachzukommen. Sie starr­te den widerlichen Kerl tapfer an und schrie: »Lieber sterbe ich, als zu tun, was Sie von mir verlangen!«

Der Pirat lachte abfällig. »Von mir aus, das kannste haben. Ich raube auch Tote aus, das macht für mich keinen Unterschied.« Er zückte einen blitzenden Krummdolch, hob ihn leicht an - und im nächs­ten Moment erhielt der Kerl einen Tritt in die Seite, der ihn ein ganzes Stück von Mary fort katapultierte. Das junge Mädchen war so über­rascht von der plötzlichen Wendung der Dinge, dass es zunächst gar

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nicht reagieren konnte. Es starrte den Mann, der sich nun näherte, fragend an und begriff erst nach einer Weile, dass es hier vom Regen in die Traufe gekommen war. Zwar sah der Fremde nicht ganz so ab­stoßend aus wie der kleine Fette mit der Augenklappe, doch er gehörte eindeutig zu den Piraten. Und als er zu ihr sprach, bestätigte sich diese Einschätzung.

»Es tut mir leid, schönes Kind, wenn Pucko dir Angst eingejagt hat. Aber er ist nun mal ein ungehobelter Kerl ohne Manieren. Nun brauchst du dich nicht mehr zu fürchten, denn ab sofort stehst du un­ter meinem persönlichen Schutz. Wenn ich mich vorstellen darf; mein Name ist Percy van Straaten. Vielleicht hast du schon von mir gehört, meine Schöne?«

Mary schluckte, schüttelte aber automatisch den Kopf. Sie hatte den Namen des Piraten durchaus schon einmal gehört. Und zwar in dem Gespräch der beiden Seeleute, das sie noch vor Beginn der Reise so verschreckt hatte. Dieser Percy van Straaten war ein gebürtiger Holländer, dessen Mutter aus Dover stammte. Er machte die Meere bereits seit Jahren unsicher, ohne je gefangen zu werden. Wie es schien, war er einfach zu clever. So jedenfalls hatten es die beiden Seeleute gesehen, die sich über ihn und seine Mannen unterhalten hatten. Nun wusste Mary also, woran sie war. Und dass es kaum eine Hoffnung auf Rettung geben konnte. Denn dieser Pirat war ein Mensch ohne Gewissen. Er zog plündernd und mordend über die Meere, nahm, was ihm gefiel und gab nichts auf ein Menschenleben. Diese schlimme Erkenntnis sorgte dafür, dass Mary resignierte und mit ihrem jungen Leben abschloss.

»Nun, mein schönes Kind, auch wenn du mich nicht kennst, so kannst du mir doch vertrauen. Ich versichere dir, in meiner Gesell­schaft wird dir nichts Arges geschehen. Komm, es wird Zeit, die Fähre zu verlassen.«

»Aber ich... muss bei meiner Brotherrin bleiben. Niemals würde ich sie im Stich lassen!«, begehrte Mary auf.

Der Pirat lächelte schmal. »Die Frau ist tot«, sagte er brutal offen. »Und wenn du schon bald zusammen mit ihr auf dem Grund des Ka­

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nals liegen willst, so bleib. Diese Fähre wird versenkt. Du tätest gut daran, auf mich zu hören...«

»Ich bleibe!« Mary richtete sich stolz auf. »Lieber sterbe ich, als mich einem Ehrlosen wie Ihnen auszuliefern.«

Van Straaten lachte. Dann schnappte er Mary einfach und zerrte sie hinter sich her. Sie wehrte sich verbissen, erreichte aber nichts. Als es dem Freibeuter zuviel wurde, warf er sich das schöne Mädchen läs­sig über die Schulter und sprang mit einem gewagten Satz hinüber auf sein Schiff. Dort beförderte er Mary in eine kleine Kajüte und schloss die Luke fest hinter ihr. Nun war sie also gefangen. Und der Himmel allein wusste, welch grausames Schicksal ihr zugedacht war...

*

Francesco di Montoglia saß unter Deck in der Messe und nahm ein leichtes Essen zu sich, als Carli ihn unverzüglich zu sich bat. Der Kapi­tän stand neben dem Steuermann, ein Fernrohr vor dem Auge und murmelte beim Auftauchen des jungen Edelmanns: »Wir haben Gesell­schaft bekommen. Doch ich glaube nicht, dass Sie Euch gefallen wird, Conte.« Er reichte das Fernrohr weiter, so dass Francesco ebenfalls einen Blick hindurch tun konnte. Zunächst sah er nichts, nur die dün­nen Nebelschwaden, die vom Kanal her auch auf das offene Meer zo­gen. Dann aber bemerkte er einen Segler, etwas kleiner als die ›Carte d'Oro‹ und mit dem blutroten Beisegel der Freibeuter. Der junge Mann überlegte nicht lange. »Das muss van Straaten sein. Wir werden ihn aufbringen.«

Carli blinzelte verwirrt. »Aber dieser Kerl wird seit Jahren gejagt. Er ist clever und skrupellos. Glaubt Ihr ernstlich, es könnte uns gelin­gen, ihn und seine gesamte Mannschaft gefangen zu setzen? Und was sollen wir dann mit den Kerlen machen? Kehren wir nach England zu­rück, verlieren wir zwei volle Tage...«

»Wir werden nicht zurückkehren, das können wir uns nicht lei­sten«, erwiderte Francesco ruhig. »Wie mit den Piraten weiter zu ver­fahren ist, werden wir sehen. Im Moment ist es nur wichtig, dass wir

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die Kerle besiegen. Ohne sie wird der Seeweg wieder sicherer sein. Ich verabscheue dieses Gesindel. Es muss gefangen gesetzt werden!«

Der Kapitän zögerte nur kurz, dann gab er entsprechende Befehle. »Wir werden am besten einen Überraschungsangriff starten«, ent­schied Francesco. »Van Straaten rechnet nicht damit, dass sich je­mand an seine Fersen heftet. Er war bislang der Jäger, nicht die Beu­te.« Der junge Italiener lächelte schmal und betrachtete aus zusam­mengekniffenen Augen das fremde Schiff, das sich noch wie ein Spiel­zeug am Horizont ausmachte. »Nun werden wir den Spieß einmal um­drehen...«

Die Seeleute auf der ›Carte d'Oro‹ waren ein eingespieltes Team. Das Hissen der Hauptsegel vollzog sich im Minutentakt, bald nahm der große und doch wendige Segler volle Fahrt auf. Di Montoglia ließ die Kanonen laden, die man zwar zur eigenen Sicherheit mitführte, sonst aber in Ladeluken verborgen hielt. Es dauerte nicht lange, bis aus dem Segler des Entdeckers ein Kriegsschiff geworden war, das sich jedem Kampf stellen konnte.

In der Zwischenzeit hatte der Seeräuber die Verfolger bemerkt. Van Straaten war, wie erwartet, verwirrt. Doch dann glaubte er, dass sich ihm da erneut leichte Beute bot. Er schwor seine Kumpane auf einen rücksichtslosen Kampf ein und lockte sie zudem mit der Aussicht auf ein neues, größeres und auch besseres Schiff. Bevor er sich auf die Brücke begab, betrat er kurz die Kajüte, in der Mary Lewis ausharren musste. Das schöne Mädchen wich beim Anblick des Piraten ver­schreckt zurück und forderte: »Verschwinden Sie! Lassen Sie mich in Ruhe oder...«

»Nun mal ganz ruhig, mein Schätzchen«, entgegnete er gelassen. »Du bist hier nicht in der Position, Forderungen zu stellen. Ich wollte dir nur sagen, dass wir bereits wieder neue Beute ausgemacht haben. In Kürze wird es ein wenig laut zugehen. Aber wenn wir den italieni­schen Segler gekapert haben, kann ich dir gewiss etwas mehr Komfort bieten.« Er grinste schleimig. »Und dann, so hoffe ich zumindest sehr, wirst du dich auch etwas zugänglicher zeigen...« Er griff nach ihr, Mary schrie auf und wollte ihm eine Ohrfeige versetzen, als eine ungeheure Detonation die Stille zerriss. Van Straaten starrte ein paar Sekunden

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lang ungläubig, dann machte er auf dem Absatz kehrt und hetzte nach oben. Dabei vergaß er, die Luke zu schließen und gab Mary so die Ge­legenheit, aus ihrer Zelle zu entfliehen.

Kaum hatte das schöne Mädchen die schmale Holztreppe er­klommen, die an Deck führte, da folgten noch weitere Explosionen. Vor Marys Augen wurde der Hauptmast des Piratenschiffs getroffen und knickte in Mannshöhe einfach ab wie ein Streichholz. Zwei der Seeräuber wurden unter dem schweren Holz begraben. Der fremde Segler hatte sich auf wenige hundert Meter Abstand genähert und feuerte aus allen Rohren. Immer wieder trafen Einschläge das Piraten­schiff, durchschlugen die Bordwand, rissen große Fetzen und Splitter aus dem Holz. Die Seeräuber erwiderten das Feuer mit ihren Muske­ten, erreichten damit aber nichts. Die einzige Kanone, über die van Straaten verfügte, hatte Ladehemmung. Der Pirat rannte wie ein Springteufel über das Schiff und fluchte wild, während er der ersten Niederlage seiner verbrecherischen Laufbahn entgegensehen musste. Nun zeigte sich, was sein Erfolgsgeheimnis gewesen war: Der gesetz­lose Holländer hatte stets aus dem Hinterhalt und überraschend ange­griffen. Er war skrupellos und gemein und agierte mit hinterhältigen Tricks. Im fairen Kampf konnte er nicht gewinnen. Zudem war sein Schiff keineswegs so schwer bewaffnet, wie man allgemein annahm.

Als sich abzeichnete, dass nichts mehr zu gewinnen war, wollte van Straaten fliehen. Mary sah, wie er das Beiboot los taute und ver­suchte, es zu Wasser zu lassen. Im nächsten Moment schlug eine Ka­nonenkugel direkt an der Stelle ein, wo sich eben noch das Beiboot befunden hatte. Der Pirat aber war verschwunden, die Detonation hat­te ihn das Leben gekostet...

Es dauerte nun nicht mehr lange, bis di Montoglias Männer das Pi-ratenschiff betreten konnten. Nur wenige Seeräuber hatten das Ge­fecht überlebt, doch die ergaben sich ohne Zögern. Nun, da ihr Anfüh­rer tot war, hatten sie nichts mehr zu gewinnen. Und keiner der ver­lausten Kerle wollte van Straaten freiwillig in den Tod folgen...

Mary Lewis hatte sich während der Seeschlacht im schützenden Winkel ihrer Kajütentür verborgen gehalten. In dem Moment als die Italiener an Bord kamen, trat sie vor, denn sie empfand spontan Ver­

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trauen zu dem jungen Edelmann und dem Kapitän, die als Erste er­schienen. Francesco di Montoglia starrte das junge Mädchen einen Moment lang ungläubig an. Mit vielem hatte er gerechnet, nicht aber, auf dem Schiff des meistgesuchten Piraten eine solch bezaubernde Schönheit anzutreffen.

Unter dem feurigen Blick des Südländers errötete Mary und senkte die Lider. Als Francesco sich ihr näherte, wich sie ein wenig zurück, doch er bat: »Fürchtet Euch nicht, ich will Euch nichts Böses. Bitte, wollt Ihr mir nicht Euren Namen nennen und mir erklären, wie es Euch hierher verschlug...«

Sie nickte und erwiderte zögernd: »Mein Name ist Mary Lewis. Ich bin nur eine einfache Zofe und stehe bei Lady Deborah deMoin aus Canterbury in Diensten. Wir waren mit der Fähre nach Calais unter­wegs, als diese schrecklichen Kerle auftauchten...« Ein zittriges Seuf­zen entrang sich ihrer Brust und zeigte, dass Mary am Ende ihrer Kraft war. Francesco bemerkte es wohl. Er wandte sich an Paolo Carli und wies ihn an, nach weiteren Überlebenden des letzten Überfalls zu su­chen.

»Wir werden sie im nächsten erreichbaren Hafen absetzen. Eben­so die Piraten. Sie sollen ihrer gerechten Strafe nicht entgehen.« Dann bat er Mary: »Kommen Sie mit mir, Miss Lewis. Sie brauchen Ruhe, müssen den Schrecken überwinden, der Ihnen widerfahren ist.« Er streckte ihr seine Rechte hin und sie legte ihre schmale Hand vertrau­ensvoll in seine. Obwohl Mary in den letzten Stunden soviel Schlimmes erlebt hatte und mehrfach dem Tod entronnen war, spürte sie doch in­stinktiv, dass dieser junge Edelmann ihr nichts Böses wollte. Im Ge­genteil. Seine ehrlichen, guten Augen betrachteten sie voller Herzens­wärme und ohne jedes Falsch. Sie konnte ihm vertrauen.

Francesco brachte das schöne Mädchen in seine Kabine, ließ ihr ein leichtes Essen zubereiten und fragte dann behutsam: »Sie er­wähnten eine Lady, für die Sie arbeiten...«

Mary schluckte. »Ja, Lady Deborah. Sie hat vor Jahresfrist ihren Gatten verloren, der aus Frankreich stammte. Um das dortige Erbe zu versorgen, trat sie diese Reise an.« Das junge Mädchen verbarg das Gesicht in den Händen und weinte. »Sie war der einzige Mensch, der

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immer gut zu mir gewesen ist. Aber als... diese Scheusale auftauchten, da setzte ihr krankes Herz aus. Und sie starb, ganz sinnlos und ohne, dass ich ihr auch nur noch ein Wort des Trostes oder Mitgefühls hätte sagen können...«

Der junge Italiener hatte aufmerksam zugehört, nun reichte er seinem Gast ein Taschentuch und murmelte betroffen: »Das ist wirk­lich schlimm. Sie haben ein schweres Schicksal zu tragen, Mary. Und ich fürchte, es wird auch nicht leichter werden, wenn ich Sie, zumin­dest für die Dauer dieser Reise, meines Schutzes versichere...«

»Oh, sagt das nicht, Sir. Ihr habt mein Leben gerettet. Mir grauste vor diesem van Straaten, einem liederlichen Charakter, der wohl vor nichts zurückgeschreckt wäre, hättet Ihr seinem gemeinen Spiel nicht Einhalt geboten.« Sie schaute ihn mit einem warmen Ausdruck des Danks in den klaren Augen an. »Ich stehe tief in Eurer Schuld, Sir. Und wenn ich mich irgendwie nützlich machen kann, dann sagt es nur. Ich kann arbeiten und bin auch nicht faul. Mylady waren immer sehr zu­frieden mit mir.«

»Das glaube ich gerne. Nur stehe ich nun von einem Problem«, gestand der junge Edelmann ihr offen ein. »Meine Mission führt mich in die Neue Welt. Ihre Majestät, die Königin von England, hat mir ihre Unterstützung bei der Entdeckung neuer Ländereien zugesagt. Aller­dings muss ich meinen Auftrag in einer bestimmten Frist durchführen. Das bedeutet, ich darf mich nicht unnütz aufhalten. Zum Beispiel, in­dem ich einen Hafen abseits der Route ansteuere, um Passagiere ab­zusetzen...«

»Wollt Ihr damit sagen, wir alle werden nach Amerika segeln?« Mary schien es nicht glauben zu können. »Aber das geht doch nicht! Ich kenne keinen Menschen dort. Wohin soll ich mich wenden? Wie stellt Ihr Euch das vor, Sir?«

Francesco machte eine beschwichtigende Geste. »Zunächst ein­mal: Ängstigen Sie sich bitte nicht, Mary. Ich war nur so offen, um Ihnen meine Lage bewusst zu machen. Gewiss wird sich in absehbarer Zeit eine Möglichkeit für Sie ergeben, in Ihr Heimatland zurückzukeh­ren. Vielleicht ein anderes Schiff, das uns begegnet, oder ein Hafen, in dem wir Proviant aufnehmen müssen. Aber es kann auch sein, dass

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sich keine solche Gelegenheit bietet. Deshalb sollten Sie sich darauf gefasst machen, noch eine Weile auf der ›Carte d'Oro‹ bleiben zu müssen.« Das schöne Mädchen nickte mit beklommener Miene. Eben noch war Mary sehr erleichtert gewesen bei dem Gedanken, schon bald die Heimat wieder zu sehen. Nun nahmen ihr die Worte des Ita­lieners diese Hoffnung und versetzten sie zudem in neue Ängste und Unwägbarkeiten. Doch wie man es auch drehen und wenden mochte; Francesco di Montoglia war und blieb Marys Lebensretter. Und sie musste ihr Schicksal nun in die eigenen Hände nehmen...

*

Am nächsten Morgen erwachte Mary aus wirren Träumen. Sie sah sich unsicher um, glaubte im ersten, schlimmen Moment, sie sei noch in der Hand der Piraten. Dann aber kehrte die Erinnerung an ihre Befrei­ung zurück und mit ihr kam die Erleichterung.

Aufseufzend drehte Mary sich auf den Rücken und blickte zur De­cke. Sie spürte den leichten Seegang, hörte das Geräusch der Wellen, die gegen die Schiffsplanken schlugen, den Wind, der beständig blies. Es war ein Idyll nach den Schrecken dessen, was das junge Mädchen zuvor hatte durchmachen müssen. Doch ganz unbeschwert wollte ihr Herz nicht sein. Sie dachte an den Tod ihrer Brotherrin und daran, dass sie nun auf dem Weg ins Ungewisse war. Und sie dachte auch an den jungen, italienischen Edelmann, der ihr auf Anhieb so sympathisch gewesen war. Francesco di Montoglia hatte ihr Leben aus den Händen der Seeräuber gerettet. Sie war ihm zu tiefem Dank verpflichtet. Doch diese Rettung bedeutete zugleich auch, dass sie sich mit jeder Stunde, mit jedem Tag, der verging, ein wenig mehr von ihrer Heimat ent­fernte. Der Entdecker hatte ein Ziel, das es in bestimmter Zeit zu errei­chen galt. Und dann?

Bislang hatte Mary sich noch keine Gedanken darüber gemacht, was werden sollte, wenn sie Montoglia tatsächlich nach Amerika be­gleiten musste. Sie wusste nicht viel über dieses wilde, noch zum Großteil unerforschte Land. Was sie gehört hatte, war erschreckend, unheimlich. Da war die Rede von grausamen Wilden, die alle Fremden

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töteten. Und von reißenden Raubtieren mit messerscharfen Zähnen. Mary schüttelte sich bei dieser Vorstellung. Nein, sie konnte leichten Herzens darauf verzichten, in ein solches Land zu reisen, das doch nur schlimme Schrecken für sie bereithielt. Und doch würde ihr das Schick­sal diese Prüfung vielleicht nicht ersparen...

Wenig später hatte das junge Mädchen sich angekleidet und ging an Deck. Die Seeleute starrten sie interessiert an, denn auch in ihrem einfachen Gewand schritt sie daher wie eine Königin. Der Kapitän be­merkte Mary und schickte sie zu Francesco in die Messe. Dieser wünschte ihr einen guten Morgen und bat sie, mit ihm zu frühstücken. Das schöne Mädchen zögerte, doch dann gab der Hunger den Aus­schlag. Sie aß rasch und dachte dabei nicht an ihre Manieren, bis sie bemerkte, dass ihr Gastgeber sie schmunzelnd beobachtete.

