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In diesem Heft Editorial Essay HELMUT BOCK Die Russische Revolution 1917 – »Kriegskind des 20. Jahrhunderts« 7 Rechtschreibreform RONALD LÖTZSCH Die »Rechtschreibreform« und ihre »utopische« Alternative 21 Gesellschaft – Analysen & Alternativen CHRISTOPH BUTTERWEGGE Globalisierung, Standortsicherung und Wohlfahrtsstaatsentwicklung 49 HEINZ-DIETER HAUSTEIN Evolutionskrise, Arbeit und technologische Innovation 62 ANDREAS REICHSTEIN Die Zukunft der Arbeitswelt 74 KLAUS STEINITZ Massenarbeitslosigkeit in den neunziger Jahren – Schlußfolgerungen für linke Alternativen 86 HERBERT NIEMANN Überlegungen zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft 100 Lesenswert PETER JACOBS »Ein bißchen unter Naturschutz«. Victor Klemperers Tagebücher aus der frühen DDR-Zeit 108

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In diesem Heft

Editorial

EssayHELMUT BOCK

Die Russische Revolution 1917 – »Kriegskind des 20. Jahrhunderts« 7

Rechtschreibreform

RONALD LÖTZSCH

Die »Rechtschreibreform« und ihre »utopische« Alternative 21

Gesellschaft – Analysen & Alternativen

CHRISTOPH BUTTERWEGGE

Globalisierung, Standortsicherung und Wohlfahrtsstaatsentwicklung 49

HEINZ-DIETER HAUSTEIN

Evolutionskrise, Arbeit und technologische Innovation 62

ANDREAS REICHSTEIN

Die Zukunft der Arbeitswelt 74

KLAUS STEINITZ

Massenarbeitslosigkeit in den neunziger Jahren – Schlußfolgerungen für linke Alternativen 86

HERBERT NIEMANN

Überlegungen zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft 100

Lesenswert

PETER JACOBS

»Ein bißchen unter Naturschutz«.Victor Klemperers Tagebücher aus der frühen DDR-Zeit 108

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VOLKMAR SCHÖNEBURG

Hilde Benjamin – Eine Biographie 114

Osteuropa

LÁSZLÓ ANDOR

Für den Osten nichts als Versprechungen 123

WLADISLAW HEDELER

Für einen neuen Sozialismus 128

Einladung zur Crossover-Konferenz 132

Utopie-Geschichte

RICHARD SAAGE

Zum Verhältnis von Individuum und Staatin Thomas Morus’ »Utopia« 134

Realsozialistische Kommunistenverfolgung

MEINHARD STARK

Die SED-Führung und die deutschen Opfer der »Säuberung« in der UdSSR 146

MARIO KESSLER

Antisemitismus in der SED 1952/53. Verdrängung der Geschichte bis ans Ende 158

Festplatte

WOLFGANG SABATH

Die Wochen im Rückstau 168

Bücher & Zeitschriften

Detlef Joseph:Der Rechtsstaat und die ungeliebte DDR, GNN Verlag 1997(HERMANN KLENNER) 170

Elke Reuter/Detlef Hansel: Das kurze Leben der VVN von 1947 bis 1953.Die Geschichte der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR, edition ost Berlin 1997(MANFRED BEHREND) 171

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Richard Scheerer: Bekennende Christen in den evangelischen Kirchen Deutschlands 1966-1991. Geschichte und Gestalt eines konservativ-evangelikalen Aufbruchs,Haag und Herchen Frankfurt a.M. 1997

Wolfgang Thumser: Kirche im Sozialismus. Geschichte, Bedeutung und Funktion einer ekklesiologischen Formel (Beiträge zur historischen Theologie 95), XVIII,Verlag J.C.B. Mohr/ Siebeck Tübingen 1996(JENS LANGER) 174

August Bebel: Ausgewählte Reden und Schriften. Band 10 (2 Teilbände): Die Frau und der Sozialismus. Hrsg. vom InternationalenInstitut für Sozialgeschichte Amsterdam, mit einem Geleitwort von Susanne Miller, Bearb. von Anneliese Beskeund Eckhard Müller, K.G. Saur Verlag München/New Providence/London/Paris 1996(HANNA BEHREND) 175

Peter L. Berger (Hrsg.): Die Grenzen der Gemeinschaft. Konflikt und Vermittlung in pluralistischen Gesellschaften. Ein Bericht der Bertelsmann Stiftung an den Club of Rome, Verlag Bertelsmann Stiftung Gütersloh 1997(STEFAN BOLLINGER) 179

Hubert Schleichert: Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren. Anleitung zum subversiven Denken, C.H. Beck Verlag München 1997Edward W. Said: Götter, die keine sind. Der Ort des Intellektuellen,Berlin Verlag Berlin 1997Paolo Flores d’Arcais: Die Linke und das Individuum. Ein politisches Pamphlet Verlag Klaus Wagenbach Berlin 1997(ROGER BEHRENS) 181

Gabriele Köhler, Charles Gore, Utz-Peter Reich, Thomas Ziemer (eds.):Questioning Development. Essays on the theory, policies and practice of development interventions,Metropolis-Verlag Marburg 1996(ARNDT HOPFMANN) 183

Carlo M. Cipolla: Die gezählte Zeit. Wie die mechanische Uhr das Leben veränderte, Verlag Klaus Wagenbach Berlin 1997(ULRICH BUSCH) 185

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Tanja Jaksch, Hans Rudolf Bork, Claus Dalchow, Dieter Dräger (Hrsg.): Landnutzung in Mittel- und Osteuropa – Natürliche Bedingungen,Land- und forstwirtschaftliche Nutzungspotentiale, Transformationsprozeß im ländlichen Raum, Budapest 1996(HORST GRIENIG) 187

Jenny Richter/Heike Förster/Ulrich Lakemann: Stalinstadt – Eisenhüttenstadt. Von der Utopie zur Gegenwart.Wandel industrieller, regionaler und sozialer Strukturen in Eisenhüttenstadt, Schüren Marburg 1997(JÖRG ROESLER) 190

An unsere Autorinnen und AutorenImpressum 192

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Editorial

Wenn es auf das Jahresende zugeht, ist es wohl an der Zeit, kurzinnezuhalten und über Vergangenes und Zukünftiges nachzuden-ken. Vielleicht nicht das einzig Wichtige, aber für uns und unsereLeser sicherlich von großer Bedeutung – »UTOPIE kreativ« hatwieder ein durchaus erfolgreiches Jahr lang bestanden.

Erstmals seit langem sind einzelne Hefte eines Jahrganges ver-griffen: Neben dem Mai-Heft (Nr. 79), in dem unter anderem einÖkologie-Arbeitspapier der Brandenburger PDS erschienen ist,betrifft dies vor allem das noch immer stark nachgefragte Juli/August-Heft (Nr. 81/82), insbesondere die dort dokumentiertenBeiträge der Konferenz »Realsozialistische Kommunistenver-folgung. Von der Lubjanka bis Hohenschönhausen« große Auf-merksamkeit bei der Leserschaft fanden und finden. Das hat unsauf die Idee gebracht, eventuell einen Sonderdruck mit diesenBeiträgen herauszubringen. Aber die finanziellen Ressourcen vonRedaktion und Verlag sind sehr begrenzt und wurden im Laufedes Jahres durch die wohl etwas voreilige Veröffentlichung einesAufsatzes von Wolfgang Harich »Über die Besonderheiten desdeutschen Weges zum Sozialismus« im April-Heft (Nr. 78) nochweiter verringert. Denn diese Publikation hat zu einer gerichtli-chen Auseinandersetzung um die Veröffentlichungsrechte geführt,in der Redaktion und Verlag sowie der Autor Jochen Cerny – derdas Dokument aus der Feder Harichs im Archiv der Gauck-Behör-de gefunden und es überhaupt erst der Öffentlichkeit zugänglichgemacht hat – letztlich unterlegen sind.

Der Hauptgrund, weshalb wir uns mit dem Sonderdruckder Konferenzbeiträge so schwer tun, ist allerdings ein anderer.»UTOPIE kreativ« ist nämlich chronisch unterfinanziert. Dasheißt, wir können faktisch zum gegenwärtigen Verkaufspreisdie Kosten nur decken, wenn stets die gesamte Auflage einesHeftes tatsächlich verkauft würde. Dies ist natürlich unrealistisch,und wir sehen uns daher mit dem unhaltbaren Zustand konfron-tiert, daß Defizite bei der Herstellung unserer Zeitschrift praktischvorprogrammiert sind. Weil aber auch die Diskussion sozialisti-scher Alternativen, wie die aller Utopien, einer realitätsverhaftetenGrundlage bedarf, wenn sie nicht zur reinen Illusion verkommensoll, müssen wir dringend einen Ausweg finden. Und dieser Auswegkann – da uns als ehrenamtlich arbeitende Redaktion das leiderallgemein standort-übliche Instrument der Kostensenkung durchEntlassung von Mitarbeitern nicht zu Gebote steht – nur über eine

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Preiserhöhung führen. Nach zweieinhalb Jahren Preisstabilitätwird ab Januar 1998 das Einzelheft 10 DM, das Doppelheft 20 DMund das Abonnement im Inland 108 DM jährlich (für das Ausland144 DM) kosten müssen.

Dabei ist uns sehr wohl bewußt, daß wir uns damit leicht in einDilemma hineinmanövrieren könnten, weil natürlich immer dieGefahr besteht, daß die erhofften Mehreinnahmen durch denRückgang bei den Abonnements und beim Einzelverkauf (über)-kompensiert werden. Wir hoffen jedoch, durch ein verstärktesBemühen um eine weitere Verbesserung der Qualität manchefinanzielle Zumutung durch mehr Niveau auszugleichen. Amwichtigsten ist allerdings, daß uns unsere Stammleserinnen und-leser treu bleiben und neue dazukommen.

Die Redaktion verabschiedet sich aus dem alten Jahr mit einemherzlichen Dankeschön an unsere Autoren, Leser und Sympathi-santen sowie mit den besten Wünschen für ausreichend kreativeUtopien im neuen Jahr 1998.

ARNDT HOPFMANN

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Immer und überall droht dem Nachdenken über Geschichte dieGefahr der geistigen Selbstauslieferung an heutige oder gestrige»Traditions«-Macher: an Sachwalter von rein politischen Interes-sen, die ihre »Traditionen« aus der Geschichte herleiten – zumeistdurch willkürliche Auswahl, Deutung, Aktualisierung. Mit anderenWorten: Es gibt subjektive Vorgänge, bei denen Ereignisse, Ideenund Taten der Vergangenheit gemäß aktuell-politischer Strategienrezipiert, durch die jeweils herrschende Traditionspflege aber auchzurechtgebogen werden.

Von Wert ist dagegen ein anderes: die Arbeit mit dem Begriff»historisches Erbe«. Er bezieht sich auf alles, was objektiv in derGeschichte existiert und – wie auch immer – als Wirkungskraft aufden Gang der Menschheit einen Einfluß gewonnen, das Leben derZeitgenossen wie der Nachgeborenen geprägt hat. Der Begriff desobjektiv historischen Erbes könnte geeignet sein, die Aktivitätenund Entscheidungen der Vergangenheit primär aus den einstigenBedingungen und Verhältnissen zu verstehen, folglich nicht an-ders als durch historisch-konkrete Reproduktion und Darlegungzu erinnern. 80 Jahre nach der Russischen Revolution wäre dem-nach sine ira et studio zu sagen, was die widerstreitenden Akteuredes Jahres 1917 unter dem Zwang von bis dahin niemals erlebtenVerheerungen tun wollten und konnten: was sie erhofften, erreich-ten – aber auch verfehlten.

Die forschende Analyse und Interpretation – die Voraussetzungdes historisch begründeten Erinnerns – erfolgt freilich nicht ohnedie weltpolitischen Erfahrungen, die allen Generationen seit da-mals zugewachsen sind. Dieses heutige Wissen, das mit seinenunterschiedlichen Parteinahmen, auch seinen Ernüchterungenwiederum stark eingefärbt ist, kann nun ebenfalls dazu verleiten,die geschichtliche Rückschau subjektiven Beeinträchtigungen aus-zusetzen. Die Revolution von 1917, betrachtet durch die Brille derVerächter antikapitalistischer Alternativen oder gar der früherenKonter-Revolutionäre und ihrer bewußten Nachfahren, erscheintals Büchse der Pandora, aus der die fundamentalen Irrtümer, diegesellschaftlichen Krankheiten und Verbrechen unseres Jahrhun-derts gekommen seien. Widerspruch zwischen bürgerlicher Demo-kratie und kommunistisch-faschistischem Totalitarismus – so näm-lich heißt das Konstrukt, wonach der Charakter des Zeitalters von1917 bis 1990 einzig zu erklären sei.

Doch da sind auch die Millionen der tatsächlich Enttäuschten,

Helmut Bock – Jg. 1928,Historiker, Prof. em. Dr. phil.habil., Berlin.

Der vorliegende Text ist dieredigierte und mit Literatur-angaben ergänzte Fassungdes Beitrages, der für einenReader der Marx-Engels-Stiftung e. V., Wuppertal,geschrieben wurde undvoraussichtlich im VerlagPahl-Rugenstein ebenfallspubliziert wird. Der Verfas-ser möchte betonen, daßer sich hier nur zu den Ur-sachen und dem unmittel-baren Verlauf der Russi-schen Revolution, nicht aberzu ihren Weltwirkungenäußern kann.

UTOPIE kreativ, H. 85/86 (November/Dezember) 1997, S. 7-207

HELMUT BOCK

Die Russische Revolution 1917 –»Kriegskind des 20. Jahrhunderts«

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der Resignativen. Vormals Tätige oder Sympathisierende der sozialenRevolution, empfinden sie sich nunmehr auf dem Scherbenhaufendes mißlungenen, strukturell auch mißratenen staatsmonopolisti-schen Sozialismus. Selbst ethische Sozialisten, die vom ideellenGebot der Gleichheit und der Brüderlichkeit aller Menschen undVölker überzeugt geblieben sind, nennen die »Große SozialistischeOktoberrevolution« eine historische »Sackgasse«, die keine son-derliche Erinnerung, jedenfalls keine Würdigung als ein weltge-schichtlich überdauerndes Ereignis und Datum verdient.

Es bleibt dennoch die Frage, ob somit die ganze Russische Re-volution als ein politisch-soziales Ereignis erledigt, das Jahr 1917als eine Zäsur der Weltgeschichte aus dem Gedächtnis zu löschenist. Denn die konkrete Historie zeigt mehr als den Gegensatz vonDemokratie und Totalitarismus, die gewiß unvereinbar, aber durchdie Gleichsetzung faschistischer und prinzipiell antifaschistischerDiktaturen bösartig verfälscht sind. Die realistische Retrospektiveoffenbart, daß die erste Hälfte des Jahrhunderts, zumindest seit1914, eine Epoche nie dagewesener Kriege und zunehmend welt-umspannender Vernichtungen war. Und nicht die von 1917 gekom-mene Sowjetunion war »der Schoß, aus dem das kroch«. Schon derErste Weltkrieg war eine von kapitalistischen Staaten verschiede-ner Wachstumsgrade bewirkte – um nicht zu sagen: verschuldete –Völkerkatastrophe.

Ursachen und Wirkungen erscheinen unter diesem Aspekt vomKopf auf die Füße gestellt. »Revolution war das Kriegskind des 20.Jahrhunderts: Besonders die Russische Revolution von 1917 [...].Die Revolution, die schließlich alle Regime von Wladiwostok biszum Rhein hinwegfegte, war ein Aufstand gegen den Krieg.« Sourteilt der britische Historiker E. Hobsbawm in seiner Jahrhundert-bilanz »Das Zeitalter der Extreme«.1

Man befrage die hinterlassenen Zeugnisse der Vorkriegszeit um1900, als die führenden Nationalstaaten konstituiert waren und dasgroße Kapital begonnen hatte, sich in Monopolvereinigungen derIndustrie und der Banken zu konzentrieren. Schon seit dem Krim-krieg hatten sieben militärische Regionalkonflikte allein das Staa-tensystem Europas erschüttert, ganz zu schweigen von den kolo-nialen Aggressionen, mit denen Großbritannien, Frankreich, dieUSA, Deutschland, Italien die Völker anderer Kontinente heim-suchten. Zumal Deutschlands arroganter Triumph über die franzö-sische Nation im Spiegelsaal zu Versailles legte das Schlangenei,aus dem ein ganz neues Unheil erwuchs. Bismarcks Reichsgrün-dungsakt und der Annexionsfriede von 1871 beschworen den Kriegaller bisherigen Kriege, das düstere Menetekel des Weltkriegs her-auf. In steigender Sorge beobachtete die geistige Elite Europas,wie mit der militärpolitischen Staatenblockbildung nicht nur eingewaltiger Zusammenprall drohte. Mit dem Eilmarsch der Technikund Industrie, den die Wachstumsfanatiker einen unaufhaltsamen»Fortschritt« nennen, hatte eine verhängnisvolle, bis heute andau-ernde Entwicklung begonnen: eine nie endende Revolution derWaffentechnik und ein darauf basierendes Wettrüsten.

Das war die Welt, in der sich die Parteien der arbeitenden Klas-se formierten, um mit der sozialen Emanzipation auch eine frie-

1 Eric Hobsbawm: DasZeitalter der Extreme.Weltgeschichte des 20.Jahrhunderts, München-Wien 1995, S. 78 und 93.

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denspolitische Befreiung herbeizuführen. Marx und Engels, die be-vorzugten Köpfe der Arbeiterbewegung des alten Jahrhunderts,hatten in ihrer Frühzeit den großen Staatenkrieg durchaus für die»Weltrevolution« und den zukünftigen »Weltfrieden« in Kauf neh-men wollen. Seit 1870/71 aber wirkten sie mit aller Entschieden-heit gegen jeden der europäischen Kriege. Die beiden Dioskurenwaren sich in der Auffassung einig, daß Krieg »unser größtes Un-glück« sei. Der kommende Weltkrieg war die schlimmste Befürch-tung des alten Engels gegen Ende seines Lebens in London. Dafürzeugt ein Text von nahezu alttestamentlicher Prophetie [1887]:»Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander ab-würgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, wie noch nie einHeuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des DreißigjährigenKriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über denganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, ... Verwilde-rung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung uns-res künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endendim allgemeinen Bankrott; Zusammenbruch der alten Staaten undihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, daß die Kronen zu Dut-zenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, dersie aufhebt [...].«2 Angesichts solcher Vernichtungen müßten die»Sozialisten in allen Ländern für den Frieden« sein. Sonst würdengerade die Proletarier von den herrschenden Klassen gezwungen,»sich gegenseitig abzuschlachten«.3 Gewiß stand die sozialistischeRevolution nach wie vor im Mittelpunkt der strategischen Überle-gungen. Doch ein Weltkrieg, den die machthabenden Regime ver-antworteten, war keinesfalls der Preis, den die Marxisten für dieEmanzipation des Proletariats zu zahlen wünschten.

Auch Menschen des Bürgertums negierten Imperialismus undMilitarismus, indem sie auf Friedenskongressen, Interparlamenta-rischen Konferenzen, nationalen und internationalen Kundgebun-gen den modernen Pazifismus gegen den Moloch des modernenKrieges vertraten. »Die Waffen nieder!« hieß ihre bündige Losung.Als aber Bertha von Suttner, die den pazifistischen Streitruf erdach-te und vorlebte, im Jahr 1906 vor dem Nobel-Komitee des Storth-ing in Kristiania die Weltlage reflektierte, erblickte sie alles andereals die gewünschte Achtung des Friedens und des obersten derMenschenrechte – des Rechts auf Leben, das doch in der vielzi-tierten Deklaration von 1789 vom emporsteigenden Bürgertum ga-rantiert worden war. Sie sah die Menschenschlächterei des rus-sisch-japanischen Krieges und als Folge die Revolution von 1905.In den Staaten Mittel- und Westeuropas gewahrte sie chauvinisti-sche Hetze, Säbelgerassel und Rüstungen überall. »Festungen wer-den gebaut, Unterseeboote fabriziert, ganze Strecken unterminiert,kriegstüchtige Luftschiffe probiert, mit einem Eifer, als wäre dasdemnächstige Losschlagen die sicherste und wichtigste Angele-genheit der Staaten.« Auf der gesamten Erde: Brände, Raub, Bom-ben, Hinrichtungen, Massaker – »eine Orgie des Dämons Gewalt«.Die Verallgemeinerung lautete: »Auf Verleugnung der Friedens-möglichkeit, auf Geringschätzung des Lebens, auf den Zwang zumTöten ist bisher die ganze militärisch organisierte Gesellschafts-ordnung aufgebaut.«4 Das Reformstreben der Pazifisten, das seiner

2 Friedrich Engels:Einleitung [zu SigismundBorkheims Broschüre»Zur Erinnerung für diedeutschen Mordspatrioten.1806-1807«], in: Marx-Engels, Werke, Bd. 21,S. 350-351.

3 Derselbe: Der Sozialis-mus in Deutschland, eben-da, Bd. 22, S. 256; Briefan das Organisationskomi-tee des internationalenFestes in Paris, London,13. Februar 1887, ebenda,Bd. 21, S. 344.

4 Bertha von Suttner:Vortrag vor dem Nobel-Comitee des Storthing zuChristiania am 18. April1906 [abgedr. bei B. Kempf:Bertha von Suttner. Das Le-bensbild einer großen Frau,Wien 1964, S. 180-184].

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Tendenz nach auf einen Völkerbund oder gar Vereinte Nationen ab-zielte, wollte die Lebensinteressen der Menschheit erfüllen. Des-halb zählte die Suttner zu den Gestalten, auf die ihre Hoffnungengerichtet waren, nicht nur Repräsentanten der bürgerlichen Demo-kratie, sondern auch Sozialisten der Zweiten Internationale. Sieempfahl den bürgerlichen Friedensgesellschaften eine andere, weitgrößere Bewegung als möglichen Verbündeten: jene »Partei, derenAnhänger schon nach Millionen zählen, die Partei der Arbeiter, desVolkes, auf deren Programm unter den wichtigsten Forderungender ›Völkerfrieden‹ obenansteht«.5

Es wäre ein Leichtes, die häufigen Friedensresolutionen derZweiten Internationale an dieser Stelle nachzubeten. Von ge-schichtsmächtiger Bedeutung wurde allein die Mitschuld der Vor-kriegs-Sozialisten an der weltpolitischen Katastrophe von 1914.Dafür mögen die enttäuschten Erwartungen zeugen, die sogar ausdem Bürgertum kamen. Die erste Nobelspreisträgerin des Friedensbeispielsweise verstarb eine Woche vor den Schüssen von Saraje-wo mit vergeblichem Glauben an die Zuverlässigkeit der Arbeiter-bewegung: »[...] Gegen den Übermilitarismus, der jetzt die Atmo-sphäre erfüllt, ist nicht anzukämpfen. Die einzigen – weil sie aucheine Macht sind –, auf die man hoffen kann, daß sie den Massen-krieg abwenden, sind die Sozialdemokraten.«6 Wie jeder weiß, er-füllten die Führer der Zweiten Internationale das bislang selbst inAnspruch genommene Vertrauen nicht. Jean Jaurés fiel in Paris alsein Märtyrer der Friedensidee. Fast alle anderen aber reckten dieKriegsstandarten und gaben ihr Jawort, so daß die »Proletarieraller Länder« – nicht sich vereinigten.

Es gelang sämtlichen kriegtreibenden Regierungen, die Führerder nationalen Arbeiterparteien, mittels deren Organisation undParteipresse auch die proletarische Klasse, an ihre Seite zu zwin-gen. Französische, englische, belgische Sozialisten riefen dazu auf,die bürgerlichen Freiheiten gegen die »halbfeudalen Monarchien«Deutschlands und Österreich-Ungarns zu verteidigen, und es gabSozialdemokraten des weit rückständigeren Rußland, die in diesel-be Kriegstrompete bliesen, weil doch ihr Land der Entente an-gehörte. Die Deutschen und die Österreicher indessen erklärten,die von der Sozialdemokratie erkämpften Rechte und Freiheitengegen die Despotie des Zarentums schützen zu müssen. In beidenLagern wurde überdies ein gleichklingendes Argument als »marxi-stisch« ausgegeben: Weil die Zeit für eine sozialistische Revolu-tion noch nicht reif sei, müßten die Arbeiter die jeweils fortge-schrittenere Bourgeoisie unterstützen – und als solche galt immernur die des eigenen Landes. Der Verrat an Idee und Beschlüssendes proletarischen Internationalismus riß die erste, kaum wiedergutzumachende Kluft in die Arbeiterbewegung des 20. Jahrhun-derts. Das wirkte derart traumatisch auf standhafte Internationali-sten und Kriegsgegner, daß die aus ihren Reihen hervorgehendenkommunistischen Parteien auch ihrerseits jede Möglichkeit ver-säumten, die einmal verursachte Spaltung späterhin aufrichtig unddemokratisch zu überwinden.

Was auf den Kriegsbeginn von 1914 folgte, übertraf selbst dieschlimmsten Erwartungen und Voraussagen. Niemals zuvor ver-

5 Dieselbe: Die Waffennieder! Eine Lebensgeschichte,Dresden-Leipzig 1892,S. 305.

6 Dieselbe: Tagebuchnotizvom 14. Mai 1914, zit. nach:Sigrid u. Helmut Bock:Bertha von Suttner - Arbei-ten für den Frieden, in: DieWaffen nieder! Eine Lebens-geschichte, Berlin 1990,S. 458.

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zeichneten die Annalen der Weltgeschichte eine solche Barbarei.Das chauvinistische Wechselgeschrei der »Vaterlandsverteidi-gung«, die blutigen Massenszenen der »Generaloffensiven«, dieverheerenden Trommelfeuer der »Materialschlachten« beherrsch-ten das vordergründig sichtbare Geschehen. Das ganze Elend derIndividuen und der Völker aber blieb nur in einer lautlos wachsen-den Statistik überschaubar: Ihre Endsumme betrug rund zehn Mil-lionen Gefallener, zwanzig Millionen Verwundeter und Kriegs-krüppel, mehrere – nur ungenau schätzbare – Millionen Verhun-gerter, Seuchentoter, spurlos Verschwundener. In vier Kriegsjahrenwurden zweimal soviel Menschen getötet wie in sämtlichen Krie-gen seit der Französischen Revolution von 1789. Die unfaßbarenMenschenopfer, der Milliardenverlust an Produktivkräften, mate-riellen Gütern und unwiederbringlichen Kulturschätzen, die zur ge-genseitigen Abschlachtung erniedrigten menschlichen Beziehun-gen – dies alles war Resultat der Politik von sogenannten zivili-sierten Staaten. Der humane Sinn von Leben und Arbeit war in denWidersinn massenhafter Verrohung und Vernichtung pervertiert.Wen mag es verwundern, wenn Alternativdenker damals von einerganz anderen »Sackgasse« sprachen – von der tödlichen Zwangs-lage, den barbarischen Abgründen, in welche die Großmächte des19. und beginnenden 20. Jahrhunderts nunmehr die Menschheithineindirigiert hatten?

Doch am 23. Februar des Julianischen Kalenders, dem 8. März1917, eskalierte ein Streik der Rüstungsarbeiter im PetrograderPutilowwerk und ein Hungermarsch der Frauen zu regierungs-feindlichen Demonstrationen: »Brot!« – »Nieder mit der Selbstherr-schaft!« – »Schluß mit dem Krieg!« Nach sechs Tagen anhalten-der Massenunruhen in Petrograd standen auch 127.000 Soldaten,mehrheitlich Bauern im Waffenrock, an der Seite der revoltieren-den Frauen und Mütter, der Arbeiterinnen und Arbeiter. Die regio-nale Militärmacht entzog sich der Befehlsgewalt des Zaren, seinerGeneralität und Kamarilla – und ebendas machte den Volkswider-stand zur siegreichen Revolution. Der Abdankung Nikolaus II.folgte der Thronverzicht seines Bruders und an demselben 2. Märzdie Bildung der bürgerlichen, aber noch Provisorischen Regierung.Hunderttausende hatten den nahezu unblutigen Machtwechsel aufPetrograds Straßenpflaster weniger mit Waffen als mit ihren Füßenerstritten. Der hauptstädtische Februaraufstand, der in anderenTeilen Rußlands wie auch an der Front einen verzögerten, aberkräftigen Widerhall fand, entsprang dem brisanten Gemenge vonsozialen, mentalen, politischen Konfliktstoffen – zur Explosiongetrieben durch die Zwangsmittel der zaristischen Kommando-gewalten und die provozierend sinnwidrige Scharfmacherei derDurchhaltestrategen des fast schon verlorenen Krieges.

Jetzt schien die kapital- und grundbesitzende Bourgeoisie beru-fen, über des Volkes Schicksal, vor allem den aktuellen Urgrunddes Elends, den Krieg, zu entscheiden. Gravierend ist aber die Tat-sache, daß im Programm der Provisorischen Regierung, die sichmit den Sozialdemokraten-Menschewiki und den agrarpolitischorientierten Sozialrevolutionären des Petrograder Sowjets abge-stimmt hatte, »die Kriegsfrage« – wie Zeitgenossen berichten –

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»mit völligem Stillschweigen übergangen« wurde. Die neuenMinister, die überdauernden Armeeoberbefehlshaber, das traditio-nelle Offizierskorps und das an der Rüstung profitierende Unter-nehmertum gedachten den Krieg unter allen Umständen bis zum»Sieg-Frieden« fortzusetzen. Es blieb den Arbeitern des BaltischenWerkes und den weiteren Volksversammlungen vorbehalten, be-reits Anfang März eine sofortige »Beendigung des Krieges ohneAnnexionen und Kontributionen« zu verlangen. Frieden ohne An-nexionen und Kontributionen! – das durchschlug den GordischenKnoten, an dem sämtliche Staatsregierungen auf beiden Seiten derFront noch unentwegt knüpften. Die Losung, von einem Häufleinkonsequenter Sozialisten und Internationalisten auf der Zimmer-walder Konferenz [1915] in Einsamkeit angenommen, entstiegjetzt den Arbeiterhirnen und zündete auch in einer Unzahl ge-schundener, zum Schlachtentod verurteilter Bauernsoldaten.

Gerade die Alternative Krieg oder Frieden bewirkte jene Zer-reißproben, an denen im Revolutionsjahr 1917 insgesamt vier Mi-nisterkabinette der bürgerlichen Regierung zerbrachen. Vor allemdie Brussilow-Offensive, ihr verlustreiches Scheitern bei gleichzei-tiger Niederschlagung der Antikriegsdemonstrationen im Juli, warder mentale Wendepunkt, seitdem eine revolutionär-demokratischeÜbereinkunft zwischen Regierung und Volk, Heeresführung undSoldaten unmöglich wurde. »Alle Macht den Sowjets!« hieß dasBanner, unter dem die gewaltsam zurückgewiesenen Massen sichsammelten – sich mehr und mehr abwendend von regierungstreuenMenschewiki und Sozialrevolutionären, zumindest in Petrograd,Moskau und weiteren Städten unter den Einfluß der Bolschewikigeratend.

Die Situation war seit den Tagen der Februarrevolution im höch-sten Grade verworren und widersprüchlich. Rußland war von denZwangsinstitutionen der zaristischen Staatsgewalt befreit. Der Siegdes Volkes hatte ein Vakuum für Aktivitäten geschaffen, die in denanderen kriegführenden Ländern ganz unerlaubt blieben. Arbeiter,Soldaten, Bauern, Landarme waren in ihren Lebensräumen und mi-litärischen Standorten zur Selbstorganisation ihrer sozialen Interes-sen geschritten, zur Bildung von unzähligen Komitees und den So-wjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten – von basis-demokratischen Volksvertretungen. Diese waren nach Geist undErscheinungsformen keinesfalls nur Anhängsel des bürgerlichenLiberalismus. Sie waren vergleichbar mit den auf Volkssouverä-nität basierenden Verbündnissen des revolutionären Demokratis-mus früherer Revolutionen seit 1789.

Mit Recht betont daher der russische Geschichtsschreiber R. A.Medwedew die Bedeutung der Februarrevolution im Gesamtzu-sammenhang der Russischen Revolution: »Obwohl sich die Febru-ar- und die Oktoberrevolution in ihren Zwecken, Triebkräften undFolgen wesentlich unterschieden, wiesen sie doch auch vielegemeinsame Ursachen auf. Im retrospektiven Bewußtsein derMenschheit erscheinen sie heute als zwei Etappen eines einheit-lichen revolutionären Prozesses, der das Jahr 1917 in Rußlandbestimmte.«7 P. W. Wolobujew und W. P. Buldakow, die akademi-schen Koordinatoren der heutigen russischen Revolutionshistorio-

7 R. A. Medwedew: 80Jahre Russische Revolution.Sieg und Niederlage derBolschewiki, in: Die Russi-sche Revolution 1917. Weg-weiser oder Sackgasse?,hrsg. v. W. Hedeler, H.Schützler, S. Striegnitz,Berlin 1997, S. 35.

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graphie, ergänzen diese Gesamtschau durch eine betonte Wertungder Februarrevolution unter psychosozialen Aspekten: »Entgegenden Vorstellungen der Ereignishistoriographie erweist sich nichtder ›bolschewistische‹ Oktober, sondern der ›demokratische‹ Fe-bruar als der kritische Punkt im Jahre 1917. Für die im paternali-stischen Denken verhafteten Massen war die Tatsache des Sturzesder Macht von außerordentlicher Bedeutung und viel wichtiger alsihre Übernahme [...].«8 Der Februar habe für das Volk einen sofor-tigen, realen Gewinn gebracht: den Sieg der Idee der »Gerechtig-keit«, die hinfort von einer neuen und volksnahen Politik ausgefülltwerden mußte.

Von den Versammlungen und den Vertretungskörpern dieser sichorganisierenden Massen wurden unabdingliche Ansprüche gestelltund vollendete Tatsachen geschaffen. Sie widersprachen zumeistden Zielen der wechselnd amtierenden Staatsregierungen und derBourgeoisie – und spiegeln die Verwicklung der Konflikte, die Wi-derspruchsdialektik der Jahre 1917/18 wider. Der Ruf »Schluß mitdem Krieg!«, die Massenforderung und verbale Ermutigung zurSelbsthilfe der Soldatensowjets, auch zur Befehlsverweigerungund millionenfachen Desertion, wurde von Ministern und Genera-lität mit kriegerischen Solidaritätsadressen an die Ententemächteund der Wiedereinführung standrechtlicher Todesstrafen beantwor-tet. Auf den Ruf »Der Boden den Bauern!«, nächst der Antikriegs-forderung die verbreitetste Losung der größten Bevölkerungsmas-se Rußlands und bereits verwirklicht durch selbsttätige Konfiska-tionen von Land, Saatgut, Gerätschaften der Großgrundbesitzer,reagierte die Regierung mit dem Einsatz von Kosakenschwadro-nen. Auch die Fabrikkomitees und die Gewerkschaften der Arbei-ter, mit ihrem Verlangen nach achtstündigem Arbeitstag, besserenLöhnen, Produktions- und Absatzkontrolle gegen spekulierendeUnternehmer, waren den Eigentumshütern ein Dorn im Auge. Undweil schließlich noch die Nationalvertretungen Finnlands, derUkraine, des Baltikums, der Regionen des Südens ihre kulturelleAutonomie oder gar staatliche Unabhängigkeit beanspruchten, sahsich die Regierung genötigt, auf die großrussische Einheit zu po-chen. Ihre universelle Anweisung lautete andauernd, daß auf diegesetzgebenden Beschlüsse einer »Konstituierenden Versamm-lung« zu warten sei – wobei aber die Wahlen wegen der Unruhe desLandes ebensooft verschoben wurden.

So pendelte schließlich die Regierung des SozialrevolutionärsKerenski im Herbst 1917 zwischen Machtbehauptung und Ohn-macht. Sie war nach »links« gegen die »Anarchie« der Massen ge-richtet und drohte, nach den Wahlen und dem Zusammentritt derKonstituante die Sowjets aufzulösen, während sie von »rechts«durch die Konterrevolution, zumal den Putschversuch des GeneralsKornilow, bedroht wurde. Und bei alledem standen die Armeen derDeutschen und Österreicher tief im russischen Land. Sie rücktenüber das Baltikum näher und näher nach Petrograd vor – nach-weislich herbeigewünscht von Offizierscliquen und Besitzbürgern,die den äußeren Feind für ein geringeres Übel als die Revolutionhielten.

Selten in der Historie war ein »Deus ex machina« so gefragt wie

8 P. W. Wolobujew /W. P.Buldakow: Oktoberrevolu-tion - neue Forschungszu-gänge, ebenda, S. 52.

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jetzt. Und es gab ihn! Er kam nicht aus den Reihen der Mensche-wiki und der Sozialrevolutionäre, die auf das künftige Parlamentsetzten und deren gemäßigte Repräsentanten bereits als Minister inder zunnehmend verachteten Koalitionsregierung saßen. Als hand-lungsfähig erwies sich einzig jene Parteiströmung, die sich als ein»bewußter Vortrupp« der arbeitenden Klasse auffaßte, die mit ent-schiedener Agitation gegen Kapitalisten, Großgrundbesitzer, bür-gerliche Regierung kämpfte und deren paramilitärische Schlagkraftauf einem zentralistischen, in Zukunft keineswegs unproblemati-schen Führungsstil beruhte: die Bolschewiki unter dem geistigenGewicht Lenins und Trotzkis. Mit der proletarischen Roten Gardeund dem Beistand einer revolutionär gesinnten Soldatenmassewagten sie den Petrograder Oktoberaufstand genau zu dem Zeit-punkt, da sich die Deputierten des II. Allrussischen Sowjetkon-gresses der Arbeiter und der Soldaten im Smolny versammelten.

Der Aufstand war kein formal-demokratisch beglaubigter Vor-gang, den die Deputierten etwa beschlossen hätten. Er war ein Aktradikaler Überrumpelung, bei dem die Leninsche Taktik galt, demKongreß den Sturz der Regierung Kerenski als ein unverrückbaresFaktum vorzusetzen und angesichts des erneuten Machtvakuumserste grundlegende Beschlüsse abzuverlangen. Dem diente auchAgitation. Noch war das Winterpalais, die Zuflucht der Minister,nicht erobert, da behauptete das Revolutionäre Militärkomitee be-reits den Regierungssturz. Es soufflierte den »Bürgern Rußlands«in Zeitung und Flugblättern sofortige Maßnahmen: Angebot einesdemokratischen Friedens, Aufhebung des Eigentums der Gutsbe-sitzer an Grund und Boden, Arbeiterkontrolle über die Produktionund Bildung einer Regierung im Namen der Sowjets. Wie aberkonnte das in den Weiten ganz Rußlands, fern von den dahinjagen-den Ereignissen der Hauptstadt, verstanden werden? Auf den erstenBlick mochte sich die Frage stellen, ob diese Orientierung nur diekonsequente Zuendeführung der im Februar begonnenen bürger-lich-demokratischen Revolution anzeigte, ob also die Bolschewiki[um in historischer Analogie zu denken] die Rolle der französi-schen Jakobiner von 1793 übernähmen. Doch wenige Stunden da-nach, der Aufstand war noch immer im Gange, beschloß der nun-mehr von Lenin dominierte Petrograder Stadtsowjet das gesell-schaftliche Ziel der Oktoberrevolutionäre: Die von der Revolutionzu schaffende Sowjetregierung, die sich allein auf das »städtischeProletariat« und die »ganze Masse der armen Bauernschaft« grün-de, werde »unbeirrt zum Sozialismus schreiten« – »dem einzigenMittel, das Land von den unsagbaren Leiden und Schrecken desKrieges zu erlösen«. Zuvor hatte Lenin die kommende Sowjetre-gierung ein Machtorgan »ohne jegliche Teilnahme der Bourgeoi-sie« genannt, die Zerschlagung des alten und die Errichtung einesneuen Staatsapparats gefordert, die Solidarität der schon unruhigenArbeiter Italiens, Englands, Deutschlands versprochen und diebaldige sozialistische »Weltrevolution« angekündigt. Er hatte vonder wichtigsten aller Aufgaben gesagt: »Um aber diesen Krieg zubeenden, der mit der gegenwärtigen kapitalistischen Ordnung engverknüpft ist, muß man – das ist allen klar – das Kapital selbstniederringen.«9

9 W. I. Lenin: Sitzung desPetrograder Sowjets derArbeiter- und Soldatende-putierten, 25. Oktober (7.November) 1917, in: Werke,Bd. 26, S. 228-231.

