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Impressum: zufällig und nicht beabsichtigt. - Buch.de · hin. Wir sind schon so lange verheiratet, jeder hat mal eine Be-ziehungskrise.“ Vedat blinzelte und versuchte, das Thema

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind

zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2016 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbROberer Schrannenplatz 2, D- 88131 Lindau

Telefon: 08382/[email protected] Rechte vorbehalten.

Erstauflage 2015

Lektorat: Melanie WittmannHerstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM

www.literaturredaktion.de

Die Rechte an der Erzählung liegen bei den SchülerInnen von Judith Junk, Ethiklehrerin an der Max-Planck-Schule Rüsselsheim.

Fotos: © Christin Picard

Druck: Bookpress / Polen / Gedruckt in der EU

ISBN: 978-3-86196-660-9– Taschenbuch

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Zwei junge Deutsche in den Fängen des IS

herausgegeben von Ethik-Kurs E-Phase der MPS Rüsselsheim

Frage und Antwort rund um das Thema ISAnknüpfungspunkte zur Weiterarbeit im Unterricht

Merves Weg

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Als Leyla von ihrer Arbeit als Sekretärin bei der Stadtverwal-tung nach Hause kam, brannte in der Wohnung kein Licht. Das machte sie stutzig, denn ihre Tochter Merve wollte bereits um sechs Uhr abends von ihrer besten Freundin Louise zurück sein und nun war es gefühlt schon viel später. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch schloss Leyla die Haustür auf und betrat den dunklen Flur. Sanft glitt die Tür hinter ihr ins Schloss.

„Merve? Ich bin zu Hause!“, rief sie und lauschte angespannt. Aber es herrschte Totenstille.

Als sie das Flurlicht angeknipst hatte, merkte sie, dass alles unverändert war, so wie sie es am Morgen hinterlassen hatte. Schließlich zuckte sie mit den Schultern. Vielleicht hatte sich ihre Tochter in der Zeit vertan und kam gleich nach Hause. Wenn zwei Mädchen aufeinandertrafen, hatten sie sich schließ-lich immer unendlich viel zu erzählen, beruhigte sich Leyla selbst. Besonders wenn sie so gute Freundinnen waren wie Merve und Louise.

Die beiden lachenden Mädchen vor Augen, eins mit langen blonden Haaren und eins mit braunen Locken, huschte unwill-kürlich ein Lächeln über Leylas Gesicht.

Ohne sich weiter Gedanken zu machen, stellte sie ihre Arbeits-tasche im Flur ab und hängte ihren grauen Mantel an die Gar-derobe. Es war fast unmerklich Herbst geworden. Leyla streifte ihre Stöckelschuhe ab, schlüpfte in die bequemen Hausschuhe und band sich ihr dickes braunes Haar zu einem Zopf. Dann lief sie in die Küche und schaltete auch dort das Licht an.

Sie schaute auf die Uhr: kurz nach sieben. Der Sekundenzeiger

Kapitel 1

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bewegte sich unter lautem Ticken fort und trieb die Zeit un-erbittlich voran.

Gleich würde auch Leylas Mann Vedat nach Hause kommen, weshalb sie beschloss, den Tisch für das Abendbrot zu decken. Sie legte Brot, Käse, Salat und andere Lebensmittel auf den dunk-len Eichentisch, den sie von ihrer Mutter vermacht bekommen hatte. Er war noch nie eine Schönheit gewesen, nicht einmal in neuem Zustand. Jedoch konnte sie es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, den Tisch auf den Sperrmüll zu verfrachten, da ihre Mutter sehr an ihm gehangen hatte.

Nachdem jene mit der kleinen Leyla und ihren Geschwistern dem Vater, der als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland gekommen war, gefolgt war, hatte die Mutter darauf bestanden, deutsche Möbel anzuschaffen. Sie wollte so schnell wie möglich dazugehören, hatte die Kinder auf gute Schulen geschickt und viel Wert darauf gelegt, dass alle schnell Deutsch lernten. Nur sie selbst hatte zeitlebens Probleme damit gehabt, diese komplizierte Sprache, die ihr auch nach dreißig Jahren noch neu vorkam, zu verinnerlichen.

„Anne“, sagte Leyla plötzlich in die Stille hinein, und erst als sie es laut ausgesprochen hatte und dem Klang des Wortes hin-terherhorchte, merkte sie, wie sehr sie ihre Mutter, die bereits vor einigen Jahren verstorben war, vermisste. Mit einem leisen Seufzer griff sie schließlich nach der Schublade, um die Brot-messer herauszuholen, als sie hörte, wie die Haustür erneut auf-geschlossen wurde.

„Merve? Bist du das?“, rief sie und hielt in ihrer Bewegung inne.

„Merve? Ist sie noch nicht zu Hause?“, fragte die tiefe Stimme ihres Ehemannes, der in der Kluft eines Krankenpflegers, als der er im städtischen Krankenhaus arbeitete, im Türrahmen der Kü-che erschienen war.

Leyla schüttelte den Kopf. „Nein. Ich denke mal, sie hat die Zeit vergessen.“ Sie sprach den Satz eher aus wie eine Frage.