»Entschuldigt mein Benehmen, Sir. Vielleicht wäre es besser, ich nehme meine Mahlzeiten zusammen mit den anderen Reisenden ein«, murmelte sie verlegen und wollte aufstehen. Doch Francesco hielt sie zurück. »Ich habe mich zu entschuldigen. Schließlich habe ich Sie an­gestarrt, das gehört sich nun wirklich nicht. Es ist nur... Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal jemanden mit so gesundem Appetit essen sah. Ich muss gestehen, es war eine Wonne, dies zu beobachten.«

Mary errötete. »Ihr macht Euch über mich lustig.« »Das ist ganz bestimmt nicht meine Absicht.« Der junge Italiener

suchte ihren Blick. »Mary, Sie sind etwas Besonderes, das ist mir be­reits gestern aufgefallen. Ich möchte Sie bitten, sich in meiner Nähe aufzuhalten. Sie dürfen nicht vergessen, dass dies hier ein Schiff ist, die Sitten unter den Seeleuten sind rau und nichts für eine zarte Mäd­chenseele. Ich werde Sie vor allen Unbilden beschützen.«

»Und was verlangt Ihr dafür?«, fragte sie misstrauisch. »Nichts. Ich genieße Ihre Anwesenheit«, entgegnete er schlicht

und mit entwaffnender Offenheit. »Wann werden wir denn einen Hafen ansteuern können?«, wech­

selte Mary das Thema. »Haben Sie schon mit dem Kapitän darüber gesprochen? Ich denke dabei auch an die anderen Passagiere...«

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»Nun, das ist nicht so leicht. Zunächst sollten Sie wissen, dass es außer Ihnen nur noch zwei weitere Reisende gibt, die den Überfall auf die Fähre überlebt haben. Beides Kaufleute, die es mit der Heimreise nicht allzu eilig haben.«

»Und die Piraten?« »Von ihnen ist noch ein halbes Dutzend übrig. Sie sind sicher ver­

wahrt, werden uns also keine Schwierigkeiten machen können. Nun, liebe Mary, es hat den Anschein, dass Sie mit uns nach Amerika segeln werden.«

»Aber gibt es denn gar keine Möglichkeit, nach England zu­rückzukehren?«, wollte sie erschrocken wissen. »Ich... fürchte mich vor einer so weiten Reise. Und ich weiß gar nicht, was ich dort drüben, in diesem fremden Land, anfangen soll...«

»Wenn wir einen Hafen ansteuern, würde uns diese Abweichung vom Kurs einige Tage kosten. Leider bin ich nicht in der Lage, dies zu riskieren. Es ist Frühjahr, der Atlantik oft stürmisch zu dieser Jahres­zeit. Und meine Frist ist knapp bemessen...« Der junge Edelmann lä­chelte seinem Gegenüber ein wenig zu. »Bitte, Mary, versuchen Sie, mich zu verstehen. Es ist nicht so, dass ich Sie entführen will. Doch die Notwendigkeiten legen meinem Handeln enge Fesseln an.«

»Ich verstehe gewiss. Ihr habt Euch bereits in große Gefahr be­geben, als Ihr van Straaten besiegt und uns befreit habt. Und ich möchte Euch auch unter keinen Umständen zur Last fallen.«

»Das tun Sie nicht. Seien Sie einfach mein Gast.« »Und was wird in Amerika aus mir?« »Nun, ich bin sicher, wir werden eine Lösung finden.« Francesco

dachte kurz nach, eh er noch hinzufügte: »Sie dürfen mir glauben, dass ich Sie keinerlei Gefahren aussetzen werde.«

»Darf ich denn noch eine Frage stellen?« Er nickte. »Selbstverständlich. Was wollen Sie wissen, Mary?« »Es klingt vielleicht neugierig und gehört sich womöglich auch

nicht. Aber ich möchte gerne erfahren, was Ihr in der Neuen Welt zu finden hofft. Gold? Silber? Edelsteine?«

»Von allem ein wenig.« Er hob die Schultern. »Wir werden in un­erforschtes Gebiet vorstoßen. Es gibt viele Geschichten darüber, aber

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wie die Wirklichkeit aussieht, werden wir erst wissen, wenn wir es se­hen...«

Francescos Worte gingen dem schönen Mädchen lange durch den Sinn. Obwohl Mary sich noch immer vor dem Unbekannten fürchtete, erschien ihr doch die Aussicht darauf, ganz neue Dinge zu sehen, viel­leicht große Wunder zu erleben, die vor ihr noch niemand gesehen hatte, überaus aufregend. Nie hatte sie in ihrem bisherigen Dasein an eine solche Möglichkeit gedacht. Sie war bislang mit dem zufrieden gewesen, was das Schicksal ihr geboten hatte. Doch nun, ganz uner­wartet, war sie in ein völlig neues Leben gegangen. Und allmählich verlor sich die Scheu vor dem Fremden, dem Unbekannten. Und etwas wie kindliche Neugier erwachte in Marys reinem Herzen. Wenn Fran­cesco di Montoglia bei ihr war, dann wollte sie sich nicht mehr fürch­ten. Er hatte versichert, sie vor allem Schlimmen zu behüten und das glaubte sie ihm.

*

Einige Tage vergingen und Mary gewöhnte sich allmählich an das Le­ben auf der ›Carte d'Oro‹. Sie sprach mit den beiden ehemaligen Pas­sagieren der Fähre und erfuhr, dass jeder von ihnen sich etwas von dieser kostenlosen Passage nach Amerika versprach. John Carpenter, der Ältere, ein Tuchhändler aus Liverpool, hoffte, auf dem neuen Kon­tinent auch neue Käufer für seine Waren zu gewinnen. Und David Bangs, der in Dover mit Fischereibedarf handelte, wollte es ihm gleich tun. Wie es schien, waren die zwei Händler begierig, in die Neue Welt zu reisen. Und auch Mary hatte in der Zwischenzeit die Abenteuerlust gepackt. Jetzt, da ihr klar geworden war, dass sie kein Zuhause mehr hatte, keinen Platz, an den sie zurückkehren konnte, wollte sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und sich ein neues Leben aufbau­en. Vielleicht würde ihr das ja in Amerika gelingen.

Francesco di Montoglia nahm all seine Mahlzeiten zusammen mit Mary ein. Sie sprachen viel miteinander, lernten sich langsam besser kennen. Und das schöne Mädchen vertraute dem italienischen Edel­mann bald so sehr, dass es auch über seine Gefühle und Hoffnungen

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sprach. Die Idee, in Amerika ein neues Leben zu beginnen, hielt er allerdings für abwegig.

»Ich hörte, dass es dort an den Küsten Siedler gibt. Doch sie fri­sten ein karges und gefährliches Dasein. Das ist nichts für Sie, Mary. Deshalb möchte ich Ihnen einen anderen Vorschlag machen: Sie blei­ben an Bord, bis unsere Expedition aus dem Landesinneren zurück­kehrt und segeln dann wieder mit mir nach England. Ich habe mir ei­nige Gedanken darüber gemacht und glaube, dies ist der beste Weg. Schließlich möchte ich Sie keinen überflüssigen Gefahren aussetzen.«

»Das ist aller Ehren wert, Sir. Doch ich weiß nicht, was ich in Eng­land anfangen soll. Und wenn ich ehrlich sein darf; die Worte meiner beiden Mitreisenden haben mich neugierig gemacht. Mr. Carpenter berichtete von ganz neuen Möglichkeiten, sich ein Leben aufzubauen. Ihr mögt mich für töricht halten, doch ich trau es mir durchaus zu, mein Schicksal zu meistern.«

»Gewiss sind Sie nicht töricht, Mary, im Gegenteil. Ich halte Sie für einen klugen Kopf, der es bislang im Leben nicht einfach hatte. Allerdings schätzen Sie die Gefahren, die auf dem noch weitgehend unerforschten Kontinent auf Sie warten, zu gering.«

Sie schüttelte angedeutet den Kopf, ein feines Lächeln zeigte sich auf ihren schönen Zügen, als sie ihn wissen ließ: »Ich wuchs in einfa­chen Verhältnissen auf, konnte nie wirklich Kind sein. Mein Leben nahm früh eine Wendung zum Schlechten und zwang mich, die Dinge in ihrem wahren Licht zu sehen. Glaubt mir, Sir, ich bin durchaus in der Lage, für mich selbst zu sorgen.«

Francesco erwiderte ihr Lächeln nachsichtig. »Das glaube ich Ih­nen gerne, Mary. Aber sehen Sie: Das Leben in Amerika gleicht in nichts dem, was Sie kennen. Die wenigen Weißen, die sich an den Küstenstreifen angesiedelt haben, sind Abenteurer, Entwurzelte. Raue Burschen, die meine Seeleute wie Chorknaben aussehen lassen. Dies ist kein Land für Sie, Mary.«

»Aber Ihr habt es ja selbst noch nie betreten. Und die Leute reden manchmal viel«, hielt sie ihm starrköpfig entgegen. »Wer kann sagen, ob all das der Wahrheit entspricht.«

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Der junge Edelmann seufzte leise. Er hatte Mary vom ersten Mo­ment an in sein Herz geschlossen. Nicht nur ihre außergewöhnliche Schönheit hatte ihn angesprochen, auch ihr Eigensinn, ihre innere Stärke ließen sie wie eine edle Donna aus einer der ersten Familien Italiens wirken. Nun zeigte sich ihm jedoch auch die Kehrseite ihres starken Charakters: Sie war starrsinnig und uneinsichtig. Mit Worten würde er sie kaum überzeugen können. Vermutlich musste Mary sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass Amerika nicht das verhei­ßene Land war, von dem ihre beiden Mitreisenden geschwärmt hat­ten...

Tage vergingen nun im Gleichmaß. Das Wetter blieb zunächst gut, Carli ließ alle Segel setzen, um den Nordostpassat zu nutzen, der sie rasch vorwärts brachte. Am Abend saß der Kapitän manches Mal mit dem jungen Edelmann und der schönen Engländerin beim Essen und wurde den Eindruck nicht los, dass sein Brotherr im Begriff stand, sein Herz zu verlieren. Als er Francesco darauf ansprach, reagierte dieser allerdings unwirsch.

»Carli, ich werde den Eindruck nicht los, dass Sie zum Romantiker neigen. Zuerst dichten Sie mir zarte Bande zur Königin von England an und nun sehen Sie mich wohl schon auf der Suche nach einem Braut­werber gehen...«

»Es käme mir nie in den Sinn, Tadel an Eurer Person zu üben«, versicherte der Seemann daraufhin beschwichtigend. »Doch wir sind beide Italiener und wissen, was es heißt, ein stolzes Herz und heißes Blut zu besitzen. Und, mit Verlaub, ich sage Euch gewiss nichts Neues, wenn ich darauf hinweise, dass die gesamte Mannschaft von Mary Lewis träumt...«

Francescos ausdrucksvolle Miene verfinsterte sich augenblicklich. »Die Männer sollen arbeiten, nicht träumen«, entgegnete er schärfer als nötig. »Wie ist übrigens die Stimmung unter unseren Gefange­nen?«

»Sie schmoren im Mitteldeck. Noch verhalten sie sich ruhig. Doch ich werde den Verdacht nicht los, dass sie bei der kleinsten Gelegen­heit den Ausbruch wagen werden...«

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Di Montoglia nickte. »Es wäre mir lieber gewesen, diese Galgen­stricke in England abzusetzen. Doch dazu fehlte uns ja die Zeit. Nun müssen wir sehen, wie wir zurechtkommen.«

»Ich habe dauernd zwei Mann zu ihrer Bewachung abgestellt«, ließ der Kapitän ihn wissen. »Sie werden es nicht wagen, auf offener See ihr Leben einzusetzen...«

Francesco hoffte, dass die Einschätzung des Kapitäns sich be­wahrheiten würde. Doch ein ungutes Gefühl befiel auch ihn, dachte er an die unfreiwilligen Passagiere im Bauch des Seglers.

Tatsächlich planten die Piraten schon längst einen Ausbruch. Allein die Tatsache, dass sich ihnen mitten auf dem Atlantik, auf halber Stre­cke zwischen Alter und Neuer Welt wenig Chancen für eine Flucht auf­taten, hatte sie bislang daran gehindert, aktiv zu werden. Doch die Lage glich einer Zeitbombe, die tickte...

Zwei Wochen waren vergangen, seit die ›Carte d'Oro‹ den Hafen von Plymouth verlassen hatte. In der Zwischenzeit befand man sich auf der Höhe von Grönland, hatte also bereits fast die Hälfte der Stre­cke zurückgelegt. Francesco war bester Dinge, denn mit einem so ra­schen Vorwärtskommen hatte er nicht gerechnet. Doch das Glück soll­te ihm nicht beständig hold sein. Stürme zogen auf, der klare Himmel bezog sich mit schweren, tief ziehenden Wolken, aus denen heftige Regenschauer niedergingen. Bald zuckte mancher Blitz über dem Was­ser, der Tag wurde zur Nacht. Der Steuermann wurde auf eine harte Probe gestellt, denn die ›Carte d'Oro‹ blieb über Tage ein Spiel den tauben Winden. Unter Deck konnte man kaum ruhig stehen, das Schwanken des Schiffes, die ächzenden Balken, die Feuchtigkeit, die durch jede Planke drang, all das setzte Mary und ihren beiden Mitrei­senden zu. Die Seeleute waren solch schweres Wetter gewöhnt, doch auch unter ihnen wurde schließlich Murren laut, als sich der Himmel so gar nicht beruhigen wollte.

Di Montoglia bewilligte Extrarationen an Brot und Pökelfleisch und schenkte auch mal eine Buddelflasche Rum aus. Mary bewunderte im Stillen, wie gut der junge Edelmann mit Menschen umgehen konnte. Wenn das Schimpfen des Kapitäns nichts mehr fruchtete, dann schaff­

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te Francesco es stets, die Männer im Zaum zu halten und zu beruhi­gen.

Das schöne Mädchen spürte, wie sein reines Herz sich dem Mann zuwandte, der sein Leben gerettet hatte und immer nur gut zu ihm gewesen war. Doch erschreckten diese neuen, unbekannten Gefühle Mary auch. Sie verschloss sie tief in ihrem Innern, denn sie ahnte in ihrer naiven Unbedarftheit ja nicht, dass Francesco ebenso empfand wie sie...

Endlich, nach fast einer Woche, wurde das Wetter wieder besser. Und als man schließlich das nordamerikanische Becken mit der Sargas­sosee erreichte, besserte sich auch die Stimmung der Mannschaft deutlich. Der junge Entdecker entwickelte nun zusammen mit Paolo Carli einen genauen Plan, wie an Land vorzugehen war. Der hatte sich bei anderen Seemännern, die bereits die Neue Welt bereist hatten, kundig gemacht und erzählte: »Wir haben mehrere Möglichkeiten, wo wir an Land gehen. Hier oben, am so genannten Kap Cod, dort gibt es mehrere kleine Ansiedlungen, aber noch keine Stadt. Die Menschen, die dort leben, betreiben Landwirtschaft und Fischerei. Weiter im Sü­den, ungefähr auf der Höhe von Kap Hatteras, hausen Fellhändler und Trapper. Dort könnten wir wohl leichter einen Führer für uns gewin­nen. Allerdings sollen diese Burschen recht finster und nicht sehr zu­verlässig sein.« Carli warf seinem Gegenüber einen fragenden Blick zu. »Wie gedenkt Ihr, mit unseren Passagieren zu verfahren?«

»Die Piraten werden in Arrest bleiben. Findet sich hier keine brauchbare Gerichtsbarkeit, werden wir sie wieder mit nach England nehmen müssen. Die beiden Kaufleute sind freie Menschen, sie kön­nen tun und lassen, was sie wollen. Und Mary... Ich dachte daran, sie an Bord zu lassen.«

»Dann ergibt sich allerdings eine neue Schwierigkeit«, gab Carli zu bedenken. »Ich lasse eine Minimalmannschaft an Bord, denn ich möchte keine unliebsame Überraschung erleben, wenn wir zurückkeh­ren. Doch wer soll für die Männer bürgen, wenn sie über Wochen und Monate allein mit dem Mädchen sind? Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies in Eurem Sinne wäre.«

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Der junge Edelmann nickte nachdenklich. »Sie haben Recht, Carli, soweit habe ich bislang nicht gedacht. Wir können Mary nicht mit uns nehmen, dazu ist unsere Reise zu gefährlich. Wenn sie jedoch nicht an Bord bleiben kann, werden wir sie irgendwo an Land unterbringen.« Er betrachtete die Karte, die vor ihnen auf dem Tisch lag und entschied schließlich: »Wir ankern vor Kap Cod. Mag sein, es finden sich dort anständige Menschen, Siedler, die sie für die Dauer unserer Reise auf­nehmen.«

»Eine gute Entscheidung.« Der Kapitän lächelte schmal. »Ihr wer­det das Mädchen nur noch überzeugen müssen...«

Dies erwies sich jedoch als unmöglich. Francesco steuerte beim Abendessen behutsam auf dieses heikle Thema zu, doch Mary blockte sofort ab. »Ich werde nicht bei Fremden bleiben!«

»Aber Sie wollten doch ein neues Leben in Amerika beginnen«, er­innerte er sie gelassen. »Wenn dies überhaupt möglich sein sollte, dann wohl nur in der Gesellschaft von Menschen, die Ihnen auch einen gewissen Schutz gewähren können.«

»Mag sein. Trotzdem werde ich nicht allein zurückbleiben, wenn Ihr zu Eurer Entdeckungsreise aufbrecht.« Sie schaute ihn entschieden an. »Ich komme mit Euch!«

*

Es war ein trüber, regnerischer Morgen, als Francesco di Montoglia, Kapitän Paolo Carli und einige Mitglieder der Mannschaft den amerika­nischen Kontinent betraten. Die beiden Reisenden Carpenter und Bangs murrten, denn ihnen wäre es lieber gewesen, in der handels­freudigen Region um Kap Hatteras abgesetzt zu werden. Mary Lewis aber betrachtete das Neue, was auf sie zukam, mit gemischten Gefüh­len. Sie hatte eine lange und nicht sehr erfreuliche Diskussion mit dem italienischen Edelmann hinter sich, der sie unter keinen Umständen mit auf seine Expedition nehmen wollte. Beim Anblick der einfachen Block­hütten, in denen die Siedler lebten, fühlte Mary sich allerdings ent­schlossener denn je, nicht an diesem trostlosen Ort zu bleiben.

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»Wir werden zunächst mit den Menschen sprechen, um zu erfah­ren, ob und wie wir hier Vorräte beschaffen und uns Reittiere be­sorgen können«, entschied Francesco. »Carli, sehen Sie sich schon mal nach brauchbaren Pferden und Lasteseln um und bieten Sie vernünfti­ge Preise. Ich will versuchen, ob ich den Ortsvorstand antreffe.«

Der Kapitän nickte, die beiden Engländer verabschiedeten sich freundlich von di Montoglia, der ihnen Glück wünschte. Mary hielt sich an der Seite des jungen Italieners, der meinte: »Es ist zwar nur eine einfache Siedlung, doch ich denke, für die Zeit unserer Expedition wä­ren Sie hier gut aufgehoben, Mary. Denken Sie bitte einmal vernünftig darüber nach und vergessen Sie nicht die Gefahren, die uns auf unse­rem weiteren Weg drohen. Niemand kann genau sagen, wie diese aussehen, oder ob es uns mit Gottes Hilfe und Beistand gelingen mag, lebendig hierher zurückzukehren.«

»Ihr macht mir Angst«, beschwerte sie sich mit einem scheuen Blick in sein markantes Gesicht. Ihr Herz schlug für Francesco und die Vorstellung, in welche Fährnis er sich begab, tat ihr sehr weh. »Das tut Ihr nur, um mich zum Bleiben zu bewegen.«

Der junge Mann lächelte schmal. »Mary, Sie sind klug und verste­hen es, in die Seele eines Mannes zu schauen. Doch seien Sie versi­chert: Was immer ich auch tue, es geschieht nur zu Ihrem Besten.«

Sie schwieg, denn sie ahnte, dass er tatsächlich nur die Wahrheit sprach. Trotzdem mochte sie nicht bei diesen Fremden bleiben, die ihnen nun misstrauisch und ablehnend entgegentraten.

Di Montoglia machte eine freundliche Geste und sprach die Men­schen in Englisch an, denn er hatte gehört, dass die meisten Siedler gebürtige Britannen waren. »Wir kommen mit friedlicher Absicht, es besteht kein Grund für Euch, uns zu bekämpfen. Bitte, wer von Euch ist der Vorsteher dieser Gemeinschaft? Ich möchte mit ihm sprechen, ihm ein paar Fragen stellen.«

Ein junger Mann trat vor. Er war ein großer, starker Bursche mit flachsblondem Haar und Sommersprossen. Sein Gesicht war offen und freundlich, doch er blieb misstrauisch. »Mein Vater ist der Vorsteher unserer Gemeinde. Was wollt Ihr von ihm, Sir?«

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»Nun, mein Name ist Francesco di Montoglia und ich komme aus Italien. Die Königin von England gab mir ihre Unterstützung, um in diesem Land neue Gebiete zu entdecken. Nach langer Seereise sind wir heute hier gelandet. Ihr könnt Euch vielleicht denken, dass wir nun Ausrüstung, Proviant und auch Lasttiere benötigen, um unseren Weg über Land fortzusetzen...«

Der Blonde nickte. »Ich bin Jim Hunter. Folgt mir, ich führe Euch zu meinem Vater.«

Francesco bedankte sich, dann lief er hinter dem Burschen auf ein Blockhaus zu, das in der Mitte der Ansiedlung seinen Platz hatte. Es war etwas größer als die übrigen Hütten und besaß eine Veranda, auf der ein kunstvoll gedrechselter Schaukelstuhl stand. Mary blieb an der Seite ihres Beschützers, sie hatte ihre schmale Hand in seine Rechte geschoben und schaute sich unsicher um. Ein wenig war ihr nun doch die Abenteuerlust vergangen. Die Frühlingsluft war kühl und feucht, der Boden schlammig. Es roch nach strengen Holzfeuern und der hohe Wald, der kaum hundert Meter hinter der Siedlung aufragte, wirkte dunkel und bedrohlich.

Allein die Vorstellung, hier bleiben zu müssen, wollte Mary über­haupt nicht mehr gefallen.

Jim Hunter führte die Besucher in eine saubere Stube, die fast ausschließlich mit selbst hergestellten Möbeln eingerichtet war. Es roch aromatisch nach dem verwendeten Holz, die Atmosphäre hier war urig und gemütlich.

»Habt Ihr all Eure Gebrauchsgegenstände selbst hergestellt?«, wollte Francesco wissen, dem so eine Lebensweise fremd war.