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Im Hintergrund der revolutionären Aktivitäten schmorte nun derAllrussische Sowjetkongreß. Dort hielten die gemäßigten Führerder Menschewiki und der Sozialrevolutionäre solange das Präsi-dium besetzt, bis das Winterpalais tatsächlich genommen, die mei-sten Minister verhaftet und die genannten Parteigrößen frustriertgenug waren, um mit demonstrativem Protest den Kongreß zu ver-lassen: »Eine militärische Verschwörung ist hinter dem Rücken desKongresses organisiert worden.« Jedoch der anwesende Sozialre-volutionär S. D. Mstislawski berichtet, daß »an der Basis die Stim-mung der Parteimassen ohne Zweifel linker war als bei den im Fe-bruartaumel erstarrten Führungsschichten [...]«.10 Was zuletzt imSaal verblieb und die Beschlüsse des Oktoberaufstands durch Ab-stimmung besiegelte, waren immerhin 625 Deputierte, darunter390 Bolschewiki, 179 Linke Sozialrevolutionäre sowie kleinereGruppen der Vereinigten Internationalisten und der UkrainischenSozialrevolutionäre.

Am Abend dieses 26. Oktobers [8. Novembers] 1917 schlugdann Lenins historische Stunde. »In armseligen Kleidern, mitHosen, viel zu lang für ihn [...]. Führer nur dank der Überlegenheitseines Intellekts; farblos, humorlos, unnachgiebig. Als Rednernüchtern, aber mit der Fähigkeit, tiefe Gedanken in einfachste Wor-te zu kleiden, die Analyse konkreter Situationen zu geben«, soschildert ihn der US-amerikanische Augen- und Ohrenzeuge JohnReed in seinem weithin bekannten Buch11 – neben den Berichtenvon Mstislawski und N. N. Suchanow12 noch heute eine reichhalti-ge Quelle für den II. Sowjetkongreß, die Tage davor und danach.»Die Frage des Friedens ist die aktuellste, die alle bewegende Fra-ge der Gegenwart.« Mit diesem Satz begann Lenin die Verlesungdes »Dekrets über den Frieden«.

Der heutige Leser, der das Dokument in Lenins »Werken« fin-det13, kann sich kaum der historischen Tatsache verschließen, daßder Vorschlag an die kriegführenden Völker und ihre Regierungen,sofort Verhandlungen über einen »gerechten, demokratischen Frie-den« aufzunehmen, eine Botschaft war, die in der bisherigen Welt-geschichte der Staatenkriege nicht ihresgleichen hat. Kriterium derbeschworenen Gerechtigkeit und Demokratie sollte ein »Friedenohne Annexionen (d. h. ohne Aneignung fremder Territorien, ohnegewaltsame Angliederung fremder Völkerschaften) und ohneKontributionen« sein. Das Dekret enthält eine völkerrechtswürdigeBestimmung des Begriffs der »Annexion«, wie sie noch heuteund zukünftig taugen möchte. Es war selbstverständlich, daß dieGeheimdiplomatie, die sekreten Regierungsabsprachen, überdiessämtliche bisherigen »Annexionen der Großrussen« sofort und be-dingungslos als ungültig erklärt wurden. Für alle Nationen undVölker – gleich, ob sie »in Europa oder in fernen, überseeischenLändern« lebten – wurde das Recht der nationalen Selbstbestim-mung eingefordert.

War dieser größere Textteil an die Völker und Regierungen ge-richtet, wobei die Bereitschaft erklärt wurde, auch deren eigeneFriedensbedingungen zu erwägen, so wandte sich das Dekret docham Schluß an ganz besondere Adressaten: die »klassenbewußtenArbeiter der drei fortgeschrittensten Nationen der Menschheit und

10 S. D. Mstislawski überden II. Sowjetkongreß, in:Die Russische Revolution,a. a. O., S. 392-395.

11 John Reed: Zehn Tage,die die Welt erschütterten,Berlin 1957, S. 180-181.

12 N. N. Suchanow: 1917.Tagebuch der russischenRevolution, ausgew., übertr.u. hrsg. v. N. Ehlert. Vorw. v.I. Fetscher, München 1967.

13 Lenin: Rede über denFrieden, 26. Oktober (8. No-vember) 1917 und Dekretüber den Frieden, in: Werke,Bd. 26, S. 239-242.

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der größten am gegenwärtigen Krieg beteiligten Staaten: Englands,Frankreichs und Deutschlands«. Die geschichtlichen Verdiensteder englischen Chartisten, der französischen Arbeiterrevolutionä-re, der deutschen Sozialdemokraten im Kampf gegen Bismarcks»Sozialistengesetz« erinnernd, sprach das Dekret vor aller Öffent-lichkeit die Erwartung der alsbaldigen »Weltrevolution« aus:» ... daß diese Arbeiter uns durch ihre allseitige, entschiedene,rückhaltlos energische Tätigkeit helfen werden, die Sache desFriedens und zugleich damit die Sache der Befreiung der werktäti-gen und ausgebeuteten Volksmassen von jeder Sklaverei und jederAusbeutung erfolgreich zu Ende zu führen«.

Lenins erläuternde Gedanken, die nicht im Dekret geäußert wur-den, sagten trotz geschichtsoptimistischer »Endzeit«-Betrachtungeinen schweren Kampf voraus: »Die Regierungen und die Bourge-oisie werden alles daransetzen, um sich zu vereinen und die Arbei-ter- und Bauernrevolution in Blut zu ersticken.« Am Ende aberwürden »Frieden und Sozialismus« den Charakter der soeben be-ginnenden neuen Epoche bestimmen.14 – Nach vollzogener Diskus-sion sprach Lenin sodann ein »Schlußwort«. Darin findet sich einGedanke, den wir festhalten möchten, weil er bezeugt, wie die Bol-schewiki in der Stunde der großen Deklarationen noch ihre Ach-tung vor den Volksmassen gelobten: »Die Bourgeoisie hält nurdann einen Staat für stark, wenn er mit der ganzen Macht des Re-gierungsapparates die Massen dorthin zu dirigieren vermag, wohines die bürgerlichen Machthaber wollen. Unser Begriff von Stärkeist ein anderer. Nach unseren Begriffen ist es die Bewußtheit derMassen, die den Staat stark macht. Er ist dann stark, wenn die Mas-sen alles wissen, über alles urteilen können und alles bewußt tun.«15

Dies war das anfängliche Anerkenntnis einer volkhaften Demokra-tie, der aber die Bolschewiki, sobald sie Staatspartei wurden, nichtdie Treue hielten. Um einen historischen Vergleich zu wagen: Der26. August 1789 mit seiner Deklaration der Menschen- und Bür-gerrechte und der 26. Oktober 1917 mit seiner Botschaft desFriedens und der Volks-Demokratie erscheinen gleichsam als»Sternstunden der Menschheit«. Aber ihre idealen Verheißungenwurden verdüstert durch die nachfolgenden, realen Abfälschungenund Enttäuschungen, wofür exponierte Sachwalter des Kapitalis-mus und des »Real-Sozialismus« in der historischen Verantwor-tung stehen.

Der II. Allrussische Sowjetkongreß bestätigte ebenfalls das vonLenin verlesene, seit Jahren schon von den Sozialrevolutionärenvertretene »Dekret über den Grund und Boden«.16 Es sollte jetzt»die gewaltigen Massen der armen Bauern beruhigen«, die begon-nen hatten, in Aufständen gegen die Regierung Kerenski, die Groß-grundbesitzer und die in der Regierungskoalition nach rechts abge-schwenkten Führer der Menschewiki und der Sozialrevolutionärezu rebellieren. »Das Eigentum der Gutsbesitzer am Grund und Bo-den wird unverzüglich ohne jede Entschädigung aufgehoben«, lau-tet Artikel 1. Diese Konfiskation galt auch für Kron-, Kloster- undKirchenländereien. Das beschlagnahmte Eigentum sollte einstwei-len der Verfügungsgewalt bäuerlicher Bodenkomitees und derKreissowjets der Bauerndeputierten unterstehen – bis die Konsti-

14 Ebenda, S. 242-243.

15 Lenin: Schlußwort zurRede über den Frieden,ebenda, S. 246.

16 Dekret über den Grundund Boden, ebenda, S. 249.

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tuierende Versammlung ganz Rußlands endgültige Gesetze be-schließen würde.

Das Dekret formulierte eine revolutionär-demokratische Lösungder Agrarfrage, die das Bodeneigentum der Bauern akzeptierte undeine noch weitere bürgerlich-bäuerliche Eigentumsbildung der»einfachen Bauern und der einfachen Kosaken« ermöglichte. Dochdie Linken Sozialrevolutionäre und die Bolschewiki favorisiertenals »gerechteste Lösung« solche Prinzipien, die den Sozialismuserstrebten. Deshalb wurde dem Text des Dekrets ein »BäuerlicherWählerauftrag« beigegeben: Das »Privateigentum am Grund undBoden« sei »für immer« aufzuheben, der gesamte Boden zum »Ge-meineigentum des Volkes« zu machen, alle Bodenschätze, Wal-dungen und Gewässer von größerer Bedeutung in die »ausschließ-liche Nutzung des Staates« zu überführen und das »Recht der Bo-dennutzung« allen Staatsbürgern, »die den Boden selbst, mit Hilfeihrer Familie, oder genossenschaftlich bearbeiten wollen«, für dieDauer ihrer Arbeitsfähigkeit zuzusprechen. Lohnarbeit hingegensollte nicht erlaubt werden.17

Den Bolschewiki war bewußt, daß die Majorität der Bauern nichtihnen, sondern den Sozialrevolutionären folgte. Dieser Umstandveranlaßte Lenin abermals zu einer volksfreundlichen Schlußbe-merkung: »[...]Wir müssen der schöpferischen Kraft der Volksmas-sen volle Freiheit gewähren. [...] Wir glauben, daß die Bauern-schaft selbst es besser als wir verstehen wird, die Frage richtig, sowie es notwendig ist, zu lösen. Ob in unserem Geiste oder im Gei-ste des Programms der Sozialrevolutionäre – das ist nicht das We-sentliche. Das Wesentliche ist, daß die Bauernschaft die feste Über-zeugung gewinnt, daß es auf dem Lande keine Gutsbesitzer mehrgibt, daß es den Bauern selbst überlassen wird, alle Fragen zu ent-scheiden, selbst ihr Leben zu gestalten.«18 Auch dieses war ein mo-mentanes Zugeständnis, das der »bewußte Vortrupp«, die Staats-partei Lenins und späterhin Stalins, auf die Dauer nicht einlöste.

Das dritte Dekret des Kongresses beinhaltete den »Beschluß überdie Bildung der Arbeiter- und Bauernregierung«: ausdrücklich de-klariert als ein Provisorium »zur Verwaltung des Landes bis zurEinberufung der Konstituierenden Versammlung« und bezeichnetals »Rat der Volkskommissare«.19 Die Wahl Lenins in die Funktiondes Vorsitzenden – nach bürgerlichen Begriffen: des Ministerpräsi-denten – anerkannte die intellektuelle Überzeugungskraft desFührers der Bolschewiki, der seit seinen »April-Thesen« die Ge-genmeinungen in der Partei zurückgedrängt und bei den entschei-denden Beschlüssen seine Dominanz immer wieder durchgesetzthatte.

Das also war das unmittelbare Ergebnis des Petrograder Auf-stands, der ein Dreivierteljahrhundert lang mit dem Diktum »GroßeSozialistische Oktoberrevolution« erinnert, gefeiert und verabsolu-tiert worden ist. In Wirklichkeit erfüllte diese neue, sich selbst als»provisorisch« bezeichnende Regierung bis zum Jahresende 1917die noch ungelösten Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Fe-bruarrevolution: Sie ließ endlich die Wahlen zur Konstituantedurchführen, mühte sich um allgemeine, jedoch von den West-mächten boykottierte Friedensverhandlungen, schloß einen Waf-

17 Bäuerlicher Wähler-auftrag zur Bodenfrage,ebenda, S. 249-252.

18 Lenin: Rede über dieBodenfrage, 26. Oktober(8. November) 1917,ebenda, S. 252-253.

19 Beschluß über dieBildung der Arbeiter- undBauernregierung, ebenda,S. 254-255.

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fenstillstand mit Deutschland und seinen Verbündeten, verfügte dieAufhebung der traditionalistischen Stände, die Trennung der Kir-che von Staat und Schule, die Einführung des achtstündigen Ar-beitstages und des Selbstbestimmungsrechtes der unter russischerHerrschaft stehenden Nationen. – Dagegen stießen die Regierungs-beschlüsse über die Arbeiterkontrolle der Produktion sowie die Na-tionalisierung der Banken, des Bodens, der Bodenschätze tatsäch-lich das Tor zum Sozialismus auf.

Bei Ausübung der Regierungsgewalt waren Lenin und seinebolschewistischen Mitstreiter nicht mehr so »frei« wie zuvor alsradikale Oppositionspartei. Jetzt standen sie im Koalitionszwangmit den Linken Sozialrevolutionären und mehr noch unter demMassendruck von Bauern, Soldaten, Arbeitern, bürgerlichen Natio-nalisten, die mehr oder weniger von »Sozialisierung«, sogar von»Sozialismus« sprachen, ohne aber die tatsächlichen Konsequen-zen zu kennen oder zu wollen. Während die zum Kommunismusstrebende Avantgarde das Privateigentum an den Produktionsmit-teln abzuschaffen gedachte, wollten viele der besitzlosen Bauernund Landarbeiter endlich ein persönliches Eigentum an Grund undBoden haben. Während die Leninisten trotz ihrer Friedens-bemühungen an die sehr wahrscheinliche Notwendigkeit denkenmußten, das sich erneuernde Rußland gegen die innere und äußereKonterrevolution mit Revolutionstruppen zu verteidigen, strömtenungeheure Massen von Bauernsoldaten in ihre Dörfer zurück, umbei der Landverteilung gegenwärtig zu sein. Während dieselbeAvantgarde, der »bewußte Vortrupp« also, gerade im Industriepro-letariat den missionarischen Träger für Sozialismus und Kommu-nismus erblickte, waren die Arbeiter nur ein sehr kleiner Bruchteilder Gesamtbevölkerung, und viele mochten das soeben gewonne-ne Recht, ihre Vertreter zu wählen und abzuwählen, nicht der bol-schewistischen »Klassendisziplin« opfern. Und schließlich warendie politischen Führungskräfte, die in Finnland und den anderenLandesvertretungen das Recht der nationalen Selbstbestimmung inAnspruch nahmen, keineswegs Betreiber der sozialen Revolution,geschweige denn Parteigänger des Bolschewismus. Das allesmußte zu Konflikten führen.

Das Ereignis, das die verschiedenen Revolutionäre des Jahres1917 – die gemäßigten Verfechter der bürgerlich-demokratischen»Freiheit« einerseits und die radikalen Klassenkämpfer der aufsoziale »Gleichheit« gerichteten Emanzipation aller Werktätigenandererseits – vollends spaltete, vollzog sich am 5./6. [18./19.]Januar 1918. Es war das Geburts- und Sterbedatum der so langeverheißenen Konstituierenden Versammlung. Als nämlich dieFraktion der Bolschewiki, die aufgrund der vorjährigen Wahlver-hältnisse nur ein Viertel der Abgeordnetensitze besaß, die »Dekla-ration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes« zurBeratung vorschlug, jedoch von der parlamentarischen Majoritäteine Abweisung hinnehmen mußte, reagierte die amtierende Revo-lutionsregierung: Sie beschloß die sofortige Auflösung der gewähl-ten Konstituante und ließ die Parlamentarier auf die Straße setzen.Seit vielen Wochen schon hatte Lenin als ein entschiedener Ver-neiner des Parlamentarismus seine Genossen auf diesen Coup ein-

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geschworen. Die Kraftprobe war ein untrügliches Zeichen, daß imGesamtprozeß der Russischen Revolution die bürgerliche Revo-lution geendet und der historische Versuch einer sozialistischenRevolution tatsächlich begonnen hatte.

Der Kommentar Lenins, des Treibers der Geschehnisse, lautete:»[...]Der Krieg und die durch ihn verursachten unerhörten Leidender erschöpften Völker haben den Boden für das Aufflammen dersozialen Revolution bereitet.« Er fügte in rigoroser Voraussichthinzu: »Kein Zweifel, im Entwicklungsprozeß der Revolution, derdurch die Kraft der Sowjets ausgelöst worden ist, werden alle mög-lichen Fehler und Mißgriffe vorkommen – aber es ist für nieman-den ein Geheimnis, daß jede revolutionäre Bewegung stets unver-meidlich von vorübergehenden Erscheinungen des Chaos, derZerrüttung und Unordnung begleitet ist.«20 Wir bemerken das An-erkenntnis des revolutionären Radikalismus, die Entschlossenheitzum äußersten Risiko – und also auch die humanpolitische Frag-würdigkeit dieser Voraussage. Was hier aber ebenfalls interessierensollte, ist der Widerspruch des Leninschen Kommentars zu jenenspäteren Geschichtsdeutern, die ihre Sichtweise auf die bloßeMachtergreifung fokussieren und daher die Entscheidung der so-zialistischen Revolution in Rußland bereits auf den Oktober 1917und den Januar 1918 datiert haben. Lenin selbst aber sah sich zudieser Zeit als noch immer »im Entwicklungsprozeß der Revolu-tion« befindlich.

Das provoziert zum Schluß die Frage: Wann und womit denn dieRussische Revolution mitsamt ihrer Kulmination, der »sozialisti-schen Etappe«, nicht nur die bolschewistische Macht hervorge-bracht, sondern selbst auch tatsächlich geendet hat? Die immernoch geäußerten Behauptungen von der eindeutigen »Interessen-gleichheit zwischen Bolschewiki und Volksklassen« oder von der»unblutigsten Revolution der Geschichte« können nach Beantwor-tung dieser Frage schwerlich aufrecht erhalten bleiben. Die mörde-rischen Konflikte des Bürgerkrieges waren ein immanenter Be-standteil der Revolution. Der Historiker Medwedew weist nach-drücklich über die bolschewistische Machtergreifung hinaus: aufden Zusammenprall von Bolschewiki und Bauernmassen und nichtzuletzt auf den eigenen Schuldanteil des neuen Regimes an Aus-bruch und Austrag des Bürgerkrieges.21 Die schon genannten Aka-demiker Wolobujew und Buldakow sehen den Prozeß der Russi-schen Revolution ebenfalls vom Februar 1917 bis weit über dieMachtergreifung der Bolschewiki hinausgreifend: »Der eigentlicheUmbruch im Verlauf der russischen Krise erfolgte nicht im Okto-ber 1917, sondern vom Oktober 1917 bis Sommer 1918, nachdemdie Masse der Bevölkerung den versprochenen Grund und Bodenerhalten hatte und nun auf die gefestigte neue Macht traf.«22 DerOktoberaufstand allein kann nicht schon die ganze »SozialistischeRevolution« gewesen sein!

Blickt man vergleichsweise auf die Große Französische Revolu-tion, so fällt es niemandem ein, sie auf 1789 zu begrenzen. Viel-mehr bilden in den widerstreitenden Ansichten der Historiker dieJahre 1791 oder 1794/95 oder 1799 eine abschließende Zäsur derRevolutionsgeschichte und der ihrer Zeit entsprechenden politisch-

20 Lenin: Rede über dieAuflösung der Konstituieren-den Versammlung in der Sit-zung des GesamtrussischenZentralexekutivkomitees, 6.(19.) Januar 1918, ebenda,S. 438 und 439.

21 Medwedew: 80 JahreRussische Revolution, a. a.O., S. 42-47.

22 Wolobujew /Buldakow:Oktoberrevolution - neueForschungszugänge, a. a.O., S. 52.

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sozialen Resultate. Verfassungserlaß, Bürgerkrieg und revolutionä-re Vaterlandsverteidigung, abschließliche Ausgestaltung von Staatund Recht sind in den unmittelbaren Revolutionsprozeß einbezo-gen. Die Frage des Endes und der Resultate der Russischen Revo-lution müßte daher ebenfalls neu diskutiert und beantwortet wer-den. Wo immer dann die Zäsur gesetzt würde: Die Entmündigungder basisdemokratischen Sowjets, der Arbeiter- und Bauernkomi-tees, der Gewerkschaften, sogar der sozialistischen Parteioppositionbleibt – noch zu Lebzeiten Lenins – ein höchst problematisches Re-sultat der 1917 begonnenen, mit volksrevolutionären Verheißungengesteigerten, schließlich aber die Kräfte des Volkes verschleißen-den Revolution. Und wenn nach dem Sieg über die innere undäußere Konterrevolution bekanntermaßen die NÖP ein Ausdruckder ökosozialen Verhältnisse Rußlands war, so ist wohl auch zu fra-gen, ob ebendieses unmittelbare, wenn auch vorübergehende Re-volutionsresultat den noch heute im Schwange befindlichen Begriffvon der »Großen Sozialistischen Oktoberrevolution« rechtfertigenkann. Das Verhältnis zwischen der ideologischen Begriffsbildungund der weit komplizierteren Realität der Geschichte scheint imTraditionsverständnis mancher Sozialisten und Kommunisten nachwie vor problematisch zu sein.

Die Geschichtsforschung und -schreibung vermag allzeit gültigeund einhellige Meinungen wohl niemals vorzustellen. Doch siesollte nach 80 Jahren der Russischen Revolution dazu anregen, denseit jeher heiß umstrittenen und auch dogmatisch verzerrten Ge-genstand auf neue Weise zu prüfen – was denn auch heißt, daß dieWissenschaft der Revolutionsgeschichte zu neuen Ufern histori-scher Analyse und Interpretation aufbrechen müßte.

Empfehlung neuer Literatur:

Helmut Altrichter: Rußland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst, F. SchöninghVerlag Paderborn-München-Wien-Zürich 1997, 605 S.

Theodor Bergmann/Wladislaw Hedeler/Mario Keßler/Gert Schäfer [Hrsg.]: Der Widerscheinder Russischen Revolution. Ein kritischer Rückblick auf 1917 und seine Folgen, VSAVerlag Hamburg 1997, 259 S.

Wladislaw Hedeler/Horst Schützler/Sonja Striegnitz [Hrsg. u. Edit.]: Die Russische Revolution1917. Wegweiser oder Sackgasse?, Dietz Verlag Berlin 1997, 447 S. [mit 123 ins Dt.übertr. Dokumenten].

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VorbemerkungSeit einem Jahr etwa, verstärkt im Sommerloch 97, ist insbeson-dere in den deutschsprachigen Medien, aber auch in wissenschaft-lichen, wissenschaftsnahen und politischen Kreisen und Gremienein heftiger Streit um gewisse Änderungen der deutschen Recht-schreibung im Gange, die von einer gemeinsamen Expertenkom-mission aller drei Staaten, in denen Deutsch die dominierende offi-zielle Sprache ist, ausgearbeitet wurden. Eine entsprechende»Vorlage für die amtliche Regelung«1, enthaltend »Regeln undWörterverzeichnis«, wurde unter dem Datum des 24. Mai 1995den zuständig gemachten Politikern zur Bestätigung übergeben.In Deutschland ist dies die Kultusministerkonferenz (KMK).Von dieser wurde die »Vorlage« nach einigem Hin und Her nichtnur genehmigt, sondern auch, ohne daß eine breitere Öffentlichkeitüberhaupt Gelegenheit gehabt hätte, sich mit dem Inhalt bekanntzu machen, umgehend als Unterrichtsgrundlage in den Schuleneingeführt.

Bei der kurz darauf entbrannten öffentlichen Kontroverse umdie »Rechtschreibreform«2, soweit sie von einem einzelnen in denMedien überhaupt einigermaßen verfolgt werden kann, fällt auf,daß der Aspekt des völlig verfehlten Ansatzes allenfalls am Randegestreift wird. Die Beantwortung dieser Frage soll den hauptsäch-lichen Inhalt der folgenden Überlegungen bilden, wobei die Inter-punktion grundsätzlich ausgeklammert bleiben wird.

Worum es eigentlich geht im RechtschreibstreitAm Anfang sollen zwei Zitate stehen, in denen der Kern der Frageauf den Punkt gebracht wird. Im ersten geschieht dies mehr auspublizistischer Sicht, im zweiten vom Standpunkt des Sprachwis-senschaftlers.

Dieter E. Zimmer hat den Streit in Die Zeit vom 2. Dezember1994, also fast zwei Jahre vor dem Beginn der eigentlichen Kon-troverse, folgendermaßen charakterisiert: »Die deutsche Orthogra-phie ist kein hehres Kulturgut, an dem jahrhundertelang die größtenGenien dieser Sprache gewirkt hätten und nun von ein paar subal-ternen Besserwissern verschandelt würde. Sie ist eine bloße kom-promißlerische Konvention, zur Jahrhundertwende von ein paarPädagogen ersonnen und seitdem von der Redaktion eines Buch-verlages in eigenem Ermessen verwaltet, fortgeführt, ergänzt. Wirhängen an unserer Orthographie nicht, weil sie so besonders wert-

Ronald Lötzsch – Jg. 1931,Prof. Dr., Sprachwissen-schaftler (Arbeiten vor allemzu Sprachtypologie undKontaktlinguistik), Minder-heitenforscher (Sorabist),Berlin.

1 Im weiteren mit »Vorla-ge« bezeichnet.

2 Da die von der Politikursprünglich angestrebtebzw. konzedierte, nunmehrgerichtlich angefochteneNeuregelung einiger Aspekteder Schreibung des Hoch-deutschen allgemein als»Reform« der deutschenRechtschreibung bezeichnetwird, diesem Anspruch je-doch, wie noch darzulegenist, in keiner Weise gerechtwird, werde ich dieses Wort,von ihm abgeleitete Wörterund mit ihm gebildete Zu-sammensetzungen, soweitsie sich auf dieses Surrogatbeziehen, grundsätzlich inAnführungszeichen setzen.

UTOPIE kreativ, H. 85/86 (November/Dezember) 1997, S. 21-4821

RONALD LÖTZSCH

Die »Rechtschreibreform« und ihre »utopische« Alternative

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voll wäre, sondern nur, weil wir zufällig sie und keine andere ver-innerlicht haben. Die edle, weil gewachsene Unlogik deutschenSchreibens wurde damals nicht angetastet; sie wird die kommendeReform ebenfalls überstehen... Aus der Sicht der meisten Sprach-wissenschaftler und sonstiger zu systematischem Denken neigen-der Menschen verdient die übriggebliebene Reform daher denNamen nicht.«

Ein knappes Jahr später, also fast ein Jahr, bevor der WeilheimerDeutschlehrer Friedrich Denk mit seiner »Frankfurter Erklärung«den Proteststurm gegen die von ihm als »Terror durch Orthogra-phie« charakterisierte »Vorlage« vom 24. Mai 1995 entfachte,wies der Berliner Linguist Wolfgang Ulrich Wurzel, Verfassereines bemerkenswerten Buches über Konrad Dudens Leben undAnliegen3, unter der Überschrift »Zweifelhafte Vereinfachungder Rechtschreibung – Chance vertan« im Neuen Deutschlandvom 3. November 1995 auf den prinzipiellen Unterschied zwi-schen Sprache und Rechtschreibung hin. Dort ist zu lesen: »Wennman nachvollziehen will, was eine Rechtschreibreform bedeutetund was nicht, so ist es zunächst einmal notwendig, zwischender Sprache selbst und ihrer schriftlichen Wiedergabe, d.h. ihrerOrthographie, zu unterscheiden. So kann es bessere und schlechte-re Orthographien geben (wenn dem nicht so wäre, brauchtenwir keine Reform!), aber bessere und schlechtere Sprachen gibtes nicht. Eine Veränderung der Rechtschreibung bedeutet damitkeinen unzulässigen Eingriff in die Sprache, wie es von Gegnernjeder Rechtschreibreform immer behauptet wird.«

In der gegenwärtigen Kontroverse um gewisse Neuregelungenin der deutschen Rechtschreibung ist oft von irgendwelchen frühe-ren »Reformen« die Rede. So schrieb z.B. Neues Deutschlandam 6. März 1996 in einem namentlich nicht gezeichneten Beitraganläßlich des Endes der Einspruchsfrist der Länder: »So behältder Thron erneut sein ›h‹. 1901 – bei der letzten Reform – als manThür und Thor das ›h‹ nahm, war der Kaiser dagegen. Diesmalsträubten sich die Landesfürsten.« Im ND vom 6. August 1996behauptet der Berliner Germanist Hendrik Lasch gar, seit 1901hätte »jede Dekade ihren ernstzunehmenden Reformversuch« ge-habt. Und am 24. März 1997 war in der gleichen Zeitung überdie Ergebnisse der Berliner »Orthographischen Konferenz« von1901 in einer Leserzuschrift zu lesen: »Was damals ... festgelegtwurde, war eine echte Reform. Die heutigen Veränderungenverdienen das Wort nicht. Man spitzt den Mund, aber pfeift nicht«.

Um es gleich vorwegzunehmen: Eine echte Reform hat es ent-gegen solchen Behauptungen in der Entwicklung der deutschenOrthographie noch nie gegeben. Die jetzt so leidenschaftlich dis-kutierten Neuerungen wären, so sie denn eine Reform wären, dieerste überhaupt.

Der Spiritus rector der Orthographiebewegung, der gebildeteSprachwissenschaftler, erfahrene Deutschlehrer und verdienteGymnasialdirektor Dr. Konrad Duden, hatte zwar bereits 1876auf der 1. Orthographischen Konferenz zusammen mit anderen nam-haften Germanisten, in erster Linie mit dem Erlanger Professor Ru-dolf von Raumer, der einen Reformentwurf ausgearbeitet hatte,

3 Konrad Duden:Leipzig 1979; 2. Auflage 1980:VEB BibliographischesInstitut.Allen, die sich für orthogra-phische Probleme ernsthaftinteressieren und sich ander derzeitigen Kontroversebeteiligen, ist dieses Büch-lein, insbesondere die Kapi-tel Der Rechtschreibrefor-mer (S. 49-78) sowieDer »Duden« und diedeutsche Rechtschreibung(S. 102-114) wärmstens zuempfehlen.Nützen könnte seine Lektü-re natürlich auch Hans Ma-gnus Enzensberger, der sichin einem Spiegel-Interview(42/1996, S. 266) in seinemverständlichen Frust überdie »Reform« zu der in die-sem Punkt mangelndeSachkenntnis verratendenÄußerung hinreißen ließ:»Wer ist überhaupt dieserHerr Konrad Duden? Irgend-ein Sesselfurzer!«

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außer der Vereinheitlichung auch die gleichzeitige Vereinfachungder deutschen Rechtschreibung angestrebt. So sollte das »Deh-nungs-h« wenigstens teilweise abgeschafft (z.B. kal, Kol, kül,statt kahl, Kohl, kühl, usw.) und die Unterscheidung von s, ss undß verbessert werden. Selbst dieser bescheidene Reformversuchscheiterte jedoch am Widerstand Bismarcks und seiner auf demGebiet von Bildung und Kultur erzkonservativen Bürokratie,die sich dabei, wie Wurzel vermerkt, teilweise auch auf die»Volksmeinung« stützen konnten. Während sich beispielsweiseviele Lehrer über die vorgesehenen Änderungen freuten, prote-stierten konservative Kräfte vehement dagegen, weil ihnenRaumers Entwurf nicht traditionell genug war. »Jedoch auchnamhafte deutsche Schriftsteller fühlten sich bemüßigt, gegendie geplanten Neuregelungen entschieden zu protestieren, und daswenig sachkundig, aber sehr laut.«4 Trotz »Reichseinigung« gabendaraufhin nicht nur die größeren deutschen Länder wie Preußen,Bayern, Sachsen, Württemberg, sondern sogar ein Kleinstaat wiedas »Großherzogtum« Mecklenburg-Strelitz sich mehr oder weni-ger unterscheidende eigene orthographische Regelwerke heraus.Danach wurde z.B. an Stelle von preußischem und heutigemKomitee und Kompanie in Bayern Comité und Kompagnie, inWürttemberg Komité und Compagnie geschrieben. Zugrunde ge-legt wurden dabei mehr oder weniger vereinheitlichte regionaleTraditionen, die vornehmlich von Buchdruckern sowie vonSchriftstellern und Deutschlehrern geprägt waren. Konrad Dudencharakterisierte die Situation, wie sie vor dieser regionalen Verein-heitlichung bestanden hatte, später mit den Worten: »Nicht zweiLehrer derselben Schule und nicht zwei Korrektoren der selbenOffizin waren in allen Stücken über die Rechtschreibung einig:und eine Autorität, die man hätte anrufen können, gab es nicht.«5

Die meisten kleineren deutschen Staaten orientierten sich aller-dings an der preußischen Norm.

Unter diesen Umständen sah auch Duden keine andere Möglich-keit. Wie er im Untertitel des im Jahre 1880 erschienenen »Du-den«6 vermerkte, berücksichtigte er dabei außerdem auch bayeri-sche Regeln. Über den Kompromißcharakter dieser Übergangslö-sung machte er sich keinerlei Illusionen. Wie er im Vorwort versi-chert, war diese »nichts weniger als das Ideal des Verfassers; abervon allen Orthographieen, die für den Augenblick möglich sind, istsie die beste, weil sie die meiste Aussicht hat, binnen kurzem zurAlleinherrschaft in ganz Deutschland zu gelangen«.7

Das, was 1901 auf der in der heutigen Debatte immer wiedererwähnten 2. Orthographischen Konferenz von Berlin tatsächlicherreicht wurde, war – abgesehen von der Beseitigung von ph undth in deutschen Wörtern germanischen Ursprungs sowie der weit-gehenden Ersetzung von c durch k oder z und von ch durch sch inFremdwörtern – die Vereinheitlichung der Rechtschreibung imgesamten deutschen Sprachgebiet, im wesentlichen auf der Grund-lage des preußischen Schreibgebrauchs.8

Am für bestimmte Regionen typischen unterschiedlichenSprachgebrauch hatte sich damit nicht das Geringste geändert.Weder im Wortschatz noch in der Grammatik. Wer entsprechend

4 Wurzel, S. 66.

5 So in »Rechtschreibungder Buchdruckereien deut-scher Sprache«, Leipzig undWien 1903; 2. Auflage 1907,S. 762 (zitiert nach Wurzel,S. 51).

6 Vollständiges Orthogra-phisches Wörterbuch derdeutschen Sprache von Dr.Konrad Duden, Direktor desKönigl. Gymnasiums zuHersfeld. Nach den preußi-schen und bayerischen Regeln, Leipzig, Verlag desBibliographischen Instituts.

7 Wurzel, S. 69.

8 Das Titelblatt der 1902erschienenen 7. Auflage des»Duden« lautete erstmalig:Orthographisches Wörter-buch der deutschen Sprachevon Dr. Konrad Duden.Nach den für Deutschland,Österreich und die Schweizgültigen amtlichen Regeln.

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seiner regionalen Norm statt Quark und Januar – Topfen und Jän-ner sprach und schrieb bzw. statt hat gelegen/gesessen/gestanden –ist gelegen/gesessen/gestanden, konnte dies auch weiter tun. Undso ist es bis zum heutigen Tage geblieben.

Duden selbst war sich völlig darüber im klaren, daß sein eigent-liches Ziel, die deutsche Orthographie nicht nur zu vereinheitli-chen, sondern nach dem Prinzip »Schreib, wie du sprichst«, auchzu vereinfachen, unter den gesellschaftlichen Bedingungen, wie sieim Wilhelminischen Deutschland, im Habsburgerreich und in derin anderer Hinsicht nicht weniger konservativen deutschsprachigenSchweiz herrschten, nicht durchzusetzen war.9

Die mit der Niederlage der Mittelmächte im Ersten Weltkriegentstandenen neuen Voraussetzungen für die Erreichung desangestrebten Fernziels zu nutzen, war ihm nicht mehr vergönnt.Er starb einundachtzigjährig am 1. August 1911.

Andere hatten in der Zwischenkriegszeit offenbar ebenfallskeinen Erfolg, denn alles blieb beim alten.

Erstaunlich ist, daß ausgerechnet die Nazis mitten im Kriegedie sogenannte »deutsche« Schrift abschafften. Damit änderte sichzwar nichts an der Rechtschreibung, doch wurde für die, die nunnur noch die »Normalschrift« Antiqua lernten, das Lesen desälteren, vorwiegend in Fraktur gedruckten Schrifttums wesentlicherschwert, von handschriftlichen Texten ganz zu schweigen. Den-noch mußten sich unter den politischen Bedingungen des Nazi-regimes nicht nur alle mit dieser einschneidenden Umstellungabfinden, sie wurde nach wenigen Jahren auch kaum noch vonjemandem als Behinderung empfunden.

Es ist deshalb auch gar nicht verwunderlich, daß diese Episodein dem heutigen Disput überhaupt keine Rolle spielt.10 Denn siewäre ein Argument sowohl gegen die Ausrede der »Reformer«,weitergehende echte Neuerungen seien nicht durchsetzbar, alsauch gegen das Gebarme prominenter Protestierer, das gesamtenach der bisherigen Orthographie gedruckte Schrifttum würdemit der Realisierung der »Reform« zur Makulatur.

Eine echte Bewegung für eine Reformierung der deutschenRechtschreibung, die diesen Namen wirklich verdient, entstanderst nach der Niederlage des Hitlerfaschismus.11 Der entscheidendeAnstoß kam schon 1946 aus Ostdeutschland. Dort hatte der be-kannte Linguist Wolfgang Steinitz, in den dreißiger Jahren politi-scher Emigrant in der Sowjetunion und mit der wenige Monatenach der Oktoberrevolution erfolgten Reformierung der russischenOrthographie bestens vertraut, von der gerade aufgebauten Zen-tralverwaltung für Volksbildung der Sowjetischen Besatzungs-zone den Auftrag erhalten, einen Reformvorschlag zu erarbeiten.In einem programmatischen Artikel, den die von der SowjetischenMilitäradministration herausgegebene Zeitung Tägliche Rund-schau am 27. November 1946 veröffentlichte, stellte er dasErgebnis seiner Überlegungen vor. Seine Vorschläge umfaßtendie Kleinschreibung der Substantive (sogenannte »gemäßigteKleinschreibung«), die einheitliche Schreibung des Diphthongs/ae/12 (bis heute ei oder ai geschrieben) sowie des Phonems /f/ (stattf, v oder ph), den Wegfall des Buchstabens x, die einheitliche

9 Im Vorwort zur 7. Auflagedes »Duden« formuliert er:»Nur ein Zwischenziel isterreicht worden. Es fehltnicht an Wegweisern, dieauf ein ferneres Ziel hindeu-ten...« (Zitiert nach Wurzel,S. 75).

10 Soweit diese Maßnah-me dennoch erwähnt wird,tritt eine frappierende Un-kenntnis der tatsächlichenVorgänge zutage. So enthälteine Leserzuschrift in derTAZ vom 27. August 1997den Stoßseufzer: »Bin ichaber froh, daß vor 60 Jah-ren die Handschrift-Reformerfolgreich durchgezogenwurde. Man stelle sich vor,(ausländische) Deutsch-Studenten müßten auchnoch Großmutters altdeut-sche Handschrift erlernen«.In einem Übersichtsartikel inder Berliner Zeitung vom28. Oktober 1995 wird garbehauptet, die Nazis hättendie »deutsche Schrift« 1942eingeführt und sie sei 1945wieder abgeschafft worden.Die Richtigstellung bringtdann eine Leserzuschriftin der Ausgabe vom 3. November.

11 Bei der folgendenkurzen Übersicht über dieBemühungen um eine Re-formierung der deutschenRechtschreibung nach demZweiten Weltkrieg stütze ichmich hauptsächlich auf dasschon mehrfach zitierteBuch von Wolfgang UlrichWurzel über Duden.

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Bezeichnung der langen Vokale und die phonematische Schreibung(die »Eindeutschung«) auch der Fremdwörter.

Es braucht nicht zu verwundern, daß diese noch gar nicht einmalweitgehenden Vorschläge in den westlichen Besatzungszonen aufentschiedene Ablehnung stießen.