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Vedat zischte verächtlich und verdrehte die Augen. „Wäre ja nicht das erste Mal, dass sie vereinbarte Uhrzeiten nicht einhält. Hör auf, dir ständig Sorgen zu machen! Merve wird bald 16! Sie ist nun langsam kein Kind mehr und braucht uns immer weni-ger, versteh das doch! Und erst recht braucht sie keine Mutter, die immer auf ihr draufhockt wie eine Glucke.“

Verärgert von seinem unsensiblen Kommentar bezüglich ih-rer einzigen Tochter wandte sich Leyla demonstrativ von ihrem Mann ab und setzte sich auf einen der Stühle, die sie passend zum Tisch auf einem Trödelmarkt gekauft hatten. Sie schwieg, aber ihr Herz zog sich zusammen.

„Ach ja, jetzt kommst du mir wieder mit der Tour. Doch durch Ignorieren wirst du mich auch nicht los, Leyla“, murmelte Vedat und Leyla meinte, eine Spur von Trauer in seiner Stimme wahr-zunehmen.

Als sie ihrem Mann jedoch ins Gesicht schaute, entdeckte sie nur Kälte. Die Liebe, die sich vor Jahren in den Augen abge-zeichnet hatte, wenn er sie ansah, war komplett erloschen.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken und transportierte das Gefühl, das eben noch ihr Herz zusammengezogen hatte, in ih-ren Magen. Der Appetit war ihr nun definitiv vergangen.

„Tut mir leid ...“, murmelte Vedat plötzlich.Zögernd hob Leyla den Kopf und sah ihn an.Er seufzte. „Du weißt, eigentlich hasse ich Streit. Aber ich

habe das Gefühl, dass wir uns immer gegenseitig hochschaukeln, das ist nicht gut. Weder für uns noch unsere Beziehung oder für Merve. Du glaubst doch nicht, dass sie unsere ständigen Aus-einandersetzungen nicht mitbekommt“, erklärte er dann, ohne laut zu werden.

Leyla war sprachlos. Mit so etwas hatte sie beim besten Willen nicht gerechnet. Es war das erste Mal seit Langem, dass Vedat sie in einer solchen Situation nicht anpampte, woraufhin sie sich stets noch weiter zurückzog, sondern offen und ehrlich mit ihr sprach.

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Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. „Denkst du, es wäre besser, wenn wir zu einer Eheberatung gingen? Eine Arbeitskollegin von mir hat gute Er-fahrungen damit gemacht. Manchmal ist es hilfreich, wenn man eine Einschätzung von jemand Außenstehendem mitgeteilt be-kommt. Er kann die Situation neutraler beurteilen“, schlug sie ruhig vor und ließ ihren Mann nicht aus den Augen.

Der saß nur still da und starrte auf den leeren Teller vor sich. Seine einst fast schwarzen, kurz geschnittenen Locken waren im Laufe der Jahre ein wenig ergraut, aber um seine Augen sah sie immer noch den lausbübischen Charme, in den sie sich einst ver-liebt hatte. Seine Augen ... seine Augen, durch die er all seine Gefühle transportieren konnte: Liebe, Wut, Trauer. Wie gut sie ihn kannte. Wie gut sie sich gegenseitig kannten.

Nach einiger Zeit schien er zu nicken. Kaum merklich, aber er nickte.

Erleichtert sank Leyla ein Stück zusammen und konnte nicht anders, als ihn anzustrahlen. „Danke. Wir kriegen das wieder hin. Wir sind schon so lange verheiratet, jeder hat mal eine Be-ziehungskrise.“

Vedat blinzelte und versuchte, das Thema zu wechseln. „Ich rufe Merve auf ihrem Handy an. Du hast mich plötzlich ange-steckt mit deinen Sorgen. Eineinhalb Stunden zu spät war sie noch nie. Das ist wirklich untypisch.“ Er stand auf und griff nach dem Festnetztelefon, das an der Wand neben dem Türrahmen angebracht war.

Leyla vernahm das Tuten, welches aus dem Hörer dröhnte, und unmittelbar darauf hörte sie weiter entfernt ein leises Klin-geln. Verwirrt schauten sich die beiden an. Mechanisch stand Leyla auf, um dem Klingelton zu folgen, der sie direkt in Merves Zimmer führte. Sie klopfte. Als keiner antwortete, drückte sie die kalte Türklinke nieder und griff mit der Hand links nach dem Lichtschalter. Leyla blinzelte kurz und schaute in das Zimmer ih-rer Tochter. Das Bett war leer und der Raum wirkte seltsam ver-

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lassen. Der sonst so unordentliche Schreibtisch war aufgeräumt und sortiert.

„Vedat, du kannst aufhören durchzuklingeln. Das Handy liegt hier in Merves Zimmer“, rief sie in die Küche und betrat nun den Raum. Sofort fiel ihr auf, dass der Kleiderschrank nur halb gefüllt war, obwohl sie erst gestern Mittag die frisch gewaschene Wäsche dort hineingeräumt hatte. Leyla wurde flau im Magen. Etwas stimmte ganz und gar nicht.