»Nun, das meiste schon. Mein Vater ist Schreiner, er hat mich sein Handwerk gelehrt. Aber wir bauen auch Weizen an und haben etwas Vieh. Es ist nicht leicht, hier zu überleben.«

»Warum seid Ihr hergekommen?« »Wir stammen aus dem Westen Irlands und hatte nichts zu bei­

ßen. Fünf meiner sieben Geschwister sind gestorben, als sie noch klein waren. Meine Mutter wurde nicht mal dreißig. Als Vater von der Mög­lichkeit hörte, hier ein neues Leben anzufangen, dachten wir, alles sei besser, als im Elend zu bleiben.«

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»Eine weise Entscheidung«, lobte di Montoglia und bemerkte dann den Mann in mittleren Jahren, der aus dem Nebenzimmer getreten war. Er ähnelte seinem Sohn sehr, schien beinahe die ältere Ausgabe von Jim Hunter zu sein. Nur ein bitterer Zug in seinem wettergegerb­ten Gesicht sprach von Schicksalsschlägen, die der Jüngere noch nicht bewusst durchlitten hatte.

Jim stellte seinem Vater die Fremden vor, dieser drückte Fran­cesco herzhaft die Hand und wies dann auf einen Tisch mit mehreren Stühlen. »Setzen wir uns. Ich bin Fred Hunter und stehe dieser kleinen Gemeinde seit drei Jahren vor. Was kann ich für Euch tun, Sir?«

Der Italiener schilderte sein Begehr und seine Lage und war dabei ganz offen und ehrlich. Fred Hunter nickte nachdenklich.

»Ihr seid nicht die ersten Entdecker, die hier ankommen. In den vergangenen Jahren haben wir einige Schiffe kommen sehen. Männer mit Mut und Entschlossenheit brachen auf, um diesem weiten Land seine Geheimnisse zu entlocken. Nur wenige kehrten zurück. Deshalb sehe ich es als meine Pflicht an, Euch zu warnen, Sir: Wir leben hier recht sicher, nur selten sind wir den Angriffen von umherziehenden Indianern ausgesetzt. Doch sie kommen manchmal, stehlen oder for­dern offen, was ihnen gefällt. Wir haben uns daran gewöhnt, kommen mit ihnen aus. Denn wir wissen, dass dies ihr Land ist, wir hier nur Gäste sind. Doch weiter im Westen leben Stämme, die noch keinen Weißen zu Gesicht bekommen haben. Und auch wir danken dem Herrn, dass uns eine Begegnung mit diesen Geschöpfen bislang er­spart geblieben ist. Sie sind gefährlich wie eine Giftschlange, schnell wie eine Viper und heimlich wie ein Berglöwe. Keine lebende Seele hat ein Zusammentreffen mit ihnen überlebt. Und man erzählt sich schreckliche Geschichten über das, was sie mit ihren Gefangenen tun...«

»Mein Gott«, seufzte Mary und schloss kurz die Augen. Fred Hunter lächelte gutmütig. »Es war nicht meine Absicht, Euch

in Angst und Schrecken zu versetzen, kleine Lady. Doch wer hierher kommt, der sollte wissen, worauf er sich einlässt. Das ist meine Mei­nung.«

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»Ich danke Euch für Eure Offenheit und bin mir der Gefahren, die uns erwarten, durchaus bewusst. Allein deshalb möchte ich Euch bit­ten, dieses Mädchen bei Euch zu behalten, bis meine Expedition hier­her zurückkehrt.«

»Das tun wir gern. Sie kann bei der Witwe Salinger wohnen, gera­de nebenan. Die ist eine gütige Frau, hat es nicht leicht gehabt im Leben. Sie wird sich über etwas Hilfe und Gesellschaft sicher freuen.«

Mary sagte nichts. Sie war nach wie vor entschlossen, sich nicht von Francesco zu trennen. Auch wenn ihr Herz ängstlich pochte ange­sichts der Schrecken, die Fred Hunter eben angedeutet hatte. Der jun­ge Edelmann zeigte sich dagegen mit dem Angebot des Siedlers zu­frieden. Er spendete ein paar Goldstücke für die Gemeindekasse und bemerkte einmal mehr, dass dieses ›Argument‹ die Menschen überall auf der Welt zugänglicher machte. Der Ortsvorsteher wies seinen Sohn an, zusammen mit dem Kapitän Pferde und Maulesel auszusuchen.

»Wir haben nicht viel Vieh. Doch Ihr werdet damit weit genug kommen, bis Ihr weitere Pferde kaufen könnt. Händler gibt es überall an den Handelspunkten. Wartet, ich gebe Euch eine Karte mit, auf der diese eingezeichnet sind. Ich habe sie selbst gezeichnet, aus dem Ge­dächtnis, doch sie ist recht genau.« Fred Hunter gab sich Mühe, den spendablen Gast zufrieden zu stellen.

Mary blieb einsilbig. Erst als der Siedler ihr vorschlug, sich mit der Witwe Salinger bekannt zu machen, meinte sie ablehnend: »Das kann ich auch noch später, nicht wahr?«

»Natürlich. Ich bin aber überzeugt, dass es dir bei uns gefallen wird, mein Kind. Unser Leben ist einfach und die Arbeit hart, doch wir sind ehrliche, gottesfürchtige Menschen.«

»Ich scheue mich nicht vor schwerer Arbeit, denn auch ich stam­me aus einfachen Verhältnissen und musste schon früh viele Pflichten übernehmen«, erklärte sie.

Francesco lächelte ihr ein wenig zu. Er war beruhigt in dem Wis­sen, dass Mary hier für die Dauer der Expedition gut untergebracht war. Dabei ahnte er nicht, dass sie noch immer fest entschlossen war, ihn zu begleiten. Und wenn es gar nicht anders ging, dann auch heim­lich...

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*

Es dauerte einige Tage, bis die Expedition zusammengestellt und mit allem Nötigen versorgt war. Fred Hunter und sein Sohn hatten dafür gesorgt, dass man den Italiener und seine Begleiter freundlich auf­nahm und ihnen nach Kräften half.

Francesco hatte am zweiten Tag die Witwe Salinger aufgesucht, allerdings kostete es ihn einiges an Überredungskunst, um Mary dazu zu bringen, ihn zu begleiten. Sie sträubte sich hartnäckig, schien plötz­lich eine völlig neue Scheu Fremden gegenüber an den Tag zu legen und hatte doch in Wirklichkeit nur Angst, die Siedlerin könnte ihr e­benso sympathisch sein wie alle anderen Bewohner des kleinen Dor­fes, das den symbolträchtigen Namen Providence - Vorsehung - trug. Das wollte Mary aber nicht, denn ihr Entschluss, bei Francesco zu blei­ben, sollte nicht ins Wanken geraten. Natürlich konnte sie ihm das nicht verraten und schwieg deshalb über die wahren Beweggründe ihres störrischen Verhaltens. Kathrin Salinger lebte in einem einfachen Blockhaus, das nur eine Stube besaß. Doch die patente Frau hatte es geschickt verstanden, diese so gemütlich einzurichten, dass man sich auf Anhieb wohl fühlen konnte. Auch die Witwe selbst vermittelte die­sen Eindruck. Sie war klein und rund, hatte ein ehrliches, gütiges Ge­sicht und freundliche Augen.

»Ich freue mich und fühle mich geehrt über Euren Besuch, Sir«, versicherte sie di Montoglia gegenüber ehrfürchtig und sagte dann in vertraulichem Tonfall zu Mary: »Fred Hunter hat mir bereits von dir berichtet, mein Kind. Gewiss werden wir uns gut verstehen. Und ich will dir auch helfen, dich bei uns einzuleben. Am Anfang fiel das jedem Einzelnen schwer. Doch die Zeit macht jede Fremde zur Heimat.«

»Das haben Sie schön gesagt, Mrs. Salinger«, lobte Francesco und bedachte das junge Mädchen mit einem fragenden Blick. »Glauben Sie, dass Sie sich hier wohl fühlen werden, Mary?«

»Ja, bestimmt.« Sie lächelte unsicher. Die Witwe hatte bereits Tee zubereitet und reichte selbst geba­

ckene Haferkekse dazu, die erstaunlich gut schmeckten. Als der junge

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Italiener sich schließlich nach einer Weile verabschiedete, wollte Mary ihn natürlich begleiten. Doch er schlug vor: »Bleiben Sie noch eine Weile hier und gewöhnen Sie sich schon ein wenig ein. Wir sehen uns später.« Er ging, ohne auf ihre Antwort zu warten. Mary fühlte sich enttäuscht und im Stich gelassen. Erst als Kathrin Salinger das Wort an sie richtete, nahm sie sich zusammen und verschloss ihre Gefühle tief im Herzen. Die lebenskluge Frau schien aber trotzdem zu spüren, was in dem jungen Mädchen vorging, denn sie fragte nun behutsam: »Hast du ihn sehr lieb, mein Kind? Dann lass dir gut raten: Vergiss den schö­nen Edelmann. Er wird sehr bald schon zu einer gefahrvollen Reise aufbrechen. Und es scheint mehr als unwahrscheinlich, dass er zu­rückkehrt.«

Mary errötete leicht, dann behauptete sie aber ernsthaft: »Fran­cesco wird wiederkommen, das weiß ich. Sie mögen meine Gefühle erraten haben, aber Sie kennen ihn nicht. Er trotzt jeder Gefahr, nichts kann ihm schaden.« Sie berichtete von ihrer Reise über den Kanal, dem Überfall der Piraten und ihrer Rettung durch den italienischen Edelmann. Die Witwe hörte aufmerksam zu, schließlich wollte sie wis­sen: »Dann befinden sich diese Banditen noch an Bord des Schiffes? Owei, ich fürchte, dabei wird nicht viel Gutes herauskommen.«

»Gibt es denn hier keinen Richter, der ihnen den Prozess machen kann?«

»Oh nein, Jim Hunter ist unser Ortsvorstand und er regelt auch al­le rechtlichen Fragen, wenn es welche gibt. Doch wir sind eine friedli­che Gemeinde. Bislang haben wir keinen Richter nötig...«

Dies erfuhr wenig später auch Francesco di Montoglia. Er zeigte sich nicht sehr erfreut, als Hunter ihm riet, die Piraten wieder zurück nach England zu bringen.

»Es gibt einen Friedensrichter, der hier an der Küste entlang reist. Doch ich habe lange nichts mehr von ihm gehört. Und ich fürchte, es würde eine Weile in Anspruch nehmen, ihn ausfindig zu machen...«

»Das hätte keinen Sinn, denn ich kann nicht frei über meine Zeit verfügen. Zum Ende der Woche müssen wir aufbrechen.«

»Dann mache ich Euch einen Vorschlag: Es gibt hier in der Nähe einige Höhlen. Wir haben dort gehaust, bevor unsere Häuser fertig

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waren. Eine davon liegt im Boden und ist mit Brettern abgedeckt. Sie diente uns als Vorratslager. Sperren wir die Verbrecher dort ein, kön­nen sie nicht entkommen, sind sicher verwahrt, bis Ihr wieder hierher zurückkommt.«

Di Montoglia nickte. »Das klingt vernünftig. Ich werde Ihnen eine entsprechende Summe für die Verköstigung der Gefangenen überlas­sen. Und ich danke Ihnen wirklich für Ihre Hilfsbereitschaft. Die Män­ner so lange an Bord meines Schiffes zu lassen, hätte heikel werden können.«

Dem stimmte der Ortsvorsteher zu. So händigte der junge Edel­mann ihm noch am gleichen Tag eine gewisse Summe in Gold aus und wies dann seine Männer an, die Gefangenen an Land zu schaffen. Es war ein gefährliches Unterfangen. Die Burschen zeigten sich bedrohlich wie eh und je. Auf dem Weg zur Küste versuchte einer zu fliehen und erwürgte dabei einen der Seeleute mit bloßen Händen. Als die Piraten endlich in dem Loch saßen, dass ihnen zugedacht war, fluchten sie laut und der verhinderte Ausbrecher drohte: »Das werdet Ihr noch bereuen, Italiener! Wir kriegen Euch und dann Gnade Euch Gott!«

»Ihr solltet lieber selbst um Gnade flehen, denn der Henkerstrick wartet bereits auf Euch alle«, riet Francesco den Kerlen, die selbst in ihrer misslichen Lage nur Drohungen ausstoßen konnten. »Passen Sie gut auf diese Halunken auf. Wenn sie es schaffen, zu entkommen, werden Sie alle nicht mehr sicher sein.«

»Kein Angst, sie sind gut verwahrt«, versicherte Fred Hunter op­timistisch, ohne zu ahnen, wie sehr er sich irrte...

Bereits am nächsten Morgen brach die Expedition dann auf. Fran­cesco klopfte noch einmal an die Tür der Witwe Salinger, denn er woll­te nicht fortgehen, ohne sich von Mary zu verabschieden. Diese hatte ihn schon sehnsüchtig erwartet.

»Ihr könnt mich nicht hier lassen, ich beschwöre Euch!«, flehte sie verzweifelt. »Diese Menschen sind lieb und nett, doch ich will bei Euch bleiben. Ihr wisst, wie viel mir das bedeutet. Bitte, lasst mich mit Euch kommen, ich verspreche auch, niemandem zur Last zu fallen!«

Der junge Edelmann lächelte nachsichtig. Er nahm Marys schlanke Hände in seine und schaute sie ernsthaft an. »Es bedeutet mir sehr

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viel, dass Sie so an mir hängen, süße Mary. Aber ich habe Ihnen be­reits erklärt, warum es unmöglich für mich ist, Sie mitzunehmen. Ich kann für niemandes Sicherheit auf dieser Reise ins Ungewisse bürgen. Und ich würde es mir niemals verzeihen, wenn Ihnen etwas zustößt. Sie hier in Sicherheit zu wissen, gibt meinem Herzen Frieden und die nötige Kraft, die ich nun brauche, um dieses Abenteuer zu bestehen.«

»Aber ich...« »Bitte, sprich nicht weiter. Es ist unmöglich.« Er schob sanft eine

Hand unter ihr Kinn und küsste sie zart. Für ein paar wunderbare Au­genblicke reiner Seligkeit vergaß Mary da alles andere und war ganz einfach nur glücklich. Sie schmiegte sich in die starken Arme des jun­gen Italieners und wünschte, dieser wundervolle Moment möge nie enden. Doch er tat es, viel zu schnell.

»Bleibe mir gewogen, süße Mary. In nicht allzu ferner Zukunft werde ich zurückkehren und dich mit mir nehmen.« Er nahm ein klei­nes, goldenes Medaillon, das ihm die Contessa einst geschenkt hatte und legte es in Marys Hände. »Dies zierliche Schmuckstück zeigt die Mutter Gottes, deren Namen auch du trägst, Liebste. Es soll dich be­schützen und an mich erinnern. Und nun leb wohl, wir sehen uns wie­der!« Er schied rasch von ihr, denn sein Herz war voller Wehmut und er ahnte, dass es ihm nur immer schwerer werden würde, sie einfach im fremden Lande bei Fremden zu lassen. Doch es gab ja keine andere Möglichkeit. Mary stand mit tränennassen Augen in der offenen Tür von Kathrin Salingers Blockhütte und hatte das Gefühl, ihr Herz müsse brechen. Ganz fest hielt sie das kleine goldene Medaillon in beiden Händen. Doch Trost konnte es ihr auch nicht spenden.

»Nun komm, mein Kind, wir haben zu arbeiten«, mahnte die Wit­we Mary nachsichtig. »Beschäftigung ist ein gutes Heilmittel für wehe Herzen. Sie wird dir helfen, zu vergessen.«

Das schöne Mädchen nickte und folgte der Alten. Doch tief im Herzen wusste Mary, dass sie hier nicht bleiben würde...

*

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»Verdammt, was sollen wir denn jetzt anfangen? Aus diesem elenden Loch kommen wir nie wieder raus. Und die Kartoffelbauern lassen uns gewiss verhungern!« Der dürre, alte Kerl mit der feuerroten Narbe am Hals starrte sein Gegenüber böse an. »Na los, Pip, sag uns, was wir tun sollen. Dein Bruder hätte jetzt bestimmt gewusst, wie wir...«

»Halt's Maul!«, herrschte Pip van Straaten ihn an. »Oder es geht dir gleich noch viel schlechter als jetzt!«

»Aber Joker hat recht«, pflichtete ein Zweiter dem Ersten bei. Er war noch jung, hatte einen verschlagenen Blick und langes, schwarzes Haar, das ihm in einem geflochtenen Zopf über den Rücken reichte. »Wir sind am Ende, können hier schmoren, bis der Italiener zurück­kommt. Und wenn er es nicht schafft, dann werden diese Landeier uns noch aufknüpfen.«

Pip lachte rau. Der jüngere Bruder des ehemaligen Piratenkapitäns hatte sich mit Absicht im Hintergrund gehalten. Keiner sollte etwas von seiner Existenz erfahren und von seinen Racheplänen... »Dazu sind diese Leute hier viel zu feige. Sie könnten nicht mal eine Ziege auf­knüpfen. Und was uns angeht, wir werden schneller hier herauskom­men, als ihr alle glaubt...«

»Aber wie?«, wollte Joker wissen. »Ohne Seil, ohne Leiter...« »Lasst das nur meine Sorge sein«, murmelte Pip selbstgefällig.

»Ich habe mir schon längst etwas überlegt...« Währenddessen ging Mary der Witwe Salinger zur Hand. Die Alte

besaß einen kleinen Acker, der mit Hackfrüchten bestellt war. Jeden Tag hieß es nun, das Unkraut zu rupfen, damit es den erwünschten Wuchs nicht unterdrückte. Das Feld lag ganz in der Nähe der Höhle, in der sich die Piraten befanden. Und deshalb war es auch Mary, die de­ren aufgeregtes Rufen als Erste hörte. Sie machte die Witwe darauf aufmerksam, aber die winkte ab.

»Hör nicht hin, diese Kerle wollen doch nur frei kommen, damit sie uns allen die Hälse abschneiden können!«

Das schöne Mädchen arbeitete eine Weile schweigend weiter, aber als das Rufen partout nicht verstummen wollte, richtete Mary sich auf und fragte: »Soll ich nicht Mr. Hunter Bescheid geben? Vielleicht

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stimmt ja doch etwas nicht. Und wir haben den Männern gegenüber ja auch eine gewisse Fürsorge zu erfüllen.«

Die Witwe drückte stöhnend den Buckel durch, dann murmelte sie: »Ich frage mich, warum eigentlich. Es wäre besser gewesen, dein Liebster hätte sie einfach aufknüpfen lassen, bevor er uns verlassen hat. Diese elenden Banditen werden uns nur Scherereien machen. Denk an meine Worte!« Sie zögerte kurz, eh sie noch hinzufügte: »Al­so schön, geh und ruf Fred. Ich will mich nicht versündigen, denn trotz allem sind sie wohl auch Geschöpfe Gottes.«

Mary nickte lächelnd und eilte davon, um den Ortsvorsteher zu in­formieren. Wenig später erschienen Hunter Senior und Junior. Jim trug eine Büchse, die ihm beim Jagen schon manchen Dienst erwiesen hat­te, bislang aber keinem anderen Zweck diente. Die Siedler waren fried­fertige Menschen, doch wenn es sein musste, konnten sie sich selbst verteidigen.

»Was ist los? Was wollt ihr?«, rief Fred Hunter in die unterirdische Höhle hinein. »Warum schreit ihr so laut?«

»Wir haben verdorbenes Essen bekommen«, beschwerte Pip sich und stöhnte leidend. »Unsere Wänste sind aufgedunsen, wir leiden furchtbare Pein. Ihr müsst uns einen Doktor schicken!«

»Es gibt hier keinen Arzt«, erwiderte der Ortsvorsteher. »Ich brin­ge euch etwas Kräutermedizin. Damit behandeln wir uns selbst.«

»Ihr wollt uns vergiften, um uns los zu werden!«, warf Pip ihm vor. »Ich nehme nichts von dem Teufelszeug. Lieber krepiere ich. Aber dann habt ihr mich auf dem Gewissen, ihr elenden Bauern!«

Jim trat neben seinen Vater und riet ihm: »Hör nicht auf die. Si­cher ist das nur eine List, damit wir sie frei lassen.«

»Was wollt ihr, dass wir tun?«, fragte Fred nach unten. »Wir brauchen einen Arzt. Oder wir sterben alle!«, behauptete Jo­

ker und schrie wie unter grässlichen Schmerzen. Der Ortsvorsteher überlegte kurz, dann wies er seinen Sohn an:

»Bleib direkt hinter mir. Ich steige nach unten und...« »Nein, Vater, tu das nicht. Sie wollen dich bloß in die Falle locken.

Wir sind diesen Kerlen nicht gewachsen, das sind üble Banditen und

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Halsabschneider. Denk doch daran, wie Montoglia uns vor ihnen ge­warnt hat. Bitte, lass uns gehen. Die beruhigen sich schon wieder.«

»Das kann ich nicht tun«, entschied Fred nach kurzem Überlegen. »Wenn sie wirklich krank sind...«

»Wenn! Ich bin sicher, sie sind's nicht. Und ich will dich nicht auch noch verlieren, Vater!« Der junge Mann starrte sein Gegenüber be­schwörend an, doch es nützte alles nichts. Fred hatte beschlossen, nach dem Rechten zu sehen. Er musste sich einfach davon über­zeugen, dass den Gefangenen nichts Ernstliches fehlte. Tat er gar nichts, würde er sich später ewig Vorwürfe machen, das wusste er ganz genau. Zudem waren die Menschen in dieser Wildnis auf ge­genseitiges Vertrauen und Hilfe angewiesen. Verweigerte er diesen Fremden nun die elementarsten Rechte, konnte das ein schlechtes Vorbild für seine ganze Gemeinde sein. Und das wollte Fred Hunter unter allen Umständen vermeiden.