In den fünfziger Jahren schien es dann, als zögen die an einerReformierung der deutschen Rechtschreibung interessierten Exper-ten in allen deutschsprachigen Staaten endlich an einem Strange.Im Jahre 1954 legten Sprachwissenschaftler aus der BRD, derDDR, Österreich und der Schweiz die sogenannten StuttgarterEmpfehlungen vor. Auch sie enthielten den Vorschlag zur gemä-ßigten Kleinschreibung, zur einheitlichen Schreibung der langenVokale und zur stärkeren »Eindeutschung« der Fremdwörter. Ob-wohl die vorgeschlagene einheitliche Schreibung der Langvokalenach ersten Einwänden der »Öffentlichkeit« und offizieller Stellenschon geopfert worden war, verfielen die Empfehlungen schließ-lich dem Verdikt der Politik, die sich dabei auf Proteste von Schrift-stellern und »Experten« berufen konnte, während Gewerkschafts-funktionäre, zahlreiche führende Wissenschaftler und auch dieDudenredaktionen in DDR und BRD für die Reform eintraten. Ob-wohl sich in der Schweiz in Umfragen ca. drei Viertel der Leser-schaft für die gemäßigte Kleinschreibung ausgesprochen hatten,lehnte die »Schweizerische Orthographiekonferenz« 1963 letztlichjedwede Reformbestrebungen ab.13

Ein neuer Anlauf wurde 1972 versucht, der nach immer weitergehenden Abstrichen schließlich in dem jetzt so heftig umstrittenenSurrogat »gipfelt«.

Komponenten der KontroverseAuf Verlauf und vorläufiges Ergebnis der Kontroverse soll hiernicht im einzelnen eingegangen werden. Dennoch möchte ichversuchen, anhand einiger Beispiele deutlich zu machen, daß dieAuflehnung gegen die »Reform« kein auf mangelnde Aufklärungzurückzuführendes Mißverständnis, sondern trotz manch falschenZungenschlages ein völlig gerechtfertigtes demokratisches Anlie-gen ist.

Die Vorwürfe treffen zu Recht sowohl den vorauseilenden Ge-horsam der Experten14 als auch die Inkompetenz der mit der Durch-führung beauftragten Politiker, in erster Linie der KMK.

Das Echo auf Entscheidungen der nunmehr angerufenen Ge-richte ist verständlicherweise gespalten. Weisen sie Klagen gegendie überstürzte Einführung der Neuerungen ab, wenden sich dieKläger umgehend an die nächste Instanz. Geben sie ihnen statt,gehen die Minister in Revision. Diese legen ansonsten in dieserAngelegenheit eine Mißachtung der Justiz an den Tag, die nur nochvon ihrer Verachtung der öffentlichen Meinung übertroffen wird.Denn spätestens nach dem einer Klage von Eltern stattgebendenUrteil des Verwaltungsgerichtes Wiesbaden wäre sofortiger Stoppder »Reform« angesagt gewesen, wie es einzelne Kommentatorenzu Recht verlangten. So schrieb Christian Bommarius: »Bei derRechtschreibreform läßt sich über vieles streiten, über eines nicht– daß sie sofort ausgesetzt werden muß. Zwei Verwaltungsgerichte

12 Soweit bedeutungsun-terscheidende Lauteinhei-ten, sog. Phoneme, anzu-geben sind, wobei austechnischen Gründen, wennirgend möglich, den in derdeutschen Orthographievorgesehenen lateinischenBuchstaben der Vorzuggegeben wird, werden diesein Schrägstriche eingeschlos-sen, die Länge eines Vokalsdurch folgenden Doppel-punkt gekennzeichnet.Bei der Interpretation derDiphthonge folge ich derEinführung in die Grammatikund Orthographie der deut-schen Gegenwartssprache(Von einem Autorenkollektivunter Leitung von K.-E. Som-merfeldt, G. Starke, D.Nerius), Leipzig 1981: VEBBibliographisches Institut.

13 Ein gewisser ProfessorZbinden soll sich dabei zuder Frage verstiegen haben:»Wo kämen wir hin, wennfortan jeder Gimpel undHalbanalphabet in denBesitz einer Schreibweisekäme, die sozusagen keineFehler mehr möglichmacht?« (zitiert nachWurzel, S. 110).

14 »Der eigentliche Skan-dal liegt darin, daß die deut-sche Rechtschreibung zwarvon Wissenschaftlern ent-wickelt wurde, die weiterhinWert darauf legen, als Wis-senschaftler angesehen zuwerden, daß diese aber –wie weiland die Reformervon 1903 – im Ansatz dar-auf verzichten, die Reformmit den Mitteln der Wissen-schaft anzupacken. Sie gin-gen von vornherein politischvor, stellten, noch bevor siemit den Kultusministernsprachen, Überlegungen imSinne der Durchsetzbarkeitan und begaben sich sowehrlos auf das Feld vonDilettanten (Kultusministern)und Einzelinteressen

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... haben erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Neu-regelung formuliert. Selbst wer sie für unbegründet hält und dieReform für gelungen, muß jetzt für einen vorläufigen Stopp plä-dieren. Denn den Schülern ist nicht zuzumuten, die Schreibweisevon ›Stengel‹ nach dem jeweiligen Stand der Rechtsprechung zulernen. Eben diese Zumutung scheint die Kultusminister der Län-der nicht zu berühren. Unbeeindruckt sehen sie zu, wie ihr ver-meintliches Jahrhundertwerk unter dem massiven politischen undjuristischen Widerstand zerbricht – die Beseitigung der Trümmerüberlassen sie den Eltern, Lehrern und Schülern«.15

Ein besonderes Problem ist die Rolle der Medien, die zwarzumeist den Eindruck von Neutralität zu erwecken bemüht sind16,ihre von Fall zu Fall wechselnde faktische Parteinahme für dieeine oder andere Seite jedoch nur schwer verbergen können. Aufjeden Fall ermöglichen sie es mehr oder weniger interessiertenZuschauern bzw. Zuhörern oder Lesern, sich selbst ein Bild vonden Positionen der wichtigsten Kontrahenten zu machen undteilweise mit Zuschriften an Redaktionen von Sendern, Zeitungenund Zeitschriften selbst mit in die Diskussion einzugreifen.

Verschwiegen werden kann auch nicht, auf welch erschreckendniedrigem Niveau die Debatte von seiten der meisten Verfechterund Befürworter der Neuerungen geführt wird, und zwar unabhän-gig von ihrer Zugehörigkeit zu einer der genannten Kategorien.Eine Linie ist in den widersprüchlichen Äußerungen nicht zuerkennen. Oft lassen diese die elementarste Logik vermissen.

Die »Reformer« selbst versuchen manchmal, den Eindruckzu erwecken, als hätten sie ein Jahrhundertwerk vollbracht. Soschrieben Gerhard Augst, Professor der Germanistik in Siegen,seit 1979 Mitglied der deutschen Rechtschreibkommission undseit 1980 auch der Internationalen Kommission für Orthographie,und sein Mannheimer Kollege Gerhard Stickel am 9. Oktober1995 an die Ministerpräsidenten der deutschen Länder: »Ohneunbescheiden sein zu wollen, glauben wir, dass eine Reformder deutschen Rechtschreibung noch nie so gründlich bis ins letzteDetail vorbereitet worden ist.«17 Andererseits werden sie in derPolemik mit Gegnern der Neuerungen nicht müde zu beteuern,daß doch im Prinzip alles beim alten bleibe, der »Aufstand« alsounbegründet sei.

So kann es sich die GEW-Zeitschrift Erziehung und Wissen-schaft18 leisten, einen Artikel Prof. Augsts, in dem er die aufgrundministerieller Einsprüche gemachten faulen Kompromisse vertei-digt, mit der Überschrift »Die alte ist die neue« zu versehen.Er selbst formuliert wörtlich: »Trotz und wegen all des Gezeters...Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung ist nicht grund-stürzend. Die alte Rechtschreibung ist die neue!«

Auch der Chef der Mannheimer Dudenredaktion, Dr. MattiasWermcke, bestreitet nicht, daß von einer echten Reform keine Re-de sein kann. Doch: »Besser ein Reförmchen als überhaupt keineReform... Alles andere, was aus Wissenschaftlersicht wünschens-wert gewesen wäre, war einfach nicht durchzusetzen gewesen.«19

Die zuständig gemachten Kultusminister haben ebenfallsunabhängig vom Parteibuch keine Hemmungen, sich mit der

(Schulbuchverlagen).«Der Linguistik-Dozent Dr.Gerd Simon in einer Leser-zuschrift in Der Spiegel34/1997, S. 12.

15 Berliner Zeitung vom9./10. August 1997.

16 Die wohl einzige Aus-nahme ist Die Woche, diesich nicht nur von allemAnfang kompromißlos aufdie Seite der »Reformer«schlug, sondern seit Dezem-ber 1996 auch nach denneuen Regeln redigiert wird.Allen Behauptungen ihrerMacher, das sei problemlos,zum Trotz muß sie sich vonGegnern vorhalten lassen,mit der korrekten Realisie-rung hapere es.

17 Dieses Zitat stellt derErlanger Germanistikprofes-sor Theodor Ickler seinerBroschüre Die Rechtschreib-reform auf dem Prüfstand(St. Goar 1997: Leibnitz-Verlag, S. 3), in der er seineablehnende Haltung begrün-det, als Motto voran.

18 E&W 1/97, S. 20f.

19 So in einem Interviewmit der Berliner Zeitungvom 28./29. Oktober 1995.

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Geringfügigkeit der Änderungen herauszureden. So erklärteBrandenburgs Bildungsministerin Angelika Peter (SPD) in einemInterview im Neuen Deutschland vom 19./20. Oktober 1996,es sei albern, so zu tun, »als ob mit diesem Reförmchen dasdeutsche Wort demontiert und apokalyptische Schriftzuständeeintreten würden«. Gleichzeitig gab sie zu bedenken, ob ein Stoppder »Reform« nicht dem Bild abträglich sei, »das der deutscheSprachraum dann im Ausland abgeben würde«.

Auch Niedersachsens Kultusminister Rolf Wernstedt (SPD),derzeit Vorsitzender der KMK, fürchtet, »daß ein Rückzug ausder Rechtschreibreform Deutschland international zum Gespöttmachen würde«.20

Beruhigt werden soll die betroffene Öffentlichkeit auch mit dervon »Zuständigen« und sonstigen Befürwortern immer wiederaufgestellten Behauptung, die »Reform« gelte ja lediglich fürSchulen und Behörden. Zu dieser bewußten Irreführung erübrigtsich eigentlich jeder Kommentar. Durch das Urteil des schleswig-holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 13. August diesesJahres wird diese Behauptung nunmehr auch gerichtlich Lügengestraft.21

Eine weitere häufig zu lesende oder in Rundfunk- oder Fernseh-sendungen zu hörende Ausrede der Minister lautet, die Zustim-mung ihrer Landesregierungen bzw. des für die Einführungder Neuerungen in die Schreibung der Behördensprache zuständi-gen Bundesinnenministers liege ja bereits vor. So auch BerlinsSenatorin für Schule, Jugend und Sport, Ingrid Stahmer, die esansonsten nur lächerlich findet, »einen Kulturkampf um das ›h‹ inKänguruh zu veranstalten«.22

Dieser offenkundige Opportunismus dürfte jedoch zumindestbei den maßgeblichen Kommissionsmitgliedern und Politikern voneiner zutiefst konservativen Grundeinstellung getragen sein, dieder während der Bismarckschen und Wilhelminischen Ära in derBildungselite herrschenden in nichts nachsteht.

Ein beredtes Zeugnis legt davon ein Interview ab, das Prof. Dr.Günther Drosdowski, bis vor zwei Jahren Leiter der BRD-Duden-redaktion23, seitdem Vorsitzender ihres Wissenschaftlichen Rates,dem Spiegel gab.24 Darin gibt er freimütig zu, daß ihm die vor-geschlagenen halbherzigen Neuerungen eigentlich zu weit gehen.Er hätte lieber »da und dort Abstriche gemacht«. Die Begründun-gen, sofern welche gegeben werden, muten aus dem Munde einesOrthographieexperten seltsam an. Im Zusammenhang mit Packetbeispielsweise, für das nach den neuen Regeln die von ihm abge-lehnte Schreibung mit ck gilt, bemängelt er, daß es künftig anders»gesprochen als geschrieben« werden soll. »Denn es wird ja diezweite Silbe betont«. Als ob die Betonung nach der deutschenRechtschreibung überhaupt angegeben würde. Das vom Intervie-wer angesprochene Verzeichnis der Fremdwörter, für die einean die Regeln der deutschen Orthographie angenäherte Schreibungvorgeschlagen wird, bezeichnet er als »Horrorliste«. Vereinfachun-gen sind nach seiner Meinung nur zulässig, »wenn sich Entwick-lungen in der Sprache abzeichnen«. Deshalb dürfe neben Telephonauch Telefon geschrieben werden. »Aber kennen Sie jemanden,

20 Nach Berliner Zeitungvom 10. März 1997.

21 »Die Rechtschreibre-form zielt nicht nur auf eineÄnderung der Schreibweiseim Schulunterricht und inder Amtssprache. Reformiertwird zum 1. August 1998 dieSchreibweise der deutschenSprache im deutschenSprachraum überhaupt...«(zitiert nach Der Tagesspie-gel vom 14. August 1997.

22 In Der Spiegel 33/1997.

23 Anläßlich seines Aus-scheidens aus diesem Amtwurde Prof. Drosdowski »fürseine Verdienste um diedeutsche Sprache« mit demGroßen Bundesverdienst-kreuz dekoriert, worüberdas Börsenblatt in seinerAusgabe 58/1995 ausführ-lich berichtete.

24 Der Spiegel 25/1995,S. 107-110.

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der Katastrofe schreibt? Ich nicht.« Mit »Entwicklungen in derSprache« meint Prof. Drosdowski also häufig vorkommendeAbweichungen von der vorgeschriebenen Schreibung, die von derDudenredaktion schließlich mehr nolens als volens abgesegnetwurden. Das Argument, die hohe Fehlerquote müsse gesenkt wer-den, dürfe nicht den Ausschlag geben, denn wer »an Portemonnaiescheitert, der wird auch an Portmonee scheitern, weil er am Endeentweder ein n zuviel oder ein e zuwenig schreiben wird«.Hinsichtlich der »Eindeutschung« der Fremdwörter behauptet er,daß sie »der allgemeinen Richtung völlig zuwiderläuft, und zwarsowohl der Sprache als auch des Lebens überhaupt. Die Entwick-lung ist durch Massentourismus in alle Welt und Verständigungüber die Landesgrenzen hinweg gekennzeichnet. Wir aber machenKrepp aus Crêpe, Teke aus Theke, Strofe aus Strophe, Spagetti ausSpaghetti. Absurd.«

Daß dieser Konservativismus nicht nur bei den Politikern nebendem fachlichen Aspekt auch ein gerüttelt Maß Obrigkeitsgläubig-keit und Vertrauen in die Bürokratie enthält, zeigt sich daran,daß die »Reform« für Prof. Drosdowski schon aus dem Grunde»gelaufen« ist, »weil auf der Wiener Konferenz im November 1994Abgesandte der Kultusminister dem Beschluß bereits zugestimmthaben.« Durch den Einwand des Interviewers: »Was Beamteerklären, bindet die Minister nicht, zumal wenn diese sich – wiein diesem Fall – mit der Sache noch gar nicht befaßt haben,sondern das ihren Staatssekretären überlassen haben«, läßt sichDrosdowski nicht beirren, denn: »Trotzdem kann der Beschluß derKultusministerkonferenz nur eine Formsache sein, denke ich«.

Da irrte Prof. Drosdowski allerdings, denn kein Geringerer alsHans Zehetmair, seines Zeichens CSU-Kultusminister des Frei-staates Bayern, seit 1989 zusätzlich für Wissenschaft zuständig undseit 1993 auch stellvertretender Ministerpräsident, legte gegendie von den Vertretern Österreichs und der Schweiz bereits offi-ziell gebilligte »Reform« am 28. September 1995 erst einmal seinVeto ein. Warum, hatte der studierte Germanist und Altphilologe,der auch zehn Jahre Gymnasiallehrer gewesen war, schon vorherebenfalls dem Spiegel anvertraut.25 Daran erinnert, daß er schon1989 verhindert habe, daß »aus dem Hai ein Hei, aus dem Kaiserein Keiser, aus dem Boot ein Bot wurde«, bekannte er stolz: »Mitmir ist das nicht zu machen, das wäre eine Barbarei an derdeutschen Sprache«. »Es wäre eine Katastrophe, wenn es zuKatastrofe käme... Die meisten Älteren werden sich daran nichtgewöhnen können und wollen, und bei den Jüngeren sind dieSchulen mit einigem Erfolg um die Entwicklung von Sprachkom-petenz bemüht. Sie haben einen freien, vielfältigen Umgangmit fremden Sprachen und fremden Wörtern, da brauchen siesolche Primitivschreibungen nicht.« Daß der Papst künftig aufdas große H in der deutschen Version eines seiner Titel verzichtensollte, entlockte Minister Zehetmair den Ausruf: »Unmöglich,das halte ich beinahe für einen Eingriff in Glaubensfragen. Fürkatholische Christen ist doch klar, daß es einen Heiligen Vater,aber viele heilige Väter gibt... Diesen Unterschied können dochnicht Sprachwissenschaftler mit irgendeiner Regel einebnen...

25 Der Spiegel 37/1997,S. 226-229.

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Meine letzten Zweifel schwinden, daß da finstere Ketzer am Werkewaren«.

Wenn schon die »Experten« auf diesem Niveau diskutieren, wassoll man da von den »Laien« erwarten.

Und zu denen gehören zweifellos auch die nunmehr in fast allenLändern und auf der Bundesebene mit der »Reform« befaßtenRichter, sobald sie sich auf das Glatteis einer quasilinguistischenArgumentation begeben. Unabhängig davon, ob Verwaltungsge-richte Klagen von Eltern gegen die voreilige Einführung der neuenRegeln ablehnten26 oder ihnen stattgaben27, sowie unabhängigdavon, wie sie diese Entscheidungen juristisch begründeten undwelche weiteren Vorgehensweisen sie vorschlugen, eine überdiesen Rahmen hinausgehende Verlautbarung bestärkte meist denEindruck, daß auch Juristen nicht wissen, worum es eigentlichgeht. Das gilt im übrigen auch für »Reformgegner«.

Einen vorläufigen Höhepunkt bildet in dieser Hinsicht das Urteildes schleswig-holsteinischen Oberverwaltungsgerichts, das eineden Stopp ablehnende Entscheidung der ersten Instanz bestätigte.Wie man den in der Presse veröffentlichten Auszügen aus derUrteilsbegründung entnehmen kann, geht das Gericht von der ansich nicht anzufechtenden Prämisse aus: »Sprachliche Normenhängen ... nicht vom Willen – unter Umständen kurzfristig wech-selnder – Mehrheiten in Parlamenten ab, sondern langfristig –von allgemeiner Akzeptanz.«28 Nur – hier handelt es sich gar nichtum sprachliche, sondern um Schreibnormen, die sich zwar aufjene stützen sollten, aber gerade in der deutschen Orthographieweitgehend von ihnen unabhängig und völlig willkürlich festge-legt sind. Die heillose Verquickung von Sprache und ihrer Schrei-bung, die sich von allem Anfang durch die gesamte Kontroversezieht, wird damit sogar zum Bestandteil eines richterlichen Urteilsgemacht.

Sie kommt auch in zahlreichen anderen Stellungnahmen vonRechtsgelehrten zur »Reform« immer wieder vor. Der juristischeVorreiter der Protestbewegung, der Verfassungsrechtler RolfGröschner, spricht mit dem Blick auf das »Reförmchen« von einem»gravierenden Eingriff in eine gewachsene Sprach- und Schreib-kultur«.29 Der Vorsitzende des Rechtsausschusses des BundestagsHorst Eylmann (CDU), verwahrt sich nach Der Spiegel30 gegen das»staatliche Hineinfingern in die Orthographie«, sieht darin einen»Rückfall in den Obrigkeitsstaat« und verkündet: »Die Sprachegehört dem Volk«. Ein anderer CDU-Politiker, der seinerzeit alsBundesverteidigungsminister zurückgetretene, heute als stellver-tretender Bundestagsfraktionsvorsitzender amtierende Staatsrechts-professor Rupert Scholz, glaubt gar davor warnen zu müssen, »daß16 Länder unter Umständen 16 verschiedene Sprachen und Recht-schreibungen beschließen«.31

Bei anderen Politikern ist natürlich viel Wahlkampftaktik undpopulistische Profilierungssucht mit im Spiel. Besonders deutlichhört man die Nachtigall bei der FDP-Spitze trapsen, die sich jetztvorhalten lassen muß, bei der Beratung der Neuerungen im Bun-deskabinett 1996 keinerlei Vorbehalte gegen die Art und Weise desVorgehens gehabt zu haben. Dessenungeachtet erklärte Parteichef

26 Wie die in Schleswig,Mainz, Weimar, Greifswaldund München.

27 Wie die in Wiesbaden,Hannover, Gelsenkirchen,Dresden und Hamburg.

28 Der Tagesspiegel vom14. August 1997.

29 Der Spiegel 31/1997.

30 Der Spiegel 32/1997,S. 156.

31 Der Spiegel 32/1997,S. 158.

LÖTZSCH »Rechtschreibreform«29

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Gerhardt nunmehr, obwohl seinerzeit als hessischer Kultusministerund KMK-Vorsitzender selbst maßgeblich an der Einleitung dieserProzedur beteiligt, es dürfe in Deutschland keine Orthographiere-form ohne parlamentarische Absicherung geben. Wie Der Tages-spiegel vom 12. August 1997 zu berichten weiß, soll ihm seinderzeitiger Nachfolger und SPD-Konkurrent Wernstedt daraufhinin einem offenen Brief geschrieben haben, seinen eigenen Anteilan einem Entscheidungsprozeß zu verschweigen und »nur nachder Stimmung des Tages zu verfahren«, sei »pflichtvergessen« undgehöre »in die verachtenswerte Tradition eines Umfallertums«.Während Kanzler Kohl von seinem Urlaubsort aus in einem Fern-sehinterview verlauten ließ, es sei ja »nicht alles Quatsch« an der»Reform«, und Gespräche zwischen Bund und Ländern vorschlug,sagte FDP-Fraktionschef Solms der Bild am Sonntag: »Wir solltenjetzt die ganze Rechtschreibreform begraben.« Auch neue Bund-Länder-Gespräche seien nicht nötig. »Das sei alles Unsinn.«32

Die Bundestagsfraktion der Bündnisgrünen warnte hingegen voreiner Rücknahme der »Reform«. Ihr rechtspolitischer SprecherVolker Beck sieht darin eine gegenüber den Schülern und denSchulbuchverlagen nicht zu verantwortende »Rolle rückwärts«.33

Wie sich zeigt, versuchen Politiker der Koalition angesichtseines Massenprotestes gegen die »Reform« offenkundig, auf denfahrenden Zug aufzuspringen, um im Wahlkampf Punkte zusammeln, während sich Vertreter der Opposition, koste es was eswolle, als »Reformer« darstellen möchten. Auf irgendwelche»orthographischen« Argumente meinen sie dabei verzichten zukönnen.

Die Gewerkschaften sind offenbar hin und her gerissen. Die inerster Linie betroffene GEW warf erst einmal sowohl Gegnern wieBefürwortern »Dilettantismus« und »Gleichgültigkeit« vor. Ihreneue Bundesvorsitzende Eva-Maria Stange verkündete AnfangJuni in einem Rundfunkinterview: »Wenn das Ganze jetzt gestopptwird, tritt die Verwirrung komplett ein«34. Nach dem Urteil desSchleswiger Oberverwaltungsgerichtes erklärte sie am 14. Augustim Info-Radio: »Ich stelle es mir kurios vor, wenn jemand einenRechtschreibfehler macht und damit gegen ein Gesetz verstößt«35,um vierzehn Tage später zu befinden, es sei ein Fehler gewesen,»die Reform in den Schulen zwei Jahre vorzuziehen« und sichgegenüber der Berliner Zeitung für einen vorläufigen Stopp aus-zusprechen.36 Der Berliner GEW-Vorsitzende Erhard Laube wie-derum kritisiert eine solche Haltung als »gedanklichen Schnell-schuß«37 bzw. – nicht zuletzt mit Rücksicht auf die angeblichenVerluste der Schulbuchverlage – als »volkswirtschaftlichen undpädagogischen Unsinn«38. Mit pseudolinguistischen Argumentenhalten sich auch die Gewerkschaftsfunktionäre nicht auf.

Eine um so größere Rolle spielen solche Argumente – in ersterLinie die irrige Annahme von einem gleichsam natur- oder gottge-gebenen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Sprache undihrer Schreibung, obwohl sich diese unter spezifischen historischenBedingungen mehr oder weniger zufällig herausgebildet hat – beiprominenten Protestierern. Lanciert wird dieser Irrglaube natürlichauch in hohem Maße von den Medien.

32 Der Tagesspiegel vom17. August 1997.

33 Berliner Zeitung vom9./10. August 1997.

34 Neues Deutschlandvom 5. Juni 1997.

35 Neues Deutschlandvom 16./17. August 1997.

36 Ausgabe vom 28.August 1997.

37 Berliner Zeitung vom30./31. August 1997.

38 blz 8/1997, S. 4.

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»Rettet die deutsche Sprache!« titelte beispielsweise Der Spiegelin seiner Nummer 42/1996. Dieser Aufruf mag ironisch gemeintsein, um eine gewisse Distanz zum ebenfalls auf dem Titelblattthematisierten »Aufstand der Dichter« gegen den »SchwachsinnRechtschreibreform« zu suggerieren. Doch dann sollen die inter-viewten Dichterfürsten eine Eingangsfrage des Typs »Herr..., die(Landes-)Sprache, in der Sie schreiben, soll sich ändern... Wiefinden Sie das?« beantworten. Einzig Enzensberger kontert in demschon in Anmerkung 3 zitierten Interview mit dem bemerkens-werten Satz: »Dabei geht es überhaupt nicht um die Sprache,sondern um die Rechtschreibung, die von jeher das Steckenpferdaller Besserwisser war.« Der abschließende Nebensatz stellt zwareine Übertreibung dar, dem rationellen Kern der Aussage kann manjedoch nur uneingeschränkt beipflichten. Sie ist im übrigen inder ganzen Protestkampagne eine der ganz wenigen, in der dieseErkenntnis, die eigentlich der Debatte zugrundeliegen müßte,überhaupt ausgesprochen wird.

Die meisten der dergestalt Angesprochenen fallen dagegen aufdie – vermutlich gar nicht mit Hintergedanken gestellte – absurdeFrage herein. Martin Walser, der sich offenbar nicht bewußt ist,daß ein und derselbe kurze Vokal nach bestimmten – in manchenFällen nicht nachzuvollziehenden – Regeln mal mit e, mal mit ä zuschreiben ist, meint: »Bei uns im Süden hat man immer »Gämse«gesagt und, unter hochdeutschem Druck, »Gemse« geschrieben«.39

Siegfried Lenz, der die angestrebten Neuerungen für einen »kost-spieligen Unsinn« hält, protestiert als »Bürger und Schriftsteller,den der wahrnehmbare Sprachverfall nicht unbesorgt sein läßt«.40

Walter Kempowski, der immerhin für radikalere Lösungen wiedie gemäßigte Kleinschreibung plädiert, glaubt: »Unsere jetzigeschöne Schriftsprache jedenfalls landet auf dem Müll«.41 GünterGrass wird in der Berliner Zeitung vom 1. Juni 1997 mit denWorten zitiert: »Ich lehne den widersprüchlichen und zum Teilwidersinnigen Eingriff in die deutsche Sprache ab«.

Noch weitaus größere, oftmals geradezu groteske Fehlleistungendieser Art finden sich immer wieder in den Berichten, Kommen-taren, Leitartikeln und Überschriften sowie vor allem in denunzähligen Leserzuschriften pro und kontra von Medien unter-schiedlichster Couleur. Auf die Wiedergabe auch nur einerAuswahl muß aus Platzgründen verzichtet werden.

Nur darauf sei noch verwiesen, daß diesbezügliche Entgleisun-gen von Prominenten Auswirkungen auf ihre Leser haben können.So veröffentlicht das Neue Deutschland in seiner Wochenend-ausgabe vom 19./20. Juli 1997 eine teilweise auch die »Reform«thematisierende Kolumne von Hermann Kant, die aus lauterGeistreicheleien besteht, bei denen man meist nicht schlau wird,ob irgend etwas an ihnen ernst gemeint ist oder ob sie lediglichder Selbstbefriedigung dienen. Das trifft u.a. auf folgende Passagezu: »Eine Reform sollte es sein, welche, wenn schon nicht gleichden Übelstand Arbeitslosigkeit abstellt, so doch wenigstensdas Wort dafür ums Fugen-s verkürzt. Auf daß die fehlerquellenlosgemeinsame deutsche Sprache uns Deutsche ... endlich über alleUnterschiede hinweg zur fugenlosen Gemeinschaft macht.«

39 Der Spiegel, 42/1996,S. 270. Der Baseler BeatLeuthardt unterliegt demgleichen Irrtum, zieht aberandere ziemlich abstrus for-mulierte Schlußfolgerungenund begrüßt im ND vom7./8. Juni 1997 gerade dieseNeuerungen. Denn: »Daßdie deutsche Sprache sichin der revidierten Form wei-ter von den SchweizerSprachgewohnheiten entfer-nen würde als die heutigeHochsprache, behauptetaußer den Reformgegnernniemand. Im Gegenteil. Alt-sprachliche Wörter wieGemse und Stengel werdenin sämtlichen Dialekten oh-nehin mit ä ausgespro-chen... So gesehen werdendiese ä-Wörter die Schwei-zer Mundartformen sogarnäher an die deutscheHochsprache heranführen.«

40 Ebenda, S. 268.

41 Ebenda, S. 278.

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Ob Kant selbst meint, eine Orthographiereform könne die Aufgabehaben, auch Gesetzmäßigkeiten der Wortbildung gleich mit abzu-schaffen, sei dahingestellt. Offen bleiben muß auch, wieviele Leserdies als ernstgemeinte Forderung auffassen könnten. Eine Leserinhat es jedenfalls so ernst genommen, daß sie in einer vier Tagespäter abgedruckten Zuschrift ans ND tatsächlich nicht einsehenwill, wozu das Fugen-s in Arbeitslosigkeit bleiben soll.

Natürlich sind in der ganzen Debatte neben Unkenntnis auchnicht wenige Emotionen im Spiel, wie die zahlreichen nicht gera-de schmeichelhaften Epitheta für die »Reform« belegen. Reförm-chen oder Reförmlein, unausgegorenes Werk sind, wie auch (mitder ungerechtfertigten Identifizierung von Schreibung und Spra-che) Neudeutsch bzw. (mit distanzierenden Anführungsstrichen)»neues Deutsch«, »Leichtschreibung« oder Neuschreib, Neuschriebnoch die harmlosesten der Ablehnung signalisierenden Bezeich-nungen. Sonst reichen diese von Banausenschreibe, Quatsch,Stuß, Unfug, Unsinn, Blödsinn, Schwachsinn (wider die deutscheSprache), Irrsinn, Wahnsinn, Verhunzung (der deutschen Sprache),Akt von Kulturschande bis zu idiotisches regelwerk und Neurege-lungen der Silbentrennung persiflierendem kleins-taatliche Ka-cke.

Andererseits dürfte eine so völlig an der Realität vorbeigehendeeuphorische Einschätzung, man könne sich »nichts Logischeres«als die bisher gültige Rechtschreibung vorstellen, wie sie eineHamburger Lehrerin am 15. August dieses Jahres in den »Tages-themen« abgab, wohl ebenfalls Emotionen geschuldet sein.

Im allgemeinen jedoch vermitteln die Leserzuschriften in derPresse den Eindruck, daß die Mehrheit der Deutsch Lesenden undSchreibenden die Neuerungen aus durchaus rationalen Gründenablehnt. Die meisten begründen die Ablehnung damit, daß dieNeuregelung schlicht überflüssig sei, »überflüssig wie ein Kropf«,wie Roman Herzog gesagt haben soll. Ein sich als »Gegner derRechtschreibreform« bezeichnender TAZ-Leser motiviert seineHaltung damit, daß sie »schlichtweg nicht radikal genug« sei.42

Einige präzisieren darüber hinaus, daß sie »eindeutige regeln fürlange und kurze vokale und vor allem die abschaffung der groß-schreibung von substantiven«43 vermissen, daß sie die »Verschrift-lichung derselben Laute durch verschiedene Buchstaben odersogar Buchstabengruppen, zum Beispiel f durch ff, ph und v« nichtakzeptieren44 oder daß die Getrennt- und Zusammenschreibung»veränderungsbedürftig gewesen wäre«, da hier selbst »bei Leuten,für die die Sprache Handwerkszeug ist, Probleme bestehen«45.

Natürlich können auch Stellungnahmen von Befürwortern gegenAblehner vernünftige Gedanken enthalten. Etwa wenn ein Leserdes Tagesspiegel die von Kommentator Malte Lehming am 30.Juli 1997 in dieser Zeitung unter der Überschrift »Die Umworter(sic!) sind einsam geworden« kolportierte Begriffsverwirrungzurückweist, weil es nicht um die »Neuregelung der Sprache«,sondern »lediglich um das Schriftbild« gehe.46

Daß der ebenfalls in solchen Stellungnahmen zu findendeHinweis auf die stockkonservative Grundeinstellung so mancherProtestierer nicht von der Hand zu weisen ist, dürfte schon ausdem bisher Dargelegten hervorgehen. Was aber wäre beispiels-

42 TAZ vom 20. August1997.

43 So ein Verfechter derKleinschreibung in der TAZvom 15. Dezember 1995,der hinzufügt: »Ein wichtigerbeitrag dazu wäre, wenn dietaz als alternative zeitung zugemäßigter kleinschreibungübergehen würde«. Im Tagesspiegel vom 23.Dezember 1996 forderndie Schüler der Klasse 11edes Kreuzberger Hermann-Hesse-Gymnasiums sogareine »aIlgemeine Klein-schreibung«.

44 TAZ vom 2. November1995.

45 Neues Deutschlandvom 22. Oktober 1996.

46 In der Ausgabe vom3. August.

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weise bei einem CDU-Rechtsaußen wie Rupert Scholz auch ande-res zu erwarten, als daß er die bei einer echten Reform sehrwohl rational begründbare Zuständigkeit des Bundes auch in die-sem Fall nicht nur mit der bereits mehrfach erwähnten irrigenGleichsetzung »Rechtschreibung ist Sprache« beweisen will,sondern völlig überflüssigerweise mythologisierend hinzufügt:»Sie ist identitätsstiftend für die ganze Nation. Der Bund ist kraftNatur der Sache zuständig.« Denn sonst drohe dem Land eine»Sprachspaltung«.47

Doch auch germanistisch ausgebildete Deutschlehrer wartenmanchmal mit merkwürdigen Thesen auf. Zu ihnen gehörtKlaus Deterding, der in Berlin eine ähnliche Rolle zu spielenscheint wie Denk in Bayern und auf Bundesebene und im April1997 eine Rechtschreibung zum Nulltarif. Fehler und Mängelder »einfachen« neuen Regelung betitelte 22-seitige Broschüreschon in der »fünften verbesserten sowie mit einem Vorwortversehenen« Auflage herausbrachte. Darin läuft er u.a. Sturmgegen die an sich gar nicht anfechtbare Formulierung der »Vorla-ge«: »In manchen Fällen werden durch verschiedene Laut-Buchstaben-Zuordnungen gleich lautende Wörter unterschieden«(als Beispiel: malen – mahlen, leeren – lehren). Es handelesich um »unterschiedliche Wörter mit verschiedenem Inhalt,verschiedener Bedeutung und verschiedener Wortgeschichte.«48

Doch dies wird ja auch in der »Vorlage« nicht bestritten. WennDeterding dann allerdings fortfährt, es handele sich um Wörter,die »in gar keinem Zusammenhang miteinander stehen«, dann tuter den »Reformern« entschieden Unrecht, denn sie behauptenlediglich den von der Sprachentwicklung hergestellten unbestreit-baren Zusammenhang: mahlen und malen bzw. leeren und lehrenlauten gleich. Und das trifft auch auf zahlreiche andere Homonymezu, auf solche, die unterschiedlich geschrieben werden, und aufsolche, die sich in der Schreibung nicht unterscheiden. Zu kriti-sieren wäre die »Vorlage« in diesem Punkt wegen der Beibehaltungdieser Inkonsequenz bzw., wenn versucht würde, eine andereunterschiedliche Schreibung einzuführen. Auf dieses Problem istnoch zurückzukommen.

Vorläufiges Resümee: Die vorgeschlagene Neuregelung stellt kei-ne wirkliche, von wissenschaftlichen Kriterien ausgehende Recht-schreibreform dar, sondern beinhaltet lediglich eine Reihe solchenPrinzipien zumeist diametral zuwiderlaufender partieller Änderun-gen an den bisher geltenden Regeln. Die Verursacher diesesDebakels benutzen die Geringfügigkeit der Änderungen als Ausre-de, um die »Reform« gegen den erklärten Willen der Betroffenenadministrativ durchzudrücken. Demgegenüber machen nichtwenige Gegner zu Recht ihren Protest daran fest.

Die Chancen einer echten Rechtschreibreform hängen also inhohem Maße von der fachlichen Qualifikation der für ihre Vorbe-reitung und Durchführung Verantwortlichen ab, seien es nunSprachwissenschaftler, Pädagogen oder Politiker. Wäre diese Qua-lifikation hoch genug, hätten Juristen allenfalls dann mitzureden,wenn es zu entscheiden gälte, welcher »höchstrichterlichen« In-stanz das letzte Wort gebührt.

47 BZ vom 31. Juli 1997.

48 S. 5 der angegebenenBroschüre.

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Die Rechtschreibprinzipien und ihre denkbare Anwendung auf diedeutsche OrthographieWie aber könnte eine auf wissenschaftlichen Kriterien basierendeSchreibung der deutschen Sprache aussehen?

Als solche »Rechtschreibprinzipien« genannten Kriterien wer-den im allgemeinen folgende unterschieden:49

Erstens: Phonetisches oder LautprinzipDieses Prinzip orientiert sich an den tatsächlich gesprochenenLauten. Seine konsequente Anwendung in der Schreibung einerSprache kommt kaum vor, da die konkrete Realisierung derSprachlaute vielfach von deren Umgebung abhängt. So werdenz.B. stimmhafte Konsonanten des Deutschen vor stimmlosen oderim Wortauslaut stimmlos. Wiedergegeben wurde die »Auslauthär-tung« bei der Schreibung des Mittelhochdeutschen, etwa bei derDeklination von Substantiven wie Tag, das bei Vorhandensein vo-kalischer Endungen tag- (z. B. Genitiv tages oder Dativ tage),sonst aber tac geschrieben wurde.50

Zweitens:. Phonologisches Prinzip Dieses Prinzip orientiert sich an den sog. Phonemen, den bedeu-tungstragenden Lauteinheiten. Phonetische Unterschiede wie beider Aussprache von ch nach vorderen oder hinteren Vokalen wiein Nacht (»ach-Laut«) gegenüber Nächte (»ich-Laut«) werdenebensowenig berücksichtigt wie die unterschiedliche Aussprachevon /r/ als Zungen- oder Zäpfchen-r oder die von /g/ in richtig(»richtich«) oder richtige.51

Drittens: Morphologisches bzw. morphematisches oder Stamm-prinzipNach diesem Prinzip werden Modifikationen eines Wortstammesbei Deklination, Konjugation oder Wortableitung in der Schrei-bung abweichend vom phonologischen Prinzip berücksichtigt.Der auf »Umlaut« von /a/ zurückgehende kurze offene Vokal /e/wird so mit dem Buchstaben ä geschrieben, wie im Plural vonNacht – Nächte oder in der Ableitung nächtlich bzw. im Präsensvon fallen – (du) fällst, (er, sie, es) fällt oder in der Ableitungfällen. Der mit der »Reform« unternommene Versuch, die Anwen-dung dieses Prinzips auf einige weitere vom Sprecher kaum nochals solche erkannte Ableitungen wie behende (zu Hand), Gemse(zu Gams), Stengel (zu Stange) usw. auszudehnen, wobei aberFälle wie Eltern (aus älteren) unberücksichtigt bleiben, ist be-kanntlich einer der Streitpunkte in der jetzigen Debatte. Dabeiwird merkwürdigerweise überhaupt nicht thematisiert, daß dieBegründer der angeblich historisch gewachsenen deutschen Recht-schreibung im 17. und 18. Jh. in einigen Fällen völlig willkürlicheFestlegungen getroffen haben. So hat der Wortstamm Bär nie ein/a/ enthalten, während heutiges Beere mit gotischem -basi (bezeugtin weinabasi ›Weinbeere‹) verwandt ist, das ee geschriebene /e:/also auf Umlaut zurückgeht.