„Was ist passiert? Du zitterst ja“, stellte ihr Mann fest, der hin-ter ihr aufgetaucht war und nun ebenfalls eintrat.

Doch Leyla nahm ihn kaum wahr. Ihr Blick galt einzig und allein einem Papier, das einsam und unangetastet auf dem Schreibtisch lag. Mit bebenden Fingern zeigte sie darauf und wie auf Kommando hob Vedat das Blatt hoch. Merves Handschrift. Seine Augen weiteten sich und jegliche Farbe wich aus seinem sonst so gebräunten Gesicht.

„Was ist los? Sag doch, was steht da?“, bettelte Leyla und ver-suchte, einen Blick auf den Zettel zu erhaschen.

Er hielt ihr den Brief hin und starrte mit ausdrucksloser Miene durch sie hindurch. Ängstlich fing Leyla an, die Nachricht ihrer Tochter zu lesen.

Liebe Mutter, lieber Vater,ihr braucht euch keine Sorgen um mich zu machen. Wenn ihr das lest, bin ich schon lange unterwegs. Unterwegs in ein neues Leben, das mir Sinn und Halt geben wird.Ich bin nicht gegangen, weil ich euch nicht lieb habe, sondern weil ich euch stolz machen will.Natürlich konnte ich euch vorher nicht sagen, dass ich gehe. Ihr hättet mich aufgehalten und das wäre nicht Sinn der Sache gewesen. Außerdem möchte ich nicht, dass ihr euch Sorgen um mich macht. Ihr müsst wissen, dass ich nicht alleine unterwegs bin, denn Yusuf wird mich auf meinem Weg begleiten.Vielleicht fragt ihr euch nun, wieso das jetzt so plötzlich kommt

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und wieso ich nicht mit euch gesprochen habe. Aber ihr müsst verstehen, dass ich den Abschied kurz und schmerzlos halten wollte, damit ihr es leichter habt, mich loszulassen.Ich möchte dort, wo ich jetzt bin, mein Ziel verwirklichen, das ihr immer außer Acht gelassen habt. Was natürlich nicht schlimm ist, denn jeder sollte um das, was ihm persönlich am Herzen liegt, kämpfen.Dass ihr euch ständig gestritten habt, hat mich in meiner Ab-sicht fortzugehen bestärkt, denn glaubt mir, ich habe jeden eurer Dispute mitbekommen, selbst wenn ihr versucht habt, es zu vertuschen.Ich glaube, dass ihr es ohne mich leichter habt, wieder zu-einanderzufinden, denn ohne Kind ist das Leben manchmal einfacher.Außerdem fühle ich mich in der Schule überfordert. Ich musste ständig lernen und Hausaufgaben machen. Dabei hatte ich im-mer das starke Gefühl, dass ich mich nicht selbst verwirklichen konnte, und mir ging es eine Zeit lang nicht sehr gut.

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Aber Yusuf hat mir mit seiner Lebenseinstellung gezeigt, dass es sich wirklich lohnt, Dinge in Angriff zu nehmen, die man für wichtig hält, und ich habe genau dieses „Ding“ gefunden.Ihr solltet wissen, dass ich nicht voreilig entschieden habe weg-zugehen. Ich habe es lange geplant und mich im Voraus erkun-digt, wie man am schnellsten und sichersten dorthin gelangt, wo ich hingehöre. Es wird zwar nicht einfach werden, sich einzuleben, jedoch werde ich das schaffen. Ich bin mehr als überzeugt davon, dass ich das Richtige tue. Auch Leute, mit denen ich seit Kurzem Kontakt habe, sagten, dass ich eine gute Entscheidung getroffen hätte.Warum sollte es also falsch sein?Was ist so schlimm daran, für seinen eigenen Glauben zu kämpfen?Ich werde nichts bereuen, selbst wenn mein Vorhaben scheitern sollte. Denn wenigstens kann ich dann von mir selbst behaup-ten, dass ich alles versucht habe.Ich werde euch sehr vermissen, aber ich werde wiederkommen und dann werdet ihr unglaublich stolz auf mich sein, das weiß ich.Und falls ich nicht wiederkommen sollte, werden wir uns den-noch wiedersehen ...Ich liebe euch.Merve

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Es war Sonntagabend. Der letzte Abend der Sommerferien, bevor sie auf das Oberstufengymnasium wechseln sollte. Merve saß alleine am Esstisch und pickte lustlos und in Gedanken ver-sunken in den Kartoffeln mit Auberginengemüse herum, die sie sich aufgewärmt hatte. Sie war allein. Ihr Vater arbeitete in der Klinik, ihre Mutter war mit Freundinnen beim Sport. Sogar am letzten Abend der Sommerferien hatten sie wieder mal keine Zeit für sie.

Merve trug ihr Geschirr in die Küche und nahm sich einen Joghurt als Nachtisch. Sie setzte sich auf das Sofa und überlegte, was sie tun könnte, mit sich allein in dieser leeren Wohnung. Sie könnte sich an ihren Laptop setzen und nach Bildern suchen,

Kapitel 2

Rückblende