»Ich steige in die Höhle«, entschied er und schob die schweren Holzbohlen beiseite.

»Du machst einen Fehler«, beschwor Jim seinen Vater. Doch er wusste, dass er nichts mehr ändern konnte und tat das Einzige, was ihm blieb: Er richtete die Büchse auf die Kerle in der Höhle, die nun langsam zurückwichen.

Zunächst verhielten die Piraten sich ruhig. Fred Hunter kletterte über eine einfache Leiter nach unten und fragte: »Was fehlt euch? Welche Beschwerden habt ihr?«

»Wir sind vergiftet worden. Da, sieh dir meinen Freund an. Er ist schon fast abgekratzt«, behauptete Joker und deutete auf einen jun­gen Mann, der nahe der Wand verkrümmt auf dem Boden lag.

»Ich verstehe das nicht. Das Essen, das ihr bekommt, ist gut. Wir haben...« Der Ortsvorsteher verstummte, als der vermeintlich Tod­kranke sich blitzschnell aufrichtete und ihm ein Messer in den Bauch rammte. Fred Hunter hatte nicht einmal die Zeit, zu schreien. Er brach ohne einen Laut in die Knie und fiel zur Erde. Jim hatte nicht genau gesehen, was mit seinem Vater geschehen war. Doch er ahnte, dass es etwas Schlimmes war, das seine finstersten Ahnungen noch über­traf. Im nächsten Moment kletterte bereits der erste Pirat über die

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Leiter nach oben. Als der junge Siedler sein schmieriges Grinsen sah, drehte er durch. »Du Schwein hast meinen Vater umgebracht!«, schrie er - und schoss. Beide Läufe der Schrotflinte entluden sich und fegten den Piraten wie ein loses Blatt im Herbstwind von der Leiter. Er schrie und stürzte wieder zurück in die Höhle. Jim Hunter griff nach den Boh­len, um den Eingang zu verschließen. Doch in seiner Erregung hatte er die Leiter vergessen. Im nächsten Moment war Pip van Straaten oben. Er rechnete eiskalt damit, dass Jim noch nicht zum Nachladen gekom­men war und sollte Recht behalten. Ohne zu zögern stach er den jun­gen Mann nieder.

Mary und Kathrin Salinger, die das schreckliche Schauspiel aus ei­niger Entfernung beobachtet hatten, konnten es zunächst gar nicht fassen. Die Witwe überwand als erste ihre Schrecken und herrschte das junge Mädchen an: »Lauf weg, Mary, so schnell du kannst. Wenn diese Kerle dich erwischen, ist dein Leben keinen Penny mehr wert!«

»Aber ich... Was ist mit Ihnen?« »Ich folge dir, nun lauf schon, lauf!« Sie versetzte Mary einen

Stoß, der sie endlich wieder zur Besinnung brachte. Automatisch setzte das junge Mädchen einen Fuß vor den anderen. Hinter sich hörte Mary die triumphierenden Schreie der Piraten, die sich nun allesamt befreit hatten. Sie dachte an ihre Gefangenschaft auf dem Piratenschiff, an die schrecklichen Stunden, die sie dort hatte durchleiden müssen. Noch einmal wollte sie das unter gar keinen Umständen durchmachen. Ohne lange nachzudenken ließ Mary das Dorf hinter sich und rannte in den Wald. Sie war überzeugt, dass die Seeräuber die ›Carte d'Oro‹ ka­pern und damit fort segeln würden. Was die Banditen wirklich vorhat­ten, konnte das Mädchen ja nicht ahnen. Mary rannte und rannte, bis sie völlig atemlos war. Erschöpft und verängstigt blieb sie schließlich stehen und schaute sich um. Nachdem die laute Panik in ihrem Innern sich ein wenig gelegt hatte, bemerkte sie, dass sie ganz allein war. Nur die Geräusche der Natur umgaben sie; das leise Rauschen des Windes in den Wipfeln der Bäume, Vogelgezwitscher und die Stille der weiten Urwälder, die sich majestätisch vor ihr erstreckten. Eine neue Angst überfiel sie. Völlig allein, abgeschnitten von allem, würde sie sich ge­wiss verlaufen, wenn sie versuchte, zum Dorf zurück zu gelangen.

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Doch was sollte sie sonst tun? Ein zittriges Seufzen entrang sich ihr, das sich leise im trüben Schein des tiefen Waldes fortzusetzen schien, wie ein unendliches, flüsterndes Echo. Da wurde ihr bewusst, dass es überhaupt keinen Sinn hatte, zum Dorf zurückzukehren. Dachte sie daran, was die Piraten mit Fred und Jim Hunter getan hatten, dann schien es ganz klar, dass dort bald niemand mehr am Leben sein wür­de. Eine schreckliche Vorstellung!

Mary spürte die Tränen in sich aufsteigen, doch sie verbot sich nun jede Gefühlsregung. Verzweifelte sie, war sie verloren. Nur eines blieb ihr noch: Sie musste der Expedition folgen, versuchen, sie einzu­holen. Dann gab es vielleicht noch eine Chance für sie, diesen Schre­cken lebend zu überstehen.

*

Francesco di Montoglia warf einen langen Blick auf die Karte in seiner Hand und schaute sich dann die weite, offene Landschaft an, die vor seinen Füßen wie ausgebreitet lag. »Wir sollten uns westlicher halten. In dieser Ebene gibt es weder Fluss noch See. Dort drüben, in den Bergen, scheinen mir eher Wasseradern vorhanden zu sein. Was den­ken Sie, Carli?«

Der Seemann rieb sich nachdenklich das Kind und nickte dann zu­stimmend. »Scheint mir auch so. Ihr habt einen guten Blick für diese Dinge. Aber etwas anderes bereitet mir Sorge...«

Francesco horchte auf, denn sein Begleiter war schon den ganzen Morgen über ungewöhnlich schweigsam gewesen. »Was ist es?«

»Nun, ich weiß nicht recht, wie ich es in Worte fassen soll. Als wir heute Morgen aufbrachen, hatte ich das Gefühl, beobachtet zu wer­den. Unser Rastplatz war gut gewählt und eigentlich sicher vor frem­den Blicken. Trotzdem fühlte ich mich unwohl.«

Der junge Edelmann sagte nichts, er wusste nicht genau, worauf Carli anspielte. Deshalb fuhr dieser nach einer Weile fort: »Die erste Wegstrecke über war es genauso. Jetzt scheint es mir aber, als hätte ich es mir nur eingebildet. Schließlich ist nicht zu übersehen, dass au­

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ßer unseren Leuten hier weit und breit niemand ist. Was haltet Ihr davon, Conte?«

»Ich kann Ihre Empfindungen nicht nachvollziehen, doch das heißt nicht, dass ich sie gleich unbesehen verwerfe. Kann es sein, dass Ih­nen das Meer fehlt, Carli?«

Der Kapitän schmunzelte. »Daran habe ich auch schon gedacht. Mag sein, es sind die Geschichten von gefährlichen Wilden, die mir noch im Kopf herum spuken. Fred Hunter ist ein guter Erzähler, man nimmt ihm jedes Wort ab.«

»Doch ich bin überzeugt, er hat ein wenig übertrieben, um uns die Reise sauer zu machen. Wie dem auch sei; wir werden trotzdem vor­sichtig sein und die Augen offen halten.«

»Sir!« Einer der Seeleute kam näher und wandte sich an Carli. »Wir haben etwas gesehen, eine Person, die in der Nähe herum schleicht...«

Der junge Edelmann tauschte einen bedeutsamen Blick mit dem Angesprochenen, der wollte wissen: »Was für eine Person? Wo? Habt ihr euch auch bestimmt nicht geirrt? Vielleicht war es auch nur ein Tier, das einen langen Schatten warf...«

»Oh, nein, Sir, ich habe es deutlich gesehen. Sie ist noch ein Stück entfernt, aber ich glaube, sie verfolgt uns.«

»Sie?« Carli musterte den Seemann streng. »Eine Frau?« »Das weiß ich nicht. Aber ich glaube es. Simmons sagt, es könnte

eine Indianerin sein, die uns zu ihrem Stamm locken will.« »Seemannsgarn«, knurrte Carli. »Englische Seeleute sind noch

schlimmer als wir Italiener. Wir hätten sie in Plymouth nicht anheuern sollen.«

Francesco schmunzelte, dann setzte er das Fernrohr ans Auge und blickte sich aufmerksam um. Vor ihm lag die weite Ebene, die in ihrem Verlauf auf die ersten Erhebungen der Apalachen stieß. Rechts und links erstreckten sich verstreute Haine, im Westen glänzte das Band des Hudson-River in der Sonne. Weit und breit war keine Menschen­seele zu sehen, auch keine Ansiedlungen oder auch nur Tiere, die ihre Deckung verlassen hatten.

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»Gebt weiter gut acht«, wies er den Seemann an. »Und wenn ihr etwas Verdächtiges seht, sagt Bescheid.«

Carli machte eine skeptische Miene. »Ihr solltet die Männer nicht in ihrer Einbildungskraft unterstützen, Conte.«

»Aber Sie haben sich doch auch beobachtet gefühlt«, hielt dieser ihm entgegen. »Mag sein, es ist was Wahres dran. Ich möchte vor­bereitet sein, wenn wir auf Einheimische stoßen.«

Wenig später setzten sie ihren Weg fort. Mittlerweile war es um die Mittagszeit, die Sonne brannte heiß vom wolkenlosen Himmel und der Tross kam nur langsam vorwärts. Als sie am Fuß des Gebirges auf eine Quelle stießen, ordnete Francesco eine Rast an. Er aß nur eine Kleinigkeit und überwachte dann das Füllen der Feldflaschen und Fäs­ser mit frischem Wasser.

Unvermittelt rief einer der Männer: »Dort hinten! Da ist sie!« Der junge Edelmann folgte dem Wink und bemerkte eine schmale

Gestalt, die sich im Schutz der Felsen näherte. Francesco kniff die Au­gen zusammen, denn die Sonne blendete ihn. Dann war die Gestalt auch schon verschwunden wie ein Schatten.

»Was war das?«, fragte Carli, der neben ihn getreten war. Di Montoglia machte eine entschlossene Miene, als er erwiderte:

»Ich weiß es nicht. Aber ich werde es herausfinden!« Er schnappte sich ein Gewehr und strebte auf die Stelle zu, wo der unbekannte Schatten gerade eben verschwunden war. Carli folgte ihm. Eine Weile marschierten sie schweigend nebeneinander her. Dann machte Fran­cesco seinem Begleiter ein Zeichen, sich von ihm zu trennen. Sie um­rundeten den Felsabsprung von zwei Seiten. Am anderen Ende trafen sie wieder zusammen, beide immer noch ratlos.

»Was ist das nur für eine seltsame Erscheinung, die auftaucht und verschwindet wie ein Schatten? Was mag dahinter stecken?«, sinnierte der junge Edelmann.

Der Kapitän hob leicht die Schultern, dann weckte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Er trat ein paar Schritte nach vorne und zog einen kleinen Gegenstand aus einer Felsspalte. Goldene Reflexe des Sonnenlichts blendeten Francesco für einen Moment. Gleich darauf legte Carli ihm etwas in die Hand.

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»Madonna!« Der Entdecker konnte es nicht glauben, doch er wusste sogleich, was dies zu bedeuten hatte. Noch ehe der Seemann ihm eine Frage stellen konnte, lief er mit schnellen Schritten zu dem Platz, wo Carli das goldene Medaillon mit dem Abbild der Mutter Gottes gefunden hatte und schaute sich genau um. Es dauerte nur kurz, dann rief er nach seinem Begleiter. Paolo Carli eilte herbei und erbleichte, als er sah, was sein Brotherr gefunden hatte: Francesco kniete neben einem jungen Mädchen, das offensichtlich völlig erschöpft und am En­de seiner Kräfte an diesem Platz zusammengebrochen war: Mary Le­wis.

»Aber wie kommt sie denn hierher? Wie ist das möglich?«, wun­derte der Seemann sich und reichte dem anderen seine Feldflasche. Behutsam bettete dieser Marys Kopf in seinen Schoß und begann, ihr schluckweise Wasser einzuflößen. Es dauerte eine Weile, bis sie die Flüssigkeit aufnahm. Dann musste sie husten - und öffnete endlich die Augen. Diese glänzten wie im Fieber, doch sie erkannten den jungen Italiener sofort und ein mattes Lächeln erhellte die schönen Züge der zu Tode Erschöpften.

»Mary, was ist geschehen? Was tust du hier?«, fragte er behut­sam, aber sie konnte ihm keine Antwort geben.

»Sie braucht Ruhe. Es muss etwas geschehen sein, sicher hat sie Schlimmes erlebt. Wieso hätte sie uns sonst folgen sollen?«

Francesco nahm das schöne Mädchen auf die Arme, um es zum Lager zu tragen. Dabei machte er eine sehr nachdenkliche Miene.

»Sie hat sich die ganze Zeit dagegen gesträubt, bei den Siedlern zu bleiben. Ich kann nur hoffen, dass sie uns nicht aus reiner Un­vernunft gefolgt ist, denn das würde an sträflichen Leichtsinn gren­zen.«

»Ich kann's mir so nicht denken«, hielt Carli dagegen. »Ihr habt sie als klugen Menschen kennen gelernt. So töricht wäre sie nicht, es sei denn, bei den Siedlern ist ihr etwas zugestoßen, das sie vertrieb und zu uns führte...«

»Doch was sollte das sein?« Der junge Italiener schüttelte nach­drücklich den Kopf. »Das klingt unwahrscheinlich. Wir sollten ab­warten, was Mary selbst zu berichten hat. Nur sie allein kennt die

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Wahrheit. Und wir werden uns gedulden müssen, bis sie sie uns sagen kann.«

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Pip van Straaten schaute sich zufrieden um. Das letzte Blockhaus war in Brand gesteckt und sehr bald würde von der kleinen Siedlung nur noch Asche übrig sein. Die Einwohner waren geflohen oder tot. Er hat­te blutige Rache genommen für die Schmach, die ihm widerfahren war. So wie den Einwohnern von Providence sollte es jedem gehen, der sich auf die Seite von Francesco di Montoglia schlug, dem ver­dammten Mörder seines Bruders Percy. Der Pirat wollte allen zeigen, dass mit ihm nicht zu spaßen war. Stets hatte er im Schatten seines älteren Bruders gestanden, war sich klein und unbedeutend vorge­kommen. Doch das sollte sich nun ändern! Nach Percys Tod war er der Mann an der Spitze der Freibeuter. Auch wenn ihm nur noch ein klei­nes Häuflein Männer folgte; er würde seinen Triumph auskosten. Und das ganz besonders, wenn er Francesco di Montoglia die Kehle auf­schlitzte...

»Was machen wir jetzt, Pip?«, fragte Joker in seine Gedanken hinein. »Das Dorf ist niedergebrannt, wir haben alles zu Fressen und zu Saufen geklaut. Nehmen wir uns das Schiff?« Er deutete auf die ›Carte d'Oro‹, die in tieferem Wasser vor der Küste ankerte. »Wir könnten alle Bewohner des Küstenstreifens ausrauben und dann...«

»Halt's Maul!«, brauste der Holländer auf. »Seit wann machst du hier Pläne? Willst wohl an Percys Stelle treten, was?« Er starrte sein Gegenüber hämisch an. »Aber daran solltest du nicht mal im Traum denken...«

»Tu ich ja auch nicht«, versicherte der Alte unterwürfig. »Aber die anderen wollen wissen, was los ist, was wir jetzt unternehmen.«

»Wir bleiben zunächst an Land. Treibt alle Pferde zusammen und sattelt sie. Wir werden der Expedition folgen«, gab Pip Anweisung. Joker reagierte ungläubig. »Das ist nicht dein Ernst!«

»Soll ich dir erst die Fresse polieren, bevor du tust, was ich sa­ge?«, fuhr Pip daraufhin jähzornig auf. »Du bist wirklich so dumm wie

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Bohnenstroh. Ein Wunder ist's, dass dich nicht die erste Welle von Bord gespült hat, du dürrer Klapperkasten...«

»Was willst du denn von dem Italiener? Weißt du nicht, dass er eine Menge Waffen bei sich trägt? Die sind uns über. Und ich glaube nicht, dass die Männer deinen Rachefeldzug mitmachen. Nach der Ge­fangenschaft wollen die es sich gut gehen lassen!«

»Ach ja?« Pip musterte sein Gegenüber niederträchtig. Joker be­merkte nicht, dass der andere ein Messer gezogen hatte. Und er dach­te auch an keine Gefahr, schließlich waren sie Kumpane, saßen in ei­nem Boot. Dass er mit seinen Zweifeln an Pips Entscheidung gerade sein Todesurteil unterzeichnet hatte, wäre ihm nie und nimmer in den Sinn gekommen. »Dann will ich dir mal was sagen, du Oberschlauer: Die Männer haben zu tun, was ich ihnen sage. Und wenn sie ihr Maul aufreißen, weil ihnen was nicht passt, dann wird es ihnen sehr schnell so ergehen wie dir jetzt.«

»Was...« Der Dürre kam nicht dazu, noch etwas zu sagen, denn im nächsten Moment hatte der Bruder des Piratenanführers ihm das Messer ins Herz gerammt. Joker starrte Pip reglos aus weit geöffneten Augen an, dann röchelte er: »Das wird dir nichts nützen, die Männer hören nicht auf dich...«

Der Holländer zog sein Messer zurück und versetzte dem Ster­benden einen Stoß, dass er nach hinten kippte und auf dem Rücken liegen blieb. Seine gebrochenen Augen schienen den Mörder noch im­mer anklagend anzusehen. Pip verzog verächtlich den Mund und wandte sich den anderen zu, die den Streit und sein grausiges Ende ohne sichtliche Regung mit angesehen hatten.

Er hielt das blutige Messer hoch wie eine stumme Warnung und erklärte kalt: »Wenn einer auch Einwände hat, so wie der gute, alte Joker, dann kann er sie jetzt vorbringen. Ihr seht, ich habe immer ein offenes Ohr für jeden...« Er starrte in ausdruckslose Gesichter, die meisten schlugen die Augen vor ihm nieder, zum Zeichen ihrer Demut. Pip triumphierte. »Also schön, dann brechen wir jetzt auf! Wir werden Montoglia und seinen Zirkus finden und alle töten, das sind wir Percy schuldig. Und danach nehmen wir uns das Schiff des Italieners und rauben jeden aus, der in unsere Nähe kommt.« Er lachte irre. »Der

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Name van Straaten wird noch für eine lange Zeit Angst und Schrecken auf den sieben Weltmeeren verbreiten!«

*

Die Rast am Fuße der Apalachen dauerte länger, als ursprünglich ge­plant. Obwohl Francesco sich durchaus des drängenden Zeitplans be­wusst war, der seine Reise vom ersten Moment an eingeschnürt hatte, wollte er doch nicht eher wieder aufbrechen, bis Mary sich ganz von dem Schrecken des Erlebten erholt hatte.

Als das schöne Mädchen so unvermutet aufgetaucht war, hatte der junge Edelmann darauf verzichtet, Fragen an Mary zu stellen. Er hörte auf Carli, der ihm riet, der Erschöpften zunächst einmal Ruhe zu gönnen. Am nächsten Morgen aber war Mary wieder einigermaßen bei Kräften. Und sie schien sich zudem danach zu sehnen, über ihre Erleb­nisse zu sprechen.

»Ich habe geglaubt, ich würde es nicht schaffen«, gestand sie Francesco, als dieser sich zu ihr gesetzt und ihre schmalen Hände in seine genommen hatte. »Oh, Francesco, du kannst dir gar nicht vor­stellen, wie schrecklich es war... Tagelang war ich ganz allein. Ich irrte durch den Wald, der kein Ende nehmen wollte, ich hörte seltsame Ge­räusche, fremde Laute und fürchtete mich beinahe zu Tode, besonders in der Nacht...«

»Aber warum bist du nicht bei der Witwe Salinger geblieben?« Er schaute sie streng an. »Du hattest mir versprochen, dort auf meine Rückkehr zu warten. Es war sträflich leichtsinnig von dir, einfach auf eigene Faust loszuziehen. Hattest du denn vergessen, was Fred Hunter uns über die Indianer erzählt hat, die auch hier umherziehen? Wie leicht hätte dir etwas zustoßen können...«

»Ich musste fliehen, es ging um mein Leben!«, erwiderte sie ent­schieden. Und dann berichtete sie stockend von den Piraten, die sich aus ihrem Kerker befreit und sofort jeden getötet hatten, der sich ih­nen in den Weg stellte.