Ähnlich liegen die Dinge bei der ebenfalls umstrittenen Schrei-bung des Diphthongs /oö/ mit eu oder äu, je nachdem, ob es auslangem /ü:/, das wiederum – wie in Leute – aus dem Diphthong /iu/hervorgegangen ist, oder aus dem Umlaut von /u:/ (Haus [ur-sprünglich hu:s] – Häuser) oder /ou/ (Baum – Bäume) entstand.

49 Ich folge hier im wesent-lichen der von WolfgangUlrich Wurzel in einem Vor-trag zum Thema »Über Sinnund Unsinn der Orthogra-phiereform« am 16. Januar1997 in der Leibnitz-Sozietäte. V. gegebenen Darstellung.

50 Auch die heutige türki-sche Orthographie enthältstarke phonetische Elemen-te, z.B. die Wiedergabe dersog. »Auslautverhärtung«in renk ’’Farbe’, gegenüberrengi ‘die Farbe’ (Akkusa-tiv) oder rengim ‘meine Far-be’.

51 Die Orthographien dermeisten mittel-, ost- undsüdosteuropäischen Spra-chen, z. B. aller slawischen,ganz gleich, ob sie mit latei-nischer oder kyrillischerSchrift geschrieben werden,der baltischen, also desLettischen und Litauischen,oder des Ungarischen,basieren im wesentlichenauf dem phonologischenPrinzip.

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Gerhard Augst begründet in dem in Anmerkung 18 zitiertenE&W-Artikel die fakultative Einführung der Schreibung von /ts/mit z statt mit t in Wörtern wie potenziell, substanziell mit dem»Stammprinzip«, und dies wird auch in der »Vorlage« suggeriert.Im Grunde handelt es sich dabei jedoch um die Anwendung desphonologischen Prinzips.Viertens: Grammatisches PrinzipDarauf beruhen die in der Gegenwart weltweit einzig in der deut-schen Orthographie praktizierte Großschreibung der Substantiveund die in der Neuzeit in den meisten Buchstabenschriften gelten-de Zusammenschreibung von Wörtern, die dabei voneinanderdurch Zwischenräume, sog. Spatien, getrennt werden.52

Fünftens: Semantisches oder Homonymieprinzip, manchmal auch»logisches« Prinzip genanntDanach werden gleichlautende Wörter mit unterschiedlicherBedeutung, sog. Homonyme, in der Schreibung unterschieden.Beispiele wären: denen (geben) – (sie) dehnen, (Gläser) leeren –(Schüler) lehren, Lid(schatten) – Lied(gut), (Korn) mahlen –(Bilder) malen, (das) Meer – (noch) mehr, (der) Mohr – (das)Moor, die Saite (ist gesprungen) – die Seite (tut weh), (in die) Stadt– (an Kindes) Statt – statt (dessen), (die) Uhr – (der) Ur, Waagen(werden geeicht) – Wagen (werden beladen), (das Gesicht) wahren– (wir) waren, (der) Wal – (die) Wahl, wieder (arbeiten) – wider(den Zeitgeist) usw. Wie die in Klammern beigegebenen Kontext-wörter bzw. Kompositionsglieder deutlich machen, genügt meistschon ein minimaler Kontext, um die unterschiedliche Bedeutungder gleichlautenden Wörter absolut eindeutig zu signalisieren.

Bei einigen dieser Dubletten spiegelt die unterschiedlicheSchreibung ursprüngliche lautliche Unterschiede wider, manchmalsogar ziemlich genau. So enthielt die mittelhochdeutsche Vorstufevon Lid eine kurzes /i/, die von Lied den Diphthong /ie/. Meistwerden die ursprünglichen Unterschiede jedoch infolge willkür-licher Festlegungen völlig verzerrt wiedergegeben. Saite beispiels-weise geht zurück auf seite, enthielt also den Diphthong /ei/,währen das ei in Seite aus langem /i:/ hervorgegangen ist. Derlehr- geschriebene Wortstamm enthielt ursprünglich den Diph-thong /ai/, der allerdings bereits im Althochdeutschen zu langem/e:/ geworden war. Das /e:/ in leer- dagegen ist durch Umlaut aus/a:/ entstanden, müßte nach dem historischen Prinzip alsoeigentlich mit ä geschrieben werden. Reine Willkür ist die unter-schiedliche Schreibung bei Statt und Stadt, denn es handelt sichursprünglich um ein und dasselbe Wort, das im Laufe der Zeit un-terschiedliche Bedeutungen angenommen hat.

Mit Ausnahme der beiden erstgenannten, die sich zwar am heu-tigen Sprachzustand orientieren, jedoch für kaum eine Sprachekonsequent angewandt werden, reflektieren die übrigen Prinzipiengewisse historische Momente.

Es hat in der Geschichte der deutschen Orthographie auch Ten-denzen gegeben, sich überhaupt an einer nicht mehr der heutigenAussprache entsprechenden archaisierenden Schreibung nachmittelhochdeutschem Vorbild zu orientieren. Der Begründer dersprachwissenschaftlichen Germanistik Jacob Grimm war z.B. ein

52 Eine Ausnahme bildetdas Vietnamesische, beidessen Schreibung dieSilben durch Spatiengetrennt werden.

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engagierter Verfechter einer solchen Schreibweise, konnte sichjedoch verständlicherweise damit nicht durchsetzen.

Wie bereits festgestellt, erklären sich die unterschiedlichenSchreibweisen für Homonyme zum Teil auf diese Weise.

So beruht die Kennzeichnung der Länge bei /i:/ in den meistenFällen auf der Beibehaltung der ursprünglichen phonologischenSchreibung des mittelhochdeutschen Diphtongs ie.

Die Wiedergabe des stimmlosen Zischlautes mit sch bzw. mit svor /t/ und /p/ sowie des velaren Nasallauts mit ng bzw. vor /k/mit n oder vor /n/ mit g (wie in Signal) hat ebenfalls historischeGründe.

Am stärksten tritt das historische »Prinzip« jedoch bei der Schrei-bung von Fremdwörtern in Erscheinung, die noch immer vielfachso wie in den Sprachen geschrieben werden, aus denen sie stam-men. Und wie das bisher Dargelegte deutlich macht, wird geradeder in der »Vorlage« unternommene halbherzige Versuch, auchihre Schreibung etwas stärker an die Regeln der deutschenRechtschreibung anzupassen, mit den kuriosesten Begründungenabgelehnt.

Es gibt jedoch noch zwei Kriterien, die in der gegenwärtigenKontroverse keinerlei Rolle spielen, ohne deren Beachtung voneiner tatsächlichen Reformierung der deutschen Orthographieaber keine Rede sein kann. Ich meine das ökonomisch-ökologischeund das, wie ich es nennen möchte, internationale.

Ersteres figuriert zwar in der allgemeinen Literatur zur Ortho-graphie, aber meist in nur sehr abstrakter Form. Dieter Neriusbeispielsweise nennt in seinem Artikel SprachwissenschaftlicheGrundlagen einer Reform der deutschen Orthographie53 unterden möglichen Auswirkungen einer Rechtschreibreform, die es zubedenken gälte, auch »ökonomische und technische«54, läßt aberoffen, was er damit meint.

Mir geht es hier um einen ganz konkreten Aspekt, nämlich umden Umfang des einem Phonem des Deutschen bei der Schreibungzuzuordnenden Graphems. Viele von ihnen bestehen bekanntlichnicht aus einem, sondern aus zwei und in einigen Fällen sogaraus drei Buchstaben, obwohl dafür keinerlei objektive Notwendig-keit zu erkennen ist. Man kann auszählen, wieviel überflüssigeBuchstaben ein beliebiger deutscher Text enthält. Im Durchschnittsind es mindestens 8 Prozent.55 Das ist auch ein entsprechenderProzentsatz bei der Produktion des Textes verschwendeter Zeitbzw. sinnlos vergeudeten Papiers. Bei der Papierflut, die Tag fürTag die Briefkästen deutscher Haushalte überschwemmt, könnteman sogar ausrechnen, wieviel Wald dieser Mißachtung von Öko-nomie und Ökologie durch die Verhinderung einer wirklich durch-dachten Reform der Orthographie Tag für Tag zum Opfer fällt.

Die Ignorierung des internationalen Aspektes ist um so verwun-derlicher, als insbesondere Europolitiker nicht müde werden zubeteuern, wie sehr ihnen doch das Zusammenwachsen nicht nurder EU-Mitgliedstaaten, sondern auch ihrer Bürger, sowie dieErhaltung der kulturellen Vielfalt des Kontinents am Herzen liegt.Doch kein Mensch denkt daran, daß damit auch die Reformierungder deutschen Rechtschreibung etwas zu tun haben könnte.

53 In: Sprachwissenschaft-liche Probleme einer Reformder deutschen Orthographie(I). Linguistische Studiendes Zentralinstituts fürSprachwissenschaft derAkademie der Wissenschaf-ten der DDR, Reihe A, Heft23, Berlin 1975, S. 1-38.

54 Ebenda, S. 28-30.

55 Von den ersten 5.000Buchstaben dieses Artikelsz.B. (Fußnoten nicht mitge-rechnet) sind in diesemSinne 449 (= 8,98 Prozent)überflüssig. Im »Ausblick«sind es 199 von 1.967(= 10,1 Prozent). Der Durch-schnitt betrüge 9,3 Prozent.

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Die »Reformer«, Experten und »zuständige Politiker«, tun so,als gäbe es außer dem Deutschen nur noch Englisch und Franzö-sisch bzw. die »toten« Sprachen Altgriechisch und Latein, und auchdas nur, um den Widerstand gegen eine rationelle, phonologischeSchreibung der Fremdwörter zu begründen, die zum größten Teilaus diesen vier Sprachen stammen. Dies entspricht auch derrealen Sprachenpolitik der EU, die Englisch und Französischals Arbeitssprachen favorisiert, obwohl nach den Verträgen alleoffiziellen Sprachen der Mitgliedstaaten gleichberechtigte Amts-und Arbeitssprachen der Gemeinschaft sind. Neuerdings gibt esbei BRD-Vertretern außerdem Bemühungen um eine Gleichprivi-legierung auch des Deutschen als Arbeitssprache.56 Da die EU-Sprachenpolitik nicht Gegenstand dieses Beitrages sein kann57,sei nur darauf verwiesen, daß es unter den verschiedenen Projektenfür eine praktikable EU-Sprachenpolitik auch die Konzeption dersogenannten passiven Mehrsprachigkeit gibt. Danach sollte jederseine Muttersprache sprechen können und vom Gesprächspartner,der diese Sprache nicht aktiv beherrscht, wenigstens verstandenwerden. Insgesamt ist dies eine illusionäre Vorstellung. Dennochsollte es jedem EU-Bürger erleichtert werden, so viele Sprachenwie möglich zu erlernen, wo immer sich eine Gelegenheit dazubietet. Zu den Erleichterungen würde auch gehören, daß einemöglichst weitgehende Übereinstimmung der Grundlagen derOrthographien dieser Sprachen hergestellt würde.

Dabei müßten in der Perspektive natürlich auch Anglophone undFrankophone von ihren hohen Rössern herabsteigen und endlichdem Gedanken nahetreten, daß die Absurdidäten ihrer Orthogra-phien nicht für ewige Zeiten erhalten bleiben können. Die Deutsch-sprachigen, die sich nicht selten mit der zahlenmäßigen Stärkeihrer Sprachgemeinschaft brüsten und sich ebenfalls mit einervon Ungereimtheiten geradezu strotzenden Rechtschreibung bela-stet haben, könnten aber eine Vorreiterrolle übernehmen und mitgutem Beispiel vorangehen.

Bevor nun dargelegt werden soll, wie eine nach gründlichergesellschaftlicher Diskussion, die sich vermutlich über viele Jahrehinziehen wird, einzuführende und auf wissenschaftlichen Krite-rien basierende rationelle deutsche Orthographie konkret aussehenkönnte, wäre noch zu klären, an den Interessen welches Nutzersdie Rechtschreibung zu orientieren wäre. Theodor Ickler vertritt inseiner in Anmerkung 17 zitierten Broschüre die These: »DieOrientierung an den Bedürfnissen des Lesers ist der Schlüsselzum Verständnis der Rechtschreibung und zur Beurteilung derRechtschreibreform. Jeder von uns liest tausendmal mehr, als erschreibt.«58 Einmal abgesehen von der im Zeitalter von Fernsehenund Bildzeitung sicher nicht der Realität entsprechenden Propor-tion 1:1000, zumal bei »jedem«, halte ich diese These für einenfundamentalen Trugschluß. Abweichungen von der verordnetenorthographischen Norm, seien es Fehler oder Absicht, beeinträch-tigen die Lesbarkeit nicht ernsthaft. Sie stören auch kaum. Oftbemerkt sie auch ein die Rechtschreibung im großen und ganzenbeherrschender Leser überhaupt nicht. Die Orthographie muß aberfür jeden leicht erlernbar sein59, der die zu schreibende Sprache

56 Ausführlicher hierzu s.Sprache zwischen Marktund Politik. Über die interna-tionale Stellung der deut-schen Sprache und dieSprachenpolitik in Europa(Loccumer Protokolle 1/94),u.a. meinen Diskussionsbei-trag S. 247f.

57 Hierzu Näheres in mei-nem Artikel Sprachpolitik insupranationalen politischenGebilden, in: Wolfgang W.Moelleken, Peter J. Weber(eds.) Neue Forschungsar-beiten zur Kontaktlinguistik,Bonn 1997: Dümmler, S.339-347 sowie in der dortangegebenen Literatur.

58 Einen am 1. August1997 im Neuen Deutschlandveröffentlichten Beitrag be-ginnt er: »Wir lesen tau-sendmal mehr als wirschreiben. Die Rechtschrei-bung muß sich folglich anden Interessen des Lesersorientieren. Sie hat sichauch im Laufe der Jahrhun-derte stets in diesem Sinneentwickelt und dabei sehrfein ausdifferenziert.«

59 Diesen Aspekt betontauch Heinz Zangerle in sei-nem Aufsatz »Schluss mitden Diktatkatastrofen?« imOktoberheft von Psycholo-gie heute (S. 34-37).

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beherrscht oder erlernt. Sie muß so konstruiert sein, daß jedesdurchschnittlich intelligente Kind ihre Regeln an der eigenenSprachkompetenz zu überprüfen vermag. Das muß nicht bedeuten,daß jeder, der schreiben lernt, auch tatsächlich Hochdeutschspricht. Die Kenntnis dessen, wie eigentlich zu sprechen wäre,kann jedenfalls beim heutigen Stand der innerdeutschen Kommu-nikation vorausgesetzt werden.

Dies bedeutet, daß einer echten Reform nur das phonologischeund, hinsichtlich Zusammen- und Getrenntschreibung, das gram-matische Prinzip zugrunde liegen kann. Zu berücksichtigen sinddabei unbedingt auch der ökonomisch-ökologische und der inter-nationale Aspekt. Das semantische Prinzip – in ideographischenoder Hieroglyphenschriften unvermeidlich – hat in einer Buch-staben verwendenden Rechtschreibung nichts zu suchen.

Was als müßte geschehen, um die charakterisierten Prämissen indie Tat umzusetzen?

Erstes PostulatDa keine Sprache, natürlich auch die deutsche nicht, unterschied-liche »kleine« und »große« Laute kennt, sind Großbuchstabenabzuschaffen. Von den Benutzern der zahlreichen Buchstaben-schriften, die es gibt60, leisten sich lediglich die von vier den Luxusbesonderer Großbuchstaben. Es sind dies die griechische, diebeiden von dieser abstammenden Alphabete, das lateinische unddas kyrillische, und die armenische Schrift. Von diesen ist aller-dings das lateinische Alphabet durch die jahrhundertelange Expan-sions- und Kolonialpolitik europäischer Mächte in alle Ecken undEnden der Erde verpflanzt worden, und die kyrillische Schrift istnicht mehr nur bei den traditionell orthodox-christlichen Slawenin Gebrauch, sondern mit Ausnahme der Balten, der rumänisch-sprachigen Bewohner der Republik Moldova61, der Armenier undGeorgier sowie der noch jiddisch schreibenden Juden bei fast alleneinstigen Untertanen der russischen Zaren und ihrer MoskauerNachfolger.

Irgendwelche rationalen Argumente für die Verwendung beson-derer Großbuchstaben gibt es nicht. Wenn konsequente Klein-schreibung praktiziert wird, fällt dies dem Leser kaum auf. Auchfür das Deutsche gibt es beachtliche Beispiele. So gab die Bücher-gilde Gutenberg Berlin 1931 den Titel sport und arbeitersporteines Autors helmut wagner heraus und stellte ihm das Mottovoran: »dieses buch wurde mit zustimmung des autors in klein-buchstaben gesetzt. es soll freunden und gegnern der vielfachumstrittenen kleinschreibung gelegenheit zur klärung ihres stand-punktes geben.«

Auch wer jiddische Texte herausgibt, diese im Interesse an dieLateinschrift gewöhnter Leser transliteriert und dabei ausschließ-lich Kleinbuchstaben verwendet, weil die hebräische Schrift keineGroßbuchstaben kennt, braucht nicht, wie ich aus eigener Erfah-rung weiß, mit Protesten zu rechnen.

Die Großschreibung ist nicht nur Ursache der meisten ortho-graphischen, sondern auch ständiger Tippfehler. Wie unpraktischdie Großschreibung rein technisch ist, weiß jeder, der viel mit

60 Hans Jensen nennt inseinem Buch Die Schrift(Reprint der 3. Auflage, Ber-lin 1969: VEB Verlag derWissenschaften, S. 35) al-lein für indische Alphabeteeine Zahl von 200.

61 Bei diesem Volk aller-dings erst seit wenigen Jah-ren wieder. Als Bessarabienund die Nordbukowina 1940im Gefolge des Hitler-Stalin-Paktes von der Sowjetunionannektiert wurden, mußtendie per Dekret zu »Moldo-wanen« gemachten rumä-nischsprachigen Bewohnerdieser Gebiete die seit 1860für die Schreibung der rumä-nischen Sprache verwende-te Lateinschrift wieder fürüber 40 Jahre mit der schonfrüher bei ihnen in Gebrauchgewesenen kyrillischen ver-tauschen.

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dem Computer schreibt. Ein falscher Tastendruck, und ganzeZeilen erscheinen plötzlich, wenn man nicht rechtzeitig auf denMonitor schaut, nur in Großbuchstaben und müssen neu geschrie-ben oder mittels spezieller Programme umgewandelt werden.

Die mit dem »grammatischen Prinzip« motivierte Großschrei-bung der Substantive ist ein Anachronismus sondergleichen. Überihre Ursachen schreibt Dieter Nerius ziemlich nebulös: »EineErklärung für die von allen vergleichbaren Sprachen abweichendeSonderentwicklung des Deutschen ... kann mit letzter Sicherheitbis heute nicht gegeben werden... Nach allem, was wir gegenwär-tig wissen, ... ergab sich diese Besonderheit vor allem aus einemkomplizierten Wechselspiel zwischen den Entwicklungstendenzendes Sprachgebrauchs (Schreibgebrauchs) einerseits und den Nor-mierungsbemühungen der Grammatiker andererseits im Zeitraumvom 16. bis zum 18. Jahrhundert.«62

Völker, die wie Niederländer und Skandinavier, Esten, Letten,Ungarn, Slowaken, Tschechen, Kroaten, Slowenen, Kaschubenund Sorben jahrhundertelang dem erdrückenden Einfluß deutscheroder deutschsprachiger Oberschichten ausgesetzt waren, übernah-men teilweise mit der »deutschen« Schrift auch diese Unsitte.Die letzten von ihnen, die sich dem ansonsten schon weltweitdurchgesetzten Trend anschlossen und der unseligen deutschenTradition den Rücken kehrten, die Dänen, taten dies gleich nachdem Ende des Zweiten Weltkrieges. Andere wagten diesen Schrittim Zuge ihrer nationalen Wiedergeburt schon vor dem 20. Jahr-hundert.

Es ist erfreulich, daß unter den in der Kontroverse um die»Reform« gemachten und teilweise bereits zitierten konkretenVorschlägen die zur Kleinschreibung an erster Stelle stehen. Auchder internationale Aspekt klingt manchmal an.63 Allerdings bleibtdabei meist offen, ob an die »gemäßigte« Kleinschreibung oderan die generelle Abschaffung der Großbuchstaben gedacht ist.Etwa wenn eine Buchhändlerin in der BZ vom 31. Juli 1997schreibt: »Ich würde... » die Großschreibung abschaffen«. Irratio-nale Plädoyers für die Beibehaltung sind selten.64

Ließe sich die hier geforderte Abschaffung der Großbuchstabendurchsetzen, könnten die über 18 Seiten umfassenden Regeln desKapitels D der »Vorlage« ersatzlos gestrichen werden.

Zweites Postulat Nur Lautfolgen, die in der Sprache nicht durch andere Wörter»auseinandergerissen« werden können, werden zusammenge-schrieben. In dieser Hinsicht gibt es in der »Vorlage« ausnahms-weise einige echte Fortschritte. Nur sind sie nicht ausreichend wis-senschaftlich begründet und inkonsequent realisiert.

Inkonsequent bleibt auch Kritiker Ickler65, der das Problemeigentlich korrekt benennt, aber sich nicht aus dem Bann seineseigenen Trugschlusses von der obligatorischen Leserorientiertheitder Orthographie lösen kann. So stellt er unter Berufung auf denSyntaktiker Drach, der die Frage schon vor Jahrzehnten »höchstschwungvoll« behandelt habe, dann aber wieder vergessen wordensei, in bezug auf das »berühmt-berüchtigte« Problem der »trennbar

62 Untersuchungen zueiner Reform der deutschenOrthographie auf dem Ge-biet der Groß- und Klein-schreibung (GKS), in:SprachwissenschaftlicheUntersuchungen zu einerReform der deutschen Or-thographie (I). LinguistischeStudien des Zentralinstitutsfür Sprachwissenschaft derAkademie der Wissenschaf-ten der DDR, Reihe A, Heft83/II, Berlin 1981, S. 1-67.Das angeführte Zitat stehtS. 5.

63 Im Neuen Deutschlandvom 5. August 1996 schreibtein Leser: »Irgendwo habeich als Begründung für dieBeibehaltung derGroßschreibung gelesen,es sei das einzige nationaleIdentitätsmerkmal für diedeutsche Sprache. Kleinka-rierter geht’s wohl nicht?«

64 So vertritt eine Leserinim ND vom 15. Juli 1996den Standpunkt, die »Ex-perten der Wiener Vereinba-rung« hätten die Klein-schreibung der Substantivenicht verhindert, sonderngewußt, »daß das über-haupt nicht geht. Die deut-sche Sprache ist für durch-gehende Kleinschreibungeinfach nicht geeignet.« Am 17. Dezember 1996schreibt ein Leser in dergleichen Zeitung gar: »Undwas... den Ausblick... inRichtung Großschreibunganlangt, so möge sich... ei-ne breite demokratische Öf-fentlichkeit schützend vordieses schöne Charakteristi-kum der deutschen Recht-schreibung stellen.«

65 Die Rechtschreibreformauf dem Prüfstand, S. 9-22.

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zusammengesetzten Verben« völlig richtig fest, daß wir mit ihnen»in der gesprochenen Sprache nicht die geringsten Schwierigkeitenhaben«, daß sie aber »den Schreibenden manchmal Kopfzerbre-chen bereiten«. Es handele sich auch gar nicht um wirklicheZusammensetzungen. Denn »Zusammensetzungen, die nur inbestimmten Stellungen als Zusammensetzungen auftreten ... kannes eigentlich gar nicht geben«. Es wäre zwar »grundsätzlich mög-lich, den gordischen Knoten einfach durchzuhauen, Getrennt-schreibung für alle Fälle vorzuschreiben und damit das ›fürchterli-che Gespenst‹ (Drach) der trennbaren Verben ein für allemalzu bannen«. Doch davor schreckt Ickler zurück, denn dies wäre»ein großer Verlust für den Leser«.

Da die Rechtschreibung jedoch nicht für den Leser, sondernfür den Schreiben Lernenden bestimmt sein sollte, ist es zweifellosein Fortschritt, wenn wenigstens »trennbare Verbzusammensetzun-gen« mit einem Infinitiv als erste Komponente nach der »Vorlage«grundsätzlich getrennt geschrieben werden sollten. Also kennenlernen, aber auch sitzen bleiben, unabhängig davon, ob ‘nichtaufstehen’ oder ‘die Klasse wiederholen müssen’ gemeint ist.Denn nur in bestimmten Positionen steht der abhängige Infintivvor dem zweiten Verb. Sätzen wie Wenn du nicht endlich aufhörstzu faulenzen, wirst du sitzen bleiben oder Bei Ihrem Alter könnenSie ruhig sitzen bleiben, bei denen im übrigen auch die jeweiligeBedeutung von sitzen bleiben absolut eindeutig aus dem Kontexthervorgeht, stünden also mit obligatorisch veränderter Wortfolgegegenüber: Du bleibst mit diesem miserablen Zeugnis bestimmtsitzen bzw. Bleiben Sie doch bitte ruhig sitzen.

Ansonsten aber soll das bisherige vom semantischen Prinzipdominierte Chaos mit geringfügigen »Verböserungen«, auf dienoch zurückzukommen ist, erhalten bleiben. Insonderheit sollDrachs »fürchterliches Gespenst« weiter durch die deutsche Or-thographie spuken.

Wie absurd deren Festlegungen in dieser Hinsicht sind, sei aneinem besonders anschaulichen Beispiel illustriert. So besitzt derInfinitiv des Verbs in der deutschen Gegenwartsprache einesogenannte, wie die Grammatiker sagen, kombinatorische Varian-te, die das Präfix zu- enthält. Während z.B. eine Verbindung mitden Modalverben wollen, können, müssen oder die Futurformden einfachen Infiniv enthält (ich will/kann/muß es machen, ichwerde es machen), erfordert beispielsweise eine Verbindung mitden Modalverben brauchen66 oder vermögen, mit den Hilfsverbensein oder haben bzw. die Verwendung in mit ohne oder um ein-geleiteten sogenannten verkürzten Nebensätzen obligatorischden »Infinitiv mit zu« (ich brauche/vermag es nicht zu machen;das ist zu machen, das habe ich zu machen; ...ohne/um es zu ma-chen). Bei diesem zu handelt es sich jedoch im heutigen Deutschenum ein Präfix, das nie betont ist67 und durch keinerlei andereWörter vom Verbstamm getrennt werden kann. Da sich diesesPräfix zu- jedoch aus einer den Dativ regierenden Präpositionentwickelt hat, die sich auch im Mittelhochdeutschen noch miteiner besonderen Dativform des Infinitivs verbinden konnte (z. B.ze machenne ‘zu machen’), darf es nach den Regeln der deutschen

66 Zumindest im Hoch-deutschen, für das die Pau-kerregel gilt: »Wer brauchenohne zu gebraucht, brauchtbrauchen gar nicht zu ge-brauchen«. Aber auch innicht wenigen Mundartenund landschaftlichen Um-gangssprachen. Die Regelgilt nicht für das Berlinische.

67 In der Umgangssprachewird es deshalb meist zuze reduziert.

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Rechtschreibung nicht mit dem Verb zusammengeschriebenwerden. Demgegenüber muß die stets betonte »Partikel«68 zu mitdem Verb zusammengeschrieben werden, obwohl dieses zu nurin bestimmten Kontexten überhaupt vor diesem steht und durchnahezu beliebige andere Wörter und sogar durch ganze Nebensät-ze von ihm getrennt (Du mußt die Tür zumachen, aber Ich machedie Tür jeden Tag, wenn du sie offen stehen lassen hast, selbstwieder zu) bzw. mit anderen »Partikeln« des gleichen Typs koordi-niert sein kann (die Tür zu- und wieder aufmachen). Eine denRegeln der deutschen Grammatik entsprechende Schreibung, derenRichtigkeit jeder durchschnittlich begabte Grundschüler an seinemeigenen Sprachgebrauch überprüfen könnte, wäre also: die Tür zuund wieder auf machen – die Tür ist zu zumachen.

Bei Realisierung dieser Schreibweise würden die dreieinhalbSeiten ausmachenden Paragraphen 33-35 von Kapitel B der »Vor-lage« vollkommen überflüssig.

Natürlich blieben auch dann noch manche Probleme der Ge-trennt- und Zusammenschreibung. Denn die sogenannte Univer-bierung, das Zusammenwachsen von Wortverbindungen zu einemWort, ist in der Entwicklung des Deutschen eine Realität. Eindeu-tigstes Kriterium dafür ist das Fugen-s in Wörtern wie erwähnens-wert, verurteilungswürdig, verbesserungsbedürftig, krankheits-halber, Lebenswerk usw. Fehlt dieses formale Merkmal, ergebensich gewisse Schwierigkeiten insbesondere bei Zusammenset-zungen mit Adjektiven oder Partizipien, denen auch Wortverbin-dungen entsprechen können. Ob Adjektive wie meterhoch oderfingerbreit, der Form nach partizipiale Bildungen wie bahnbre-chend oder herzerquickend angesichts von viele Meter hoch, zweiFinger breit; sich eine Bahn brechen, das Herz erquicken tatsäch-lich echte Komposita sind, ist nicht auf Anhieb zu entscheiden.Dennoch lassen sich bestimmte Kriterien ermitteln, die dies nichtnur wahrscheinlich machen. Etwa wenn in Sätzen wie DieBäumchen sind nur meterhoch; Der Spalt ist nur fingerbreit mittelsnur signalisiert wird, daß meterhoch, fingerbreit bedeutungsgleichist mit einen Meter hoch, einen Finger breit. Denn Substantivewie Meter oder Finger können im Singular nicht ohne Artikelgebraucht werden. Bei bahnbrechend und herzerquickend beweistdie Möglichkeit der prädikativen Verwendung69 (etwas ist bahn-brechend, herzerquickend gegenüber nicht möglichem jemand istartikelschreibend) bzw. der Steigerung (etwas ist noch herzer-quickender), daß es sich nicht mehr um Partizipien, sondern bereitsum zusammengesetzte Adjektive handelt.

Solche Entscheidungen können natürlich nicht dem das Schrei-ben erst erlernenden Schüler zugemutet werden. Hier sind vor-gegebene Regeln und Wörterverzeichnisse unvermeidlich. Siekönnten jedoch nach Wegfall der Großbuchstaben und grundsätzli-cher Getrenntschreibung des in der Sprache Trennbaren wesentlicheinfacher sein.

Manche diesbezügliche Entscheidungen der Autoren der »Vorla-ge« stellen indes, wie bereits erwähnt, »Verböserungen« dar. Etwawenn die nach den hier genannten Kriterien als echte Adjektiveanzusehenden Komposita aufsehenerregend oder vertrauener-

68 So tatsächlich in der»Vorlage«, S. 36ff. In Wirk-lichkeit handelt es sich beidiesem Wort längst um einAdjektiv, das nicht nur prädi-kativ (Die Tür ist/bleibt zu),sondern in der Umgangs-sprache sogar attributivverwendet werden kann(die zue Tür).

69 Dieses Kriterium bleibtim ansonsten in dieser Hin-sicht recht informativen § 36der »Vorlage« unerwähnt.

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weckend (man vergleiche: etwas ist aufsehenerregender/vertrauen-erweckender) künftig Aufsehen erregend, Vertrauen erweckendgeschrieben werden sollen.

Überhaupt nicht einzusehen ist auch, wieso es eine hochqualifi-zierte Expertenkommission hinsichtlich der Interpretation einerproblematischen Verbindung dem Schreibenden überlassen möch-te, »ob er sie als Zusammensetzung oder als Wortgruppe verstan-den wissen will«.70 Es handelt sich dabei u.a. um prädikativeBildungen wie außerstande (sein), imstande (sein), instand (set-zen), zugrunde (gehen/richten), (jemandem wie) zumute (sein),die bisher zu Recht als Wörter angesehen wurden und zusammen-zuschreiben waren.

Drittes PostulatJedem Phonem sollte nur ein einziger, und zwar stets derselbeBuchstabe entsprechen. Das hat auch für Fremdwörter zu gelten.Die einzige zulässige Einschränkung käme für nur sehr selten inFremdwörtern vorkommende Phoneme in Frage, die ausnahms-weise auch mit zwei Buchstaben geschrieben werden könnten,etwa für die in genuin deutschen Wörtern fehlende stimmhafteAffrikate, die im Englischen mit j oder (d)g71 wie in job, German,judge wiedergegeben wird. Auf welche Weise dies geschehenkönnte, ist im weiteren noch zu erörtern.

Nach der heute geltenden deutschen Orthographie werden jedochden meisten deutschen Phonemen mehrere unterschiedliche Buch-staben bzw. Buchstabenkombinationen zugeordnet.

Von den Konsonanten schießt dabei /k/ den Vogel ab. Neben derin § 22 der »Vorlage« angegebenen »grundlegenden Laut-Buchsta-ben-Zuordnung« k kommt die Schreibung mit kk (Mokka, Sakko),c (Café, Computer, Cousin), ch (Charakter, Chlor; Luchs, wach-sen), ck (Stück, Acker), cch (Zucchini), q (quälen, Quelle), qu(Mannequin, Queue) vor. Zur Wiedergabe der Verbindung von /k/und /s/ wird in manchen Wörtern (z.B. in Axt) außerdem derBuchstabe x verwendet. Alles in allem also nicht weniger als neunverschiedene Zuordnungen.

Bei den langen Vokalen bringen es zwei Phoneme, nämlich /e:/und /i:/, auf acht bzw. sieben Entsprechungen. Es gelten: für /e:/ –e (eben), ee (Beet), eh (mehr), er (Atelier), et (Budget), é (Attaché),a (Lady), ai (Cocktail); für /i:/) – i (Lid), ie (Lied,), ih (ihm),ieh (Vieh), y (Baby,), ea (Jeans), ee (Spleen). Als »Grundzuord-nungen« werden für /i:/ in § 1 der »Vorlage« gleich zwei Entspre-chungen angegeben: ie »in einheimischen Wörtern« und i »inFremdwörtern«.

Wie die Beispiele zeigen, kommen die von der »Grundzuord-nung« abweichenden Schreibungen keineswegs nur in Fremdwör-tern vor.

Ein durch nichts zu rechtfertigendes Unding ist es z.B., daß dasPhonem /f/ völlig unmotiviert nicht nur mit f oder ff, sondern imWurzelanlaut einiger Wörter und im Präfix ver- auch mit v ge-schrieben wird. Und das sogar in ein und derselben Wurzel wie involl, völlig, gegenüber füllen, Fülle. Eine Begründung der Schrei-bung des Phonems /f/ mittels ph72 in Wörtern griechischer Herkunft

70 »Vorlage«, S. 45.

71 Bei der folgenden Dar-stellung von Phonem-Gra-phem-Entsprechungen er-scheinen Großbuchstabennur in Wortbeispielen.

72 Der griechische Buch-stabe mit dem Namen phibezeichnete in der Zeit, in

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mit deren »Fremdheit« ist angesichts von Foto(-)/foto-, -graf(ie),-fon- auch längst untergraben. Die Schreibung von /f/ mit ph wärealso grundsätzlich abzuschaffen. Mit einer modernen phonemati-schen Orthographie ist sie völlig unvereinbar.

Weitere gravierende Verstößt gegen das phonologische und/oderdas ökonomisch-ökologische Prinzip wäre bei den Konsonantendie Schreibung des stimmlosen dentalen Zischlauts mit sch(schön), s (spitz oder steif), ch (Chance) oder sh (Shop) bzw. desPhonems /s/ mit s (Bus), ss (Busse), ß (Buße) oder c (City).

Von kurzen Vokalen wären zu nennen: e (Lerche), ä (Lärche), ê(Crêpe [fakultativ auch Krepp]), ai (Saison) oder a (Gag) für /e/; u(um) oder ou (souverän73) für /u/; ö (öffnen), e (Service), u (surfen)für /ö/.

Größer ist die »Vielfalt« naturgemäß bei den Langvokalen, daeine Markierung der Länge-Kürze-Opposition, wenn überhaupt,meist durch Kennzeichnung der Länge vorgenommen wird, aller-dings auf völlig unzureichende und chaotische Weise, so daß allePhoneme mindestens drei Graphementsprechungen haben. Soentspricht: /a:/ – a (Abend), aa (Aal), ah (Ahle), at (Etat); /o:/ – o(oben), oo (Zoo), oh (hohl), au (Sauce), eau (Niveau), ot (Depot);/u:/ – u (Ufer), uh (Uhr), ou (Route), oo (Boom) ew (Interview);/ö:/ – ö (hören), öh (Höhle), eu (Milieu); /ü:/ – ü (üben), üh(fühlen), üt (Debüt), ue (Revue), y (Analyse).

Neben der Markierung der Länge gibt es jedoch auch noch dienach dem ökonomisch-ökologischen Prinzip absolut unvertretbareKonsonantenverdoppelung zur Bezeichnung der Kürze des voraus-gehenden Vokals wie in Ebbe, Suppe, Paddel, Bitte, Egge, Sakko,Affe, essen, Pizza, kommen, Sonne, Fall, Herr. Statt nur ausnahms-weise in Fremdwörtern verwendetem kk und zz werden jedochdie Buchstabenkombinationen ck und tz wie in Stück74 oder Katzegebraucht.

Nicht selten wird dabei bei Wortpaaren, die sich einzig und alleindurch die Quantität des Wurzelvokals unterscheiden, völlig über-flüssigerweise sowohl die Länge als auch die Kürze gekennzeich-net, wie in Saat – satt, Beet – Bett, biete – bitte, Sohle – solle,Stuhle – Stulle, Höhle – Hölle, fühlen – füllen.

Ad absurdum geführt wird die Doppelkonsonantenschreibungzur Bezeichnung der Kürze des vorausgehenden Vokals bei derWorttrennung am Zeilenende, so wie sie im Kapitel F der »Vor-lage« dargestellt ist. Nach § 107 trennt man »geschriebene Wörter«am Ende einer Zeile so, »wie sie sich bei langsamem Sprechenin Silben zerlegen lassen«. Als Beispiele figurieren in § 108 u.a.:sit-zen, Städ-te, Bag-ger, Wel-le, Kom-ma, ren-nen, Pap-pe, müs-sen. Daß die Verfasser der Vorlage ein solches Verfahren selbernicht ernst nehmen, ist daran zu erkennen, daß sie hinsichtlich ck,das aufgrund einer willkürlichen Entscheidung früherer Orthogra-phieexperten für kk steht und bei Trennung am Zeilenende auchk-k geschrieben werden muß, in § 109 kurzerhand verfügen, es seiso wie ch, sch, ph, rh, sh oder th, die »für einen (Hervorhebung vonmir – R. L.) Konsonanten stehen«, überhaupt nicht zu trennen.75

Danach entspräche also die Silbenstruktur eines Wortes seiner vonFall zu Fall willkürlich festgelegten Schreibung.

der die meisten der in denheute häufig verwendetenInternationalismen enthalte-nen griechischen Wortstäm-me entstanden, den be-hauchten Verschlußlaut /p/.Die Wiedergabe mit ph inder lateinischen Transkripti-on entsprach somit damalsgenau dieser Aussprache.Nachdem sich jedoch Jahr-hunderte später daraus derReibelaut /f/ entwickelt hat-te, verlor diese Schreibungjeden Sinn.