»Es war so furchtbar!« Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich. »Die Hunters hingemetzelt, diese guten Menschen,

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die niemandem etwas Arges getan haben. Und dann die arme Witwe, weiß Gott, was diese Kerle ihr angetan haben... Ich mag gar nicht dar­über nachdenken. Aber der Gedanke lässt mich nicht los, dass ich ihr vielleicht hätte helfen können, wäre ich nicht so schnell davon ge­rannt...«

»Mein armer Engel«, nannte der junge Edelmann seine Liebste voller innigem Mitgefühl. »Was hast du gelitten. Hätte ich auch nur den Hauch einer Ahnung gehabt, in welcher Gefahr ich dich zurückließ, die teuflischen Kerle wären am ersten Baum aufgeknüpft worden!«

»Nein, Francesco, sprich nicht so. Du bist eine edle, eine gute Seele. Solche Gräueltaten sind dir fremd. Es war recht, dass du die Verbrecher ihrer Verurteilung hast zuführen wollen. Niemand konnte ahnen, was geschehen würde...«

»Deine Milde tut meinem Herzen wohl«, versicherte er bedrückt. »Doch sie ändert nichts an den Tatsachen. Du wirst uns begleiten müssen. Was ich unbedingt um deiner Sicherheit willen zu verhindern suchte, ist nun doch eingetroffen.«

Sie senkte den Blick. »Bitte, sei mir nicht gram...« »Das könnte ich gar nicht«, bekannte er da mit einem warmen

Lächeln. »Und tief im Herzen freue ich mich auch über deine Gesell­schaft. Doch ob ich dir für die gesamte Reise werde Schutz bieten können, das weiß ich nicht. Und dieser Umstand bekümmert mich sehr.«

»Ich passe schon auf mich selbst auf«, behauptete sie fast trotzig. »Schließlich habe ich mich auch ohne Hilfe zu dir durchgeschlagen. Und ich werde für alle kochen, damit ihr etwas Ordentliches in den Magen bekommt. Was dein Smutje zustande bringt, ist schlicht unge­nießbar.«

Francesco lachte und erhob sich. Er zog Mary mit sich auf die Fü­ße, küsste sie zart und stellte fest: »Eines ist wohl nicht zu bestreiten: In deiner Gesellschaft werden wir uns gewiss nicht langweilen...«

Wenig später brach die Expedition wieder auf. Der Tag war noch jung, die Sonne brannte aber bereits mit unbarmherziger Glut. Mit jeder Stunde, die verging, wurde der Weg für Mensch und Tier ein wenig beschwerlicher. Schmale Pfade, die sonst nur von Geißen und

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Steinböcken benutzt wurden, führten zu einem natürlichen Pass auf der Höhe des Adirondacks. Über sechzehnhundert Meter hoch lag der breite Gipfel des Berges, der sich zur Passage nach Westen gut eigne­te. Doch hier oben herrschte das ganze Jahr über Winter. Und als der junge Entdecker mit seinen Begleitern durch meterhohen Schnee mar­schieren musste, kamen sie noch langsamer voran als zuvor in der Sonnenglut. Francesco trieb seine Mannschaft ungewohnt scharf an, bis schließlich das erste Murren laut wurde. Carli riet ihm, das Tempo zu drosseln, doch davon wollte di Montoglia nichts wissen.

»Wir müssen heute noch den Pass hinter uns lassen. Hier oben können wir nicht übernachten, denn die Männer sind nicht an die Kälte gewöhnt und ich möchte nicht, dass einer erfriert.«

Der Kapitän konnte dem nur zustimmen, doch er spürte auch, dass die Männer an den Rand ihrer Belastbarkeit getrieben wurden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Erste ausstieg. Allerdings sollte es soweit nicht kommen. Denn als die Sonne im Westen hinter den schroffen Karen versank, hatten sie den Pass hinter sich gelassen und waren bereits wieder ein Stück abgestiegen.

Auf einer Höhe, wo es zwar in der Nacht noch empfindlich kalt wurde, aber kein Schnee mehr lag, ließ der junge Italiener schließlich lagern.

Mary bereitete einen schmackhaften Eintopf aus getrockneten Bohnen und Dörrfleisch zu, der den Männern außerordentlich munde­te. Als sie dem Smutje half, das Kochgeschirr zu reinigen, vernahm sie plötzlich ein seltsames hohes Sirren. Der Schiffskoch hob lauschend den Kopf. Dann packte er seine Töpfe und murmelte: »Zurück ins La­ger!« Sie waren an eine nahe Quelle gegangen, nun empfand Mary die Einsamkeit dort plötzlich als bedrohlich. Rasch folgte sie dem Koch und atmete erst auf, als sie den Widerschein des Lagerfeuers sah. Fran­cesco stand mit Carli zusammen und debattierte über den besten Ab­stieg ins Tal. Als Mary zu ihm trat, fragte er besorgt: »Was ist dir? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

»Ich weiß nicht recht. Gesehen habe ich gar nichts. Aber da war ein komisches Geräusch an der Quelle. Und der Smutje hatte es plötz­lich sehr eilig, wieder hierher zu kommen.«

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Francesco machte Carli ein Zeichen, der sich daraufhin ausgiebig mit dem Koch unterhielt. Die beiden stammten aus dem gleichen Dorf in Kompanien, weshalb der Smutje unbedingtes Vertrauen zu dem Kapitän hatte. Als Carli zu Francesco und Mary zurückkehrte, machte er eine bedenkliche Miene.

»Silvio meint, dass Indianer in der Nähe sind. Er hat etwas gehört, das er von früher kennt. Es ist eine Art Sirrton, der durch das Blasen auf bestimmten Grashalmen entsteht.«

»Sie verständigen sich dadurch«, murmelte der junge Edelmann. »Wir sollten in der Nacht Wachen aufstellen. Ich möchte keine böse Überraschung erleben...«

Mary schauderte bei dem Gedanken, dass auch ihre Flucht aus der Siedlung bis zur Expedition vielleicht nicht unbeobachtet geblieben war. Und die Vorstellung, dass sich ganz in der Nähe fremde Wilde aufhielten, versetzte sie in eine nie gekannte Furcht. Sie wagte es in dieser Nacht nicht, sich niederzulegen. Stattdessen blieb sie in Fran­cescos Nähe, der noch lange wachte. Als sie endlich doch einschlief, träumte sie wirr und schreckte noch vor Sonnenaufgang aus einem Schlaf, der keine Erholung geboten hatte. Bestürzt musste sie feststel­len, dass der junge Italiener sich nicht mehr in ihrer Nähe aufhielt. Sie setzte sich auf, ließ den Blick schweifen. Im Zwielicht des kommenden Tages erkannte sie die Männer, die unter ihren Decken schlummerten. Doch Francesco war nicht unter ihnen. Mary stand auf, klopfte sich den Staub des Bodens aus ihren Kleidern und ging ein paar Schritte. Der Lagerplatz öffnete sich nach vorne in die weite Ebene, die unter­halb von ihnen lag. Der Abstieg, der an diesem Tag noch zu bewälti­gen war, würde von einem langen Marsch durch die Sonnenglut abge­löst. Unvermittelt wünschte das junge Mädchen sich beinahe schmerz­lich intensiv zurück in sein Heimatland. Während sie hier, in der feuch­ten Kälte des Morgens stand, das Heulen eines Kojoten wahrnahm und sich unendlich einsam fühlte, fragte Mary sich, was wohl hinter dieser Ebene auf sie wartete. Noch hatte die Expedition erst einen Bruchteil des Wegs zurückgelegt, der sie zu reichen Bodenschätzen, zu Gold und Silber führen sollte. Bislang hatte Mary nicht weiter darüber nach­gedacht, da war sie einfach nur froh gewesen, in der Nähe des Man­

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nes sein zu können, dem ihr junges Herz gehörte. Doch nun, so ganz allein, in der Stille des Morgens, fragte sie sich zum ersten Mal, ob all dies hier nicht falsch, die Kunde vom Reichtum im Westen nicht ein bloßes Hirngespinst war. Francesco war und blieb ein Abenteurer, ein Entdecker, der sich auch ohne Zögern auf Risiken einließ. Doch würde ihn dieses größte aller Risiken denn tatsächlich zum gewünschten Er­folg führen oder vielleicht nur in den Abgrund...

Als sich Mary schnelle Schritte näherten, fuhr sie zusammen und wollte im ersten Impuls zum Lager zurückkehren. Doch gleich darauf erkannte sie den Mann, mit dem ihre Gedanken sich die ganze Zeit beschäftigt hatten. Und sie gewahrte etwas, das ihr den heißen Schreck durch die Glieder fahren ließ: Der junge Italiener war blass, er wirkte wie ein Mensch, der gerade eine schreckliche Entdeckung ge­macht hatte.

Noch ehe Mary ihn etwas fragen konnte, packte er sie am Arm und bestimmte: »Zurück ins Lager! Wir brechen sofort auf.«

»Aber was...« »Bitte, stell jetzt keine Fragen, folge mir einfach!« Sie tat es, sah, wie di Montoglia den Kapitän weckte, ein paar

knappe Worte mit ihm wechselte und schließlich nach und nach Leben in die ganze Mannschaft kam. Es dauerte kaum eine Viertelstunde, dann setzte sich die Expedition in Bewegung. Einige der Männer murr­ten, denn sie hatten noch kein Frühstück bekommen. Doch die Stim­mung war so angespannt, dass die meisten nicht ans Essen denken konnten.

Als der Tross sich an den Abstieg machte, ging gerade die Sonne majestätisch hinter dem flachen Horizont auf. Ihre goldenen Strahlen berührten den schroffen Fels, schienen die karge Vegetation aus dem Schlaf zu wecken und ergossen sich auch auf die lange Reihe von Rei­tern, die sich wie eine gestrichelte Linie am Horizont abmalte. Mary starrte eine ganze Weile ungläubig auf die Silhouetten, die ihr beinahe wie das Fanal kommenden Unheils erschienen. Sie wollte Francesco eine Frage stellen, doch sein abweisender Gesichtsausdruck verbot es ihr. Es war, als wolle er totschweigen, was doch zu offensichtlich auf sie wartete...

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*

Pip van Straaten schaute sich unsicher um. Seit Tagen durchquerten sie nun diesen verdammten Wald, ohne dass sie auf eine Lichtung oder eine Anhöhe gestoßen wären, die ihnen bei der Orientierung hät­te helfen können. Die Piraten schienen allmählich daran zu zweifeln, dass ihr Anführer genau wusste, was er tat. Pip musste einsehen, dass er nicht das Charisma seines Bruders hatte. Bei Percy hatte es nie Mur­ren oder Zweifel gegeben. Er hatte seine Mannschaft mit Blut und Schweiß zusammengehalten, selbst in ausweglos scheinenden Situati­onen waren sie ihm blind gefolgt. Seinem Bruder wollte das nicht ge­lingen. Doch er war nicht gewillt, einen Fehler einzugestehen oder gar an Umkehr zu denken. Ein reiches, unentdecktes Land lag vor ihnen, ein Land, das man plündern und ausrauben konnte. Und der Pirat war fest entschlossen, sich diese Chance nicht entgehen zu lassen. Sie mussten jetzt nur durchhalten, dann würden sie...

»He, da vorne wird es hell!« Einer der Männer deutete auf eine Stelle, wo der Wald sich tatsächlich zu lichten schien. Sofort kam wie­der Leben in die müde Truppe. Pip hatte Mühe, sich im Vordergrund zu halten, denn jeder wollte als Erster aus dem Dämmerlicht des Fors­tes heraus, das ihnen auf Dauer immer mehr zugesetzt hatte. Der An­führer mahnte: »Vorsicht! Ich gehe zuerst.« Er ließ keine Gelegenheit aus, auf seinen Mut hinzuweisen und sich vor seinen Gefolgsleuten als Held aufzuspielen.

»He, Pip, siehst du schon was?«, rief einer der hinteren Reiter. Der Anführer ging nicht auf die Frage ein. Sein Pferd war aus dem Schatten der Bäume getreten und für ein paar Augenblicke sah er sich vom hellen Sonnenlicht geblendet. Als seine Augen sich dann an die Veränderung gewöhnt hatten, grinste er breit und zufrieden. Vor ihnen lag eine weite Ebene, die im Verlauf in ein karstiges Gebirge überging. Es waren die Ausläufer der Apalachen, die Francescos Expedition am Vortag überquert hatte.

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»Wir sind auf dem richtigen Weg«, behauptete er betont selbstsi­cher. »In wenigen Tagen werden wir den Italiener eingeholt haben. Und dann kann ihm nicht mal mehr Gott helfen...«

»Du nimmst den Mund ziemlich voll«, kam es von hinten. Ton-Li, ein baumlanger Chinese mit Augenklappe hatte sie ausgesprochen. Pip spürte schon seit einer Weile, dass der Kerl es mit ihm aufnehmen wollte. Er schien sich selbst als besseren Anführer einzustufen. Doch der Holländer war nicht gewillt, sich seine Stellung kampflos wegneh­men zu lassen. Der Chinese schloss zu ihm auf, stützte sich auf den Sattelknauf und betrachtete sich die Landschaft nachdenklich. Er war der engste Vertraute Percys gewesen und es schien Pip, dass er das Schlitzauge besser schon während ihrer Gefangenschaft unschädlich gemacht hätte. Nun konnte er ihm gefährlich werden und das wusste er genau.

»Hast du ein Problem? Dann sprich es aus«, forderte Pip lauernd. »Aber vergiss nicht, was dem guten, alten Joker zugestoßen ist. Er war auch unzufrieden...«

Ton-Li lachte und entblößte dabei zwei Reihen starker, weißer Zähne. Sein gesundes Auge richtete sich mit einem Ausdruck der Ver­schlagenheit auf Pip, während er scheinbar gelassen erwiderte: »Ich bin weder alt noch dumm. Mich kannst du nicht abstechen wie eine Sau. Deshalb tätest du besser daran, uns deine Pläne ein bisschen genauer zu erklären. Ansonsten könnte es sein, dass ich die Männer nehme und zurück zur Küste reite. Wir sind Seeleute und keiner außer dir sieht ein, was wir hier an Land zu suchen haben.«

Ein zustimmendes Murren erklang im Hintergrund, das aber sofort verstummte, als der Holländer einen scharfen Blick auf die Männer richtete. Dann wandte er sich wieder dem Chinesen zu.

»Du nimmst dein Maul ziemlich voll. Eigentlich müsste ich es dir stopfen, aber ich bin ebenfalls nicht dumm. Was für einen Sinn hätte es, wenn wir uns gegenseitig abschlachten? Dieser Italiener würde ungeschoren davonkommen. Und das will doch wohl keiner von euch. Oder habt ihr Percy bereits vergessen?« Er starrte sein Gegenüber zornig an. »Du hast dich seinen Freund genannt, Ton-Li. Und jetzt

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willst du sein Blut, das zum Himmel nach Rache schreit, ungesühnt lassen? So einen wollt ihr zum Anführer?«

Betretenes Schweigen folgte, der Chinese musste einsehen, dass er sich zu weit vorgewagt hatte. Er beschloss, einzulenken und auf seine Chance zu warten. Gewiss würde sie kommen...

»Ich bin nicht dein Feind, Pip«, behauptete er. »Und ich will eben­so Rache für Perys Tod nehmen wie du. Aber wir brauchen einen Plan, um die Kerle besiegen zu können. Sie haben uns schon einmal gefan­gen genommen...«

»Ich habe einen Plan«, behauptete der Holländer arrogant. »Und wenn es soweit ist, werdet ihr alles erfahren. Also los, reiten wir wei­ter. Sonst werden wir den verdammten Montoglia niemals einholen.« Ohne sich weiter um den Chinesen zu kümmern, übernahm Pip wieder die Führung, die Piraten folgten ihm. In der breiten Brust des Asiaten aber rumorte es. Er würde die Niederlage, die er gegen den Holländer erlitten hatte, nicht so schnell vergessen. Schon sehr bald, wenn der rechte Zeitpunkt gekommen war, würde er es Pip heimzahlen, sich rächen. Und dann konnte er, der sich stets als der rechtmäßige Nach­folger Percy van Straatens angesehen hatte, endlich den Platz ein­nehmen, der ihm seiner Meinung nach zustand...

*

»Warum haben sie uns nicht angegriffen?« Mary warf dem Koch einen fragenden Blick zu. »Sie waren doch die ganze Zeit da...«

»Die Indianer sind schlau. Sie belauern ihre Beute erst mal eine ganze Weile, bis sie blitzschnell zuschlagen. Gnadenlos wie ein Raub­tier, das nur eines will: Töten.«

Das schöne Mädchen erschrak über Silvios harte Worte. »Aber sie sind doch auch Menschen. Vielleicht sind sie nur neugierig auf uns«, warf sie ein, während sie die gespülten Blechteller im Küchenwagen verstaute. Sie hatten mitten in der weiten Ebene, westlich des Hudson-River, ihr Nachtlager aufgeschlagen. Nach einem kräftezehrenden Marsch durch die Sonnenglut waren alle erschöpft, die meisten Männer hatten sich schon zur Ruhe begeben. Weit im Westen glänzte noch ein

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schmales goldenes Lichtband am flachen Horizont, während über ih­nen bereits die ersten Sterne zu flimmern begannen. Ein leiser Wind brachte angenehme Kühlung, irgendwo heulte ein Präriewolf.

»Mag sein, sie sind Gottes Geschöpfe, wie der Patre es am Sonn­tag im Gottesdienst erzählt. Aber ich halte sie für Bestien, die uns tö­ten wollen.«

»Warum bist du dann mitgekommen und nicht an Bord ge­blieben?«

»Ganz einfach: Weil ein Smutje seine Mannschaft nicht im Stich lässt. Und jetzt solltest du aufhören, viele Fragen zu stellen und dich auch hinlegen. Die Sonne geht in ein paar Stunden wieder auf, dann wirst du all deine Kräfte brauchen.« Er steckte sich eine seiner kurzen Zigarren an, die höllisch stanken. Mary vermutete, dass er sie aus Un­kraut gerollt hatte, doch Silvio schien sie zu genießen.

Einen Moment blieb sie noch und fragte scheu: »Woher weißt du überhaupt etwas von den Indianern? Warst du schon einmal hier in diesem Land?«

»Ich nicht, aber mein Bruder. Er ist Kapitän auf einem Handels­schiff. In seinen jungen Jahren ging er auf Abenteuer aus, ebenso wie der Conte. Er bereiste die ganze Welt und stieß auch in unbekannte Regionen vor. Auf einem Seelenverkäufer landete er an dieser Küste, aber sehr viel weiter südlich. Er zog einige Monate durchs Land, aus reiner Neugierde. Das hat ihn die rechte Hand und sein linkes Auge gekostet...«

Mary erschrak, zugleich fragte sie sich, ob Silvio ihr nicht bloß ei­nen Bären aufband und Seemannsgarn spann. Sie hoffte es fast und bereute schon ihre Frage.

Der Schiffskoch fuhr fort zu erzählen: »Er ritt durch eine weite E­bene, fast wie diese hier. Dort stellten sie ihn und nahmen ihn mit in ihr Lager. Sie nennen die Zelte, in denen sie hausen, Tipi. Guiseppe, mein Bruder, ist klug und gewitzt. Er hatte sich rasch einige Brocken ihrer Sprache angeeignet und ging darauf aus, mit ihnen zu handeln. Zunächst ging es auch gut. Sie gaben ihm ein eigenes Tipi und eine Frau, Squaw nennen sie die. Aber dann fühlte sich einer der Wilden bei einem Handel betrogen. Er wurde böse, lauerte meinem Bruder auf

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und versuchte, ihn zu töten. Guiseppe konnte entkommen, doch er war verstümmelt, denn der Indianer hatte eine verdammt schnelle Messerhand. Seither hat mein Bruder keinen Fuß mehr auf diesen Kon­tinent gesetzt. Er sagt, den Indianern ist nicht zu trauen. Und ich glaube ihm.«

»Du denkst, sie werden uns auch gefangen nehmen?«, fragte Ma­ry beklommen. »Aber dann musst du mit dem Conte sprechen, ihm das sagen. Er kann doch nicht wollen...«

Silvio lachte und nahm einen tiefen Zug aus seinem stinkenden Stumpen. »Er weiß das alles längst. Deshalb hat er dich ja auch an der Küste zurückgelassen, mein Kind. Du hättest besser daran getan, uns nicht zu folgen. Wenn die Indianer kommen, gibt es kein Entrinnen.«

»Ich werde heut Nacht kein Auge zutun«, murmelte Mary furcht­sam. »Ich werde wachen und...«

Der Smutje winkte ab. »In der Nacht bist du sicher. Sie kämpfen in der Dunkelheit nicht, das verbietet ihnen ihr Glaube. Aber morgen früh...«

Das schöne Mädchen fand in dieser Nacht keine Ruhe. Ziellos marschierte Mary am Rand des Lagers entlang, lauschte auf den Wind und meinte, darin ein leises Sirren zu hören. Furcht erfüllte ihr Herz und sie wünschte sich mit ganzer Kraft, niemals in dieses fremde Land voller Schrecken gekommen zu sein. Wenn Silvio ihr die Wahrheit ge­sägt hatte, dann konnten sie alle schon in kurzer Zeit ihr Leben verlie­ren...