73 Ein aufschlußreichesBeispiel für die Inkonse-quenz deutscher Reform-ansätze: die französischeSchreibung ai für offenes/e:/ wird durch ä ersetzt, oufür /u/ dagegen beibehalten.

74 Lediglich bei der Wort-trennung am Zeilenendewäre z.B. Stük-ke zu schrei-ben. Dies soll nach der nach§ 109 der »Vorlage« künftigin Stü-cke geändert werden.

75 Besonders kurios istdas Beispiel beis-sen, dasebenfalls in § 108 figuriert

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Kehrseite der willkürlichen und chaotischen Schreibweise nahe-zu aller Phoneme ist die völlig unterschiedliche Lautung vielerBuchstaben und Buchstabenverbindungen, die natürlich das Lesenungemein erschwert und zu falscher Aussprache verleitet, auf diehier aber nicht weiter eingegangen werden soll.

Charakteristisch sind für die deutsche Rechtschreibung somitDutzende von völlig überflüssigen Regeln, von denen jede nochdie abwegigsten Ausnahmen zuläßt. Von der in Arbeiten zur deut-schen Orthographie immer wieder behaupteten phonematischenGrundlage76 kann jedenfalls keinerlei Rede sein.

Klar ist natürlich, daß die 26 Buchstaben des lateinischen Alpha-bets nicht ausreichen, um jedem der im Deutschen als selbstän-dige Phoneme existierenden 14 Vokale77 (ohne Diphthonge) undmindestens 19 Konsonanten einen besonderen Buchstaben zuzu-ordnen. Wenn also die Maxime »ein Phonem – ein Buchstabe«wenigstens für die im Deutschen häufig vorkommenden Lautedurchgehalten werden soll, wird auch unsere Rechtschreibungohne die so manchem verhaßten diakritischen Zeichen über oderunter den vorhandenen Buchstaben nicht auskommen. Für die sog.Umlaute haben wir sie in Gestalt der beiden Pünktchen über a, o, uohnehin schon, ohne daß sich jemand darüber aufregt. Bei derWahl neuer diakritischer Zeichen wäre das internationale Prinzipzu berücksichtigen.

Da die Buchstaben x und q ihre Funktion verlören, wenn dasPhonem /k/ nur noch mit k geschrieben würde, könnte x zurWiedergabe des nach der heutigen Orthographie mit ch zu schrei-benden Phonems /x/ verwendet werden. In wissenschaftlichenUmschriften wird dieses Phonem, das nach hinterem Vokal (Nacht,mochte, Buch) als »ach-Laut«, nach vorderem Vokal und /l/, /n/oder /r/ (Nächte, möchte, Bücher, Molch, manch, Arche) als»ich-Laut« auszusprechen ist, ohnehin meist so bezeichnet (der»ach-Laut« z.B. auch in der »Vorlage«).

Für das q fände sich wohl keine Verwendung, denn einen weite-ren velaren, dem /k/ ähnlichen stimmlosen Konsonanten besitzt dasDeutsche nicht. Die skandinavischen und die lateinisch schreiben-den osteuropäischen Sprachgemeinschaften mit Ausnahme deralbanischen78 verzichten ebenfalls auf diesen Buchstaben.

Der bislang am häufigsten mit sch geschriebene Zischlaut wirdin allen lateinisch geschriebenen slawischen Sprachen mit Ausnah-me des Polnischen sowie in den beiden baltischen Sprachen mitdem sog. Haken über dem s, also mit s, bezeichnet.79 Diese Schrei-bung wäre auch für das Deutsche zu empfehlen.

Der außer vor k (sinken) und vor n (bei der fakultativ zulässigenAussprache von Signal, Signum usw.) mit der Buchstabenkombi-nation ng (singen) geschriebene velare Nasal könnte mit n, einerModifikation des Buchstaben n, gekennzeichnet werden, wiedas ebenfalls in wissenschaftlichen Umschriften – so auch in der»Vorlage« – üblich ist. Das beträfe dann auch Wörter wie Balkonoder Chance bzw. Signal usw.

Der Buchstabe s sollte grundsätzlich nur zur Wiedergabe vonstimmlosem /s/ verwendet werden. Wie in allen europäischenLateinschriften mit Ausnahme des Deutschen und Italienischen –

und nach dem in Klammernhinzugefügt wird »wenn ssstatt ß«. In § 25 dient je-doch auch beißen zur Illu-stration der Regel: »Für dasscharfe (stimmlose) s nachlangem Vokal oder Diphtongschreibt man ß, wenn imWortstamm kein weitererKonsonant folgt.«

76 Im Vorwort zur »Vorla-ge« liest sich das S. 7 so:»Die (regelgeleitete) Zuord-nung von Lauten und Buch-staben soll es ermöglichen,jedes geschriebene Wort zulesen und jedes gehörteWort zu schreiben«. Der un-befangene Leser ist ver-sucht, eine solche Behaup-tung als Hochstapelei oderRoßtäuscherei anzusehen.

77 Die Frage, ob in Wort-paaren wie Beeren - Bären,Ehre - Ähre, Schere - Schä-re, Schemen - schämenusw. die Buchstaben e undä tatsächlich zwei unter-schiedliche Phoneme reprä-sentieren, von denen e langund eng, ä dagegen langund weit auszusprechen wä-re, soll hier unerörtert blei-ben. Die regionale Ausspra-che solcher Dublettenschließt eine andere Inter-pretation zumindest nichtaus.

78 In dieser Sprache wirddamit ein /k/ »verwandter«palataler Verschlußlaut be-zeichnet.

79 Lediglich Rumänen undTürken verwenden zu die-sem Zweck die aus demFranzösischen oder Portu-giesischen übernommenesog. Cedille unter dem s.

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auch in dieser Hinsicht stimmt die »Vorlage« hinsichtlich der Um-schrift mit den internationalen Gepflogenheiten überein – sollte zausschließlich den stimmhaften dentalen Reibelaut bezeichnen.Die uns sprachlich nächstverwandten Niederländer und Flamentun dies ja auch. Das viel geschmähte deutsche Unikum ß entfieledamit. Oppositionen des Typs reißen – reisen würde, die Änderungder Diphthongschreibung einmal vorweggenommen, zu raisen –raizen.

Die bisherige Funktion von z könnte das in allen osteuropäischenSprachen mit Ausnahme des Türkischen80 dazu verwendete c über-nehmen.

Die tsch geschriebene Affrikate (Tscheche, deutsch) wird zwarvon Phonologen im Unterschied zu /c/ nicht als besonderesPhonem anerkannt81, könnte aber aus ökonomischen und interna-tionalen Gründen – sie kommt auch bei in unseren Medien ständigzitierten Namen ungemein häufig vor, wird dabei aber meist nichtvon c unterschieden – mit c und diakritischem Haken, also mit cgeschrieben werden.

Die im Deutschen ursprünglich fehlende stimmhafte Entspre-chung zum Zischlaut /s/, die wie in den Herkunftssprachen mit j(Journal) oder g (Genie, Garage) geschrieben wird, wäre nach die-sem Vorschlag mit z und diakritischem Haken, also z, die entspre-chende Affrikate (nach heutiger Orthographie mit j wie in Job) miteinem d davor, also mit dz, wiederzugeben.

Schließlich wäre es im Interesse der Ökonomie, zur Wiedergabevon labiodentalem /v/ wie in den meisten europäischen Sprachen,u.a. in den skandinavischen, und wie in Fremdwörtern statt w – vzu verwenden, also nicht nur vaze82 und virus zu schreiben, sondernauch statt Wald und wollen – vald und volen.

Zur korrekten phonologischen Wiedergabe der Vokale bedarf esim wesentlichen nur eines diakritischen Zeichens zur Kennzeich-nung der Vokallänge. Tschechen, Slowaken und Ungarn verwen-den dazu Schrägstriche vom Typ des französischen accent aigu. ImUngarischen, das wie das Deutsche auch die »Umlaute« ö und übesitzt, die ebenfalls kurz oder lang sein können, wird die Längemit zwei Strichen statt der Pünktchen gekennzeichnet. Letten undteilweise auch Litauer benutzen waagerechte Striche über demVokalbuchstaben.83 Für das Deutsche wäre diese Variante vorzuzie-hen.

Um – nicht zuletzt in Oppositionen wie (der) Kaffee – (das) Café– die vom normalen deutschen Akzent abweichende Betonung an-geben zu können, könnte eine nachder Stammasilbe betonter lan-ger Vokal mit accent aigu, ein kurzer mit accent grave gekenn-zeichnet werden.Die angeführte Dublette wäre dann kafe – kafé zuschreiben. Nach dem hier vorgeschlagenen System würde sich daszweite Wort der Dublette lediglich durch den Akut über dem e vonder ansonsten einheitlichen Schreibung kafe abheben.

Im Interesse einer einheitlichen Längebezeichnung erschiene essinnvoll, anstatt der Buchstaben ö und ü solche ohne Pünktchenzu verwenden.84 Sie könnten nach skandinavischem, insbesonderedänischem, Vorbild durch ø und y ersetzt werden, die ja schon –auch in der »Vorlage« – in der wissenschaftlichen Umschrift

80 In dieser Sprache dientes zur Wiedergabe desstimmhaften Zischlauts(engl. j, (d)g).

81 Siehe W. U. Wurzel inGrundzüge einer deutschenGrammatik (Von einem Au-torenkollektiv unter Leitungvon Karl Erich Heidolph,Walter Flämig und WolfgangMotsch), Berlin 1981: Aka-demie-Verlag, S. 937-940.

82 Zur Bezeichnung derVokallänge durch waage-rechten Strich über dem Vo-kalbuchstaben siehe die fol-genden Absätze.

83 Im Lettischen gilt diesfür /a:/, /e:/, /i:/, /u:/,während /o/ und /o:/ nur inFremdwörtern vorkommen,in denen die Länge unbe-zeichnet bleibt. In genuinlettischen Wörtern gibt derBuchstabe o den Diphthong/uo/ wieder. Im Litauischenist diese Art der Längenbe-zeichnung auf /u:/ beschränkt.

84 Ob für ein offen auszu-sprechendes /e:/, wofür heu-te ä verwendet wird,tatsächlich ein zusätzlicherBuchstabe gefunden wer-den muß, braucht aus denin Anmerkung 77 genanntenGründen hier nicht erörtertzu werden.

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figurieren. Letzteres bliebe dann bei der angestrebten radikalenReform, ohne daß dies eine spezielle Absicht wäre, in den zahlrei-chen Fremdwörtern erhalten, in denen es nicht wie /i/ oder /i:/ausgesprochen wird (z.B. in fysik, fysiker oder analyze).

Für die Diphthonge wäre wahrscheinlich die Schreibung au, aiund oi die zweckmäßigste. Auf alle Fälle müßte die unsinnige Spal-tung in ai (Kai, Mai) und ei (kein, mein) bzw. in eu (Leute) und äu(Bäume, Häuser) beseitigt werden.

Die Verwirklichung dieser Vorschläge würde allerdings einegründliche Vorbereitung voraussetzen. Sie wäre unmöglich ohneeinen intensiven Meinungsstreit unter Experten, und das nichtinnerhalb irgendwelcher Kommissionen hinter verschlossenenTüren. Sie bedürfte vielmehr auch langwieriger öffentlicher Dis-kussionen auf wirklich wissenschaftlichem Niveau. Und sie würdeauch beträchtliche materielle – allerdings einmalige – Investitionenerfordern. Denn es müßte nicht nur das für die Erläuterung und Po-pularisierung der Reform erforderliche Lehrmaterial verfaßt undveröffentlicht werden. Es würden spezielle Schulungen für Lehrerund Redakteure notwendig. Auch ein nicht geringer Teil des bereitsvorhandenen deutschen Schrifttums müßte aktualisiert und neu ge-druckt werden.

Dann aber wären die Rechtschreibregeln auf ein Minimum redu-ziert. Ausnahmen gäbe es keine mehr. Wer Deutsch schreiben ler-nen muß, könnte endlich aufatmen.

Angesichts der Radikalität einer solchen Maßnahme sollte ihreendgültige Bestätigung in den Staaten, in denen Deutsch offizielleSprache ist, einem Volksentscheid vorbehalten sein.

Es käme dann aber zu der längst überfälligen echten Reform,wie sie viele andere Sprachgemeinschaften, auch nicht ohneSchwierigkeiten, zum Teil schon im vorigen Jahrhundert hintersich gebracht haben.

Historische VorbilderWie hier schon mehrfach erwähnt, entwickelt sich die gesproche-nen Sprache im wesentlichen spontan. Die Sprecher bemerken die-se Entwicklung im allgemeinen gar nicht, zumindest nicht sofort85.Im Gegensatz dazu ist Rechtschreibung stets Konvention.

Nicht nur die Art der Anwendung einer bestimmten Schrift aufdie Schreibung einer Sprache kann von gesellschaftlichen Instan-zen, herrschenden Individuen oder Gremien festgelegt bzw. ver-einbart werden. Die Schrift selbst ist auswechselbar.

Von den nicht wenigen für die Neuzeit typischen Beispielenseien hier nur zwei angeführt. So wurde die offizielle Sprache desOsmanischen Reiches, die Vorläuferin des heutigen Türkeitürki-schen, jahrhundertelang mit der für die Struktur der Turksprachenvöllig ungeeigneten arabischen Schrift geschrieben. Nach der ke-malistischen Revolution wurde diese unter aktiver Beteiligung desPräsidenten Mustafa Kemal (Atatürk) 1928 durch die Lateinschriftersetzt.

Seit die zahlreichen mongolischen Stämme im 12. Jh. unterDschingis Khan in einem Großreich vereinigt worden waren,entstand bei ihnen ein Schrifttum, für das seit dem Beginn des

85 Das ist natürlich für In-teressierte, Individuen oderZusammenschlüsse, keinHinderungsgrund, um unterbestimmten gesellschaftli-chen Bedingungen aus poli-tischen oder ideologischenMotiven nicht doch bewußteEingriffe in die Sprachent-wicklung vorzuschlagen, zufordern, zu praktizieren, diedann – wiederum bei spezi-fischen politischen Konstel-lationen – auch die Unter-stützung staatlicher Stellenerhalten und dann – meistnur inkonsequent – auchrealisiert werden können.Es sei nur an puristischeBewegungen erinnert, dieeine »Reinigung« der Spra-che von fremden Einflüssenanstreben, oder an die so-genannte »feministischeLinguistik« mit ihrem -Innen,das, da es nicht anders als-innen aussprechbar ist undvon radikalen Feministinnenauch nicht anders ausge-sprochen wird, das männli-che Geschlecht nach denGesetzen der deutschenGrammatik aus der Betrach-tung ausschließt.

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14. Jh. ein besonderes auf indischen Schriften und deren Weiter-entwicklungen durch Uiguren und Tibeter basierendes AlphabetVerwendung fand. Als sich dann in der Mongolischen Volksrepu-blik die Sprache der Literatur in hohem Maße der Umgangsspracheannäherte, wurde ihre Schreibung – sicher nicht ohne Zutun Mos-kaus – zunehmend auf das kyrillische Alphabet umgestellt, bisdieses 1950 zur alleinigen offiziellen Schrift dekretiert wurde.

Die hier vorgeschlagene Reformierung der deutschen Orthogra-phie würde im Vergleich mit solch einschneidenden Umbrücheneine relativ bescheidene Veränderung bedeuten, durch die sichwenige Jahre nach der Einführung kaum noch jemand ernsthaft be-einträchtigt fühlen könnte.

Solche Vorgänge sind im übrigen keineswegs auf nationaleBewegungen der Neuzeit beschränkt. So erfand der griechischeGeistliche und Universalgelehrte Konstantin – als Mönch nannteer sich später Kyrill – , der den slawischen Dialekt der Umgebungseiner Geburtsstadt Saloniki seit seiner Kindheit beherrschte, einbesonderes, zwar nicht leicht zu schreibendes, aber an die Strukturdes Slawischen hervorragend angepaßtes Alphabet. Er tat diesim Zusammenhang mit einem ihm und seinem Bruder Method,einem hohen byzantinischen Beamten, im Jahre 863 erteiltenkaiserlichen Auftrag, den muttersprachlichen Gottesdienst imGroßmährischen Reich zu organisieren, wofür die Übersetzungder Bibel und liturgischer Schriften in eine bis dahin schriftloseSprache erforderlich wurde. Dieses Alphabet, die sogenannteGlagoliza, wurde während der byzantinischen Mission in Mährenverwendet, bis die Schüler der Slawenapostel nach deren Todauf Betreiben des bayrischen Klerus nach Bulgarien auswandernmußten. Dort war es teilweise bis zum 12. Jh. im Gebrauch. Diekatholischen Kroaten benutzten eine Variante dieses Alphabetsneben der Lateinschrift teilweise noch viel länger, auf der InselKrk sogar bis ins 20. Jh. In Bulgarien dagegen wurde sie seit dem10. Jh. allmählich durch die sogenannte kyrillische Schrift ersetzt,die hinsichtlich der Form der Buchstaben auf der leichter zuschreibenden griechischen basierte, hinsichtlich ihrer Struktur abermaßgeblich von der Glagoliza beeinflußt war und irrtümlich demSlawenapostel Kyrill zugeschrieben wurde. Wie diese Ersetzungvor sich ging, ist im einzelnen nicht bekannt. Eine hervorragendeRolle soll Kyrilles und Methods 916 gestorbener Schüler Klimentdabei gespielt haben, den der bulgarische Zar Boris I. 893 alsBischof von Ochrid einsetzte. Noch im 10. Jh. fand die Kyrillizaauch bei Russen und Serben und wenig später, zusammen mit demKirchenslawischen als offizieller Sprache, auch bei den orthodoxenRumänen Verbreitung. Heute ist sie die Schrift der traditionellorthodoxen slawischen Völker, also der Russen, Belorussen, Ukrai-ner, Bulgaren, Serben und Makedonier.

Auch bei Armeniern, Georgiern und Goten erfanden bei derenvon Byzanz ausgehender Christianisierung einzelne Gelehrtebereits im 4.-5. Jh. für die beabsichtigten Bibelübersetzungen vonvornherein besondere Schriften. Diese basierten entweder – wiedas gotische, abgesehen von sechs aus dem lateinischen und zweiaus dem Runenalphabet entlehnten Buchstaben – direkt auf dem

86 In der hier vorgeschla-genen Orthographie würdedieser ausblik folgendesAussehen annehmen:

ausblikder doicen spraxgemainsaftvar ain zolxer glyksfal laidernixt besiden. aux in der noi-cait unternòmene refòrmfer-zuxe vi der konrad dudenszind im anzac gesaitert. dasforloifige ergebnis dizer zixyber jarhùnderte hinciendenmizére ist di oifemìstis“rextsraibrefòrmdebàte” ge-nante trãgikomødie, di zixzait ainem jãr in der brd undabgesvext aux in den doic-sprãxigen naxbarlendernabspilt. enden vird dize,naxdém son der kanclerhøxstzèlbst gesprexe for-slug und aux her ailman alsforzicender des bundes-tagsrextsaussuses am 28.zeptèmber in der cdf-zen-du “bon dirèkt” ainle kenzi nãlizírte, aler forauszixtnax mit ainem oberfaulen

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griechischen Alphabet oder waren zumindest in verschiedener Hin-sicht von ihm beeinflußt. Alle drei waren genial konstruiert und andie Struktur der Sprachen, für die sie geschaffen wurden, hervorra-gend angepaßt.

Natürlich erforderte die Sprachentwicklung auch bei solchenOrthographien von Zeit zu Zeit bestimmte Korrekturen. IhreGrundlagen jedoch konnten erhalten bleiben.

Ausblick86

Der deutschen Sprachgemeinschaft war ein solcher Glücksfallleider nicht beschieden. Auch in der Neuzeit unternommeneReformversuche wie der Konrad Dudens sind im Ansatz geschei-tert. Das vorläufige Ergebnis dieser sich über Jahrhunderte hinzie-henden Misere ist die euphemistisch »Rechtschreibreformdebatte«genannte Tragikomödie, die sich seit einem Jahr in der BRDund abgeschwächt auch in den deutschsprachigen Nachbarländernabspielt. Enden wird diese, nachdem schon der Kanzler höchst-selbst Gespräche vorschlug und auch Herr Eylmann als Vorsitzen-der des Bundestagsrechtsausschusses am 28. September in derZdF-Sendung »Bonn direkt« Einlenken signalisierte, aller Voraus-sicht nach mit einem oberfaulen Kompromiß, der dann, wieschon so manche andere unsoziale Maßnahme, den mehrheitlichwiderstrebenden Betroffenen administrativ oder gar legislativübergestülpt wird. Dann wäre für einige Zeit erst einmal Ruheund von der Notwendigkeit einer Reform der vorsintflutlichendeutschen Orthographie für längere Zeit keine Rede mehr.

Wie aber soll es in der Zukunft weitergehen?Ich mache mir keinerlei Illusionen darüber, daß meine radikalen

Vorschläge von »Experten« und Politikern überhaupt zur Kenntnis,geschweige denn ernst genommen werden. Auch nicht von einerbreiteren Öffenlichkeit. Soweit sie doch zur Kenntnis genommenwerden sollten, höre ich schon den Aufschrei der Empörung obdieses Sakrilegs, der »Schändung des in über einem Jahrtausendgewachsenen nationalen Heiligtums« der deutschen Orthographiebzw. sehe ich das Grinsen ob dieser »utopischen Spinnerei«. Nichtvöllig auszuschließen ist auch, daß Leser die hier angestelltenÜberlegungen als Satire mißverstehen könnten. Denn mittlerweilehaben sich ja bekanntlich auch Karikatur und Satire des Themasbemächtigt. Und das mit gutem Grunde. Auch Seriosität für sichbeanspruchende Gesprächsrunden wie »Talk im Turm« oder»Presseclub« geraten ja unwillkürlich zur Kaberettnummer, so-bald in ihnen die angeblich drohende Katastrophe auch nur einesAufschubs der »Sprachreform« beschworen wird oder aber die fürdie »Nation« geradezu tödlichen Gefahren ihrer baldigen Realisie-rung an die Wand gemalt werden.

Mein Plädoyer ist aber durchaus ernst gemeint, auch wennich mir nicht einbilde, ich könnte die Verwirklichung meiner»utopischen« Vorschläge noch selbst erleben.

kompromìs, der dan, vi sonzo manxe andere unzocialemasname, den merhaitlix vi-derstrébenden betròfenenadministratíf oder gãr legis-latíf ybergestylpt vird. danvere fyr ainige cait erst ain-mal rue und fon der notven-dixkait ainer refòrm der for-zintflutlixen doicen ortografífyr le ere cait kaine redemer.vi aber zol es in der cukunftvaitergeen?ix maxe mir kainerlai iluzió-nen daryber, das maine ra-dikálen forslege fon “ekspèr-ten” und polítikern yber-háupt cur kentnis, gesvaigeden ernst genomen verden.aux nixt fon ainer braiterenøfentlixkait. zováit zi dox curkentnis genòmen verdenzolten, høre ix son den auf-srai der empørun ob dizessakrilégs, der “sendu desin yber ainem jãrtáuzentgevaksenen nacionálenhailixtums” der doicen orto-grafí bcv. zee ix das grinzenob dizer “utópisen spinerái”.nixt følix auscuslisn ist aux,das lezer di hir angesteltenyberlégu en als zatíre mis-fersteen kønten. den mitler-váile haben zix ja bekantlixkarikatúr und zatíre des te-mas bemextixt. und das mitgutem grunde. aux zeriozitétfyr zix beanspruxende ge-sprexsrunden vi “tok imturm” oder “preseklub” gerã-ten ja unvilkyrlix cur ka-barètnumer, zobàld in inendi angeblix droende kata-strófe aux nur aines aufsubsder “sprãxrefòrm” besvorenvird oder aber di fyr di na-ción geradecu tødlixen gefa-ren irer baldigen realizíruan di vand gemalt verden.

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UTOPIE kreativ, H. 85/86 (November/Dezember) 1997, S. 49-6149

Daß der Wohlfahrtsstaat am Ende des 20. Jahrhunderts massivunter Druck gerät, als nicht mehr finanzierbar bezeichnet undab- bzw. »umgebaut« wird, führt man gewöhnlich auf die Globali-sierung oder das hieraus resultierende Konzept der »Standortsiche-rung« zurück. Durch die Automatisierung, Computerisierung bzw.Digitalisierung der Produktion, die Modernisierung und Individua-lisierung der Gesellschaft sowie die Liberalisierung und Deregu-lierung der Märkte ist der Rahmen für eine »schlankere« Sozialpo-litik abgesteckt. Im folgenden werden die Funktionsmechanismenanalysiert, nach denen sich der Umbau des Wohlfahrtsstaates voll-zieht, aber auch mögliche Konsequenzen für die Gesellschaftsent-wicklung, Sozialstruktur und Staatsfunktionen diskutiert.

Ein neoliberales Projekt macht Karriere: »Standortsicherung« alszwangsläufige Konsequenz der verschärften Weltmarktkonkurrenz?Im Rückblick scheint es fast so, als sei dem Sozialstaat nach dem»Sieg über den Staatssozialismus« der Krieg erklärt worden.Offenbar stellte der Wegfall einer – keineswegs sonderlich attrak-tiven – Systemalternative die im nordwestlichen Kontinentaleuro-pa dominante Entwicklungsvariante der Marktwirtschaft, vielfachals »rheinisches Modell« des Kapitalismus apostrophiert1, zurDisposition. Aufgrund der veränderten Weltlage und internationa-len Kräfteverhältnisse bestand ab 1989/90 die Möglichkeit wieauch – nach allgemeiner Auffassung – die Notwendigkeit, sozialeLeistungsgesetze anzutasten.

An die Stelle des jahrzehntelangen Rüstungswettlaufs zwischenden beiden Militärbündnissen NATO und Warschauer Pakt trat einökonomisch-technologischer Wettbewerb zwischen drei kontinen-talen Wirtschaftsblöcken: Nordamerika (USA, in der Freihandels-zone NAFTA mit Kanada und Mexiko zusammengeschlossen),Westeuropa (EU) und Südostasien (Japan mit den sogenannten vierKleinen Tigern: Hongkong, Singapur, Südkorea und Taiwan)führen meist unter dem Stichwort »Standortsicherung« einen erbit-terten Kampf um Absatzmärkte, Marktanteile, Anlagesphären, stra-tegische Rohstoffe, Ressourcen und Patentrechte. Im Zuge der so-genannten Triadenkonkurrenz verhärten sich die internationalenBeziehungen; drastisch erhöht sich außerdem der Leistungs- undKonkurrenzdruck im Landesinnern.

Hart arbeitende Menschen degenerieren in der Konkurrenzge-sellschaft zu »Humankapital«, wenn nicht gar zu bloßen »Kosten-

Christoph Butterwegge– Jg. 1951; Dr. M.A., istProfessor für Sozialpolitikan der FH Potsdam undPrivatdozent für Politik-wissenschaft an derUniversität Bremen.

1 Vgl. dazu: Michel Albert:Kapitalismus contra Kapita-lismus, Frankfurt/M. – NewYork 1992.

CHRISTOPH BUTTERWEGGE

Globalisierung, Standortsicherungund Wohlfahrtsstaatsentwicklung

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faktoren auf zwei Beinen«. Kaum jemand wagt es hierzulandenoch, Gesellschaftsbereiche wie Soziales, Bildung, Kunst und Kul-tur aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, so übermächtigwirkt das Konzept, sämtliche Sektoren der Weltmarktentwicklungzu unterwerfen: »Die Standortlogik, kein Zweifel, hat die Blocklo-gik unseligen Angedenkens beerbt. Wie jene propagiert sie eiserneZwänge, kaschiert sie Verhältnisse als unabänderlich, gleichsamnaturgegeben.«2

Als ökonomische Globalisierung bezeichnet man einen Prozeß,der das Ende separater, voneinander abgeschotteter Nationalöko-nomien besiegelt, die Konkurrenz universalisiert und die ganzeWelt zum Markt umwandelt.3 »Globalisierung« gilt fälschlicher-weise als Sach- und nicht als Systemzwang. Wie Arne Heise zeigt,handelt es sich dabei jedoch um einen Mythos, der die Weltmarkt-konkurrenz zum Maß aller Dinge erklärt.4 Denkt man die damitverbundene Gesellschaftsphilosophie konsequent zu Ende, so be-deutet sie den völligen Verzicht auf (sozial)politisches Handeln:»Hinter dem Schlagwort von der Globalisierung verbirgt sichwenig mehr als die Kapitulation der Politik vor dem Primat derÖkonomie.«5

Was als naturwüchsiger Prozeß erscheint, der die Bundesrepu-blik – genauso wie andere Länder – zwingt, ihre Reallöhne, Perso-nalzusatzkosten und Sozialleistungen »nach unten« zu senken, umauf den Weltmärkten konkurrenzfähig zu bleiben, basiert freilichauf wirtschafts-, währungs- und finanzpolitischen Weichenstellun-gen der mächtigsten Industriestaaten. Diese haben schon währendder achtziger Jahre unter dem Einfluß des Neoliberalismus begon-nen, die Finanzmärkte zu liberalisieren, die Arbeitsmärkte zu de-regulieren und das Kapital so von fast allen staatlichen Fesseln zubefreien. Globalisierung ist weder eine Art politisch-ökonomischerNaturkatastrophe noch urplötzlich über die Bundesrepublik herein-gebrochen, wurde vielmehr »von den Regierungen der großen In-dustrieländer selbst heraufbeschworen. Im Namen der ökonomi-schen Heilslehre vom freien, grenzenlosen Markt haben sie seit Be-ginn der siebziger Jahre systematisch alle Schranken niedergeris-sen, die ehedem den grenzüberschreitenden Geld- und Kapitalver-kehr regierbar und damit beherrschbar machten.«6

Wirtschaftsführer und Staatsmänner der Industrieländer verharm-losen oder beschönigen die Folgen des Globalisierungsprozesses.Ein typisches Beispiel dafür bot der sogenannte G-7-Gipfel inLyon, dessen Wirtschaftskommuniqué vom 28. Juni 1996 versprach:»Die Globalisierung eröffnet große Chancen für die Zukunft, nichtnur für unsere Länder, sondern auch für alle anderen. Zu ihren zahl-reichen positiven Aspekten gehören eine beispiellose Ausweitungvon Investitionen und Handel, die Öffnung der bevölkerungsreich-sten Regionen der Welt für den internationalen Handel und dieChance für eine größere Zahl von Entwicklungsländern, ihrenLebensstandard zu erhöhen, die immer schnellere Verbreitung vonInformationen, technologische Neuerungen sowie die Zunahmequalifizierter Arbeitsplätze.«7

Die negativen Seiten und Nachteile der Globalisierung erschei-nen demgegenüber als zweitrangig, zumal sie vorgeblich nur wirk-

50BUTTERWEGGE Globalisierung

2 Wolfgang Engler: Standortlogik oder Demo-kratie?, in: Wochenpost vom4. Juli 1996.

3 Vgl. kritisch dazu: Elmar Altvater: Die Welt als Markt?, in: Florian Mül-ler/Michael Müller (Hrsg.):Markt und Sinn. Dominiertder Markt unsere Werte?,Frankfurt/ M. – New York1996, S. 19 ff.

4 Vgl. Arne Heise: Der Mythos vom »Sach-zwang Weltmarkt«. GlobaleKonkurrenz und nationalerWohlfahrtsstaat, in: Interna-tionale Politik und Gesell-schaft, 1/1996, S. 17 ff.

5 Christian Wernicke: Die Dritte Welt rückt näher.Die Politik versagt vor derAufgabe, die soziale Bombezu entschärfen, in: Die Zeitvom 26. Juli 1996.

6 Hans-Peter Martin/Harald Schumann: Die Glo-balisierungsfalle. Der Angriffauf Demokratie und Wohl-stand, Reinbek bei Hamburg1996, S. 72.

7 Erfolgreiche Globalisie-rung zum Nutzen aller. Wirt-schaftskommuniqué desWirtschaftsgipfels Lyon(Treffen der Staats- und Re-gierungschefs vom 27. bis29. Juni 1996), in: Presse-und Informationsamt derBundesregierung (Hrsg.),Bulletin 59/1996, S. 629.

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sam werden, falls sich Gesellschaften, Volkswirtschaften und Staa-ten dem zunehmenden Wettbewerbsdruck gar nicht, zu spät oderunzureichend anpassen. Unter diesen Umständen verliert Globali-sierung auch nach Auffassung der Staats- und Regierungschefs vonsieben großen Industriestaaten sowie des Präsidenten der EU-Kommission ihren Charakter als »Quelle der Hoffnung für die Zu-kunft« und bringt möglicherweise größere Probleme mit sich: »Inden ärmeren Ländern kann sie die Ungleichheit verschärfen, undeinige Regionen der Welt könnten an den Rand gedrängt werden.«8

Versteht man unter der Globalisierung jedoch »die Entfesselungder Kräfte des Weltmarktes und die ökonomische Entmachtungdes Staates«, wie z.B. Hans-Peter Martin und Harald Schumann9,kann dieser Prozeß eigentlich bloß negativ beurteilt werden. Darauserwachsende Chancen beschränken sich nämlich im wesentlichenauf Exportbranchen, Konzerngiganten, Bankiers, Broker, Speku-lanten und Spezialisten. Vor allem das Verhältnis von Wirtschaftund Staat ändert sich im globalisierten Kapitalismus grundlegend.»Globalisierung heißt natürlich auch, daß weniger die nationalenParlamente und Regierungen die politischen Rahmenbedingungenfestlegen, sondern die über 40.000 multinationalen Konzerne denLauf der Welt bestimmen. Deregulierte globale Finanzmärkte unddas Spekulationskapital spielen längst erfolgreich demokratischlegitimierte Regierungen gegeneinander aus.«10 Ohnmacht wärejedoch das falsche Wort, um das Verhältnis der Nationalstaatengegenüber global operierenden Konzernen zu kennzeichnen, weilletztere die ersteren gar nicht mit der Drohung eines Standort-wechsels und Massenentlassungen erpressen müssen.

(Re-)Privatisierung von Staatsunternehmen, öffentlichen Dienstlei-stungen und sozialen Risiken: Marktgesetze, Konkurrenzmechanis-men und Managementtechniken als Mittel zur Reform des Wohl-fahrtsstaates?Scheinbar erfordert die Neuordnung der Weltwirtschaft eine tief-greifende Umstrukturierung des Sozialstaates: Ein Gemeinwesen,das um die Gunst von Großinvestoren und Finanzmagnaten buhlt,kann kein Sozialstaat im herkömmlichen Sinne mehr sein. Daherwird der nach innen gerichtete Wohlfahrtsstaat von einem nachaußen gewandten »Wettbewerbsstaat« abgelöst.11 Seitdem die (»real-sozialistische«) Systemalternative entfallen ist, unterwirft sich derwestliche Wohlfahrtsstaat immer mehr einer Marktlogik, die – vomWeltmarkt ausgehend – beinahe alle Gesellschaftsbereiche erfaßt.

Durch die Vereinigung beider deutscher Staaten ergaben sich füreinen liberalkonservativen »Umbau« des Wohlfahrtsstaates hierzu-lande besonders günstige Rahmenbedingungen: Das Ende derDDR und ihr Beitritt zur Bundesrepublik erlaubten es, Einschnittein Leistungsgesetze mit »finanziellen Lasten der Einheit« zu recht-fertigen und »Solidarität«, einen historischen Schlüsselbegriff derArbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, im nationalistischen Sinneumzubiegen.12 Außerdem lag es offenbar nicht nur für die soge-nannte Neue Rechte, sondern auch für einen Großteil der wirt-schaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Eliten nahe, dasvereinte Deutschland im Gegensatz zur »alten« Bundesrepublik als

BUTTERWEGGE Globalisierung51

8 Ebenda.

9 Vgl. Hans-PeterMartin/Harald Schumann:Die Globalisierungsfalle,a.a.O., S. 296.

10 Jürgen Roth: Absturz. Das Ende unseresWohlstands, München –Zürich 1997, S. 26 f.

11 Vgl. Wolf-DieterNarr/Alexander Schubert:Weltökonomie. Die Misereder Politik, Frankfurt/M.1994, S. 153; JoachimHirsch: Der nationale Wett-bewerbsstaat. Staat, Demo-kratie und Politik im globa-len Kapitalismus, Berlin –Amsterdam 1995.

12 Vgl. z.B. Presse- undInformationsamt der Bun-desregierung (Hrsg.):Nationale Solidarität mitden Menschen in der DDR,Bonn 1990.

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»zurückgewonnenen Nationalstaat« und weniger als demokrati-schen Sozialstaat zu begreifen.

Bert Rürup weist darauf hin, daß die bisher in der Bundesrepu-blik besonders hohe Attraktivität des Standortfaktors »sozialerFriede« abnimmt: »Mit der fortschreitenden Internationalisierungim Sinne einer ›kapitalistischen Globalisierung‹ der Wirtschaftwird der wohlfahrtsstaatliche Konsens in Deutschland brüchigerwerden, da angesichts der wachsenden globalen Standortoptionenvieler Unternehmen die Einbindung und Verankerung der Unter-nehmen in den Nationalstaat und damit auch in die nationalenwohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen schwindet.«13

Die demokratische Linke ist nicht nur wegen des kläglichenScheiterns der Systemalternative zum Kapitalismus in die Defen-sive geraten, sondern auch geschwächt, weil sie – wie schonwährend des Kalten Krieges im Hinblick auf ihre Haltung zumRealsozialismus – in zwei Lager zerfällt, die sich bezüglich ihrerEinschätzung der Politik zur Sicherung des Wirtschaftsstandortesunterscheiden. Mit der von Unternehmerverbänden und Bundesre-gierung forcierten, seit Ende der achtziger/Anfang der neunzigerJahre geführten »Standortdiskussion« wurde sie erneut gespalten.

Sozialdemokratie, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbändehielten den »sozialen Frieden« für einen Standortvorteil.14 StephanLeibfried und Elmar Rieger gingen noch weiter, als sie dieSozialpolitik zur Grundlage der ökonomischen Globalisierungund Wohlfahrtsstaatlichkeit zur Vorbedingung für Weltmarktoffen-heit erklärten: »Die Kosten der internationalen Koordinierung derWeltwirtschaft werden gewissermaßen von den Wohlfahrtsstaateninternalisiert.«15 Der wiederholte Hinweis auf die Gefährdung des»Standortfaktors sozialer Friede« durch »Sparprogramme« derBundesregierung war in Anbetracht der Tatsache, daß letztereroffenbar auch billiger zu haben war, Ausdruck politischer Hilflo-sigkeit der Opposition.16

Umgekehrt begriffen Fundamentalkritiker/innen die deutscheStandortdebatte als geistige »Waffe im Verteilungskampf« undmachten geltend, daß die Beteiligung an einem Verdrängungswett-bewerb auf dem Weltmarkt zur Absenkung sozialer wie ökologi-scher Standards und zur Zerstörung des Wohlfahrtsstaates führenmüsse.17 Es wäre jedoch falsch, »Globalisierung« als pure Ideolo-gie zur weiteren Stärkung der Kapitalmacht und zur Schwächungder Gewerkschaften anzusehen: »Die Globalisierung der Ökono-mie ist (...) keinesfalls nur ein Mythos, der in der innenpolitischenDebatte um die Verteilungsspielräume instrumentalisiert wird, son-dern ein vielschichtiger Prozeß mit realen Auswirkungen aufsozialstaatliche Demokratie.«18

Gleichwohl gehört die Frage nach dem »ökonomischen Wert«bzw. dem »wirtschaftlichen Nutzen« sozialer Sicherung nicht inden Mittelpunkt einschlägiger Diskussionen19, wo sie den Trend zueiner Ökonomisierung der Sozialpolitik eher noch verstärken wür-de. Zu erörtern wäre vielmehr, welches Menschenbild hinter einerSozialpolitik steht, deren Fokus die internationale Wettbewerbs-fähigkeit »unserer« Volkswirtschaft bildet. Wenn die soziale Siche-rung primär der Standortsicherung dient, wird der Wohlfahrtsstaat

52BUTTERWEGGE Globalisierung

13 Bert Rürup: Internationa-lisierung der Wirtschaft undihre Folgen für den Wohl-fahrtsstaat, in: Soziale Si-cherheit, 12/1995, S. 449.

14 Vgl. Memorandum zurBewahrung des Sozialstaa-tes. Gemeinsame Erklärungvon Arbeiterwohlfahrt, Bun-desarbeitsgemeinschaft derSozialhilfeinitiativen e.V.,BundesarbeitsgemeinschaftSoziale Brennpunkte, Deut-schem Gewerkschaftsbund,Deutschem Mieterbund, Ge-werkschaft Öffentliche Dien-ste, Transport und Verkehr,Industriegewerkschaft Metallim November 1993, doku-mentiert in: Blätter für deut-sche und internationale Poli-tik, 1/1994, S. 127.

15 Stephan Leibfried/Elmar Rieger: Wohlfahrts-staat und Globalisierung.Oder: Vom Einstieg in denAusstieg aus der Weltwirt-schaft?, in: Die Neue Ge-sellschaft/Frankfurter Hefte,3/1996, S. 220 f.

16 Vgl. Johannes Steffen:Sozialstaat in der Reich-tumsfalle, in: Z - Zeitschriftfür marxistische Erneue-rung, 26 (1996), S. 42.

17 Vgl. Thomas von Frey-berg: ... im ganzen also sehrwiderwärtig ..., Verleugnen,Verleumden, Ausgrenzen:Vom Umgang mit der Armut,in: Friedhelm Hengsbach/Matthias Möhring-Hesse(Hrsg.): Eure Armut kotztuns an! – Solidarität in derKrise, Frankfurt/M. 1995, S. 31.

18 Klaus-Bernhard Roy:Globalisierung der Ökono-mie und nationalstaatlichePolitik – Europäisierung alstragfähige Perspektive so-zialstaatlicher Demokratie?,in: Sozialer Fortschritt,3/1997, S. 57.

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zur wirtschaftspolitischen Manövriermasse und zum Sanierungs-instrument für das Kapital herabgewürdigt. Diese ökonomistisch-funktionalistische Sichtweise vernachlässigt den humanitärenEigenwert des Sozialstaates, welcher um so mehr an Bedeutunggewinnt, je größer die Finanzierungsprobleme werden.

Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts (in seiner hergebrachtenForm) findet eine Funktionalisierung der Sozialpolitik im Unter-nehmerinteresse statt. Aufgrund der Globalisierung bzw. des Kon-zepts der »Standortsicherung« verändert sich das Verhältnis vonÖkonomie und (Sozial-)Politik, die zwar nicht abdankt, jedoch zurabhängigen Variablen der Volkswirtschaft degradiert wird. In denMittelpunkt sozialpolitischen Handelns rückt die (angeblich odertatsächlich) bedrohte Wettbewerbsfähigkeit des »Industriestandor-tes D«. Wirtschafts- und Sozialpolitik verfolgen nur noch das frag-würdige Ziel, die Weltmarktstellung des einheimischen Großkapi-tals zu stärken, indem sie dessen Wachstumskräfte stimulieren.

Zweck und Mittel der wohlfahrtsstaatlichen Intervention ändernsich: »Nicht der problemadäquate Schutz vor sozialen Risiken unddie Korrektur der marktvermittelten Einkommenspolarisierung,sondern der Beitrag der Sozialpolitik zur Konsolidierung derStaatshaushalte, zur Reduzierung der Personalzusatzkosten und zurDeregulierung des Arbeitsrechts- und Tarifsystems avanciert zumErfolgskriterium einer ›modernen‹ Sozialpolitik.«20 Mißbrauchs-debatten, Leistungskürzungen und ein verschärfter Kontrolldruckerhöhen den Zwang sozial Benachteiligter, ihre Arbeitskraft (billi-ger) zu verkaufen und selbst Niedrigstlohnangebote zu akzeptieren,verringern die Lohn(neben)kosten der Unternehmen und tragen aufdiese Weise vorgeblich zur »Standortsicherung« bei.

Der tiefgreifende Funktionswandel, den die Sozialpolitik imRahmen des Globalisierungsprozesses erfahren hat, ist bisher nurteilweise ins öffentliche Bewußtsein getreten. Elmar Altvater undBirgit Mahnkopf stellen demgegenüber in aller Klarheit fest: »ImZuge des Globalisierungsprozesses sind alle sozialen Errungen-schaften zur Disposition gestellt, weil nur noch ökonomische, mo-netär in Preisen auszudrückende und nicht jene sozialen Standardszählen, ohne die eine zivile Gesellschaft von mit sozialen An-sprüchen und politischen Rechten der Partizipation ausgestattetenStaatsbürgern ein historisches Unding ist.«21

In einer »Winner-take-all«-Gesellschaft (Robert H. Frank/PhilipJ. Cook) zählt bloß der Erfolg. Dieser drückt sich fast ausschließ-lich monetär, d.h. »in klingender Münze«, aus. Marktgesetze undKonkurrenzmechanismen halten verstärkt Einzug auch in Gesell-schaftsbereiche, die bisher davon frei waren oder – wie das Sozial-und Gesundheitswesen – sogar ein Gegengewicht hierzu bildeten.Durch die Anwendung betriebswirtschaftlicher Mittel und Metho-den in der Leistungsverwaltung, oft unter dem Diktat leerer Kassenbegonnen, aber als Verwaltungsreform ausgegeben und von einemwohlklingenden Etikett (»Neue Steuerungsmodelle«) begleitet,wurden Rationalisierungspotentiale und Einsparreserven genutzt.Sozial benachteiligte Menschen avancieren zu »Marktteilneh-mern«, die sich selbst für eine bestimmte Firma entscheiden undDienstleistungsofferten in Anspruch nehmen. Deren Effizienz bzw.

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19 So aber WinfriedSchmähl: Engere ökonomi-sche und politische Ver-flechtung als Herausforde-rung für die nationale So-zialpolitik, in: ders./HerbertRische (Hrsg.): Internationa-lisierung von Wirtschaft undPolitik – Handlungsräumeder nationalen Sozialpolitik,Baden-Baden 1995, S. 18.

20 Hans-Jürgen Urban:Deregulierter Standort-Kapi-talismus? – Krise und Er-neuerung des Sozialstaates,in: Horst Schmitthenner(Hrsg.): Der »schlanke«Staat. Zukunft des Sozial-staates – Sozialstaat derZukunft, Hamburg 1995,S. 17.

21 Elmar Altvater/BirgitMahnkopf: Grenzen derGlobalisierung. Ökonomie,Ökologie und Politik in derWeltgesellschaft, Münster1996, S. 42.

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Effektivität wird mittels geeigneter Kennziffern und Meßzahlengenau erfaßt.22 Die damit meist verbundenen Kostensenkungen undLeistungskürzungen werden in der öffentlichen und Fachdiskus-sion durch Floskeln wie »Freiheit der Wahl«, »Kultur des Wan-dels« oder »Freisetzung von Kreativität« verbrämt.

»Sparen« meint im Sozialbereich – entgegen dem allgemeinenSprachgebrauch – nicht nur, Defizite der öffentlichen Haushalte zuverringern, sondern Arbeitgebern durch die Kürzung bisher gesetz-lich garantierter Sozialleistungen (z.B. der Lohnfortzahlung fürArbeitnehmer im Krankheitsfall) weitere Kostenvorteile gegenüberausländischen Konkurrenten zu verschaffen, was wegen der meistdamit verbundenen Steuerausfälle sogar neue Löcher in die Staats-kasse reißen kann. Da alle EU-Staaten in Maastricht denselbenWeg eingeschlagen haben wie die Bundesrepublik, gleicht das Ver-fahren dem berühmt-berüchtigten Wettrennen zwischen Hase undIgel(n): »Nach Ablauf der Prozeduren finden sich die Soziallei-stungen der europäischen Staaten auf einem jeweils niedrigerenNiveau als zu Anfang wieder, womit sich dann untereinander diegleichen Wettbewerbsverhältnisse wie vorher wieder eingestellthaben, allenfalls mit geringfügigen Verschiebungen.«23

Ausgerechnet zu einer Zeit, wo sich das marktliberale Ordnungs-und Konkurrenzprinzip auf seinem ureigenen Terrain, der Wirt-schaft, ausweislich einer sich verfestigenden Massenarbeitslosig-keit nicht mehr bewährt, wird es als idealer gesellschaftlicher Re-gelungsmodus betrachtet und auf den Bereich der Sozialpolitikübertragen. Unter dem Motto »Vom Klienten zum Kunden«, derbekanntlich König ist, werden die sozialen Dienste umstrukturiertund teilweise privatisiert. Gleichzeitig verschärft sich die Konkur-renz zwischen Wohlfahrtsverbänden und kommerziellen Anbietern– vor allem im Bereich der ambulanten Pflege – sowie zwischenden privaten und gesetzlichen Krankenkassen, aber auch zwischenletzteren (um die »günstigen Risiken«, d.h. möglichst junge,gesunde und gutverdienende Mitglieder). Leidtragende der Ent-wicklung sind Hilfebedürftige, die weniger umworben und vielfachschlechter versorgt werden, weil sie nicht so zahlungskräftigerscheinen; bewährte Qualitätsstandards bleiben auf der Strecke;bei den Trägern hauptberuflich Beschäftigte sind gegenüber Frei-beruflern und Aushilfskräften »zu teuer«.24 Da die privat-gewerbli-chen Anbieter sozialer Dienstleistungen ihre Klientel überwiegendin höheren Einkommensgruppen suchen und finden, während siedie weniger lukrativen Aufgaben anderen Trägern überlassen25, ver-stärkt sich der Trend zum »Zwei-Klassen-Wohlfahrtsstaat«, also zuseiner Spaltung in Leistungssegmente unterschiedlichen Niveaus.

Behörden und andere staatliche Einrichtungen werden zuneh-mend wie Privatunternehmen geführt, die betriebswirtschaftlichenLeistungskriterien gehorchen müssen. Auch die Sozialverwaltungdes Staates unterscheidet sich kaum noch von Organisationsstruk-turen gewerblicher Anbieter. Wohin die Privatisierung öffentlicherEinrichtungen führt, verdeutlicht das Ergebnis der sogenanntenBahn- und der sogenannten Postreform. Nutznießer der (Teil-)Pri-vatisierung beider Bundesunternehmen sind die Aktionäre. Hinge-gen brachte der Privatisierungsprozeß für die Beschäftigten und die

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22 Vgl. Helmut Hartmann:Neue Steuerung in der öf-fentlichen Verwaltung: An-spruch, Wirklichkeit undPerspektiven, in: Walter Ha-nesch (Hrsg.): Überlebt diesoziale Stadt? – Konzeption,Krise und Perspektivenkommunaler Sozialstaatlich-keit, Opladen 1997, S. 128.

23 Dieter Schewe:Der Rückbau des Sozial-staats und die Euro – päischeArbeitslosigkeit, in: SozialerFortschritt, 3/1997, S. 52.

24 Vgl. Heinz Niedrig:Auf dem Wege in eineandere Republik?, in: Theo-rie und Praxis der sozialenArbeit, 10/1995, S. 365.

25 Vgl. Rolf G.Heinze/Gerhard Naegele:Die sozialen Dienste vorneuen Herausforderungen,in: WSI-Mitteilungen,6/1995, S. 409.

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Kunden der vormaligen Staatsunternehmen gravierende Nachteile:(Stamm-)Belegschaften und betriebliche Sozialleistungen wurdendrastisch reduziert, Gebühren und Tarife (für den Normalverbrau-cher, nicht für industrielle Großabnehmer) spürbar erhöht. Briefkä-sten werden seltener geleert; Portokosten und Tarife sind gestiegen;viele Postämter und kleine Bahnhöfe wurden geschlossen, ausSicht des Managements »unrentable« Bahnstrecken stillgelegt.

Nur die Reichen können sich einen armen Staat leisten. Sieschicken ihre Kinder auf Privatschulen und ausländische Eliteuni-versitäten, kaufen alles, was ihr Leben verschönt, selbst und sindnicht auf öffentliche Schwimmbäder, Bibliotheken oder sonstigekommunale Einrichtungen angewiesen. Die übrigen Gesellschafts-mitglieder benötigen seine Leistungen dringender und kommen oh-ne eine gute öffentliche Infrastruktur nicht aus.

Obwohl ca. sieben Millionen Arbeitsplätze fehlen, konzentriertsich die öffentliche Armutsdebatte absurderweise darauf, wie manSozialhilfebezieher/innen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeitzwingen kann. Beginnend mit »workfare«-Programmen in den USA,wurde der Arbeitszwang im Fürsorgebereich ständig erhöht, zuletztdurch die seit dem 1. August 1996 gültige Bestimmung im BSHG,wonach die Leistungen um mindestens ein Viertel zu kürzen sind,wenn jemand zumutbare Arbeit ablehnt, sowie die Aushöhlungdes Berufs- und Qualifikationsschutzes im »Arbeitsförderungs-Reformgesetz« (AFRG).

Folgen der Amerikanisierung des Wohlfahrtsstaates: Pauperisie-rung, steuerliche Privilegierung von Spitzenverdienern und sozialePolarisierungDie neoliberale Restrukturierung des (west)deutschen Wohlfahrts-staates folgt Entwicklungsmustern aus den Vereinigten Staaten undführt der Tendenz nach zu seiner »Spaltung« in eine standardisier-te Minimalabsicherung und eine privat zu finanzierende Zusatz-vorsorge, wiewohl man die Sozialpolitik beider Länder nichtgleichsetzen kann. Denn noch herrschen hierzulande keine »ameri-kanischen Verhältnisse«. Eine voreilige Dramatisierung wäre so-wenig angebracht wie eine Bagatellisierung negativer Begleiter-scheinungen und Folgewirkungen der liberal-konservativen Regie-rungspolitik, zumal die Entwicklung in den USA schon wiedereinen Schritt weiter ist: Statt des »wohltätigen« bzw. Sozialstaatessetzt sich dort gegenwärtig der »strafende« Kriminal- bzw. Polizei-staat durch. Symptomatisch dafür war die von Präsident Bill Clin-ton im August 1996 unterzeichnete »Reform« bzw. Abschaffungder Sozialhilfe (AFDC): »Sie beschleunigt die Auflösung dessozialen Netzes und seine Ersetzung durch ein Gitterwerk ausdisziplinierenden und diskriminierenden Maßnahmen, die daraufabzielen, erstens die Sozialausgaben des Staates zu senken, zwei-tens die Armen in die untersten Bereiche des Arbeitsmarktes zudrängen und drittens den Rest der Armen, die noch immer Unter-stützungsansprüche stellen, streng zu bevormunden.«26

Aufgrund der besagten »Sozialhilfereform« in den USA ist dortmit einer »flutartig steigende(n) Not bei den Armen« zu rechnen.27

Jenes politische Janusgesicht sozialer Modernisierung, das Micha-

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26 Loic J.D. Wacquant:Vom wohltätigen Staat zumstrafenden Staat: Über denpolitischen Umgang mit demElend in Amerika, in: Levia-than, 1/1997, S. 61.

27 Vgl. Stephan Leibfried/Michael Wisemann: Sozial-hilfereform in den USA:ein Überblick – Zu Nutz undFrommen der Deutschen, in:Zeitschrift für Sozialreform,7/1995, S. 438.

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el Vester anspricht, zeigt sich ansatzweise freilich auch im Hin-blick auf den deutschen Wohlfahrtsstaat: »Der Öffnung des sozia-len Raums in der sicheren Mitte und der privilegierten Spitze stehtdie Schließung für jene gegenüber, die in dieser Mitte ihre Sicher-heiten verlieren oder gar in prekäre Lebensverhältnisse absteigenmüssen.«28

Seit geraumer Zeit ist hierzulande eine Ausdifferenzierung derArmut bzw. eine Pluralisierung der Unterversorgungslagen zu be-obachten. Neben sinkenden Reallöhnen der Arbeitnehmer/innenund Niedrigeinkommen vor allem im Dienstleistungssektor, auf diezurückzukommen sein wird, zeichnet sich eine Unterschichtungder Gesellschaft mit rassistischer Färbung ab: Viele davon Betrof-fene sind Ausländer, Zuwanderer (der ersten, zweiten bzw. drittenGeneration) oder Flüchtlinge, unter denen die Armut wegen grup-penspezifischer Kürzungen der Sozialhilfe seit Inkrafttreten undNovellierung des sogenannten Asylbewerberleistungsgesetzes zu-genommen hat.

Die neue Armut ist weder rudimentär noch »antiquiert«, sonderngeradezu »avantgardistisch«, weil sie als Vorbotin gesellschaftli-cher Zukunftsverhältnisse gelten muß: »Jene Gruppen, die heute inArmut leben, können nicht mehr als ›Nachzügler‹ betrachtet wer-den, zu denen sich der allgemein wachsende Reichtum noch nichthinentwickelt hat, vielmehr haben sie gar keinen Anschluß mehr,verlieren schon erreichte gesellschaftliche Positionen oder lebenbereits als Jugendliche ohne Hoffnung, je den Grad an gesell-schaftlicher Integration zu erreichen, wie er für ihre Eltern nochselbstverständlich erschien.«29

Eine jetzt schon über zwei Jahrzehnte lang andauernde Arbeits-losigkeit in Millionenhöhe führt fast zwangsläufig zur Heraus-bildung einer Gesellschaftsschicht, die Martin Kronauer, BertholdVogel und Frank Gerlach, einen Schlüsselbegriff aus der ent-wickelteren US-Fachdiskussion aufgreifend30, als »underclass«bezeichnen: »Alles spricht dafür, daß die soziale Schicht der Dau-erarbeitslosen im vereinten Deutschland in naher Zukunft quantita-tiv und damit auch gesellschaftspolitisch an Gewicht zunehmenwird.«31 Kronauer hat diese These weiterentwickelt, konkretisiertund spezifiziert. Seiner Meinung nach bilden soziale Ausgrenzung,Stigmatisierung und Perspektivlosigkeit entscheidende Kennzei-chen der Marginalisierten: »Von allen anderen Schichten und Klas-sen unterscheidet sich die Formation der ›Entbehrlichen‹ durch dasWesensmerkmal der Negativität. Kein ökonomisches, soziales oderkulturelles Kapital, keine Arbeitsform konstituiert eine positiveIdentität. Identität wird ›von außen‹, als Stigma, zugeschriebenoder ist in ihren positiven Zügen ständig gefährdet, gebrochendurch die Erfahrung des Verlusts.«32

Diese sehr differenzierte Bestimmung der »underclass« verweistdarauf, daß Armut viel mehr ist als (vorübergehender) Geldmangel.Sie impliziert gesellschaftliche Ausgrenzung, Statusverluste unddas Fehlen sozialer Anerkennung. Armut markiert eine Grenzlinie,die von den Betroffenen – ernsthaften Bemühungen um ihre Rein-tegration zum Trotz – nicht oder nur schwer überschritten werdenkann. In den Vereinigten Staaten von Amerika läßt sich exempla-

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28 Michael Vester: Das Janusgesicht sozialerModernisierung. Sozialstruk-turwandel und soziale Des-integration in Ost- undWestdeutschland, in: AusPolitik und Zeitgeschichte,26-27/1993, S. 9.

29 Hartmut Häußermann:Armut in den Großstädten– eine neue städtische Un-terklasse?, in: Leviathan,1/1997, S. 13.

30 Die angelsächsischeLiteratur dazu ist kaum nochzu überblicken. Vgl. in deut-scher Sprache vor allem:Herbert J. Gans: Über diepositiven Funktionen derunwürdigen Armen. Zur Be-deutung der »underclass«in den USA, in: StephanLeibfried/Wolfgang Voges(Hrsg.): Armut im modernenWohlfahrtsstaat, Opladen1992 (KZfSS-Sonderheft32), S. 48 ff.; William JuliusWilson: Ghettoisierte Armutund Rasse. Zur öffentlichenMeinungsbildung in denUSA, in: ebenda., S. 225 ff.;Thomas Gebhardt: Die »un-derclass« als neues Phäno-men im US-amerikanischenArmutsdiskurs, in: BerlinerDebatte INITIAL, 1/1995,S. 49 ff.

31 Martin Kronauer u.a.:Im Schatten der Arbeitsge-sellschaft. Arbeitslose unddie Dynamik sozialer Aus-grenzung, Frankfurt/M. –New York 1993, S. 237.

32 Ders.: »Soziale Ausgren-zung« und »Underclass«:Über neue Formen der ge-sellschaftlichen Spaltung, in:Leviathan, 1/1997, S. 46.

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risch studieren, daß soziale Marginalisierung faktisch zum Verlustder politischen Bürgerrechte führt.33

Natürlich ist zu bedenken, daß die »new urban underclass« inden USA aufgrund sozialräumlicher Segregation, rassistischer Dis-kriminierung und der Konzentration ethnischer Minderheiten inSlums und (Hyper-)Ghettos sehr viel mehr präsent ist als in West-europa (Frankreich und Großbritannien), wo es höchstens Ansätzezu einer solchen Entwicklung der Vorstädte gibt.34 Hier soll nichtdarüber gestritten werden, ob der Terminus »underclass« ideolo-gieverdächtig, stigmatisierend und/oder für die deutschen Verhält-nisse inadäquat ist.35 Vielmehr kann man sich dem Urteil von PeterBremer und Norbert Gestring anschließen: »Die Verwendung desBegriffs Underclass ist dann legitim und sinnvoll, wenn damit eineneue Qualität sozialer Spaltung beschrieben wird, die von den bis-herigen Klassen- und Schichtmodellen nicht erfaßt wird.«36

Die beiden Autoren nennen vier Kriterien als Grundlage einerDefinition: erstens die Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt, zweitensdie räumliche Ausgrenzung durch Segregation, drittens die Kumu-lation von Benachteiligungen und schließlich eine individuelleReproduktion der Ausgrenzung.37 Bremer und Gestring vermuten,daß sich die soziale Ausgrenzung von immer mehr Dauerarbeits-losen, zu denen neben Unqualifizierten, Älteren und Menschen mitgesundheitlichen Beeinträchtigung viele Ausländer/innen gehörendürften, in großstädtischen Armutsvierteln auch räumlich nieder-schlagen wird, zumal sich die Situation der Betroffenen durch dieRegierungspolitik (Einstellung des sozialen Wohnungsbaus) eherverschärft.

Johano Strasser spricht von der »Herausbildung einer funktiona-len Unterklasse«, also »einer personell fluktuierenden, dennochaber als Strukturbestandteil durchaus stabilen untersten Schicht,die für die übrige Gesellschaft eine ganze Reihe nützlicher Funk-tionen ausübt, z.B. minderwertige Konsumgüter kauft und Arbei-ten verrichtet, die anderen nicht zumutbar erscheinen.«38 MichaelKlein schließlich diagnostiziert sogar, daß sich gegenwärtig »eine›Lebenswelt der Armut‹ etabliert, deren Kern relativ fest umrissenist, deren Ränder unscharf sind, die potentiell, von der Gefährdungher, aber sicher 50 Prozent der Gesamtbevölkerung erreichen wird.Für die Betroffenen im Kern der ›Lebenswelt der Armut‹ beinhal-tet es weitgehenden Ausschluß von einer ›Normalbiographie‹ unddamit ein Leben in sozialer Randständigkeit mit Fehlausstattungenund Benachteiligungen vielfältigster Art: materieller, sozialer,psychischer Mangel.«39

Bezogen auf die Transformationsarmut in der ehemaligen DDR,die er als strukturelle Folge des Systemwechsels und nicht etwa alsein »Zufallsprodukt der Wende« bzw. der Wiedervereinigung be-greift, formuliert Ronald Lutz: »Es bildet sich eine Unterklasse, dieaber heterogen und fluide bleibt, die viele Wege in sie hinein undaus ihr heraus kennt, die sicherlich auf lange Sicht zu einer Rand-gruppenbildung dauerhaft Armer führt und so auch gegenkulturel-le Milieus bilden wird.«40

Das soziale Klima der Bundesrepublik hat sich nicht zuletzt imGefolge des DDR-Beitritts und der damit verbundenen Transfer-

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33 Vgl. Claus Leggewie:America first? – Der Falleiner konservativen Revo-lution, Frankfurt/M. 1997,S. 68.

34 Vgl. François Dubet/Didier Lapeyronnie: Im Ausder Vorstädte. Der Zerfallder demokratischen Gesell-schaft, Stuttgart 1994.

35 Vgl. dazu: SebastianHerkommer: Das Konzeptder »underclass« – brauch-bar für Klassenanalysenoder ideologieverdächtig?,in: Z – Zeitschrift für marxi-stische Erneuerung, 26(1996), S. 76 ff.

36 Peter Bremer/NorbertGestring: Urban Underclass– neue Formen der Aus-grenzung auch in deutschenStädten?, in: PROKLA, 106(1997), S. 61.

37 Vgl. ebenda, S. 63 ff.

38 Vgl. Johano Strasser:Armut in der Wohlstandsge-sellschaft, in: Die Neue Ge-sellschaft/Frankfurter Hefte,3/1996, S. 234.

39 Michael Klein:Armut als soziales Problem.Armut und Armutsdiskurs inder Bundesrepublik Deutsch-land, in: Berliner DebatteINITIAL, 1/1995, S. 41.

40 Ronald Lutz: Die »Vergessenen der Wen-de«. Kultur der Armut oderArmut der Kultur?, in: NeuePraxis, 4/1995, S. 403.

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kosten verschlechtert und den Umgang mit Armut negativ beein-flußt: Nie zuvor wurden ethnische Minderheiten, Obdachlose undBettler/innen so repressiv behandelt, von vielen Stadtverwaltungenbzw. staatlichen Ordnungshütern so rigoros aus der Öffentlichkeitvertrieben und so stark eingeschüchtert wie heute. Die seither – oftals sinnvolle Reaktion darauf – entstandenen Nothilfeeinrichtun-gen (Wärmestuben, Übernachtungsstellen, Kleiderkammern, Sup-penküchen usw.) machen ebenfalls deutlich, »daß sich als ›untersteEtage‹ im Gesellschaftsaufbau eine in den großen Städten bereitshöchst sichtbare und ›störende‹ Lazarusschicht herausgebildet hat.«41

Demgegenüber betont eine neuere, öffentlichkeitswirksame undmit viel Lob bedachte Richtung der Armutsforschung, daß Men-schen in der Bundesrepublik nur noch phasenweise von Unterver-sorgung und prekären Lebenslagen betroffen, folglich bloß kurzeZeit zur Inanspruchnahme von Sozialhilfe gezwungen seien.42

Natürlich wurde diese Deutung von den Sozialpolitikern desRegierungslagers dankbar aufgenommen43, weil sie die Bundesre-gierung im Grunde bestätigt und höchstens ein paar kosmetischeKorrekturen (etwa bei Zahlungsverzögerungen der vorgelagertenSicherungssysteme) erforderlich macht. Darüber hinaus könntendie Ergebnisse der »lebenslauftheoretischen« bzw. der »dynami-schen Armutsforschung« längerfristig dazu benutzt werden, dieForderung nach Befristung der Sozialhilfe zu rechtfertigen.

Auch in dieser Hinsicht mit mehrjähriger Verspätung der ent-sprechenden US-Entwicklung folgend, bildet die Bundesrepublikzur Zeit einen für sie neuen Niedriglohnsektor aus44, der längstnicht mehr nur typische Frauenarbeitsplätze umfaßt. Je mehr(Dauer-)Arbeitslose es gibt, um so leichter lassen sich Menschenfinden, die weit unter Tarif bezahlte »McJobs« annehmen. Schonjetzt reichen viele Vollzeit-Arbeitsverhältnisse nicht mehr aus, umeine Familie zu ernähren, so daß ergänzend mehrere Nebenjobsübernommen werden und nach Feierabend bzw. an Wochenenden(zum Teil »schwarz«) weitergearbeitet wird. »Zwischen die Aus-gegrenzten und die Arbeitnehmer mit zunächst noch gutem Ein-kommensniveau (bei Industrie, Banken und Versicherungen, da-neben Lehrer, Ärzte usw.) schiebt sich die rapide wachsendeSchicht der ›working poor‹. Auf mittlere Sicht wird diese schlechtbezahlte Arbeitnehmerschaft im Service-Sektor das Lohnniveauin Deutschland maßgeblich mitbestimmen.«45

Das soziale Elend nimmt ein Doppelgesicht an: Den armenArbeitslosen treten die arbeitenden Armen zur Seite. Massenar-beitslosigkeit und Armut verringert das neoliberale Konzept einerangebotsorientierten, auf die Senkung der Lohn- bzw. der Lohn-nebenkosten fixierten Wirtschaftspolitik nicht, weil es Teufel mitBeelzebub austreibt. »Wer also auf den amerikanischen Wegumsteigen will, riskiert für die überwiegende Mehrheit der Bevöl-kerung eine Wohlstandswende, in der immer mehr Arbeitsplätzeentstehen würden, von deren Einkommen man jedoch hier kaumzu leben vermag.«46

Armut in der Bundesrepublik hat mit Armut in Bangladesch undBurkina Faso wenig gemein, weil sie von einem wachsendenWohlstand breiter Gesellschaftsschichten umgeben ist. Auch der

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41 Siehe Eckart Reide-geld/Beatrice Reubelt:Extreme Armut und Nothilfein der Bundesrepublik.Anmerkungen unter beson-derer Berücksichtigung derMahlzeitennothilfe, in: Sozia-ler Fortschritt, 1/1996, S. 8.

42 Vgl. Stephan Leibfriedu.a.: Zeit der Armut. Lebens-läufe im Sozialstaat, Frank-furt/M. 1995; zur Kritik vomVerfasser: Christoph Butter-wegge: Nutzen und Nachtei-le der dynamischen Armuts-forschung. Kritische Bemer-kungen zu einer neuerenForschungsrichtung, in:Zeitschrift für Sozialreform,2/1996, S. 69 ff.; ders.:Armutskarrieren. Neue Ten-denzen der Armutsforschung,in: Blätter für deutsche undinternationale Politik, 9/1996,S. 1120 ff.; ders.: Armut undArmutsforschung im Wan-del, in: Theorie und Praxisder sozialen Arbeit, 11/1996,S. 20 ff.

43 Vgl. z.B. Ulf Fink:Zeit der Armut – Zeit fürPolitik, in: Zeitschrift für So-zialreform 2/1997, S. 156 ff.

44 Vgl. dazu: Gerd Pohl/Claus Schäfer (Hrsg.):Niedriglöhne. Die unbekann-te Realität: Armut trotz Arbeit.Empirische Bestandsaufnah-me und politische Lösungs-vorschläge, Hamburg 1996.

45 Stefan Welzk:Wie in Deutschland umver-teilt und der Wohlstand rui-niert wird, in: Herbert Schui/Eckart Spoo (Hrsg.): Geldist genug da. Reichtum inDeutschland, Heilbronn1996, S. 30 f.

46 Jürgen Espenhorst:Zeit der Wohlstandswende?,Analyse wirtschafts- undsozialpolitischer Trends:1966 -1995-2010, in: AusPolitik und Zeitgeschichte,3-4/ 1996, S. 16.

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Reichtum ist mittlerweile eine zahlenmäßig relevante, wenn nichtsogar zur Massenerscheinung geworden.47 Seit den frühen achtzi-ger Jahren, verstärkt seit den neunziger Jahren sorgt die Steuerpo-litik der liberal-konservativen Bundesregierung dafür, daß sichdie Verteilung der Einkommen ständig weiter zu Lasten von Ar-beitnehmer(inne)n und ihren Familien verschiebt, während gleich-zeitig privilegiert wird, wer Einkünfte aus Unternehmertätigkeitund Vermögen erzielt.48 Zu nennen sind in diesem Zusammenhangmehrfache Senkungen der Körperschaftssteuer, der Verzicht auf dieVermögen- und die Gewerbekapitalsteuer sowie Sonderabschrei-bungen und andere Vergünstigungen, enthalten in Jahressteuerge-setzen, dem sogenannten Standortsicherungsgesetz und dreiFinanzmarktförderungsgesetzen.

Dieter Eißel weist darauf hin, daß die Finanznot der öffentlichenHaushalte durch eine falsche Politik entstanden und insofern über-wiegend selbstverschuldet ist: »Würden die Steuern auf Gewinneim gleichen Umfang (bezogen auf die Anteile an den Gesamt-steuereinnahmen) zur Finanzierung der Staatsaufgaben herangezo-gen wie 1980 (Anteil rund 25 Prozent), hätten die öffentlichenHaushalte 1995 rund 86 Mrd. DM mehr zur Verfügung gehabt.«49

Trotz der zusätzlichen Kosten durch die deutsche Einheit, welchein erster Linie den Lohnsteuerzahler(inne)n aufgebürdet bzw. mitKrediten bezahlt wurden, entließ man die – im Schnitt wohlhaben-deren – Einkommensteuerzahler weitgehend aus ihrer Verpflich-tung zur Alimentierung des Staates.50

Rudolf Hickel sprach bezüglich des letzten Jahressteuergesetzesvon »staatlicher Reichtumspflege«, die das Leistungsfähigkeits-prinzip demontiere und die öffentlichen Finanzen ruiniere.Während die Unternehmen- bzw. Gewinnsteuern (veranlagte Ein-kommensteuer, Körperschaftssteuer, nicht veranlagte Steuern vomErtrag, Gewerbesteuer und Vermögensteuer) in der Bundesrepublikständig sanken, stieg die Arbeitslosigkeit auf ein Rekordniveau,wodurch sich die gegenwärtig dominierende neoliberale Angebots-theorie im Grunde als Ideologie erwies.51

Die für 1998/99 geplante, aber gescheiterte »Große Steuerre-form«, die vorhandene Schieflage bei der Einkommens- und Ver-mögensverteilung zementiert, denn sie lief – wie zuvor schon dieVereinigung von DDR und Bundesrepublik – auf eine gigantischeUmverteilung »von unten nach oben« hinaus. »Die Bezieherkleiner und mittlerer Einkommen werden per saldo entweder höherbelastet (z.B. bei Wegfall der Steuerfreiheit für Sonntags-, Feier-tags- und Nachtzuschläge) oder erhalten keine oder nur eine ge-ringfügige Steuervergünstigung, während die Bezieher hoherEinkommen per saldo erheblich verdienen.«52 Die reale (nicht:nominale) Steuerbelastung der Unternehmen war jedoch nochnie so gering, die Arbeitslosigkeit hingegen noch nie so hoch wieheute. Daraus den Schluß zu ziehen, man müsse die (Gewinn-)Steuern noch weiter senken, damit in den Betrieben mehr Stellenentstünden, ist absurd, genauer gesagt: liberalkonservative Propa-ganda zugunsten der eigenen Klientel.

Durch die Steuerreform würden sich die sozialen Gegensätzeverschärfen, weil sie Reiche und Superreiche entlastet, aber vor

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47 Vgl. Ernst-Ulrich Huster:Soziale Polarisierung – Wie-viel Abstand zwischen Armund Reich verträgt die Ge-sellschaft?, in: Herbert Schui/Eckart Spoo (Hrsg.): Geldist genug da, a.a.O., S. 18 f.

48 Vgl. die empirischenBelege bei Hartmut Tofaute:Steuerverteilung in derSchieflage. Steigende Lohn-steuerquote – sinkendeGewinnsteuerbelastung, in:WSI-Mitteilungen, 3/1995,S. 197 ff.

49 Dieter Eißel:Standortdebatte und Umver-teilung, in: Soziale Sicher-heit, 12/1996, S. 464.

50 Vgl. ebenda, S. 466.

51 Vgl. Rudolf Hickel:Staatliche Reichtumspflege.Der Entwurf zum Jahres-steuergesetz ’97, in: Blätterfür deutsche und internatio-nale Politik, 8/1996, S. 931 f.

52 Hans-Georg Wehner:Umverteilung der Lastenoder konservative Revolu-tion? – Zu den aktuellenVorschlägen zur Reform desSteuersystems, in: Gewerk-schaftliche Monatshefte,2/1997, S. 70.

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allem mittlere Einkommen und bisher nicht Steuerpflichtige (durchdie Kostenkompensation über höhere Verbrauchssteuern) zur Kas-se gebeten hätte: »Der Ansatz, die Richtung, die innere Strukturdieses finanzpolitischen Projektes sind falsch. Wenn die sozialeKluft nicht immer noch größer werden und gleichzeitig die Bin-nenmärkte nicht weiter abschlaffen sollen, dann muß der Reichtumproduktiver Verwendung zugeführt werden.«53

Die von der Steuerreform vielfach erwartete Katalysatorwirkungim Hinblick auf das Wachstum der Wirtschaft (konjunkturelle Be-lebung), mehr ausländische Direktinvestitionen und die massen-hafte Schaffung neuer Arbeitsplätze besonders im Dienstleistungs-sektor hätte sich als Illusion erwiesen. Statt die Steuereinnahmendurch eine weitere Entlastung der Spitzenverdiener und Vermögen-den zu senken, was – wie sich in den USA zeigt – leicht zurVerwahrlosung der öffentlichen Infrastruktur führt, müßten dieWohlhabenden stärker als bisher zur Kasse gebeten werden. Nötigwäre also eine Steuerreform, die den Staat befähigen würde,gesellschaftlich sinnvolle Aufgaben zu erfüllen, soziale Problemezu lösen und das Übel der Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen,statt auf entsprechende Initiativen der Unternehmer zu hoffen.Handlungsmöglichkeiten für die staatlichen Akteure gäbe eswahrlich mehr als genug. 54

Je größer die Kluft zwischen Arm und Reich wird, um so eherfällt die Gesellschaft auseinander. Entsolidarisierungseffekte erge-ben sich, wenn die soziale Integration der Gruppen, die man als»Modernisierungs-« bzw. als »Globalisierungsverlierer/innen«bezeichnen kann, nicht mehr gelingt. Jenseits des Atlantiks ist dieräumliche Trennung der Bevölkerungsgruppen bereits deutlichsichtbar, samt ihren verheerenden Folgen für den Zusammenhaltder Gesellschaft. Kern- und Randschichten konstituieren separateLebenswelten, teilweise auch spezifische soziokulturelle Milieusund ethnische Gemeinschaften, was sich in ökonomischen Krisen-und Umbruchperioden besonders leicht politisch ausnutzen läßt.

Die von der CDU/CSU/FDP-Koalition betriebene »Amerikani-sierung« des Sozialstaates dürfte bald eine Amerikanisierung derSozialstruktur (Vertiefung der gesellschaftlichen Kluft zwischenArm und Reich) nach sich ziehen. Längerfristig könnte die sozialePolarisierung, d.h. die Potenzierung von Armut und Reichtum, zueiner Spaltung der Gesellschaft führen, wie man sie nur ausElendsregionen der sogenannten Dritten Welt kennt. Vielleichtetwas vorschnell verallgemeinernd, konstatiert Horst Afheldt:»Die Vermögensverteilung in der Bundesrepublik nähert sich (...)der eines Entwicklungslandes.«55 Bezüglich der ungleichen Vertei-lungsrelationen gilt das größte Land Südamerikas als Extrembei-spiel, so daß man auch von einer »Brasilianisierung« sprechenkönnte. Johano Strasser schließt zumindest perspektivisch eineglobale »Angleichung der sozialen Ungleichheit« nicht aus: »Vie-les spricht dafür, daß bei praktisch unbeschränkter Mobilität vonGeld, Kapital, Gütern und Informationen (Wissen) auch die relativerfolgreichen Industrienationen auf die Dauer die Sozialstrukturender ›Dritten Welt‹ importieren.«56

Die soziale Polarisierung und die Segmentierung des Arbeits-

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53 Gottfried Erb:Verschärfung der sozialenGegensätze. Anmerkungenzur »Steuerreform«, in:Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 3/1997,S. 203.

54 Vgl. Hans-Peter Martin/Harald Schumann: DieGlobalisierungsfalle, a.a.O.,S. 222.

55 Horst Afheldt:Wohlstand für niemand? –Die Marktwirtschaft entläßtihre Kinder, München 1994,S. 36.

56 Johano Strasser:Schicksal Weltmarkt?, in:Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 8/1995,S. 689.

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marktes spiegeln sich im Wohnbereich besonders deutlich wider.Hartmut Häußermann prognostiziert einen Zerfall der europäi-schen Stadt, die sich bisher durch eine hohe Integrationskraftauszeichnete, indem sie soziale Ungleichheiten und Disparitätenmittels kommunalpolitischer Eingriffe abmilderte.57 Zwar habensich hierzulande noch keine städtischen Armutsghettos und Slumswie in den USA herausgebildet, die Verelendung ganzer Regionen,die Vernachlässigung der öffentlichen Infrastruktur und die Zu-wachsraten vor allem der jugendlichen (Gewalt-)Kriminalitätweisen jedoch bereits in diese Richtung.