Francesco hatte wohl bemerkt, was in seiner Liebsten vorging. Er hätte Mary gerne getröstet, doch er wollte sie nicht belügen. Und nun war genau jene Situation eingetreten, die er unbedingt hatte verhin­dern wollen.

»Werden sie Kundschafter schicken?«, fragte Carli in seine trüben Gedanken hinein. »Oder greifen sie uns einfach an?«

Der junge Conte lächelte schmal. »Schwer zu sagen. Es sind Krie­ger. Und ihrem Auftreten nach zu urteilen, werden sie sich nicht damit zufrieden geben, uns zu beobachten.« Er seufzte leise. »Ich weiß, es ist schwer, aber wir sollten nur abwarten.«

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»Ich wünschte, wir hätten die Kanone mitgenommen«, knirschte der Kapitän. »Was gegen van Straaten gut war, hätte uns auch hier schützen können.«

Dieser Meinung war Francesco allerdings nicht. »Wir befinden uns nicht im Krieg, das sollten Sie bedenken. Und wir durchqueren ein Land, das ihnen gehört, sind nur Gäste.«

»Ich bitte Euch! Diese Wilden werden uns gewiss keine Gast­freundschaft entgegenbringen.«

»Teilen Sie doppelte Wachen ein, Carli«, wies der junge Edelmann ihn sachlich an. »Vor allem im Morgengrauen müssen wir sehr vorsich­tig sein.«

»Was denkt Ihr, wie lange werden sie noch zögern?« »Nun, soweit ich informiert bin, haben diese Stämme Gebiete mit

gewissen Grenzen. Wenn sie uns angreifen, dann wohl, bevor wir die­se für uns unsichtbaren Grenzen überschreiten...«

*

Mary wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie überhaupt in Morpheus Arme hinüber ge­glitten war. Doch die Erschöpfung schien ihren Tribut gefordert zu haben. Als sie nun die Augen aufschlug, meinte sie jedoch, noch zu träumen. Und es war kein angenehmer Traum.

Über dem Lager lag das wattige Grau eines sehr frühen Morgens. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, die Luft schmeckte feucht und kühl. Überall huschten Schatten herum. Zuerst glaubte sie, sich das nur einzubilden. Aber dann sah sie den Koch. Er lag kaum zwei Meter von ihr entfernt, mit durchschnittener Kehle... Der Anblick war grau­enhaft und doch konnte Mary die Augen nicht davon wenden. Sie spürte, wie eine nie gekannte Panik von ihr Besitz ergriff und sich wie ein harter, grober Klumpen in ihrem Magen zusammenballte. Sie mein­te, Kupfer zu schmecken und spürte, wie ihr Herz zu rasen begann. Schweiß brach ihr aus allen Poren, obwohl der Morgen frisch war. Un­aufhaltsam schien sich ein panischer Schrei den Weg durch ihre Kehle nach oben zu bahnen. Doch sie blieb stumm, unfähig, sich zu rühren.

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Unvermittelt fühlte Mary sich von groben Händen gepackt. Die Be­rührung war wie ein Stromschlag, sie öffnete den Mund und schrie. Doch der Laut, der sich ihr entrang, wurde durch den Griff einer star­ken Hand erstickt. Sie spürte, wie sie nach hinten gezogen wurde, roch Leder, vermischt mit einem seltsamen, animalischen Aroma, das ent­fernt an Moschus erinnerte. Sie schloss die Augen und wartete darauf, die Klinge an ihrem Hals zu spüren. Doch nichts dergleichen geschah. Der Fremde, der sie gepackt hatte, schleifte sie ein Stück weit fort. Sie sah, dass einige der Seeleute, mit Lederbändern an den Händen zu­sammengebunden, wie eine groteske Karawane hinter einem Reiter her torkelten. Francesco konnte sie nirgends ausmachen. Der Fremde warf sie über ein Pferd, das keinen Sattel trug. Es war klein und Mary erkannte im Zwielicht der langsam steigenden Sonne, dass es mit grel­len Farben auf der Schulter und an der Seite bemalt war. Kurz wähnte sie sich frei und wollte weglaufen. Doch ihr Entführer dachte nicht daran, dies zuzulassen. Er packte ihre Hände und band sie sehr ge­schickt und in Windeseile mit einem Lederriemen zusammen. Dabei konnte das schöne Mädchen einen flüchtigen Blick auf den Fremden werfen. Er war nicht sehr groß, seine Haut wies einen dunklen Ton auf, der im goldenen Licht der noch tief stehenden Sonne wie Bronze wirkte. Sein Haar war tiefschwarz und glänzte bläulich. Eine einzelne Adlerfeder hing darin wie vergessen. Sein schmales Gesicht mit den scharf geschnittenen Konturen wirkte seltsam fremdartig. Mary be­merkte, dass der Indianer barfuss war, nur eine einfache, aus grobem Leder geschnittene Hose trug, die mit Bändern recht kunstvoll genäht war. Auf dem Brustkorb lag eine Art Amulett aus Tierknochen, Leder und Federn. Über beiden Wangen prangte ein grellroter Strich von Farbe, der sich über Kinn und Mund verbreitete. Was das wohl zu be­deuten hatte?

Mary hatte weder Zeit noch Nerv, sich darüber Gedanken zu ma­chen. Der Mann warf ihr einen kurzen Blick aus tiefschwarzen Augen zu und sagte etwas, das sie nicht verstehen konnte. Dann schwang er sich hinter ihr auf das Pferd und trieb es an. Er stieß einen grellen Pfiff aus, dem noch andere folgten. Das schöne Mädchen hatte Mühe, sich auf dem Pferd zu halten, denn nun ging es im wilden Galopp davon.

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Mary musste an das denken, was Silvio ihr am Vorabend erzählt hatte. Für eine Weile war ihre Furcht ungläubigem Staunen gewichen. Die ganze Situation war so unwirklich, fast wie ein Traum. Der Fremde hielt sie fest, bald hatte sie sich an die Bewegung des Pferdes gewöhnt und es schien ihr beinahe, als geschehe all das gar nicht ihr, sondern jemand anders. Sie war nur der Zuschauer, der es staunend betrachte­te. Es ging im schnellen Tempo über die Ebene, noch weitere Reiter waren um sie, doch alle saßen allein auf ihren Pferden. Ein schreckli­cher Gedanke beschlich Mary: War sie die einzige Überlebende dieses Überfalls? Da fielen ihr aber die Seeleute ein, die gefesselt hinter ei­nem Reiter hatten herlaufen müssen. Nein, sie war gewiss nicht allein, das redete sie sich so lange ein, bis sie es fest glaubte. Ein schwacher Trost lag in diesem Gedanken. Francesco konnte nichts zugestoßen sein, ihr Herz glaubte zu wissen, dass er lebte. Und er hatte ihr einmal anvertraut, dass er die Sprache der Einheimischen leidlich beherrschte. Ganz bestimmt hatte er mit ihnen gesprochen, sie überzeugt, dass man in friedlicher Absicht in ihr Land gekommen war. Doch bei diesem Gedanken sah Mary wieder das Bild des toten Smutjes vor ihrem geis­tigen Auge. Machte sie sich vielleicht nur etwas vor, war dies, wie Sil­vio noch am Vorabend düster prophezeit hatte, das Ende...

Das schöne Mädchen spürte, wie Angst und Verzweiflung zurück­kehrten und Tränen mit sich brachten. Sie schluchzte leise, versuchte mit aller Gewalt, nicht völlig die Fassung zu verlieren. Doch das war angesichts der unheimlichen Lage, in der Mary sich befand, alles ande­re als einfach.

Der Ritt dauerte beinahe zwei Stunden. Endlich, nach einer Ewig­keit, wie es dem jungen Mädchen schien, tauchte hinter einem lichten Hain aus schlanken Bäumen das Lager der Indianer auf. Mary starrte mit ängstlicher Faszination auf die hohen Zelte, die mit hellen Häuten belegt und kunstvoll bemalt waren. Frauen und Kinder saßen vor den Tipis, gingen ihren alltäglichen Beschäftigungen nach und beäugten die Fremden neugierig. Ein kleines Mädchen von vielleicht vier Jahren deutete auf Marys goldenes Haar und rief etwas, das diese nicht ver­stehen konnte. Ihr Entführer brachte sein Pferd mitten im Lager zum Stehen und sprang ab. Er griff Mary, zog sie auf die Füße und brachte

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sie zu einem Zelt, vor dem eine ältere Frau stand. Sie betrachtete das Mädchen ebenso fasziniert wie das Kind eben. Es schien, als hätten diese Menschen noch nie blondes Haar gesehen. Der Reiter sagte et­was zu der Frau, die daraufhin lachte und die Zeltplane zurückschlug. Sie deutete nach innen, Mary zögerte, dann folgte sie der Frau aber. Sie trug einen langen Rock aus bunt bemaltem Leder und eine passen­de Bluse. Schmuck aus Silber und Türkisen blitzte an ihren Handge­lenken, viele Ketten lagen um ihren Hals. Ihr Haar war von kleinen Zöpfen durchzogen, zeigte schon viele weiße Strähnen. Die Haut war von Sonne und Wind gegerbt wie das Leder ihrer Kleidung. Und als sie sprach, bemerkte Mary, dass sie keinen einzigen Zahn mehr im Mund hatte. Doch der Sinn ihrer Worte blieb dem jungen Mädchen zunächst verborgen.

»Ich verstehe dich nicht«, sagte Mary immer wieder, erreichte da­mit aber nichts. Schließlich verlegte die Alte sich auf Zeichensprache. Sie deutete auf ihre Kleidung und machte eine Bewegung, als wolle sie sich ausziehen, denn zeigte sie auf Mary. Diese schüttelte heftig den Kopf. Es dauerte eine Weile, bis sie die Kleider bemerkte, die bereits für sie zu recht gelegt waren. Da endlich begriff das schöne Mädchen: Es sollte sich so kleiden wie die Frauen der Indianer. Doch warum nur?

Während Mary sich mit der alten Indianerin auseinandersetzen musste, waren auch die restlichen Gefangenen ins Lager gebracht worden. Dies hatte wesentlich länger gedauert, da man die Männer zu Fuß hatte marschieren lassen. Marys Angst, ganz allein unter den Wil­den zu sein, war unbegründet. Außer dem Koch, der gleich mit dem Beil auf einen der Angreifer losgegangen war, hatte niemand den Tod gefunden. Alle waren in Gefangenschaft geraten. Doch Francesco di Montoglia bezweifelte, ob dieser Zustand dem sofortigen Tod vorzu­ziehen war.

Während des Marsches hatte Paolo Carli sich in der Nähe seines Brotherren aufgehalten und mit angehört, wie dieser einen der In­dianer in ihrem Dialekt ansprach. Zunächst schien der nur überrascht, dann aber entspann sich eine kurze Unterhaltung zwischen den beiden unterschiedlichen Männern. Carli wagte erst, als sie das Indianerdorf erreichten, nach dem zu fragen, was Francesco erfahren hatte. Und

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dessen Worte waren alles andere als ermutigend. »Sie befinden sich im Krieg mit einem benachbarten Stamm, den Pawnys. Soviel ich ver­stehen konnte, handelt es sich dabei um einen Wettstreit um Land, Pferde und Gefangene. Und wie es aussieht, haben sie mit uns einen wirklich guten Fang gemacht, der sie deutlich in Führung bringt...«

»Und was soll aus uns werden?« »Das sagt er nicht. Ich vermute, weil er es nicht weiß. Eines aber

macht mir große Sorgen: Wo ist Mary? Was ist mit ihr geschehen? Die Vorstellung, dass einer dieser Wilden sie entführt hat, macht mich ra­send.« Er ballte die Hände in ohnmächtiger Wut zu Fäusten.

»Beruhigt Euch, Conte«, mahnte der Kapitän. »Gewiss wird sich uns ein Ausweg, eine Fluchtmöglichkeit bieten. Wir müssen nur abwar­ten und dürfen nicht die Nerven verlieren.«

»Leichter gesagt als getan«, knurrte Francesco. Die Gefangenen wurden in der Mitte des Zeltdorfes zusammen­

getrieben und mussten dort warten. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich etwas tat. In der Zwischenzeit erschien eine Frau mit zu Fladen gebackenem Brot und geräucherten Fischstücken. Die Gefangenen, zunächst skeptisch, aßen endlich mit gutem Appetit.

Carli lächelte schmal und merkte an: »Vielleicht muss ich meine Bemerkung über die mangelnde Gastfreundschaft der Wilden ja zu­rücknehmen...«

Noch ehe di Montoglia ihm etwas antworten konnte, erschienen zwei Krieger mit Speeren. Sie deuteten auf den jungen Edelmann und seinen Begleiter und machten ihnen unmissverständlich Zeichen, mit ihnen zu kommen. Carli wurde eine Spur blasser, folgte dann aber in betont stolzer Haltung, ebenso wie sein Brotherr. Sollte es ihr Schicksal sein, nun zu sterben, wollten sie dem Tod aufrecht ins Auge blicken.

Allerdings drohte den beiden Männern in diesem Moment keine unmittelbare Gefahr, wie sie bald erfahren sollten. Die Krieger führten sie zu einem Zelt, das größer als alle anderen war und sich in der Mitte des Dorfes befand; der Versammlungsraum. Und hier wurden die bei­den Italiener bereits erwartet.

In der Mitte des fest gestampften Bodens befand sich eine Feu­erstelle, deren Rauch nach oben, durch das Loch, das die Zeltstangen

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bildeten, abziehen konnte. Nun aber war das Feuer erloschen. Im Zwielicht des großen Raums erkannte Francesco mehrere Männer. Sie saßen im Schneidersitz an der hinteren Wand auf dicken Büffelfellen. Nachdem die Augen des Conte sich an die veränderten Lichtverhältnis­se gewöhnt hatten, ahnte er, dass dies der so genannte Ältestenrat des Stammes war. Erfahrene und tapfere Krieger, die ihr Volk zu füh­ren verstanden. In ihrer Mitte der Häuptling. Er war jünger, als Fran­cesco vermutet hatte und strahlte eine kraftvolle Würde aus, die bei­nahe einem König glich. Beim Eintreten der Italiener erhob er sich und trat ein wenig vor, um die Fremden begutachten zu können. Er war hoch gewachsen und ebenso groß wie der Conte. Unter der Hose und dem Hemd aus Leder, beides mit vielen Fransen und bunten Perlen verziert, spannte sich der Leib eines Athleten. Sein Gesicht war scharf geschnitten, ließ aber auch einen Zug kluger Sanftheit nicht vermissen. Das schwarze Haar hing ihm über die Schultern und war ebenfalls ge­schmückt. Adlerfedern fanden sich darin, die auch einen reich be­schnitzten Stab verzierten, den der Häuptling in der Hand hielt. Fran­cesco vermutete, dass es sich um eine Insignie seiner Macht handelte. Eine Weile schauten die beiden Männer einander in die Augen. Der Conte sah Interesse im Obsidian des Kriegers schillern, aber auch Vor­sicht und ein Abwägen, das den eigenen Vorteil stets dem seines Vol­kes unterzuordnen wusste. Dieser Mann, das spürte di Montoglia deut­lich, war eine echte Führerpersönlichkeit. Er besaß Klugheit, einen starken Willen und war furchtlos. Und er war ein Mann von Ehre, der niemals aus dem Hinterhalt agieren würde, dessen war der Italiener sich sicher.

Nachdem der Häuptling ihm bedeutet hatte, sich niederzusetzen, nahm auch er wieder seinen Platz inmitten des Ältestenrates ein.

»Wer seid ihr? Woher kommt ihr? Und was wollt ihr hier?«, fragte er mit einer etwas rauchigen, ausdrucksvollen Stimme.

Der Conte erwiderte: »Wir sind übers Meer gekommen, um euer Land zu erkunden. Mein Name ist Francesco di Montoglia und dies ist mein Kapitän Paolo Carli. Wir sind nicht eure Feinde, wir hegen keinen Groll gegen euch. Doch ihr habt uns gefangen wie man Tiere ein­fängt.«

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Der Häuptling stutzte. Etwas wie Bewunderung blitzte in seinen Augen auf, denn er war es nicht gewöhnt, dass ein Mann so offen und ohne Scheu zu ihm sprach. Die Ehrerbietung, die ihm bei seinem Stamm zuteil wurde, war groß, denn er hatte bereits viele Heldentaten begangen, die abends am Lagerfeuer immer wieder erzählt wurden.

»Du sprichst die Wahrheit«, urteilte er schließlich. »Wir haben euch gefangen. Doch es ist unser Recht, denn dies ist unser Land.«

»Aber wir wollen es nur durchqueren, nicht hier bleiben.« »Und zu welchem Zweck? Ihr sucht den gelben Stein, nicht wahr?

Schon einige Fremde kamen her, um ihn zu stehlen. Sie sagten, er macht sie reich. Aber sie fanden nur den Tod.« Er überlegte kurz. »Es ist falsch, was ihr tut. Ich bin Schwarzer Adler und dieses Land gibt meinen Leuten alles, was wir zum Leben brauchen. Ihr dürft es nicht durchwühlen und zerstören.«

»Das haben wir auch nicht vor«, versicherte Francesco ernsthaft. »Wir wollen so weit wie möglich nach Westen vordringen, um Neuland zu entdecken.«

»Im Westen ist nichts, dort hausen nur Geister. Ihr hattet Glück, dass wir euch zuerst gefunden haben. Die Pawnys machen keine Ge­fangenen. Sie töten jeden, der nicht zu ihrem Stamm gehört. Ihre See­len sind dunkel.«

»Und was soll nun aus uns werden? Verweigert ihr uns die Reise durch euer Gebiet?«, fragte der Italiener nach einer Weile ratlos. »Dann müssten wir umkehren und wieder zurück in unser Land reisen, mit leeren Händen.«

»Ihr könnt hier bleiben, als unsere Gäste. Oder ihr kehrt um.« Di Montoglia wechselte einen bedeutsamen Blick mit Carli. »Das

ist deutlich. Er lässt uns nicht passieren.« »Vielleicht will er Wegezoll?« »Bestimmt nicht.« Der Conte lächelte schmal. »Ich möchte ihn

nicht beleidigen, denn ich glaube, er ist ein Mann von großem Stolz. Doch wir können auch nicht ewig hier bleiben...« Er wandte sich wie­der an Schwarzer Adler. »Ihr habt eine Frau in eurer Gewalt, eine Frau mit blondem Haar...«

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Der Häuptling reagierte zunächst nicht. Er wechselte ein paar leise Worte mit dem Mann zu seiner Rechten, dann stellte er richtig: »Sie ist unser Gast, wie ihr auch.«

»Dann will ich sie sehen! Sie gehört zu mir!«, brauste Francesco auf. »Ihr habt kein Recht...«

Schwarzer Adler erhob sich mit einem Ruck und trat vor den Con­te hin. Die beiden maßen sich mit Blicken, dann erklärte der Häuptling: »Sie ist bei den Frauen, wie es unsere Sitte verlangt. Ihr werdet sie sehen, bald. Aber jetzt geht, denkt über meine Worte nach, denn ihr müsst eine Entscheidung treffen.«

Der junge Entdecker war mit dem Ausgang dieses Gesprächs alles andere als zufrieden. Nachdem er zusammen mit Carli das Ver­sammlungszelt verlassen hatte, murrte er: »Wir sitzen hier fest. Ich sehe im Moment keine Möglichkeit, dies zu ändern. Und ich frage mich, was Schwarzer Adler im Schilde führt...«

»Was wollt Ihr damit sagen? Glaubt Ihr, er war nicht ehrlich zu Euch?«

»Nun, das nicht. Er scheint mir noch immer ein Mann von Prinzi­pien und Ehre zu sein. Aber er hat wohl auch einen Ruf zu verlieren und tut alles, um seinen Leuten zu imponieren.«

»Ihr meint...« Francesco biss die Zähne zusammen. »Ich hoffe sehr, dass ich

mich irre. Doch sollte er Mary anrühren, werde ich ihn mit eigener Hand töten. Das schwöre ich hier und jetzt!«

*

»Sie sind wie vom Erdboden verschluckt. Und das kann eigentlich nur eins bedeuten: Die Indianer waren schneller als wir.«

Pip van Straaten machte ein mürrisches Gesicht. Seit fast einer Woche folgten sie nun dem Italiener und seinem Tross. Sie waren so­gar am Vortag bis auf Sichtweite an die Expedition herangekommen. Und plötzlich war diese einfach verschwunden. Das war doch schlicht und ergreifend unmöglich!

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»Ich glaube es nicht«, murmelte er dumpf. »Das ist nur eine List.« Er wandte sich an Ton-Li. »Du kannst doch Spuren lesen. Los, führe uns ab sofort. Ich will sie finden!«

»Wenn die Indianer alle getötet haben...« »Du sollst nicht reden, sondern die Spur aufnehmen!«, herrschte

der Holländer den Asiaten an. »Wird's bald? Wir tun es für Percy. Und ich verlange endlich Gehorsam!«

Der Chinese stieg von seinem Pferd. Mit zusammengebissenen Zähnen suchte er die Spur der Reiter. Viel lieber aber hätte er diesem verdammten Hänfling die Kehle zugedrückt...