Standortlobbyismus schlägt ziemlich leicht in Standortnationa-lismus um, eine spezifische Form des Chauvinismus, die ökono-misch-technologischen Überlegenheitsdünkel gegenüber anderenLändern bzw. Völkern mit traditionellen Bedrohungsgefühlen,schichtübergreifenden Gemeinschaftsillusionen und politisch-ideologischen Ausgrenzungspraktiken verbindet. Rechtsextremis-mus, Rassismus und Gewalt finden auf dem Hintergrund eines sichverschärfenden Standortwettbewerbs, der von den Weltmärktenausgeht und in Form eines übertriebenen Leistungs- und Konkur-renzdrucks beinahe sämtliche Gesellschaftsbereiche erfaßt, neueNahrung.58

Selbst wenn sich erfolgreiches Wirtschaften und soziale Sicher-heit für alle Gesellschaftsmitglieder ausschlössen, müßte die Streit-frage, ob der – über ein Jahrhundert gewachsene – Wohlfahrtsstaatoder die internationale Wettbewerbsfähigkeit vorzuziehen wäre,öffentlich diskutiert und sodann demokratisch entschieden werden.Im Unterschied zu Großbritannien und Frankreich, wo sich dieWähler/innen am 1. Mai bzw. 1. Juni 1997 gegen eine Politik der»Standortsicherung« ohne soziale Abfederung ausgesprochen haben,fehlt der Bundesrepublik bisher eine öffentliche Meinungsbildungdarüber.

BUTTERWEGGE Globalisierung61

57 Vgl. Hartmut Häußer-mann: Tendenzen sozial-räumlicher Schließung inden Großstädten der Bun-desrepublik Deutschland,in: Widersprüche, Nr. 60(1996), S. 15.

58 Vgl. hierzu: ChristophButterwegge: Rechtsextre-mismus, Rassismus undGewalt. Erklärungsmodellein der Diskussion, Darmstadt1996, S. 145 ff.; ders./FHPotsdam (Hrsg.): NS-Ver-gangenheit, Antisemitismusund Nationalismus in Deutsch-land. Beiträge zur politischenKultur der Bundesrepublikund zur politischen Bildung,Baden-Baden 1997.

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Die Menschheit hat drei, wie man sie nennt, prometheische Inno-vationen gebraucht, um es so »herrlich weit« zu bringen: die Nut-zung des Feuers, die agrarische Umwälzung und die industrielleRevolution. Der ältere Goethe hat in einer Zeit, als das Maschi-nenwesen erst von weitem heranrollte, seinem Jugendideal Prome-theus den Bruder Epimetheus zugesellt, den Nachbedenkenden, derin der Eisenschmiede des Fortschritts deutlich das Waffengeklirr1

hört. So müssen wir heute sagen, daß die Menschheit wohl dreiepimetheische Innovationen braucht, um das planetarische Übelabzuwehren: die Rückkehr zum Maß, zur Selbstbescheidung, dieUmsteuerung der technischen Entwicklung und den sozial-ökolo-gischen Umbau der Wirtschaft.

Evolutionskrise oder Kondratieff-Umwälzung?Im OECD-Raum ist in den letzten 25 Jahren die offizielle Arbeits-losigkeit um 26 Millionen auf 35 Millionen gestiegen und in dergleichen Zeit hat der Verbrauch an Primärenergie in der Welt um5,1 Billionen Tonnen Steinkohleeinheiten (SKE) zugenommen und11,5 Billionen Tonnen erreicht. In der Bundesrepublik Deutschlandkamen von 1960 bis 1990 auf eine Tonne (SKE) Zuwachs anPrimärenergieverbrauch 93 Tonnen zusätzlicher Stoffeinsatz ein-schließlich Erdbewegungen. Heute ist das Verhältnis von Arbeits-zeit und Stoffverbrauch auf globaler Stufenleiter in Frage gestellt.Fachleute schätzen, daß das Volumen des globalen Stoff- und Ener-giestroms in den sechziger Jahren den zulässigen Schwellenwertüberschritt und daß es gelingen muß, in den nächsten 30 bis 50 Jah-ren die Stoffströme absolut zu halbieren (Carnoules Deklaration)2.Es ist der Punkt erreicht, wo die jährlichen Umweltschäden denjährlichen Zuwachs des Bruttosozialprodukts überschreiten. Be-trachtet man das Verhältnis von Arbeitseinsparung und Mehrver-brauch an Material und Energie, so kann man sagen, Gesellschaft-lichkeit wird durch bloße Stofflichkeit substituiert, das organischGewachsene muß dem Anorganischen weichen, die lebendigeArbeit dem toten, erstarrten Konstrukt.

Die Evolutionskrise des industriellen Systems wird sehr unter-schiedlich diagnostiziert und bewertet. Nach den empirischen Be-funden zu den langen Wellen der kapitalistischen Entwicklungbefinden wir uns im letzten Abschnitt der Abschwungphase desvierten Kondratieff-Zyklus, also in einer Periode, die man histo-risch vergleichen kann mit den Jahren 1932 bis 1939, 1893 bis

Heinz-Dieter Haustein –Jg. 1932, Prof. Dr. rer. oec.habil., Wirtschaftswissen-schaftler, Publikationen zuÖkonomie des technischenFortschritts, Wirtschaftspro-gnose, Prognoseverfahren,Innovation, Kreislaufökono-mie, Qualitätssicherung.Lehrstuhlleiter an der Hoch-schule für Ökonomie 1967-1991. Projektleiter am IIASAin Laxenburg 1979-1982.Vorstandsvorsitzender desInstituts für Innovationsma-nagement e.V. 1991-1997.

62UTOPIE kreativ, H. 85/86 (November/Dezember) 1997, S. 62-73

HEINZ-DIETER HAUSTEIN

Evolutionskrise, Arbeit und technologische Innovation

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1897, 1842 bis 1849 oder 1786 bis 1792. Manche meinen nun, wirkommen jetzt über die schöne neue Welt des Internet geradewegsin die Aufschwungphase des fünften Kondratieff und in postfordi-stische Gefilde, was immer das heißen mag. Es fehlen nur noch diegeeigneten neuen Institutionen, um Arbeitslosigkeit der heutigenDimensionen vergessen zu können. Man sollte sich aber hüten, ausder Theorie der langen Wellen einen Geschichtsschematismus und-automatismus zu machen. Es gibt außer den langen Wellen derWirtschaft politisch-ökonomische Hegemoniezyklen der Welt-mächte, säkulare Trends, vor allem aber in Zukunft ganz neue Zu-spitzungen und Herausforderungen, die unsere Denkschablonenentwerten können. Das betrifft besonders die absehbare globaleVerschärfung des Mensch-Natur-Verhältnisses im Tandem mit demwachsenden sozialen Zündstoff. Uns steht nach der Einschätzungvon Analytikern der Weltzivilisation (Hobsbawm, Wallerstein) sehrwahrscheinlich eine Periode des Chaos, der verstärkten Fluktuatio-nen bevor. Während aber die beiden Meadows von 1972 bis 1992einen bemerkenswerten persönlichen Schritt zur Kritik des gesell-schaftlichen Kausalnexus der globalen Krise vollzogen, zeigen dieSchriften der offiziellen deutschen Vordenker eine deutliche Absti-nenz auf diesem Gebiet. Sie versuchen es gar nicht erst, die Zu-sammenhänge zwischen der fundamentalen Störung des KreislaufsMensch-Natur, den Kreisläufen der Wertschöpfung, des Realkapi-tals und des Finanzkapitals und den gesellschaftlichen Institutionenkritisch zu hinterfragen. Dabei gibt es für eine neue Aufklärung,wenn man das einmal so sagen will, keine wichtigere Frage alsden entschiedenen Zusammenhang des Ökologischen und Sozia-len. So wie vor zwei Jahrhunderten das »Zurück zur Natur« desJean-Jacques Rousseau von den Herrschenden gründlich mißver-standen wurde, geschieht es heute mit der inzwischen modisch ge-wordenen Formel von der Nachhaltigkeit. Sie wird ähnlich wie dieBenthamsche Nützlichkeit als allgemeines Prinzip, in diesem Falleals Prinzip der Naturbewirtschaftung, abgeleitet von der Forstwirt-schaft, dargestellt. Nachhaltigkeit wird interpretiert im Sinne des»Weiter so«, bloß eben mit Material- und Energieeinsparung, diewiederum in wachsende Umsätze und schneller wachsende Profiteverwandelt werden kann. Die militante Standortlogik fordert denKampf um die Monopolisierung dieser Wachstumseffekte für dieGewinnerstaaten. Das alles nennt man »zukunftsfähig«. Demge-genüber muß deutlich gemacht werden, daß es ohne Neugestaltungder gesellschaftlichen Arbeit keine Zukunftsfähigkeit geben kann.

Die globale Evolutionskrise wurde zu einem Zeitpunkt als zivili-satorisches Menetekel angekündigt, als die fordistische Maschinenoch voll brummte, vor allem in jenen Ländern, die diesem Modellmit der besonderen Verve der aufholenden Modernisierung nach-jagten. Seither sind zweieinhalb Jahrzehnte vergangen, in denenauf dem Globus ein ganzes Wirtschafts- und Gesellschaftssystemwegen galoppierender Ineffizienz zusammenbrach, auf einem Rie-senterritorium eine nicht vorhergesehene wilde Akkumulationstattfindet und die herbeigewirtschafteten Sachzwänge mit ihrendüsteren Prognosen herhalten müssen für gnadenlose Sparpolitik,in Deutschland in ihrer cleveren stufenweisen Verpackung (Schock

»Jenseits der kleinen Krisendes konjunkturellen Zyklus,in deren Verlauf die Wider-sprüche bereinigt werden,die sich während des Akku-mulationsprozesses zuspit-zen, und den großen Krisen,die ja Katalysatoren derTransformation gesellschaft-licher Institutionen sind, gibtes offensichtlich eine Kriseder natürlichen Grundlagendes menschlichen Lebens;eine Krise, die man als›Zivilisationskrise‹ bezeich-nen könnte, da die Zivilisa-tion auf der ... ›Menschen-verträglichkeit‹ der Naturberuht. In der Zivilisations-krise sind mit dem ökologi-schen System auch diezivilisatorischen Kernbe-standteile menschlicherVergesellschaftung gefähr-det, die sich lange, überviele kleine und große Krisenhinaus und in vielen Syste-men der gesellschaftlichenRegulation erhalten.«Elmar Altvater: Die Zukunftdes Marktes, Münster 1991,S. 64.

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durch Maximaldrohung – Protest – Scheinbar erzwungene Rück-nahme des von Anfang an ohnehin nicht wirklich geplanten Maxi-malpunkts – Sichtliche Erleichterung bei den Betroffenen – Fakti-sche Realisierung des ursprünglich beabsichtigten Gesamtpakets).Aus der Sicht der realen Ökonomie ergeben sich drei Fragen:Erstens: Wird es gelingen, mit dieser Wirtschaftspolitik die lang-fristig (seit 1970) zu beobachtende Senkung der Wachstumstempides Bruttosozialprodukts und den Rückgang der Rentabilität desRealkapitals aufzuhalten oder umzukehren?Zweitens: Wenn ja, ist dies eine andauernde oder nur eine kurzfri-stige Kompensation?Drittens: Welche Folgen hat diese Etappe des neoliberalen Siegeszugsfür die weithin als Notwendigkeit betrachtete Gesundung des Stoff-wechsels Mensch-Natur und des Humansystems der Erde selbst?

Der gesellschaftliche Kompromiß zwischen oben und unten inder Periode des Fordismus beruhte auf dem enormen Wachstumder Arbeitsproduktivität, das in längeren Zeitabschnitten eine Stei-gerung des Realeinkommens der Lohnabhängigen und die Expan-sion der Nachfrage über den Massenkonsum ermöglichte. Das warüber mehrere Jahrzehnte keineswegs ein schwebendes Gleichge-wicht, vielmehr ein ständiges instabiles Auf und Ab mit jeweils ei-nem etwa 15 Jahre haltenden Akkumulationsregime zum Vorteilder einen oder anderen Seite, wie Boyer gezeigt hat3. Ohne sozialeReibungen und Kämpfe hätte es nicht automatisch funktioniert.Der drastische Rückgang des Produktivitätswachstums in den sieb-ziger Jahren löste die Krise der fordistischen Prinzipien und dieAuflösung des alten Kompromisses aus. Wie kommt es aber, daßauch nach der Wiederkehr hoher Produktivitätszuwächse keineRückbesinnung auf die alten Regularien erfolgt?

Die ökonomische Landschaft hat sich fundamental verändert.Vom Produktivitätszuwachs allein kann kein Unternehmen undkeine nationale Wirtschaft leben. Es wird immer offensichtlicher,daß mit der Produktivität die Destruktivität umso schneller wächstund die Segnungen der höheren Arbeitsproduktivität konterkariertund übertrifft. Während die Produktivität in bekannter paradoxerWeise auch maßnahmebezogen gemessen wird, bleibt die ihr ent-gegengesetzte Destruktivität (Naturbelastung, exponentiell wach-sende Risiken, Überschreitung zulässiger Grenzen, Wachsen derSozialkosten und der sozialen Entwertung, sinkender Ertragszu-wachs durch Erosion der natürlichen und gesellschaftlichen Er-tragspotentiale) ohne maßnahmebezogenen Ausweis. ÄhnlicheMißweisungen für die volkswirtschaftliche Effizienz finden sich inder Rendite des Realkapitals. Dort wirkt ein Steigerungsfaktor, dashohe Wachstum der Abschreibungen (5,9 Prozent jährlich von1971-1991), der für das gigantische Wachstum des Ressourcenver-brauchs mitverantwortlich ist, aber noch nie die Aufmerksamkeitder Ökologen gefunden hat.

»Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie beim Kra-gen hätte«. Immerhin ist es nicht folgenlos, wenn das »Völkchen«in Ostdeutschland die Gelegenheit hatte, einen historischen Um-bruch zu erleben. Deutliches Merkmal der Krisensituation ist dasNun-erst-recht-Syndrom der Oberen, der Rückgriff auf den alten

»Als allgemeines Prinzipder Arbeitsorganisation ...bezeichnet Fordismus Tay-lorismus plus Mechanisie-rung. Taylorismus bedeuteteine strikte Trennung zwi-schen der Konzeption desProduktionsprozesses, derAufgabe der arbeitswissen-schaftlichen Abteilung einer-seits, und der Ausführungvon standardisierten undformell vorher festgelegtenAufgaben andererseits.Als makroökonomischeStruktur ... impliziert Fordis-mus, daß sich die Produk-tionszuwächse, die sich ausdiesen Organisationsprinzi-pien ergeben, zum einen inein durch Profite finanziertesWachstum der Investitionenund zum anderen in einenKaufkraftzuwachs der Arbeits-löhne umsetzen. Als Systemder Spielregeln ... bezeich-net Fordismus langfristigeLohnverhältnisse mit einerstrikten Reglementierungvon Entlassungen sowieeinem programmierten An-steigen der Löhne, das sichaus der Indexierung an denPreisen und am allgemeinenProduktivitätswachstum her-leitet. Darüber hinaus sicherteine umfangreiche Soziali-sierung der Einkommendurch den Sozialstaat denLohnabhängigen ein Min-desteinkommen.«Alain Lipietz: Die Welt desPostfordismus, in: Supple-ment der Zeitschrift »Sozia-lismus«, 7-8/97, S. 2.

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Instrumentenkasten, die Rhetorik von Schock und Entwarnung, dieDemagogie der Ablenkung von den wirklichen Ursachen und Rück-kopplungen. Ultimative monetäre Logik, wundersame Heilung durchdie Arznei der Angebotsökonomie, Kostensenkung, Metzgerstrategie,Outsourcing, kaschierte Demontage der sozialen Marktwirtschaft, Li-beralisierung statt demokratischer Kontrolle der Großbanken undGroßkonzerne gehören zu den Rezepten. Aber es fehlen wesentlicheandere Merkmale, zum Beispiel jene Stufe der tiefen gesellschaftli-chen Frustration, von der ab ein breiter sozialer Lernprozeß beginnt.

Die Menschen lernen in diesem Sinne leider erst im Ergebnis vonaußerordentlichem Druck oder aus Katastrophen. Das hat uns dasvergangene Jahrhundert gezeigt. Die soziale Geschichte ist immerdie Geschichte der Individuen und deren Reaktion und Aktiontreibt die Evolution voran. Ohne Gegenkräfte gibt es keine sozialeEvolution und ihr Ausgang ist offen: in einem historischen Such-prozeß werden Lösungen erstritten.

Nur so können auch neue Institutionen entstehen. In einer Welt,in der die Klassen ungeachtet aller soziologischen Beschwörungenund Eiertänze der jüngsten Zeit nicht verschwunden sind, könnendiese Institutionen nur als jeweils temporärer Kompromiß zwi-schen den Interessen von oben und unten lebensfähig werden, fallsüberhaupt Kompromißbereitschaft auf beiden Seiten besteht. Einzweiter Weg führt über die Anwendung von Gewalt, in der Regelund über historisch längere Perioden vor allem von oben.

Die Frage ist, welche Wirkungen die Globalisierung und Kastra-tion der sozialökonomischen Funktionen des Nationalstaats zeitigenwerden. Wer das »Oben« ist bei der Globalisierung, ist mit Namenund Adressen genau anzugeben, es ist auch hierarchisch gegliedertnach dem relativen Umsatz- oder Kapitalanteil, aber wo bleibt dieRepräsentation des »Unten« auf der globalen Ebene? Die globaleVerdrängungskonkurrenz führt in ihrer Logik unweigerlich dazu,daß sich die niedrigsten ökologischen und sozialen Standards durch-setzen, die mit autoritären Mitteln behauptet werden müssen. Dassieht nicht nach sozialen Innovationen in einer demokratischenRichtung aus.

Technologische Revolution und ArbeitDie grenzenlose Entwicklung von Wissenschaft und Technik istGlaubensartikel des Modells Neuzeit seit Galilei, Fontenelle, Con-dorcet; im staatstragenden Marxismus-Leninismus wurde sie hoch-stilisiert zum Hoffnungsbild der sich quasi automatisch verwirkli-chenden Utopie, so wie sie heute die drohenden Sachzwänge derGlobalisierung ideologisch transportiert. Die Ambivalenz des tech-nologischen Fortschritts wurde von kritischen Geistern (Laotse,Goethe, Marx) und von unmittelbar betroffenen Gruppen immerwieder artikuliert.

Da die Technologie von Menschen in ihrem Interesse gemachtwird, kann es sich nur darum handeln, daß sie dabei fatale Wir-kungsketten in Gang setzen, die sie entweder nicht kennen, bewußtignorieren oder direkt einkalkulieren.– Die künstliche, technische Welt ist ein grandioser Erfolg der For-malisierung, Mathematisierung und der spezialisierten Tatsachen-

»Die ›Antiquiertheit desMenschen‹ resultiert geradedaraus, daß seine Bedürf-nisse und Bedürftigkeit nichtdas Maß des Tuns sind,sondern der Imperativ vonAkkumulation und Expan-sion grenzenlos darüberhinausstrebt und den Men-schen objektivert, also alsSubjekt der Geschichteverabschiedet und dieNaturschranken ignoriert.«Elmar Altvater: Die Zukunftdes Marktes, Münster 1991,S. 64.

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wissenschaften, die aber keine Antworten auf fundamentale sozia-le und ethische Fragen des Menschentums geben. Im Gegenteil –sie erodieren das ganzheitliche, lebensweltliche, sinngebende,autonome Verhalten, wenn sie immer mehr der Kapitallogik fol-gend immer weniger in die ganzheitliche menschliche Kultur ein-gebunden werden.– Das Saysche Theorem, der Diamant in der Krone des alten undneuen Liberalismus, wurde im Fordismus besonders wirksamdurchgesetzt.4 Die Technik ermöglichte eine solche Verbilligungder Waren, daß mit der Manipulation der Käufermasse durch dieKonsumideologie eine enorme Ausdehnung der Nachfrage erreichtwerden konnte. Später folgte die Umdefinierung des Neuen zumWünschbaren, der Exzeß der inkrementellen Produktinnovationund Scheininnovation, der seitdem hinter sich eine Spur der ökolo-gischen Verwüstung herzieht. Mitten im Überfluß werden durchbeschleunigte Innovation immer neue künstliche Knappheiten pro-duziert und Ungleichheiten auf immer höherer Ebene reproduziert.– Die Ausdifferenzierung und Auffächerung des arbeitsteiligenSystems ist ein Ergebnis der technologischen Evolution, das dieMöglichkeiten selbstbestimmter und selbstorganisierter Tätigkeitimmer mehr einschränkt.5 Die Unmittelbarkeit, Naturnähe, sinnli-che Dichte der Arbeit geht verloren.– Der sinkende Ertragszuwachs schien überall gebannt, wo neuetechnologische Lösungen verfügbar waren oder verfügbar gemachtwerden konnten. Jetzt zeigt sich immer mehr eine Stufenleiter dessinkenden Ertragszuwachses, je mehr sich das Wachstum den ab-soluten Grenzen der menschlichen Zivilisation, der Tragfähigkeitder Erde und der Belastbarkeit des Menschen nähert.

Ein beliebtes Gesellschaftsspiel der politischen Klasse der Gegen-wart heißt »Alarm und Entwarnung auf dem Arbeitsmarkt«. Entla-stungsprognosen haben Hochkonjunktur, während unterdessen dieArbeitslosigkeit weiter ansteigt. Die technologischen Kompensa-tionsversprechen der Informations- und Kommunikationstechnik(IKT) sind bisher nicht eingetroffen und werden auch weiterhin nichteintreffen. Die Sockelarbeitslosigkeit ist von Konjunkturtal zu Kon-junkturtal in den letzten 30 Jahren unaufhaltsam angestiegen. Gehtman davon aus, daß 65 bis 70 Prozent der Beschäftigten in denIndustrieländern einfache Routinetätigkeiten und weitere 15 bis20 Prozent gehobene Routinetätigkeiten ausüben, wird das künftigeRationalisierungspotential durch die IKT sichtbar, das durch Pro-duktinnovation nicht kompensiert wird. Die informationstechnischeRevolution ist daher eine neue historische Qualität, die das Problemder Arbeitsgesellschaft auf andere Weise als bisher stellt.

Die hochqualifizierten Wissensarbeiter bringen ebenfalls keinenAusgleich. Die Analysen (Rifkin, Giarini u.a.) zeigen ferner, daßDienstleistungen, neue klein- und mittelständische Unternehmenund Investitionsschub unter den neuen Bedingungen langfristigkeine Entwarnung auf dem Arbeitsmarkt garantieren werden.6

Alle diese Faktoren können jeweils ein partielles und temporäresArbeitskräfteplus bringen, sie genügen jedoch nicht für eineWende des Gesamttrends.

Freeman und Soete meinen, daß der fünfte Kondratieff den

»...im Unterschied zu allenfrüheren innovativen Basis-technologien erzeugt dieMikroelektronik keine neuenMassenindustrien mit relati-ver Arbeitsintensität, d.h.keine neuen Kapazitäten fürdas massenhafte Einsaugenlebendiger Arbeit in die kapi-talistische Reproduktion.Im Gegenteil handelt es sichum eine neue geradezu›flächendeckende‹ Rationa-lisierungstechnologie, derenPotenz zur Eliminierung le-bendiger Arbeit aus der in-dustriellen Produktion ihrenReifegrad noch lange nichterreicht hat. Für die Repro-duktion des Gesamtkapitalsist die Mikroelektronik daherauf Dauer eher eine Krisen-technologie, wie sich sowohlin den einzelnen Ländernals auch auf der Ebene derWeltmarktvermittlungenpraktisch zeigt.«Robert Kurz: Der Letztemacht das Licht aus, Berlin1993, S. 27/28.

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Arbeitsplatzschub dann auslöst, wenn wie in den bisherigen Aus-breitungsperioden der neuen Kombination der Produktivkräfte dieadäquaten neuen Institutionen geschaffen werden und zu wirkenbeginnen.7 Aber wie werden die neuen Institutionen aussehen, dieeinen bisher unvergleichlichen Freisetzungsschub konterkarierensollen? Wird das überhaupt möglich sein? Oder ist an eine Dome-stiken- und Tagelöhnergesellschaft gedacht? Heißt Globalisierungvielleicht Usurpation der neuen Erwerbsarbeitsplätze durch wenigeGewinner-Staaten?

Während von Soziologen und Philosophen das vermeintliche En-de der Arbeitsgesellschaft eingeläutet wird, wird zur Zeit in der be-triebswirtschaftlichen und Managementliteratur die einzigartigeBedeutung des Faktors Arbeit für die Wertschöpfungskette neuentdeckt und beschworen. Das Ziel ist freilich durchsichtig. Manmöchte das ganzheitliche lebensweltliche Phänomen der menschli-chen Kreativität als »Ressource« besser für das Kapital erschließenund gleichzeitig die Mitarbeiter voll im Griff haben. Microsoft bie-tet seine neue Intranet-Software mit dem Versprechen an, daß sie inder Lage sei, die »Mitarbeiter zu steuern, ... wie nie etwas zuvor«.Man könnte die Autoren, die so von der exklusiven Rolle derArbeit überzeugt sind, an die Arbeitswerttheorie erinnern, dieeben dies axiomatisch voraussetzt.

Nun ist Arbeit aber nicht gleich Arbeit. Wir können die Arbeit mitdem Geld vergleichen. Das Geld ist die »absolut gesellschaftlicheForm des Reichtums« (Marx), es kann einer Totalität möglicherZwecke dienen. Eine ähnliche Totalität hat nur die menschlicheArbeit in ihrer innovativen Form aufzuweisen, die die möglichenZwecke in neuen Gebrauchswerten erfüllen kann. Schumpeter siehtübrigens nur den dynamischen Unternehmer, nicht aber die innovati-ve Gesamtarbeit, die notwendig ist, um eine Neuerung durchzusetzen.

Die innovative Arbeit, Marx nennt sie »Arbeit von ausnahms-weiser Produktivkraft«, hat vier Eigenschaften:

Erstens umfaßt sie in den verschiedenen Funktionen der Arbeit(technische, wissensverarbeitende und -generierende, sozialeFunktion) jeweils kreative und Routinekomponenten, die in der in-novativen Arbeit wechselseitig verflochten sind. Die kreative Kom-ponente ist nicht formalisierbar und algorithmierbar, während dieRoutinetätigkeiten in ihrer einfachen Ausprägung technisch substi-tuierbar sind. Es gibt aber auch wiederholbare Routinetätigkeiten,die implizites Erfahrungswissen und -können erfordern, das an sei-nen Träger gebunden ist, und die auf längere Sicht nicht automati-siert werden können. Der Anteil der technischen Funktionen wirdsich in Deutschland zwischen 1980 und 2010 schätzungsweise von60 auf 35, der wissensverarbeitenden Funktionen von 21 auf 34und der sozialen Funktionen von 19 auf 31 Prozent verändern. Diesbietet nur dann größere Möglichkeiten der selbstbestimmten,selbstorganisierten Arbeit, wenn es zu wesentlichen institutionellenVeränderungen in dieser Richtung kommt.

Zweitens ist die innovative Arbeit die Quelle zusätzlicher Wert-schöpfung. Das ist ablesbar etwa an der Kostenstruktur eines Halb-leiterchips: drei Prozent für Rohstoffe und Energie, fünf Prozentfür Abschreibungen, sechs Prozent für Routinearbeiten in der Produk-

»...der wirkliche Reichtumist die entwickelte Produktiv-kraft aller Individuen. Es istdann keineswegs mehr dieArbeitszeit, sondern die dis-posable time das Maß desReichtums. Die Arbeitszeitals Maß des Reichtumssetzt den Reichtum selbstals auf der Armut begründetund die disposable time nurexistierend im und im Gegen-satz zur Surplusarbeit oderSetzen der ganzen Zeit desIndividuums als Arbeitszeitund Degeneration desselbendaher zum bloßen Arbeiter...«Karl Marx: Grundrisse derKritik der politischen Öko-nomie, in: MEW, Bd. 42,S. 604.

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tion, 86 Prozent für Entwurf, Konstruktion, Patente und Copyrights.Aber zusätzliche Wertschöpfung funktioniert auch dort, wo es

sich um Scheininnovationen und um neue Produkte handelt, dieden ökologischen Kriterien der Suffizienz und Ressourcenscho-nung in keiner Weise entsprechen. Der marktradikale Fanatismuswill alle irgendwie erreichbaren Wünsche und Bedürfnisillusionenvalorisieren, dem Verwertungsstreben unterordnen, er zerstört dienaturnahe Subsistenzwirtschaft und Subsistenzkultur.

Drittens transportiert die innovative Arbeit mit der höheren Pro-duktivkraft zugleich die Möglichkeit der höheren Destruktivkraft.Schumpeters »schöpferische Zerstörung« kann auch als sybillini-sche Aussage verstanden werden, die die schwankende Waage vonErschaffen und Abschaffen, Erzeugen und Vernichten ausdrückt.Das wird zur Zeit von vielen Menschen unmittelbar erfahren. Jeintensiver gearbeitet wird, desto mehr Arbeitsplätze werden vernich-tet und vice versa.

Viertens ist die Frage zu stellen, ob die innovative Arbeit vonheute die Zukunft der gesellschaftlichen Durchschnittsarbeit reprä-sentiert. Dies war immer Bestandteil der sozialistischen Vision:Der allseitig entwickelte Produzent, der in der Lage ist, sich eineTotalität von Produktivkräften anzueignen. Es deutet gegenwärtignichts darauf hin, daß diese Vision der massenhaften Reprofessio-nalisierung der Arbeit und ihrer autonomen Gestaltung je Wirk-lichkeit werden kann. In den USA haben die »Symbolanalytiker«(hochqualifizierte Wissensverarbeiter) mit 3,8 Millionen oder vierProzent der Beschäftigten das gleiche Volumen des Einkommenswie die 49,2 Millionen Menschen, die zu den unteren 51 Prozentder Einkommenspyramide zählen.

Eine ganz andere Frage ist, daß die Menschen Institutionen suchenund entwickeln sollten, die zunehmend mehr selbstbestimmte undselbstorganisierte Arbeit auf ganz verschiedenen Stufen der Verbin-dung von Wissen und Erfahrung, Kreativität und Routine ermögli-chen. Fleißner, Hofkirchner und andere haben dazu Strukturenvon Kleingruppen (Entrepreneurgruppen, Sozialbetreuungsgruppen,Studienzirkel, Arbeitsgesundheitsgruppen) vorgeschlagen.8

Das System der Arbeitsteilung und die Gesellschaft insgesamtwerden immer komplexer und komplizierter, immer weniger faß-bar und durchschaubar durch das Individuum. Die Angst wächstund führt zur Flucht in Drogen, Esoterik, Sekten und Heilslehrenunterschiedlicher Provenienz und Gefährlichkeit. Der medialeZeitgeist und digitale Brei der Kommunikation tun das ihrige, umden Menschen zu verunsichern, ihn seiner lebensweltlichen realenErfahrung und seiner freien Entscheidung zu berauben. Das Endeder Tabus und der Kult des Individuums markieren den Sieg derEntgrenzung. Dies kann nicht unbegrenzt so weitergehen ohne gra-vierenden Verlust an Gesellschaftlichkeit und damit Lebensfähig-keit der menschlichen Spezies. In der Vergangenheit waren es Krie-ge, andere Formen der Anwendung von Gewalt, Naturkatastrophenund Epidemien, die die Reduktion übersteigerter Komplexität, dieRückkehr zur Einfachheit auf Kosten von vielen Menschenlebenbrachten. Wenn dieser Weg vermieden werden soll, ist eine großekreative Anspannung des gemeinschaftlichen Intellekts notwendig.

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Eine neue Aufklärung müßte genau diese Besinnung auf die Ein-fachheit bringen, freilich unter ganz anderen Bedingungen als sieRousseau vor mehr als zwei Jahrhunderten vorfand.

Arbeit und NaturressourcenWie brisant das Verhältnis und die Interdependenz der sozialen undder ökologischen Frage ist, wird im politischen und wirtschaftli-chen Alltag immer wieder sichtbar. Arbeit ist Stoffwechsel desMenschen mit der Natur, der in der industriellen Zivilisation bishereinseitig auf Kosten der natürlichen Kreisläufe realisiert wurde.Die Produktivitätserhöhung war der Schlüssel zur Lösung der so-zialen Probleme insbesondere im vierten Kondratieff zwischen1930 und 1980.

Der technische Fortschritt war im Industriezeitalter in ersterLinie darauf gerichtet, Arbeit einzusparen: von 1800 bis 1980 imWeltmaßstab um 1,6 Prozent pro Jahr bei einem Wachstum der In-dustrieproduktion um 3,4 Prozent pror Jahr. In der gleichen Zeitaber stieg der Verbrauch von mineralischen Rohstoffen undPrimärenergie jährlich um 3,2 bis 3,5 Prozent.

Die Arbeitshaltigkeit des Stoffstroms, hier als Verhältnis von Ar-beitsaufwand und Verbrauch an mineralischen Rohstoffen, ist indieser Periode jährlich um 1,4 Prozent gesunken. Wir wissen heu-te, daß bei dieser Entwicklung seit etwa drei Jahrzehnten dieGrenzlinie der globalen Verträglichkeit überschritten wurde. In derDynamik der Arbeitshaltigkeit des Stoffstrominputs kreuzen sichbeide Seiten der Zukunftsfähigkeit, ihre soziale und ökologischeKomponente. In der Tat muß die technologische Innovation unddie sie umlenkende institutionelle Veränderung darauf gerichtetsein, die Tendenz der Arbeitshaltigkeit umzukehren! Die Erhöhungder Arbeitshaltigkeit ist der Indikator für die Gesundung des Stoff-wechsels Mensch-Natur.

Von 1960 bis 1990 ist die Arbeitshaltigkeit, gemessen als Verhält-nis der gesamten Erwerbsarbeitszeit in Milliarden Arbeitsstundenzum gesamten Stoffstrominput (biotische und abiotische Rohstof-fe, Brennstoffe, Wasser, Luft, Erdbewegung, einschließlich Impor-te) in Milliarden Tonnen, in den alten Bundesländern um jährlich2,9 Prozent gesunken.9 Die Umkehr dieses beschleunigten Abstur-zes durch absolute Verringerung der Stoffströme steht auf derTagesordnung.

Die Arbeitshaltigkeit des Stoffstroms ist sehr niedrig in allenFormen der naturzerstörenden Arbeit, von der Brandrodung undKriegsarbeit bis zu den Großtechnologien vom nachsorgendenTyp. Sie ist sehr hoch in vielen Formen der traditionellen Subsi-stenzwirtschaft, der Eigenarbeit und der besonders stoffsparendenmodernen Technologien.

Als Beispiel kann man die Verpackungswirtschaft nennen. Dasdirekte Materialeinsparungspotential der Mehrwegverpackung imVergleich zur Einwegverpackung wird auf 4,8 bis 6 Mill. t jährlichgeschätzt. Bei einem Rucksackkoeffizienten von 97 (97 t Stoff-strom auf 1 t Verpackungsmaterial) sind das 470 bis 580 Mill. tStoffstromreduzierung. Hinzu kommt ein zusätzlicher Bedarf anHandarbeit für die Mehrwegsysteme. Damit würde sich für die

»Tatsächlich ist seit derindustriellen Revolution inden Industrieländern dieRessourcenproduktivität(verfügbares Realeinkom-men bezogen auf den dafürnotwendigen Stoffdurchsatz)gesunken und die Energie-produktivität nur um 50 Pro-zent gestiegen, während dieArbeitsproduktivität in derverarbeitenden Industrie sichum das 25fache erhöhte.«Reinhard Grienig: PrimaKlima auf der Titanic? In:UTOPIE kreativ, Nr 54,(April 1995), S. 15.

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Verpackungswirtschaft eine bedeutende Erhöhung der Arbeitshal-tigkeit, eine geringe Senkung der Arbeitsproduktivität und damiteine beachtliche Steigerung der Ressourcenproduktivität ergeben.Die andere Alternative heißt Müllverbrennung und damit Weiter-machen bei der Arbeitseinsparung und Naturzerstörung. Ein weite-res Beispiel ist die kommunale Verkehrssanierung. Man rechnetdafür mit 480.000 Arbeitsplätzen, das heißt das Siebenfachedessen, was die gleiche Investitionssumme in Großprojekten desVerkehrswesens bringt, bei gleichzeitiger Stoffstromökonomie.Schließlich sei der ökologische Landbau genannt, der bei geringe-rem Stoffstromverbrauch etwa 20 Prozent mehr Arbeitszeit proHektar benötigt als konventionelle Landwirtschaft.

Zum ökologisch-sozialen Umbau der Wirtschaft muß auch dieFörderung der Arbeitsarten und Produktionen beitragen, die sichdurch überdurchschnittliche Arbeitshaltigkeit auszeichnen: Gewin-nung nachwachsender Rohstoffe, Verringerung verpackungsinten-siver Produkte, Rücksammeln von Altstoffen, reparierfreundlicheGeräte u.a.m. Die Regelgröße, die die Arbeitshaltigkeit (Dimen-sion Stunden je Tonne) in ihrer Dynamik in der Marktwirtschaftbestimmt, ist das Verhältnis von Personalkosten zu Material- undEnergiekosten. Diese Relation ist in der Industrie Westdeutsch-lands in den Jahren von 1976 bis 1993 von 0,60 auf 0,73 gestie-gen10, während sie in der vorangegangenen Periode gesunken ist.Im Ergebnis wächst der falsche Druck in Richtung auf eine Tech-nologie und Organisation, die Arbeit spart und die Natur unerträg-lich belastet. Daraus folgt zwingend die Notwendigkeit einer öko-nomischen Steuerreform, die das Preisverhältnis beider Produkti-onsfaktoren den ökologischen Notwendigkeiten anpaßt.

Der Wirkungsgrad des Stoffwechsels zwischen Mensch undNatur, seine »Fruchtbarkeit« hängt von vier Größen ab: von derproduktiven Wertschöpfung je Arbeitsstunde, von Grad der Suffi-zienz, von der Erwerbsquote und von der Arbeitshaltigkeit desStoffstroms. Die Wirtschaftswissenschaft, auf deren Versagengegenüber den Herausforderungen der Evolutionskrise immer wie-der hingewiesen wird, hat bisher kein Maß der Suffizienz, des »Ge-nug« vorschlagen können. Die Grenzenlosigkeit der Bedürfnisseund damit die ständige Reproduktion von Knappheiten auf immerhöherer Stufe inmitten des Überflusses ist ein Axiom des mainstre-ams der Ökonomie. Als Beispiel kann man den Varietätsexzeß derPharmaindustrie nennen. Bei etwa 20.000 pharmazeutischenGrundsubstanzen wäre ein Angebot von 30.000 Medikamentenvöllig ausreichend, das Marktsortiment erreicht jedoch eine Größe-nordnung von 80.000. Die Lobby der Pharmaindustrie hat es bisherverstanden, jegliche Versuche der suffizienten Arzneimittelversor-gung (Positivliste) zu hintertreiben.

Wie kann es überhaupt gelingen, die ökologisch unhaltbareSpirale der Verbrauchsexpansion zu durchbrechen? BürokratischeKontrolle würde die Menschen nur zu mehr Konsum anstacheln.Zu rationalen Bedürfnissen kann es nur kommen, wenn immermehr Menschen ihr Konsumverhalten und ihren Lebensstil ändernwollen. Ein Programm der sozialen und kulturellen Bedürfnisfor-schung wäre notwendig, um für die Gesellschaft neue Einsichten in

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die Möglichkeiten suffizienter Produktions- und Lebensformen zugewinnen. Die Ergebnisse einer solchen Grundlagenforschungkönnten für konkrete Vorschläge von institutionellen Veränderun-gen und neuen Dienstleistungen und Produkten eingesetzt werden.Die ökologische Wirksamkeit von Verbraucherorganisationen kannum Größenordnungen erhöht werden.