Es dauerte einige Stunden, bis die Piraten sich dem Indianerdorf auf Sichtweite genähert hatten. Pip wurde immer aufgeregter, denn er glaubte sich bereits am Ziel seiner Wünsche. Nun konnte er den Italie­ner endlich killen. Und er würde diese verdammten Wilden schlachten wie Vieh...

»Los, wir greifen an«, geiferte er. »Ich werde Montoglia die Haut abziehen und dann...«

»He, nicht so schnell. Wir sind diesem Stamm doch unterlegen.« Ton-Li baute sich in seiner ganzen Größe vor van Straaten auf. Dieser spürte, dass nun der Zeitpunkt der endgültigen Abrechnung ge­kommen war. Das passte ihm gar nicht, denn er wollte auf der Stelle seinen Willen durchsetzen und seine Rache genießen.

»Das sind bloß primitive Wilde«, behauptete er abfällig und dachte zugleich daran, wie er Ton-Li nach dem Massaker, das vor ihnen lag, aus dem Weg räumen konnte. Das Beste würde wohl ein Schuss in den Rücken sein, wenn der baumlange Kerl es am wenigsten vermute­te... »Die überrumpeln wir ohne Schwierigkeiten.«

»Aber sie haben den Italiener und alle Männer gefangen genom­men«, wandte einer der Piraten mutig ein. »Sie sind tapfer und ge­schickt. Ich finde, wir sollten warten.«

»Du willst wohl sterben, auf der Stelle, was?«, herrschte der Hol­länder ihn an und wollte sofort mit dem Messer auf ihn losgehen. Da sah Ton-Li seine Chance gekommen. Er packte van Straaten am Schla­fittchen und drückte ihm mit dem Unterarm die Kehle zu. Sofort lief der Holländer rot an. Er wollte etwas sagen, doch er bekam keine Luft.

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Sein Mund formte lautlose Worte, er strampelte mit Armen und Beinen und wehrte sich verbissen gegen den eisernen Hebel des Chinesen. Wie eine lebensgroße Gliederpuppe hing er im Griff seines Gegners, der nicht lockerließ.

»Bring ihn um«, zischten die anderen Piraten. »Mach endlich ein Ende. Wir sind es leid, uns von ihm kommandieren zu lassen.«

Ton-Li lächelte kalt. Dann brach er mit einer einzigen Bewegung das Genick des Holländers. Den toten Körper ließ er nachlässig zu Bo­den gleiten. Für ein paar Augenblicke herrschte atemloses Schweigen. Schließlich erklärte der Chinese: »Ich bin jetzt euer Anführer. Und ich sage, wo's langgeht. Oder will das einer bezweifeln? Dann soll er es sagen und rasch von hier verschwinden.«

»Wir tun, was du willst«, hechelten die Männer ergeben. Die Kraft und Überlegenheit des Asiaten hatte sie völlig eingeschüchtert. Das gefiel Ton-Li. Er fühlte sich wie der große Macher, dem von nun an alles gelingen konnte. Er überlegte kurz, dann entschied er: »Wir blei­ben fürs erste hier, suchen uns ein gutes Versteck.«

»Und was sollen wir hier?« »Ganz einfach. Wir warten ab, was die Indianer mit dem Italiener

und seinen Männern machen. Und im geeigneten Moment schlagen wir zu.« Er grinste eisig. »Wir töten alle, die sich uns in den Weg stellen und nehmen alles mit, was von Wert ist.«

Die Piraten nickten zustimmend, zugleich aber stieg in manchem die Erkenntnis auf, dass sie es mit Ton-Li um keinen Deut besser ge­troffen hatten wie mit Pip van Straaten. Sie waren sozusagen vom Regen in die Traufe gekommen. Und niemand konnte sagen, ob auch nur einer von ihnen dieses Abenteuer überleben und das Meer wieder sehen würde, das doch ihr eigentliches Element war...

*

Mary hatte sich in der Zwischenzeit umgekleidet und fühlte sich in den neuen Gewändern gar nicht so unwohl. Das Leder roch streng, doch es war so geschickt bearbeitet worden, dass es sich weich an ihren Kör­per schmiegte. Die flachen Mokassins an den Füßen waren allerdings

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gewöhnungsbedürftig. Die alte Indianerin hatte Marys goldenes Haar, das sonst unter einer Haube verschwand, gelöst, es fiel ihr in einer weichen Welle über die Schultern und ließ sie einfach wunderschön aussehen. Im Stillen fragte das junge Mädchen sich, wozu all dies gut sein sollte. Und ein unbestimmtes Gefühl der Furcht hielt ihr reines Herz umklammert. Immer wieder musste sie an Francesco denken und wagte nicht, sich das Schicksal der anderen auszumalen. Doch zugleich war die Situation, in der sie sich befand, so fremd und selt­sam, dass sie all dies noch immer an einen Traum erinnerte, der gar nicht in die Wirklichkeit passte.

Die Indianerin hatte Mary allein in dem Zelt zurückgelassen. Das schöne Mädchen wusste nicht, was es anfangen sollte. Es betrachtete die wenigen Gebrauchsgegenstände, die sich hier befanden und warf dann einen langen Blick auf den Schmuck, den sie zu den Klei­dungsstücken empfangen hatte. Es war eine Art Amulett an einer lan­gen Kette aus schmalen Tierknochen. Ein Bild war darauf aus Perlen gestickt, es schien einen dunklen Vogel zu zeigen. Das schöne Mäd­chen schaute sich das eigentümliche Schmuckstück versunken an, als ein Schatten auf sie fiel und sie zusammenschrecken ließ. Die Zeltpla­ne war zurückgeschlagen worden, in der Öffnung erschien ein Mann. Er war sehr groß, sein Schatten erschien Mary wie das Fanal kommen­den Unheils. Als er das Zelt betrat, wich sie verstört zurück. Er machte eine Geste mit den Händen, die beschwichtigen sollte. Doch das junge Mädchen fürchtete sich einfach zu sehr, um dies zu verstehen. Sie kauerte sich in die hinterste Ecke des Zelts und bat: »Nein, lasst mich in Ruhe, ich flehe Euch an, tut mir nichts!«

Der Fremde kam etwas näher, wahrte aber einen gewissen Ab­stand. In seinem scharf geschnittenen Gesicht dominierten die klugen Augen, die sie nun ebenso fasziniert wie freundlich anschauten. Fast schien es Mary, als kenne sie diesen Mann. Sie ahnte, dass er etwas Besonderes war, dass er eine Sonderstellung unter den anderen Be­wohnern des Indianerdorfes einnahm. Er sah sie nur an und er lächel­te sogar ein wenig. Allmählich verlor sie ihre Scheu. Und als er ihr eine Schale mit Essen reichte, nahm sie diese zögernd.

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Es fiel Mary schwer, unter seinem forschenden Blick zu essen, doch als sie von dem wohlschmeckenden Brei aus Grassamen, Beeren und Milch gekostet hatte, überkam sie ein wahrer Heißhunger. Sie leerte die Schale hastig und senkte dann beschämt den Blick.

Der fremde Krieger lächelte noch immer. Er sagte etwas und dann nannte er ihren Namen. »Mary.« Sie starrte ihn fragend an.

»Ihr wisst, wie ich heiße? Woher?« »Franco.« Er reichte ihr das Fernrohr des jungen Conte und fügte

noch etwas hinzu, das sie nicht verstehen konnte. »Er lebt?« Sie biss sich auf die Lippen. Wie gerne hätte sie den

Häuptling nach Francesco gefragt. Doch sie konnte sich ihm ja nicht verständlich machen. Und sie fürchtete sich noch immer ein wenig vor ihm...

»Mary.« Er streckte die Hand aus und berührte sacht ihr Haar. Sie wollte im ersten Impuls zurückfahren, aber dann ließ sie es gesche­hen, denn sie spürte instinktiv, dass er ihr nichts Böses wollte. Dann wies er auf das Amulett um ihren Hals und sagte etwas, das sie nicht verstand. Er wiederholte es noch einmal, es schien eine besondere Bedeutung zu haben. Aber sie wusste nicht, was sie tun oder sagen sollte. Schließlich lächelte er wieder, erhob sich und verließ das Zelt. Mary schaute ihm unsicher hinterher. Sie fragte sich, was er ihr wohl hatte sagen wollen. Was immer es gewesen war, es hatte sich nicht wie etwas Schlechtes angehört. Plötzlich spürte sie, wie ihre Angst ein wenig nachließ. Doch sie fühlte sich noch immer einsam und verlas­sen. Wenn sie nur mit Francesco hätte reden können. Ganz sicher wä­re er in der Lage gewesen, ihr alles zu erklären...

Es dauerte noch einige Tage, bis Mary den jungen Conte wieder ­sah. In der Zwischenzeit lebte sie fast wie eine Indianerin. Sie war den ganzen Tag mit den anderen Frauen zusammen, wusch sich im nahen Fluss, lernte, zu finden und zu sammeln, was später zu nahrhafter Speise verarbeitet wurde und schlief in einem Zelt zusammen mit eini­gen jungen Mädchen, die offensichtlich noch nicht verheiratet waren. Obwohl sie sich große Mühe gab, fiel es ihr doch sehr schwer, die Sprache der Indianer zu verstehen. So fühlte sie sich von vielem aus­geschlossen. An jedem Abend, bevor die anderen zum schlafen ka­

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men, erschien der Häuptling in ihrem Zelt, brachte ihr Essen, sprach mit ihr und streichelte ihr Haar, das ihn offensichtlich noch immer fas­zinierte. Mary verlor bald ihre Scheu vor dem imposanten Mann, der in ihrer Nähe ganz zahm und nett sein konnte.

Als sie dann wie zufällig Francesco gegenüberstand, schossen ihr die Tränen der Erleichterung und des Glücks in die Augen. Der junge Conte befand sich zusammen mit den anderen Männern in einem et­was abgelegeneren Teil des Dorfes. Ein paar Wachen standen herum, sie sollten verhindern, dass die Seemänner sich an die unverheirateten Mädchen heranmachten. Und sie schienen auch etwas dagegen zu haben, dass Mary sich dem jungen Edelmann näherte. Einer der Krie­ger wies sie an, auf Abstand zu bleiben.

»Francesco, wie geht es euch dort drüben?«, fragte sie ihn be­sorgt. »Werdet ihr auch gut behandelt?«

Nachdem er seine Bestürzung überwunden hatte, antwortete er mit einer Gegenfrage. Und seihe Stimme vibrierte vor unterdrückter Wut. »Mary, wieso trägst du diese Kleider? Warum das Amulett des Häuptlings? Ist dir Schwarzer Adler zu nah getreten? Ich beschwöre dich, sprich!«

Sie schaute ihn zunächst überrascht an, dann aber lächelte sie. »Sein Name ist also Schwarzer Adler. Das wollte er mir sagen.« Ihr Blick richtete sich ganz sehnsüchtig auf Francesco. »Wenn ich nur zu dir gelangen könnte, Liebster...«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, erinnerte er sie drän­gend. »Was ist zwischen dir und diesem Wilden?«

»Er ist ein Mensch wie du und ich!«, rief sie im ersten Impuls. Sie hatte das Gefühl, den Häuptling vor Francescos Geringschätzigkeit in Schutz nehmen zu müssen. Immerhin hatte sie nur Gutes von ihm erfahren. »Und er hat mich behandelt wie eine Lady. Solche Ehrerbie­tung ist mir bislang noch nicht widerfahren.«

Der junge Conte wandte sich kurz ab, er hatte offensichtlich mit seinen Gefühlen zu kämpfen. Da erst begriff Mary, dass es Eifersucht war, die ihn plagte.

»Francesco, ich...« Sie konnte nicht weiter sprechen, denn im nächsten Moment wurde aus dem Lager Geschrei laut. Ein Rauschen

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wie von Wind schien durch die Zeltplanen zu fauchen, Hufgetrappel folgte. Mary verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. Die Wachen wechselten ein paar kurze Worte, die Francesco veranlassten, dem jungen Mädchen zuzurufen: »Versteck dich, Mary, geschwind! Es ist ein Angriff...«

Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Und dann sah sie einige Rei­ter, die sich ihr näherten. Ihre Pferde waren staubgrau, ebenso wie die Männer. Sie schienen sich und die Tiere mit einem Mineralstaub ein­gerieben zu haben, der sie aussehen ließ wie Geister. Ihre Gesichter verschwanden hinter blutroten und grellgelben Malereien. Sie hatten kein einziges Haar auf dem Kopf und schwangen Steinäxte von be­achtlichem Ausmaß, Tierische Schreie begleiteten ihren Weg und für ein paar Augenblicke war es Mary, als kämen diese Kreaturen direkt aus der Hölle. Sie stolperte rückwärts, fiel und kroch auf allen Vieren davon. Ein nahes Zelt war ihr Ziel, aber sie sollte es nicht erreichen. Sie hörte Francescos warnende Stimme, immer wieder schrie er die Wachen an, sie freizulassen, damit sie sich wehren konnten. Doch in dem allgemeinen Chaos des Überfalls ging seine Forderung unter. Ma­ry spürte den Huf schlag direkt hinter sich, dann fühlte sie sich ge­packt und hochgehoben. Sie schrie und wehrte sich aus Leibeskräften, aber es nützte ihr nichts. Der Reiter hielt sie eisern fest. Er wendete sein Pferd und schien davon sprengen zu wollen. Das schöne Mädchen sah, wie noch andere Weiße gefangen genommen wurden und begriff doch nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Die Todesangst, die Ma­rys Herz umklammert hielt, verhinderte, dass sie logisch denken konn­te. Unvermittelt bäumte sich das Pferd auf, Mary fiel und landete hart auf dem Rücken. Sie war benommen, wie durch einen Schleier hörte sie Kampfgeräusche. Und dann beugte sich Schwarzer Adler über sie. Er betrachtete sie kurz, wie, um sicher zu gehen, dass ihr nichts fehlte. Dann nahm er sie auf seine starken Arme und trug sie fort. Mary schloss erleichtert die Augen. Sie fühlte sich gerettet und behütet. An Francesco dachte sie in diesem Moment nicht. Sie war einfach nur froh, diesen unheimlichen Kreaturen nicht in die Hände gefallen zu sein... Der Kampf tobte noch eine ganze Weile. Der Häuptling hatte Mary in ihr Zelt gebracht und war danach sofort wieder verschwunden.

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Es dauerte einige Zeit, bis sie wieder etwas ruhiger geworden war. Ihr Kopf tat weh, auch der Rücken schmerzte, denn sie war hart gestürzt. Dass ihr nichts Ernsteres fehlte, sie überhaupt noch am Leben war, verdankte sie Schwarzen Adler...

Endlich ebbte der Kampf ein wenig ab. Und als die Zeltplane zu­rückgeschlagen wurde, sprang Mary auf, denn sie glaubte, der Häupt­ling kehre zu ihr zurück. Doch zu ihrer Verwunderung war es der junge Conte.

»Francesco, du blutest!« Sie wollte über den breiten Riss auf sei­ner Wange streichen, aus dem Blut quoll, doch er wich zurück. Zum ersten Mal, seit sie einander kannten, war Misstrauen in seinem Blick. Und seine Worte schienen dieses hässliche Gefühl noch zu bestätigen, denn er fragte: »Was hat das zu bedeuten? Wieso rettet Schwarzer Adler dich vor den Pawnys? So etwas würde er nur für einen Stam­mesbruder tun oder... für seine Frau!«

»Francesco! Wie kannst du nur...« Sie empfand Entrüstung, weil er ihr so etwas unterstellte. Aber auch ein leises, schlechtes Gewissen. Und das machte sie wütend. »Hast du vergessen, in welcher Situation wir uns befinden? Was hätte ich denn tun sollen, als er mir zu Hilfe eilte? Ihn abweisen und mit diesen unheimlichen Kreaturen gehen?«

Er betrachtete sie ein paar Momente lang schweigend, dann senk­te er den Blick und bat: »Verzeih mir. Es war falsch und niederträchtig von mir, dir so etwas zuzutrauen. Es ist nur... Ich fühle mich so hilflos und das geht mir gegen den Stolz.«

Sie lächelte ihm verhalten zu. »Es ist für uns alle schwer. Niemand hat damit gerechnet, dass die Expedition auf diese Weise enden wür­de. Schwarzer Adler ist nicht schlecht. Ich glaube, er wird uns nichts tun.«

»Aber er lässt uns auch nicht passieren. Dieser Überfall, das war wohl ein Teil des Krieges zwischen seinem Stamm und diesen Pawnys. Sie haben versucht, Gefangene zu machen, um wieder im Vorteil zu sein.« Er lachte freudlos auf. »Wie es scheint, unterscheidet sich das Leben dieser Menschen nur sehr wenig von unserem. Sie führen Krie­ge, der Wunsch, den Nachbarn zu überflügeln bestimmt ihr Handeln.«

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»Dann können wir nicht Weiterreisen?«, fragte Mary bekümmert. Obwohl dieser ganze gefahrvolle Weg durch unbekanntes Land ihr große Angst eingejagt hatte, wünschte sie Francesco doch, dass er erreichte, wovon er träumte. Dies schien nun aber unmöglich.

»Es sieht nicht so aus.« Er nahm ihre Hand und lächelte ihr ein wenig zu. »Es tut mir leid, was du zu durchleiden hast, süße Mary. Wir werden bald umkehren und zur Küste zurückwandern. Uns bleibt wohl nichts anderes übrig.«

»Und die Piraten? Gewiss haben sie dein Schiff gestohlen.« »Wahrscheinlich. Doch wir werden einen Weg finden, in die Hei­

mat zurückzukehren. Das verspreche ich dir.«

*

Zunächst sah es jedoch nicht danach aus. Nach dem Angriff der Paw­nys revanchierte Schwarzer Adler sich mit einem Überfall, an dem die meisten seiner Krieger teilnahmen. Die Männer blieben einige Tage fort, eine angespannte Stille hatte sich über das Indianerdorf gelegt. Mary besuchte Francesco nun jeden Tag. Sie drängte ihn nicht zur Umkehr, obwohl das Heimweh sie plagte. Aber sie fürchtete auch für Schwarzer Adler, wollte zumindest wissen, dass er wohlbehalten von der kriegerischen Auseinandersetzung mit seinen Feinden zurückkehr­te...

»Ich fürchte, da ist etwas zwischen Mary und dem Häuptling«, sagte Francesco eines Abends zu Paolo Carli. »Ich kann es nicht grei­fen, nicht benennen. Und doch...«

»Mary liebt Euch«, erinnerte der Kapitän ihn ernsthaft. »Und ich glaube nicht, dass ihr reines Herz sich so schnell einem anderen zu­wenden würde. Schon gar nicht einem so fremdartigen Mann wie die­sem Indianer.«

»Ja, mag sein, ich tue ihr Unrecht. Doch mein Gefühl sagt mir, dass die beiden mehr verbindet, als sein sollte.« Er warf seinem Ge­genüber einen entschlossenen Blick zu. »Wir werden bald zur Küste zurückkehren müssen. Alles andere hat doch keinen Sinn.«

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»Ihr wollt aufgeben?« Carli schüttelte angedeutet den Kopf. »Das passt nicht zu Euch, Conte. Zudem bin ich davon überzeugt, dass der Häuptling uns nicht ewig die Passage verweigern wird. Er ist ein kluger Mann. Und wenn Ihr den richtigen Preis bietet, wird er zustimmen.«

»Mag sein.« Di Montoglia lächelte schmal. »Doch ich fürchte, ich kenne den Preis bereits...«

In der Nacht schlichen Schatten durch das Indianerdorf. Ein lautlo­ses Morden begann, das weder die Wachen bei den Seeleuten ver­schonte, noch die alte Indianerin, die sich am ersten Tag um Mary gekümmert hatte. Als sie aus dem Schlaf schreckte, packte Ton-Li sie und schnitt ihr die Kehle durch. Der große Chinese schaute sich trium­phierend im Lager um. Sie hatten schon so gut wie gewonnen. Alle Waffen waren eingesammelt. Wenn die Männer am nächsten Tag zu­rückkehren sollten, würden sie in eine Falle laufen, die für sie alle töd­lich sein musste...

»Conte, wachen Sie auf!« Carli berührte Francesco leicht an der Schulter, dieser schreckte auf und schaute sich benommen um. »Was ist passiert? Wie spät ist es?«

»Noch vor Sonnenaufgang. Die Wachen sind fort. Etwas ist in der Nacht geschehen, aber ich weiß nicht, was. Wir...« Er verstummte und lauschte. »Es ist die Stille, da stimmt was nicht.«

Der junge Edelmann erhob sich von seinem Lager und trat vor das Zelt. Die Wachen waren tatsächlich nicht mehr auf ihrem Posten. Und eine seltsame, unheimliche Ruhe lag über dem Dorf.

»Sollen wir verschwinden? Ich werde das Gefühl nicht los, dass et­was im Busch ist. Vielleicht ein anderer Stamm, vielleicht Pawnys, die sich rächen wollen...«

Francesco dachte kurz nach, dann entschied er: »Wir sollten noch warten. Schwarzer Adler wird bald zurück sein. Fliehen wir jetzt, wird er uns gewiss als Feinde einstufen und verfolgen. Zudem möchte ich selbst wissen, was dies zu bedeuten hat.« Er ließ seinen Blick schwei­fen. »Kommen Sie, Carli, sehen wir uns um.«

Der Kapitän folgte seinen Brotherren ohne Zögern. Allmählich ging die Sonne auf, ein warmer Goldton legte sich über das Land. Doch er konnte die Schrecken der Nacht nicht mildern. Einige Frauen liefen

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davon, als die beiden Italiener auftauchten. Niemand ließ sich auf dem Platz vor den Zelten sehen. Und als Francesco die alte Indianerin fand, war er überzeugt: »Das waren keine Pawnys, wir sahen ihre primitiven Äxte. So morden nur Piraten.« Er warf Carli einen bedeutsamen Blick zu. »Ich habe es die ganze Zeit befürchtet. Die Kerle sind uns ge­folgt.«

»Dann sollten wir diesen Ort so schnell wie möglich verlassen. Es wäre falsch, wenn die Indianer diesen Subjekten zum Opfer fallen«, merkte er an, doch Francesco schüttelte den Kopf.

»Zu spät. Wir haben die Piraten hierher geführt. Nun können wir uns dem, was folgen wird, nicht entziehen.« Er wirkte sehr ent­schlossen. »Ich suche Mary. Wir verstecken sie und die anderen Frau-en außerhalb des Dorfes, um sie zu schützen.«

»Und dann? Wir haben keine Waffen.« »Dann können wir nur noch hoffen, dass Schwarzer Adler recht­

zeitig zurückkehrt, um uns im Kampf beizustehen...« Der Kapitän hielt diesen Plan noch immer für sehr risikoreich,

schwieg aber, denn er sah selbst keine andere Möglichkeit. Während der Conte seine Liebste ausfindig machte, kehrte er zu seinen Männern zurück, um sie auf das vorzubereiten, was kam...

Mary hielt sich in ihrem Zelt auf, sie war allein. Als Francesco auf­tauchte, fiel sie ihm um den Hals und murmelte: »Ich hatte so schreckliche Angst. Heute Nacht...«

»Ja, ich weiß. Die Piraten waren hier.« Er hielt sie noch einen Moment lang ganz fest und genoss das Gefühl ihrer Nähe auf beson­ders intensive Weise. Dann bat er: »Versuche, den anderen Frauen begreiflich zu machen, dass sie das Dorf verlassen müssen. Gewiss gibt es hier in der Nähe ein Versteck für den Notfall. Geht alle dorthin. Wenn die Piraten zurückkehren...«

»Aber, Francesco, was wird aus dir?« »Zusammen mit den Männern kann ich ihnen trotzen, bis Schwar­

zer Adler zurück ist«, behauptete er, war dessen aber alles andere als sicher. Dass die Piraten alle Waffen aus dem Dorf gestohlen hatten, verschwieg er geflissentlich. »Es gibt nur diese eine Möglichkeit. Bitte, beeile dich. Die Mörderbuben können jederzeit zurückkehren.«

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Sie schaute ihn kurz und intensiv an, dann nickte sie und verließ das Zelt. Francesco folgte ihr langsam. Wenn die Frauen das Dorf ver­lassen hatten, galt es, mit List und Tücke zu agieren. Er wusste nicht genau, mit wie vielen Piraten sie es zu tun haben würden. Doch dass diese Kerle zu allem entschlossen waren, dessen war er sicher...

*

Ton-Li und seine Kumpane beobachteten genau, wie die Frauen das Dorf verließen. »Sollen wir ihnen folgen?«, fragte einer mit einem dre­ckigen Grinsen. Doch der Chinese schüttelte den Kopf. »Die kommen später an die Reihe. Zunächst schnappen wir uns die Männer. Di Mon­toglia hat Goldmünzen bei sich, ich sah es im Dorf der Siedler. Eine erkleckliche Summe...« Er warf einen Blick in die Runde. »Wir teilen al­les ehrenhaft untereinander auf. Ihr wisst, dass Percy sich immer den größten Batzen genommen hat. Das tue ich nicht. Schließlich kämpfen wir alle und riskieren unser Leben.«

»Dieses Mal vielleicht nicht. Die anderen sind wehrlos...« »Sie sind ohne Waffen, aber gewiss nicht wehrlos. Wir müssen

sehr vorsichtig sein. Und jetzt kommt, bevor der Häuptling zurück ist, sollen die Italiener sterben...«

*

Mary hatte die Frauen des Indianerdorfes unter einigen Mühen sam­meln und ihnen verständlich machen können, was sie zu tun hatten. Danach waren sie zu einem Höhlensystem aufgebrochen, das sich nicht sehr weit vom Dorf entfernt erstreckte. Ein Hain aus dürren Pap­peln verdeckte den Fels, der sich hier aus dem sandigen Boden erhob. Eine Weile blieb das schöne Mädchen bei den Indianerfrauen. Diese ließen die Wartezeit stoisch über sich ergehen, scheinbar erlebten sie nicht zum ersten Mal eine solche Situation. Mary dagegen wurde im­mer unruhiger. Sie ging vor dem Höhleneingang auf und ab, warf be­ständig ängstliche Blicke in Richtung des Dorfes. Und als Schüsse er­klangen, hielt sie nichts mehr in ihrem Versteck.

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Mit raschen Schritten lief sie ein Stück des Wegs zurück. Sie hörte Kampfgeräusche, weitere Schüsse und meinte, ihr Herz müsse vor Angst zerspringen. Wenn die Piraten obsiegten... Daran wollte sie gar nicht denken. Mit zu Fäusten geballten Händen stand Mary da, wusste nicht, was sie tun sollte und fühlte sich ganz einfach schrecklich hilflos. Als sie bereits daran dachte, zu den anderen Frauen zurückzukehren, vernahm sie schnellen Hufschlag, der sich ihr beständig näherte. Sie fuhr herum - und sah sich unvermittelt dem Häuptling gegenüber. In seiner Kriegsbemalung wirkte er noch fremdartiger auf sie als zuvor. Doch zugleich empfand Mary sein Auftauchen als wahren Glücksfall. Sie deutete Richtung Dorf und versuchte, mittels Gesten und Zeichen, ihm klar zu machen, was dort los war. Schwarzer Adler verstand sie. Er nickte ihr knapp zu, dann sprengten er und seine Krieger im fliegenden Galopp davon. Mary konnte nur hoffen und beten, dass sie den Kampf gegen die Seeräuber für sich entscheiden würden. Alles andere er­schien ihr schlicht undenkbar...

*

Francesco di Montoglia und Paolo Carli hatten mit dem Angriff gerech­net. Dass er aber völlig aus dem Hinterhalt geschehen würde, über­raschte sie doch. Noch ehe sie zu einer Gegenwehr in der Lage waren, hatten die Piraten drei Seeleute erschossen. Dann kamen sie wie eine wilde Horde über die Italiener. Der Conte hatte dafür gesorgt, dass seine Männer nicht mit leeren Händen dastanden. Auch wenn sie keine Waffen zur Verfügung hatten, dienten handliche Steine, Stöcke und schwere Mörser, mit denen die Frauen normalerweise Getreide zer­stampften, ihnen als Wehr. Trotzdem war es ein ungleicher Kampf. Immer wieder knallten Büchsen und obwohl die Piraten in der Minder­zahl waren, machten sie doch mehr und mehr Land gut.

»Wir sollten fliehen«, knirschte Carli. Er hatte einen Streifschuss am Arm, der stark blutete. »Diese Bestien werden alle töten, die ken­nen kein Pardon.«

»Das würde uns wenig nutzen. Wir kommen nicht aus dem Dorf heraus. Und wir können die Frauen nicht im Stich lassen...«

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»Conte!« Der Kapitän holte aus und schleuderte einen Stein auf eine Person, die sich hinter den jungen Edelmann geschlichen hatte. Er erwischte den Piraten nicht, der sich nun auf Francesco stürzte. Ein unterarmlanges Messer blitzte in seiner Rechten. Während sich zwi­schen den beiden Männern ein zäher Kampf entspann, musste Carli sich gegen den Chinesen wehren. Dieser griff ihn mit bloßen Händen an, doch die erwiesen sich als überaus effektive Waffe. Der Kapitän kämpfte verbissen, aber als Ton-Li anfing, ihn zu würgen, glaubte er, verloren zu haben. Er sah bereits Sterne, war nahe daran, das Be­wusstsein zu verlieren. In diesem Moment erreichte Schwarzer Adler mit seinen Kriegern das Dorf. Sofort wandte sich die allgemeine Auf­merksamkeit den Indianern zu. Ton-Li ließ von Paolo Carli ab und schrie seinen Männern zu: »Tötet sie alle! Sie haben nur Speere...«

Francesco war es in der Zwischenzeit gelungen, den Messer­schwinger außer Gefecht zu setzen. Nun kümmerte er sich um den Kapitän, der wie leblos am Boden lag. Es dauerte nur wenige Augen­blicke, dann schlug Carli die Augen auf.

»Kommen Sie, wir treten den Rückzug an. Schwarzer Adler wird mit den Kerlen fertig werden!«

Der Kapitän nickte und schaffte es mühsam, auf die Beine zu kom­men. Francesco stützte ihn, bis er sich wieder einigermaßen von dem Angriff erholt hatte. Er gab den Seeleuten Zeichen, ihnen zu folgen. Bestürzt stellte der junge Conte fest, dass nur noch eine Handvoll am Leben war. Die Piraten hatten schrecklich unter seinen Männern gewü­tet.

Ton-Li wollte sich derweil profilieren und griff den Häuptling an. Er war wütend, denn noch hatte er das Gold, das Montoglia mit sich führ­te, nicht rauben können. Mit seiner ganzen Körperkraft schnellte er vom Boden fort und stürzte sich auf Schwarzer Adler. Dieser fing den Angriff geschickt ab und warf seinen Gegner zu Boden. Im nächsten Moment hielt er ein beidseitig geschliffenes Messer in der Hand. Der Chinese wich zurück. Doch er brauchte nur einen Moment, um eine gleichwertige Waffe aus seinem Gürtel zu zaubern. Ein zäher Messer­kampf entspann sich. Die beiden Männer waren gleich groß und stark. Beide sehr geschickt, schnell und auch nicht um eine Finte verlegen.

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Ton-Li war so in den Kampf vertieft, dass er nicht mitbekam, wie seine Kumpane niedergekämpft wurden. Bald war er allein im Indianerdorf. In der Zwischenzeit hatte Francesco die Höhle erreicht und Mary mit sich genommen. Die Indianerfrauen kehrten vorsichtig ins Dorf zurück. Sie kamen eben noch zurecht, um ihren Häuptling wieder einmal sie­gen zu sehen. Schwarzer Adler wehrte einen heimtückischen Angriff des Chinesen ab, der ihm eine tiefe Wunde am Arm beibrachte. Dann tötete sein Messer den Mann, an dessen Händen schon so viel Blut klebte. So fand auch der letzte der Piraten an diesem Tag den Tod, die Bedrohung war abgewendet. Schwarzer Adler aber fühlte sich nicht zufrieden. Mary war fort. Und mit ihr ein Teil seines Herzens, der sich ihr in tiefer Zuneigung verbunden hatte...

*

Der Rückweg zur Küste gestaltete sich mühsam und noch viel be­schwerlicher als zuvor. Francesco, Mary und Paolo Carli führten keinen Proviant mit sich und waren zu Fuß unterwegs. Zwar half ihnen das Wissen um essbare Beeren und Früchte, das Mary im Indianerdorf erworben hatte, doch als sie zwei Tage ohne frisches Wasser aus­kommen mussten, wurden alle an die Grenze ihrer Belastbarkeit ge­bracht. Zudem mussten sie sich ständig vor einem neuerlichen Angriff der Pawnys in Acht nehmen, deren Gebiet erst nach fast zwei Wochen hinter ihnen lag.

Als sie schließlich die Ausläufer der Apalachen erreichten, hatte der Herbst seinen Höhepunkt bereits überschritten. Der Pass war tief verschneit und nicht zu passieren.

»Was sollen wir nur tun?«, fragte Mary bekümmert. Das schöne Mädchen war am Ende seiner Kräfte, die Strapazen des langen Weges hatten ihr alles abverlangt. Und noch lag ein gutes Stück weites Land zwischen ihnen und der Küste. Von den Apalachen nicht zu sprechen...

Francesco hatte sich bereits seit einer Weile Gedanken darüber gemacht und erklärte nun: »Es gibt noch einen anderen Weg. Aller­dings ist er gefährlich. Und ich weiß nicht, ob wir es schaffen können.« Er blickte in die müden, abgehärmten Gesichter seiner beiden treuen

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Gefährten. »Aber ich glaube, es wäre einen Versuch wert. Denn im anderen Fall müssten wir hier den Winter abwarten...«

»Ich möchte hier fort«, entschied Mary und auch der Kapitän dachte nicht ans Ausharren. »Wir müssen zurück zur ›Carte d'Oro‹. Wie es aussieht, haben die Piraten sie nicht in ihre Gewalt gebracht. Wenn allerdings die Winterstürme einsetzen, werden wir an diese Küs­te gefesselt sein. Und dann können wir erst im Frühjahr gen England segeln.«

Der junge Conte seufzte leise. Es bekümmerte ihn, dass er die Heimreise mit leeren Händen antreten musste. Unter den gegebenen Umständen würden sie auch die Jahresfrist nicht einhalten können. »Wir werden nach Italien zurückkehren. In England bindet uns nichts«, entschied er, dann wanderte sein Blick zu Mary. Sie las die stumme Frage in seinen aufrichtigen Augen und nickte angedeutet. »Nun gut.« Francesco nahm eine Karte aus seinem Wams und entfal­tete sie. »Wir befinden uns hier. Etwa einen Tagesmarsch nördlich von uns verläuft der Hudson-River. Überqueren wir ihn, gelangen wir ra­scher an die Küste, schneiden ein ganzes Stück Wegs ab. Doch der Fluss ist breit und tief. Und es hat in den vergangenen Tagen häufig geregnet...«

»Wir müssten ein Floß bauen«, sinnierte Carli. »Oder gibt es eine Furt?«

Davon wusste Montoglia nichts. Er ließ seinen beiden Gefährten Zeit, um über die Optionen, die ihnen noch geblieben waren, nachzu­denken. Schließlich entschied man sich einhellig, den Weg über den Fluss zu wagen.

Am nächsten Morgen hatte das Wetter sich gebessert. Die schwe­ren Regenwolken, die Francesco im Stillen ihre ständigen Begleiter genannt hatte, rissen auf, der klare Himmel zeigte sich. Als sie schließ­lich den Fluss erreichten, war dessen Wasserlauf soweit an­geschwollen, dass man das andere Ufer nicht erkennen konnte. Mary sank bei diesem Anblick der Mut. Doch sie wusste zwei erfahrene See­leute an ihrer Seite und schwieg tapfer.

Es dauerte einige Tage, bis ein Floß gebaut und das Wasser so­weit beobachtet war, dass man tückische Strudel umgehen konnte.

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Endlich begann die gefährliche Überfahrt. Carli übernahm das einfache Ruder am Heck, während der junge Conte mit seinem Fernrohr die vor ihnen liegende Wasserfläche im Auge behielt. Alles ging gut. Man konnte bereits das andere Ufer erkennen, als sie doch noch in eine unberechenbare Strömung gerieten. Obwohl Carli heftig gegenlenkte, wurde das Floß eine Weile mit der Strömung abgetrieben. Schließlich gelang es den beiden Männern gemeinsam, ihr Gefährt wieder unter Kontrolle zu bringen. Mit letzter Kraft erreichte man das Ufer und sprang an Land. Mary war zu Tode erschöpft, die Ängste, die sie wäh­rend der Überfahrt ausgestanden hatten, brachen sich nun in Tränen Bahn. Francesco tröstete sie und versprach: »Wenn wir erst in Rom sind, wird das gefährlichste Wasser in deiner Nähe nur der kleine Springbrunnen im Innenhof unseres Hauses sein.« Sie lächelte, doch er sah den Kummer in ihren Augen und schämte sich, weil er ihr all das zumuten musste. Mary aber versicherte ihm ganz ernsthaft: »Wenn du nur bei mir bist, Liebster, kann ich alles ertragen.«

Es waren eben die Worte, die er hören wollte, denn noch immer spukte der Geist der Eifersucht in seinem Herzen. Wenn er nun aber in Marys schöne, ehrliche Augen schaute, dann wusste er, dass ihre Ge­fühle unwandelbar waren wie die Seinen. Und dass alles, was hinter ihnen lag, keine wirkliche Bedeutung für ihre Liebe haben konnte...

Beinahe ein Monat verging nach der waghalsigen Floßfahrt über den Hudson-River noch, bis die kleine Gruppe die Küste wieder er­reichte. Mary wunderte sich sehr, dass in Providence wieder Menschen waren. Sie erfuhren, dass die Überlebenden des Piratenüberfalls da­nach gleich wieder mit dem Aufbau des Dorfes begonnen hatten. Man wollte sich nicht vertreiben lassen.

Als Francesco di Montoglia dann wieder an Bord seines Schiffes ging, sagte er zu Mary: »Wir haben zwar keine Schätze gefunden, doch die Abenteuer, die hinter uns liegen, waren gewiss eine Bereiche­rung für Geist und Seele. Und wir haben Menschen kennen gelernt, die sich nicht bezwingen lassen. Ich glaube, dieses Land hat noch eine große Zukunft vor sich...«

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Der Frühling hatte erneut Einzug gehalten, ein laues Lüftchen wehte durch den Säulengang des Klosters vom Heiligen Franziskus im Herzen Roms. Vater Pietro, der Vorsteher der Bruderschaft, verließ eben seine Zelle, um zwei besondere Besucher zu empfangen. Er lächelte still zu­frieden in sich hinein, denn es schien ihm, als habe sein liebster Schützling nun doch noch den rechten Platz im Leben gefunden. Nach einem ausführlichen Gespräch am Vortag hatte der Abt lange über alles nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass Francesco di Montoglia sehr weit hatte reisen müssen, um schließlich zu sich selbst zu finden. Die Lust auf Abenteuer, auf Neues und Unbekanntes, der Wunsch ›die Welt zu erobern‹ war der Erkenntnis gewichen, dass Glück und Zufriedenheit nur im eigenen Herzen reifen konnten, um ihre Erfüllung im Widerklang eines verständigen Gegenübers zu finden.

Als sich dem alten Mönch Schritte näherten, hob er den Blick und sein Lächeln vertiefte sich. Ein schönes Paar waren sie, der stolze E­delmann und seine zarte Braut. Viele Stürme hatten sie gemeinsam überstanden, zuletzt noch das Ungemach, das in der Familie Montoglia über sie hereingebrochen war, ob Francescos nicht standesgemäßer Wahl seiner Braut. Doch der junge Mann hatte sich durchgesetzt und er plante ein Leben für sich und seine Mary in einem wunderschönen Landhaus vor der Toren der Stadt. Wein wollte er kultivieren, alte Oli­venbäume pflegen und sein großes Glück mit jedem neuen Tag, der am Horizont erschien, würdigen und genießen.

»Vater Pietro, wir sind gekommen, um den Termin für die Trau­ung festzulegen«, erklärte Francesco nun ernsthaft. »Und es darf uns niemand anders einsegnen als nur Ihr allein. Das ist unser Wunsch.« Er tauschte einen liebevollen Blick mit Mary, die zustimmend nickte.

»Nun, mein lieben Kinder, so setzt euch zu mir und lasst uns re­den«, bat der Abt. Seine klugen Augen betrachteten das junge Paar mit unverhohlenem Wohlgefallen. »Doch zunächst, ihr mögt es mir verzeihen, aber auch ein alter Mann wie ich hat noch seine Schwächen und beizeiten plagt ihn die Neugierde auf die Welt dort draußen, zu­nächst wollt ihr mir noch ein wenig berichten von dem fremden Land, den ungewöhnlichen Menschen und all den Abenteuern, die der Herr

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allein euch die Kraft gegeben hat, zu überstehen. Ich werde still hier sitzen und dem lauschen, was meinen Gedanken Nahrung und meiner Seele Erquickung spendet.«

Der junge Conte schmunzelte. »Ich erinnere mich an ein Ge­spräch, ein Jahr ist es nun her und fand an diesem Platze statt, als Ihr mich mahntet, nicht nur auf die äußere Entdeckung unserer Erde aus­zugehen, sondern stets im Glauben die inneren Werte zu suchen. Es stimmt mich glücklich, nun zu hören, dass auch Ihr, lieber Vater Pietro, nicht ganz vollkommen seid.«

»Wir sind alle nur Menschen, unvollkommen und schwach«, er­widerte der Alte weise.

»Das mag sein. Und so stehe ich auch nicht an, von dem großen Abenteuer zu berichten, das hinter uns liegt. Ein Jahr ist's nun her, im Frühling war es, als ich mit meinem Schiff gen England segelte, um die Königin zu sehen...«

Ende

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