Die neue alte Richtung der KapitalakkumulationEine Umlenkung des technologischen Fortschritts auf die dringen-den ökologisch-sozialen Zwecke ist vom herrschenden Marktradi-kalismus nicht zu erwarten. Die ultimative monetäre Logik gehtdavon aus, daß Marktprozesse und Konkurrenz automatisch das er-forderliche Gleichgewicht herstellen, je weniger sie durch Staats-intervention dabei gestört werden. Die breitestmögliche Privatisie-rung stößt in soziale und kulturelle Bereiche vor, deren Reproduk-tion auf diese Weise langfristig ruiniert wird. Alle nichtmonetärenTätigkeiten dieser Welt, die einen potentiellen Marktwert haben,sollen in den Geldkreislauf einbezogen werden. Sie werden auf 16Trillionen Dollar geschätzt bei einem Volumen der vorhandenenmonetären Wirtschaft von 23 Trillionen Dollar (Giarini).11 Damitgeht die Zurückdrängung und Zerstörung der Subsistenzwirtschafteinher. Es wird alles in Bewegung gesetzt, um freie Zeit in waren-förmige Freizeit, das heißt in Warenkonsumtion ohne ökonomischeRationalität und ohne Unabhängigkeit des Individuums zu verwan-deln. Die totalitäre Tendenz der Geldwirtschaft wird institutionellnicht abgemildert, sondern verstärkt, wie die Aktionen der Behör-den gegen Tauschringe und lokales Arbeitsgeld zeigen. Das Credoder Deregulierung macht auch nicht Halt vor jenem Punkt, vondem ab die betriebswirtschaftlichen Vorteile durch wachsendeexterne volkswirtschaftliche Verluste aufgehoben werden.

Das Kapital hat entdeckt, daß man unter den Bedingungen derGlobalisierung die Akkumulation viel effektiver als im klassischenIndustriesystem, das Marx analysiert hat, organisieren kann. Dasheißt Akkumulation unter systematischer Rücknahme der zivilisa-torischen Zähmungen des Systems durch die Institutionen des So-zialstaats und mittels von keinen Kompromißformeln gehemmterprivatwirtschaftlicher Nutzung der technologischen Revolution.Immer mehr Existenzen werden eingebunden in die globalen Wert-schöpfungs- und Kreditketten, in denen sie abhängig sind von denSchwankungen der Weltmarktpreise und des Zinsniveaus. Dasklassische Lohnarbeitsverhältnis in den reichen Ländern, das schonimmer im Weltvergleich privilegiert war und auf der Ausbeutungvon Naturressourcen und nichtentlohnter Arbeit der Subsistenz-wirtschaft beruhte, löst sich allmählich auf in Formen der Teilzeit-arbeit, Kontraktarbeit, Scheinselbständigkeit, Saisonarbeit, Leih-arbeit, illegalen Arbeit. Das Privateigentum, das auf eigener Arbeitberuht, wird im Ergebnis der Folgen dieser Prozesse massenhaftexpropriiert. Die Formen der mit direkter Gewaltausübung verbun-denen Akkumulation sind keine verschwundene Formation, siebegegnen uns in den lokalen Kriegen, den Vertreibungen, demAufschwung der mafiosen Strukturen, der modernen Sklavenwirt-schaft, wo Kinder, Frauen, Sektenmitglieder, Drogenabhängige die

»Die Ökonomie mit ihremKnappheitsprinzip funktio-niert angesichts des Man-gels ökologischer Tragfähig-keit nur noch als eine gesell-schaftliche Veranstaltung,reguliert durch Normen, dienicht aus dem ökonomischenRationalsystem selbst gene-riert werden können. DieMarktwirtschaft entstand imZuge des ›disembedding‹ökonomischer Rationalitätaus gesellschaftlichen Bin-dungen; angesichts derÜberlastung der Ökosyste-me des Planeten Erde istgesellschaftliche Evolutionnur noch möglich, wenn dieökonomische Rationalität inein komplexes System dergesellschaftlichen Regula-tion des Umgangs mit derNatur ›embedded‹ wird.«Elmar Altvater: Die Zukunftdes Marktes, Münster 1991,S. 367.

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Zielgruppe sind, der Gewalt auf der Straße, gegenüber Minderhei-ten, in Familien, beim Militär, bei Polizeieinsätzen und im Straf-vollzug. Rosa Luxemburg hat diese Tendenzen in ihren frühenFormen am besten erkannt, weil sie das Realisierungsproblem derkapitalistischen Akkumulation als historischen Prozeß analysier-te.12 Der unermüdliche Jürgen Kuczynski spricht vom Rückfall indie Barbarei als wahr werdende Alternative.13 Abschied von derZivilgesellschaft wäre eine zu höfliche Umschreibung.

Unter diesen Bedingen sind die »Füchse im Weinberg« gefragt,die geistigen Vorbereiter einer Wende, die es zu allen Zeiten gege-ben hat. Noch mehr aber geht es um das Entstehen und Zusam-menwirken vieler praktischer sozialer Bewegungen und Initiativenin engem Kontakt mit neuen geistigen Strömungen und um »ein-greifende Forschung«. Für die Umlenkung des technologischenFortschritts durch neue soziale und wirtschaftliche Regularien undMaßnahmen gibt es bereits viele Ideen und Vorschläge, die zueinem ganzheitlichen Konzept ausgebaut werden können. Dazugehören die ökologische Steuerreform als Herzstück alternativerWirtschaftspolitik, Vereinbarungen zur Arbeitsplätzeschaffungdurch Arbeitszeitreduzierungen, stärkere Förderung des gemein-wirtschaftlichen Sektors, Finanzierung sozialer und kulturellerDienstleistungen statt Finanzierung von Arbeitslosigkeit, Einfüh-rung von EU-weiten Arbeitsplatzgarantien für Jugendliche unter18 Jahren, Überprüfung der steuerlichen und finanzrechtlichenAbschreibungsregeln unter der Zielstellung einer nachhaltigenWirtschaftspolitik, Initiativen zur Nutzung eines lokalen Arbeits-gelds für gegenseitige Hilfe, Verschlankung der Förderbürokratie,soziale Grundsicherung bei Garantie einer Arbeit von 20 Wochen-stunden in der Privatwirtschaft, in der Gemeinwirtschaft oder inöffentlichen Einrichtungen, flexible Gestaltung der Lebensarbeits-zeit im Wechsel von bezahlter Arbeit im garantierten Bereich, Fort-bildung, bezahlter Arbeit im nichtgarantierten Bereich, gemeinnüt-ziger Arbeit und Eigenarbeit sowie hauswirtschaftlicher und fami-liärer Tätigkeiten. Aber es ist noch ein langer Weg bis zu einemWechsel der Grundeinstellungen und bis zu einer neuen Politik.

Anmerkungen1 Goethe, J. W. von: Pandora. Ein Festspiel, in: Goethe, Berliner Ausgabe, Berlin 1964, S. 409.2 Factor 10 Club. Carnoules Declaration, 1994.3 Boyer, R.: Technical change and the theory of regulation, in: Technical Change and Econo-

mic Theory, London 1988.4 J. B. Say (1767-1832) hat behauptet, daß jede Produktion ihre eigene Nachfrage schafft.5 Vgl. Gorz, A.: Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesell-

schaft, Hamburg 1994, S. 67.6 Giarini, O., Liedtke, P. M.: The Employment dilemma. The future of work, Report to the

Club of Rome, 1996; Rifkin, J.: Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft, Frankfurt/M. 1996.7 Freeman, C., Soete, L.: Work for all or mass unemployment, London 1994.8 Fleißner, P. et al.: human’s work tomorrow, Vienna 1995.9 Die Arbeitshaltigkeit des Stoffstroms wurde zuerst dargestellt und berechnet in: Haustein,

H.-D.: Vier Kreisläufe, Ressourcenproduktivität, Kilopreis und Ökopreis – ÖkonomischeBewertung des MIPS-Konzepts des Wuppertal-Instituts, Bericht Nr. 10.08.1990/2000 fürdas Wuppertal-Institut 1995.

10 Berechnung des Verfassers.11 Giarini, Liedtke, a.a.O.12 Luxemburg, R.: Die Akkumulation des Kapitals. Gesammelte Werke Bd. 5, Berlin 1975, S. 518f.13 Kuczynski, J.: Vom Zickzack der Geschichte, Berlin 1996, S. 103.

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Steigende Arbeitslosenzahlen in der BRD, Wegfall von Arbeits-plätzen durch Rationalisierung aufgrund der Automation von Ar-beitsprozessen und eine Globalisierung des Arbeitsmarktes mitverstärkter Ausbeutung der sogenannten Dritten Welt haben dieDebatte über die Zukunft der Arbeit in den vergangenen Jahrenangeheizt, wie schon lange zuvor nicht mehr. Nicht von ungefährhat der Journalist Jeremy Rifkin seiner 1996 veröffentlichten Stu-die den provozierenden Titel: The End of Work gegeben. UndArno Heises erster Satz der Zusammenfassung seiner Studie Arbeitfür Alle – Vision oder Illusion? faßt die Situation folgendermaßenzusammen: »Seit nunmehr über zwei Jahrzehnten wird in der Bun-desrepublik das Ziel der Vollbeschäftigung – hier verstanden imSinne Beveridges – beständig und mit steigender Dramatik ver-fehlt.«1 Wenn nun gleichzeitig Michael Brie im Kommentar ZurProgrammatik der Partei des Demokratischen Sozialismus2 unterder Überschrift: »Arbeit ist nicht alles. Aber ohne Arbeit ist Allesnichts« (S. 59) schreibt: »Lohnarbeit ist eine absolut unverzicht-bare, wenn auch keinesfalls hinreichende Bedingung von Freiheitund elementarer Gleichheit geworden« (S. 61), sowie: »Das Endeder Arbeitsgesellschaft wäre das Ende der Demokratie« (S. 61),dann scheint darin ein Widerspruch zu liegen, beziehungsweisekönnte »bestenfalls« bedeuten, daß wir uns möglicherweise demEnde der Demokratie nähern. Gibt es noch Arbeit für alle und istLohnarbeit wirklich unverzichtbar für eine Demokratie?

In dem Versuch, für diese Fragen eine Antwort zu finden, ist eszuallererst notwendig, den Begriff »Arbeit« zu untersuchen. EineDefinition des Wortes »Arbeit« findet sich in jedem Lexikon undnennt neben der physikalischen Bedeutung die volkswirtschaft-liche: »jede meist zweckgerichtete Tätigkeit zur Befriedigung ma-terieller oder geistiger Bedürfnisse des einzelnen oder der Allge-meinheit. Aus der Notwendigkeit der menschl. A. für die Erhaltungder Gesellschaft wird die Pflicht zur A., aus der Notwendigkeit zurErhaltung des eigenen Lebens u. der Befriedigung der eigenenBedürfnisse das Recht auf A. abgeleitet« (Bertelsmann-Lexikon1997). Die eingangs angesprochene Debatte bezieht sich jedochzuerst nur auf die Lohnarbeit, d.h. die Arbeit, die gegen Entgelt –den Arbeitslohn – für einen Arbeitgeber verrichtet wird. Dabei ent-spricht der Arbeitslohn nicht einem Teil der vom Arbeiter pro-duzierten Ware, sondern »ist der Teil schon vorhandener Ware,womit der Kapitalist eine bestimmte Summe produktiver Arbeits-

Andreas Reichstein – Jg.1953, Amerikahistoriker,Universität Hamburg, Landes-Fachgruppen-Vorsitzenderder IG Medien, Mitglied derAG Politische Bildung derPDS Hamburg.

1 Arne Heise: Arbeit fürAlle – Vision oder Illusion?,Marburg 1996, S. 309.

2 Zur Programmatik derPartei des DemokratischenSozialismus, Ein Kommen-tar, herausgegeben von:Gesellschaftsanalyse undPolitische Bildung e.V.,Berlin 1997.

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ANDREAS REICHSTEIN

Die Zukunft der Arbeitswelt

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kraft an sich kauft«3. Mit dieser Aussage fußt Karl Marx auf demPhilosophen Thomas Hobbes, der in seinem Werk Leviathan bereits1651 schrieb: »Der Wert eines Menschen ist wie der aller anderenDinge sein Preis: das heißt soviel als für die Benutzung seiner Kraftgegeben würde.«4 Lohnarbeit ist für Marx daher entfremdete Arbeit– nicht nur im Sinne von Adam Smith als Prozeß der Veräußerungvon Eigentum, sondern wie bei Hegel als Entäußerung des Wesens,nicht nur des Habens –, die zur Zwangsarbeit wird, weil sie nichtfreiwillig geleistet wird. »Die Arbeit [im Sinne von Lohnarbeit] istihrem Wesen nach die unfreie, unmenschliche, ungesellschaftliche,vom Privateigentum bedingte und das Privateigentum schaffendeTätigkeit.«5 Als Einheit von Lohnarbeitsprozeß und Wertbildungs-prozeß ist der Produktionsprozeß ein Prozeß von Waren. Arbeit istWertsubstanz und der Wert der Arbeitskraft bestimmt sich nachdem Wert der Lebensmittel im weitesten Sinne, die zu ihrer erwei-terten Reproduktion notwendig sind. Alle Diskussionen um Pro-fite, Wertgesetz und Geld kreisen um die Existenz einer Warenproduzierenden und konsumierenden Gesellschaft.6 Faßt man denBegriff der zu konsumierenden Ware weiter als den ursprünglichrein dinglichen, materiellen, so sind auch die heute als Dienstlei-stungen ausgewiesenen Tätigkeiten produzierte Waren, wonacheine Unterscheidung im klassischen Sinne zwischen Arbeiter undAngestellten hinfällig wird, da beide ihre Arbeitskraft einemArbeitgeber für einen Arbeitslohn zur Verfügung stellen, um eineWare – ob materiell als Produkt oder immateriell als Dienstleistung– zu produzieren. In diesen Zusammenhängen ist Arbeitswelt undArbeitsgesellschaft heute als Lohnarbeitswelt und Lohnarbeits-gesellschaft zu verstehen.

Wenn man davon ausginge, daß das Ende der Arbeitsgesellschaftdas Ende der Demokratie bedeutete, da nur Lohnarbeit »das Ein-trittsticket in alle anderen Formen der Teilhabe an den Chancenmoderner Gesellschaften«7 darstellt, dann stellt sich die Frage,welchen Wert eine Demokratie hat, die Lohnarbeit als entfremdeteArbeit benötigt, eine Arbeitsform also, die Marx ja gerade abge-schafft wissen wollte? Gleichzeitig beobachten wir eine drastischeund rapide zunehmende Veränderung der Arbeitswelt durch diezunehmende Automatisierung von Produktionsvorgängen, die diemenschliche Arbeitskraft überflüssig macht. Als Prozeß in ver-schiedenen Etappen wurde dieser Wandel in der Produktion bereitsvon Marx erkannt, der die These aufstellte, daß die Unternehmerimmer bestrebt seien, die Lohnkosten zu senken und die Produk-tionsmittel soweit wie möglich in ihre Verfügungsgewalt zu be-kommen; »durch Teilung der Arbeit, die die Operationen der Ar-beiter schon mehr und mehr in mechanische verwandelt, so daß aufeinem gewissen Punkt der Mechanismus an ihre Stelle treten kann.... Was Tätigkeit des lebendigen Arbeiters war, wird Tätigkeit derMaschine.«8 In Ansätzen, wenn auch in seinen Schlußfolgerungenunzureichend, hat auch Lenin diese Gefahr als Möglichkeit einervon der menschlichen Arbeitskraft unabhängigen Entwicklung zurSteigerung des Mehrwerts erkannt.9 Die Automation, die bereitsin den zwanziger Jahren in den US-Fabriken Einzug hielt und diezweite industrielle Revolution begründete, bestätigte diese Thesen,

3 Karl Marx, Lohnarbeitund Kapital, Separat-Aus-druck aus der »NeuenRheinischen Zeitung« vomJahre 1849, Berlin 1891,abgedruckt in: Karl Marx:Lohnarbeit und Kapital,Berlin 1971, S. 25. Eineweitergehende Diskussiondes Begriffes »Arbeit«würde den Rahmen diesesPapiers sprengen. Siehehierzu näher zum einen:Wolfgang Fritz Haug(Hrsg.): Historisch-KritischesWörterbuch des Marxismus,Bd 1, Hamburg/Berlin 1994,S. 402-422 und Keith Grint:The Sociology of Work,Cambridge 1991, S. 7-47.

4 Zitiert nach Karl Marx:Lohn, Preis und Profit,Berlin 1971, S. 40.

5 Karl Marx in seinenNotizen zu List (1841),zitiert nach F. List: Dasnationale System der politi-schen Ökonomie, Berlin/W1982, S. 459f.

6 Vgl. Ernesto Che Guevara:Ökonomie und neues Be-wußtsein, Schriften zur poli-tischen Ökonomie, 2 Bde.,Berlin 1969, Bd.1, S. 44ff.

7 So Michael Brie in:Zur Programmatik der Parteides Demokratischen Sozia-lismus, Ein Kommentar,herausgegeben von: Gesell-schaftsanalyse und Politi-sche Bildung e.V., Berlin1997, S. 61.

8 Karl Marx: Grundrisseder Kritik der PolitischenÖkonomie, Berlin 1974,S. 591f.

9 Wladimir. I. Lenin: Zursogenannten Frage derMärkte, in: W.I.Lenin, Werkein 3 Bänden., Berlin 1972,Bd. 1, S. 69-116 (hier S. 79).

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die schon bei Marx’ Ausführungen zum »relativen Mehrwert« aus-führlich dargestellt wurden. Zwischen 1919 und 1929 wurden inden USA 2,5 Millionen Arbeitsplätze vernichtet.10 Um der Massen-arbeitslosigkeit und dem gesunkenen Durchschnittseinkommenals Gefahr für den Konsum zu begegnen, führte man den Kunden-kredit und Ratenkauf ein, der aus hart arbeitenden, genügsamenMenschen Hedonisten auf der Suche nach den allerneuesten Be-friedigungen machte, wie Marchand es beschrieb11, und gleichzei-tig zu einer Überhitzung der Wirtschaft führte – eine Entwicklung(Massenproduktion zur Befriedigung eines künstlich erzeugtenKonsumverhaltens), die insgesamt mit den Begriffen Fordismusund Taylorismus gekennzeichnet wurde.12 Gleichzeitig senkte mandamals bereits in unterschiedlichem Maße die wöchentlicheArbeitszeit, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Kellog’s, SearsRoebuck, Standard Oil und Hudson Motors zum Beispiel führten inden dreißer Jahren die 30-Stunden-Woche ein.13 Trotzdem ging derArbeitsplatzabbau weiter. So wurden allein in den USA zwischen1956 und 1962 über anderthalb Millionen Menschen durch dieAutomatisierung in der Industrie arbeitslos.14

Heute erahnen wir bereits die Folgen einer weiteren Entwick-lung, die unter dem Schlagwort »Dritte Industrielle Revolution« indas Schrifttum Eingang gefunden hat und die dabei ist, die Situa-tion nicht nur des Arbeitsmarktes, sondern auch der gesamtenzukünftigen Arbeitswelt zu verändern. Nach der Automatisierungist dies die Digitalisierung. Für sie gelten noch in viel stärkeremMaße jene heute beinahe prophetisch klingenden Sätze des briti-schen Ökonomen John M. Keynes, die er 1930 schrieb: »Wir sindvon einer neuen Krankheit befallen, deren Namen einige Lesernoch nicht gehört haben mögen, von der sie aber in den nächstenJahren noch recht viel hören werden, nämlich technologischerArbeitslosigkeit. Das bedeutet Arbeitslosigkeit, weil unsere Ent-deckung von Mitteln zur Ersparung von Arbeit schneller voran-schreitet als unsere Fähigkeit, neue Verwendung für die Arbeitzu finden.«15 Auch wenn nicht in einer direkten Kausal-Statistikzusammenfaßbar, sind sich die Arbeitsmarktanalytiker und For-scher darüber einig, daß der Einsatz moderner Technologien bereitsheute zu tiefgreifenden organisatorischen Veränderungen, dasheißt, Arbeitsplatzabbau zur Verschlankung der Unternehmen,geführt hat. So haben die 14 größten Arbeitgeber in der BRDzwischen 1992 und 1995 per Saldo bereits eine Viertel MillionArbeitsplätze abgebaut – Tendenz: steigend.16

Die Veränderung des Arbeitsmarktes spiegelt sich aber nichtallein im Abbau von Arbeitsplätzen wider. Auch die Struktur desArbeitsmarktes verändert sich immer stärker. Waren 1905 nochca. 28 Prozent im Dienstleistungsbereich, 36 Prozent in der Land-wirtschaft und 40 Prozent der Arbeitskräfte in der Industrie be-schäftigt, so waren es 1990 59 Prozent im Dienstleistungsbereich,39 Prozent in der Industrie und nur noch 4 Prozent in der Land-wirtschaft. Prognosen zufolge wird im Jahre 2010 diese Scherenoch stärker auseinanderklaffen: dann sollen nur noch etwa 2Prozent in der Landwirtschaft, 20 Prozent in der Industrie, ca. 24Prozent im Bereich allgemeine Dienstleistungen und ca. 58 Prozent

10 Vgl. Technology andCulture, April 1991, S. 274f.;zitiert nach: Jeremy Rifkin:Das Ende der Arbeit, Frank-furt/New York 1996, S. 29.

11 Roland Marchand:Advertising the AmericanDream: Making Way for Mo-dernity, Berkeley 1985, S. 4f.

12 Vgl. D. Gartman:Origins of the AssemblyLine and Capitalist Controlof Work at Ford, in: A. Zim-balist (ed.): Case Studies onthe Labour Process, Month-ly Review, 1979; D. Harvey:The Conditions of Postmo-dernity, Oxford 1989;J.H. Goldthorpe: The Endof Convergence: Corporatistand Dualist Tendencies inModern Western Societies,in: J.H. Goldthorpe (ed.):Order and Conflict in Con-temporary Capitalism,Oxford 1984 und C.F. Sabel:Work and Politics: the Divi-sion of Labour in Industry,Cambridge 1982.

13 Vgl. Benjamin Hunnicutt:Work without End: Abando-ning Shorter Hours for theRight to Work, Philadelphia1988, S. 148.

14 Vgl. Jeremy Rifkin:Das Ende der Arbeit, Frank-furt/New York 1996, S. 55.

15 John Maynard Keynes:Allgemeine Theorie der Be-schäftigung, des Zinses unddes Geldes, in: Ders.: Politikund Wirtschaft, Männer undProbleme, Tübingen 1956,S. 267.

16 Zu dieser Angabe sowieeiner genauen Analyse dessich verändernden Arbeits-marktes vgl. Johann Welsch:Arbeiten in der Informations-gesellschaft, Studie für denArbeitskreis Arbeit-Betrieb-Politik der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1997, S. 17.

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im Bereich Information tätig sein. Diese Zahlen allein zu betrach-ten, genügt jedoch nicht. Deutlich wird, daß mit dem Niedergangder klassischen Industrie- und Agrararbeit der Dienstleistungssek-tor einen überproportionalen Aufschwung nimmt, wobei dieserSektor vor allem in England, den USA und Frankreich ein über-durchschnittliches Wachstum zeigt, während dies in Deutschlandnoch schwächer ausfällt. Gleichzeitig wird aber auch noch zwi-schen primären Dienstleistungen (Bürotätigkeit, Handeln/Verkau-fen, allgemeine Dienstleistungen) und sekundären Dienstleistun-gen (Ausbilden/ Beraten/Informieren, Sichern/Recht anwenden,Organisation/Management und Forschen/Entwickeln) unterschie-den. Nach Tätigkeitsgruppen unterschieden, ergeben Prognosen,daß sich im Bereich der produktionsorientierten Tätigkeiten dieAnteile im Sektor »Produzieren/Herstellen/Gewinnen« von 19,2Prozent (1991) auf 12,6 Prozent (2010), im »Maschinen/Anlagensteuern« von 8,2 Prozent (1991) auf 10,7 Prozent (2010) und im»Reparieren« von 6,1 Prozent (1991) auf 6,3 Prozent (2010) ver-ändern werden. Im Bereich Primäre Dienstleistungen wird derAnteil von »Handeln/Verkaufen von 10,7 Prozent (1991) auf 11,1Prozent (2010) steigen, der der »Bürotätigkeit« jedoch von 17,0Prozent (1991) auf 16,8 Prozent (2010) und der Anteil der »allge-meinen Dienstleistungen« von 11,9 Prozent (1991) auf 11,0 Pro-zent (2010) sinken. Neben dem drastischen Rückgang im klassi-schen industriellen Sektor »Herstellen und Produzieren« werdendie höchsten Steigerungen im sekundären Dienstleistungsbereichzu finden sein: der Bereich »Organisation/Management« soll von6,3 Prozent (1991) auf 9,1 Prozent (2010) und der Sektor »Ausbil-den/Beraten/Informieren« von 11,8 Prozent (1991) auf 14,6 Prozent(2010) anwachsen.17

Weitere Veränderung der zukünftigen Arbeitswelt, bedingt durchDigitalisierung und Vernetzung sowie der Reduzierung vielerBetriebe auf eine kleine Kernbelegschaft am Produktionsstandort,werden das Umsichgreifen von Teleheimarbeit und eine allgemeineGlobalisierung des Arbeitsmarktes sein. Neben diesen Veränderun-gen zeigen jedoch alle Analysen an, daß die Menge der verfügba-ren Lohnarbeit weit hinter der Masse der Anbieter von menschli-cher Arbeitskraft zurückfallen wird. Marx hat darin die Grundlagefür die Möglichkeit einer anderen gesellschaftlichen Stellung vonArbeit gesehen, in der der Gegensatz zwischen geistiger undkörperlicher Arbeit verschwindet, da sich die Lohnarbeit mit derRegulation durch den Wert auflöst, indem der Mensch durch seineTätigkeit zur Überwachung und Disposition eines Produktions-prozesses »Dinge« (Maschinen, etc.) für sich arbeiten läßt.18 DasEnde von Lohnarbeit im klassischen Sinne der entfremdeten Arbeitist daher anstrebenswert und kann niemals das Ende der Demokra-tie bedeuten. Für mögliche Lösungen der Probleme in unsererArbeitswelt ist daher die überkommene Definition der Arbeitskraftals Ware, die der Kapitalist kauft, nicht mehr hinreichend. Wennder Kapitalist die angebotene Ware menschliche Arbeitskraft nichtmehr kaufen muß, weil er seine Wertschöpfung aus automatisierterProduktion erziehlt, wird entweder im bisherigen Gesellschaftssy-stem das weitere Anwachsen der Arbeitslosigkeit zum sozialen

17 Vgl. Johann Welsch:Arbeiten in der Informations-gesellschaft, Studie für denArbeitskreis Arbeit-Betrieb-Politik der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1997, S. 30.

18 Siehe dazu Karl Marx:Grundrisse der Kritik derPolitischen Ökonomie, Ber-lin 1953, S. 592f.; KarlMarx/Friedrich Engels:Werke, Berlin 1959, Bd. 19,S. 21.; Bd. 42, S. 244.

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Sprengstoff, der eine Gesellschaft, die eine solche Entwicklungzuläßt, auf längere Sicht zerstören muß (destruktiver Ansatz mitder Konsequenz, die dann enstehende Gesellschaft möglicherwei-se nicht entscheidend mitgestalten zu können), oder es wird einneues Gesellschaftssytem geschaffen (konstruktiv), das auf einemWert der Arbeit jenseits von Lohnarbeit beruht. Grundlage hierfürist, wie unter anderem Robert Kurz auch schon vielfach betont hat:»Das System der ›Arbeitsplätze‹, d.h. der Verwandlung von ›Arbeit‹in Geld ist grundsätzlich anzugreifen, statt zu der steinerweichen-den Elendsdebatte um die ›Schaffung von Arbeitsplätzen‹ ein jäm-merliches Konzept-Scherflein beizutragen«.19

Von daher ist auch die Entwicklung gefährlich, die in den USA,den Niederlanden und Großbritannien in den vergangenen Jahrenzu einem statistisch absoluten Anwachsen der Arbeitsplätze unddes Bruttoinlandsproduktes geführt haben. Diese Form der Schaf-fung von Arbeitsplätzen wurde in den genannten Ländern erkauftdurch drastischen Sozialabbau, Erhöhung der wöchentlich mögli-chen Arbeitszeiten und einen stärkeren Anteil von Teilzeitarbeit.Ein großer Teil der neu eingerichteten »Jobs« (und mehr sind esauch nicht) sind Niedrigstlohntätigkeiten in der freien Verfügbar-keit des Arbeitgebers. So kann heute ein Mittelständler in den USAbei Verlust seines Arbeitsplatzes zwar damit rechnen, innerhalb ei-nes halben Jahres eine Stelle zu bekommen, aber nur zu fünfzigProzent seiner bisherigen Bezüge. Dies führt dort zum deutlichenAnstieg von Haushalten mit bis zu fünf Jobs, um die notwendigenLebenshaltungskosten überhaupt noch bestreiten zu können. Hierzeigt sich drastisch der Zynismus des Kapitals: die Arbeit (dieobjektiv schrumpft) auf mehr Köpfe verteilen, aber zu den Bedin-gungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, des reinen, unverfälsch-ten Manchester-Liberalismus.20 Dies darf im Ernst noch nicht einmaldas Ziel einer Politik sein, die mehr Lohnarbeitsplätze im klassi-schen Sinne fordert.

Es ist vielmehr zuerst wichtig, Arbeit als selbstbestimmte, freie,schöpferische Tätigkeit zu begreifen – losgelöst von der Produk-tion von Waren und von dem klassischen Bild der produzierendenLohnarbeit. Die entscheidenden Felder, die aufgrund der traditio-nellen Definition von Arbeit als Lohnarbeit in der kapitalistischen,materialistischen und patriarchalischen Gesellschaft bislang nichtals Arbeit gewertet wurden, sind: Reproduktion von Arbeitskraft,»Hausarbeit«, »gemeinnützige« Tätigkeiten und künstlerische Ak-tivitäten (soweit der »Künstler« nicht aufgrund eines bereits er-reichten Marktwertes seiner/ihrer Produkte seine Ware verkaufenkann). Die Reproduktion von Arbeit wie Kinder aufziehen, einenHaushalt versorgen, häusliche Kranken- und Altenpflege, die Be-wahrung der Umwelt durch Einzel- oder Gruppenaktivitäten unddie kreative Schöpfung nicht auf dem Markt verwertbarer Kunstfindet im Bereich der überkommenen Lohnarbeit kaum oder garkeine Einordnung im Wertschöpfungsgefüge. Ohne diese »Arbeit«wäre unsere Gesellschaft jedoch nicht überlebensfähig. Von dahermuß als erster Schritt das Wertschöpfungsgefüge geändert werden.21

Ansätze hierfür wurden bereits in den sechziger Jahren in denUSA unter Präsident Johnson deutlich, der eine Einkommenshilfe

19 Robert Kurz: Die letztenGefechte, in: Krisis, Nr. 18,1996, S. 49.

20 Eindrucksvoll wird diesdurch den tendenziellen Arti-kel: »Arbeit, Arbeit, Arbeit«im Spiegel, Nr. 17, 1997, S.24-36 belegt. Zu der ökono-mischen Entwicklung in denUSA mit all ihren Aspektenwie Arbeitslosigkeit, Armutund Rassismus siehe Do-nald Sassoon: One HundredYears of Socialism, London1997, S. 763ff.

21 Auch die christlichenKirchen in Deutschland se-hen, daß »die Verengungdes Arbeitsbegriffes auf Er-werbsarbeit« fragwürdig ist.Karl Marx folgend, betonensie aber gleichzeitig, daß»der Mensch für ein tätigesLeben geschaffen« ist undsagen: »Aus christlicherSicht ist das Menschenrechtauf Arbeit unmittelbarer Aus-druck der Menschenwürde.«

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für Bedürftige forderte. Überraschenderweise haben sogar konser-vative Ökonomen wie Milton Friedman zur Stabilisierung der Ge-sellschaft vorgeschlagen, der Staat solle den Bürgern ein Mindest-einkommen garantieren, das jedoch durch seine geringe Höhedazu ermuntern solle, etwas hinzu zu verdienen, »um den Anreiz,sich weitere Arbeit zu suchen, zu erhalten.«22 Folgt man diesenGedanken, dann müssen neben einem Mindesteinkommen abergleichzeitig die heute sogenannten gemeinnützigen Tätigkeiten alsAlternative bzw. Ergänzung zu den traditionellen Arbeitsverhält-nissen gesehen werden.23 Diese »dritte Säule« – wie Rifkin sienennt – der zu vergütenden Tätigkeiten und die Idee des Mindest-einkommens sind schon länger in der Diskussion. An möglichenModellen fehlt es demnach nicht. Das Problem liegt weniger imEntwerfen von Utopien als in der Realisierung solcher Vorstel-lungen.Hierbei ist ein nicht zu unterschätzendes Hauptproblem,daß die allermeisten Menschen seit Jahrtausenden gewohnt sind,für ihren Lebensunterhalt arbeiten zu müssen und ihr Selbstwert-gefühl von daher heute meist aus bezahlter Arbeit beziehen. Ar-beitslosigkeit als Verlust von Lohnarbeit wird somit generell alsMakel, als Schande empfunden. Ein Umdenken wird hier nichtleicht sein. Mindestens ebenso schwer, aber genauso wichtig fürdie Umgestaltung der Arbeitswelt ist die Abschaffung des Patriar-chats. In unserer patriarchalischen Gesellschaft erscheint vielen –nicht nur, aber vor allem Männern – angesichts der zunehmendensozialen Probleme die Geschlechterfrage eine »Luxusdiskussion«zu sein.24 Jedoch: das Geschlechterverhältnis ist zwar nicht alles,aber ohne eine Lösung dieser Frage ist alles andere nichts – aufSand gebaut. Und Frauen sind – nicht nur bei uns – im Berufslebenimmer noch extrem benachteiligt.

Weltweit gesehen sind 62 Prozent aller Arbeitsplätze vonMännern besetzt, die dabei auch noch 74 Prozent aller Arbeits-einkommen verdienen. Für die 38 Prozent aller Frauen in Lohnar-beitsverhältnissen bleiben so nur 26 Prozent des gesamten Arbeits-einkommens übrig. 90 Prozent aller Parlamentssitze werden vonMännern gehalten und 94 Prozent aller Regierungsposten werdenweltweit von Männern bekleidet. Bei diesen allgemeinen Betrach-tungen darf man das besondere Problem von Frauen als Angehöri-ge einer ethnischen Minorität in einer Gesellschaft nicht außerAcht lassen, da sich diese Frauen auch ihren Geschlechtsgenos-sinnen der Majorität gegenüber in einem besonders kritischenVerhältnis befinden. So haben es zum Beispiel schwarze Frauen inder Bundesrepublik noch ungleich schwerer als weiße Frauen, zuihrem Recht und zu einer freigewählten und gleich bezahltenArbeit zu kommen.25 Mitte der neunziger Jahre sind in der Bundes-republik mehr als 40 Prozent aller Beschäftigten (im Alter zwi-schen 15 und 65 Jahren) weiblich. Zwei Drittel der Frauen arbeitenin nur zehn Berufsgruppen, wobei in den alten Bundesländern 73Prozent in den Bereichen Büro- und Dienstleistungsberufen tätigsind. 65 Prozent verfügen nur über eine Lehr- und Anlernausbil-dung, während nur 15 Prozent ein Fachschul-, Fachhochschul-oder Hochschulstudium absolviert haben. Gleichzeitig verdienenvollerwerbstätige Arbeitnehmerinnen im Durchschnitt 25 bis 30

Nur muß der Begriff der Ar-beit weiter gefaßt werden.Vgl. Für eine Zukunft in Soli-darität und Gerechtigkeit,hrsg. vom Kirchenamt derEvangelischen Kirche inDeutschland und vom Se-kretariat der Deutschen Bi-schofskonferenz, Gemeinsa-me Texte 9, Hannover –Bonn 1997, S. 62.

22 Milton Friedman, in: In-ternational Labour Review,Mai/Juni 1987, S. 263.

23 Siehe hierzu die ent-sprechende Konzeption vonJeremy Rifkin: Das Endeder Arbeit, Frankfurt/NewYork 1996, S. 182.

24 Vgl. Christina Schenk:Die PDS und der Feminis-mus – ein noch ungeklärtesVerhältnis, in: Frigga Haug,Ursula Schröter, ChristinaSchenk: Links und femini-stisch, Controvers, Berlin1996, S. 42.

25 Zum Problem von farbi-gen Frauen auf dem Ar-beitsmarkt generell vgl.Keith Grint: The Sociologyof Work, Cambridge 1991,S. 259-265; Patricia Hill Col-lins: The Social Constructionof Black Feminist Thought,in: Signs, Nr. 14, 1989, S.745-773; Bell Hooks: Black

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Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen, was dem seit län-gerem juristisch festgeschriebenen Grundsatz »Gleicher Lohn fürgleiche Arbeit« immer noch auf grausame Art Hohn spricht. Trotzaller Bemühungen liegt der Anteil der Studentinnen an den Hoch-schulen der alten Bundesländer immer noch bei nur 40 Prozent, derin den neuen Bundesländern bei 46 Prozent. »Die negativen Aus-wirkungen tradierter Rollenmuster beschränken sich nicht auf dieAufstiegsmöglichkeiten, sondern berühren den gesamten Bereichvon Ausbildung und Beruf«.26 Gleichzeitig sind Frauen am stärk-sten durch die Flexibilisierung der Arbeitswelt, der Kürzung vonSozialleistungen und von Rationalisierungsmaßnahmen betroffen.Von daher stellen sie auch den größten Anteil der sogenannten»Neuen Armen« in der westlichen Welt.27

Dies ist von den allermeisten Männern – bewußt und unbewußt– so gewollt. Denn der von Elizabeth Janeway detailliert unter-suchte, jahrtausende alte Mythos der Sinnhaftigkeit einer Welt der»starken« Männer, die den »schwachen« Frauen ihren Platz zuge-wiesen haben, führt zu der Konsequenz: »Die männliche Normal-biographie ist der Standard, sie ist die Norm für die Berufsarbeit.Frauen weichen ab; ihre Andersheit ist nicht Verschiedenheit, sieist Devianz.«28 Wollen Männer die Norm erfüllen, müssen sie sichdie Arbeitswelt als Domäne erhalten und die Frau im Haus lassen.Von daher ist auch der »berufstätige Mann« ein sinnloser Begriff:»Männer im erwerbsfähigen Alter gehen immer einer bezahltenBeschäftigung nach, oder sie sind arbeitslos. Nur für Frauen isteine Lebenssituation ohne Beruf vorstellbar und gesellschaftlichakzeptiert: die Rolle der Mutter.«29 So hat sich in der patriarchali-schen Gesellschaft die Erwerbsarbeit für die meisten Männer alsSelbstwertmaßstab herausgebildet, was sie damit in der Rolle desArbeiten-Müssenden gefangen hält. Sucht mensch nach einerGesellschaftsordnung, in der Männer und Frauen die gleichenMöglichkeiten zur Entfaltung ihres Selbst und Realisierung ihrerVorstellungen für ein erfülltes Leben haben sollen, so ist jederAnsatz, Frauen einen besseren Zugang zur patriarchalischen Ar-beitswelt zu schaffen oder Frauen in der existierenden Gesell-schaftsordnung mit Männern gleichstellen zu wollen, bereits zumScheitern verurteilt. Soll es zu einem gleichwertigen Neben- undMiteinander von Frauen und Männern kommen, dann darf dieMännerwelt und der Mann nicht mehr die Norm und der Bezugs-punkt bleiben.

Da das patriarchalische System sich über tausende von Jahrenverfestigt hat, ist mit einer tiefgreifenden Änderung erst zu rech-nen, wenn neben den gesetzgeberischen und gesellschaftspoliti-schen Maßnahmen gleichzeitig auch durch vorbildhaftes Verhaltender Erziehungsberechtigten bzw. Bezugspersonen den Kinderneine Alternative – soweit es nur irgend möglich ist – vorgelebtwird, damit alle anderen Maßnahmen einen Nährboden finden undwir aus unseren anerzogenen Rollenklischees herausfinden. Inlogischer Folge muß auch in Kindergärten, Horten und Schulenden tradierten Rollenbildern entgegengewirkt werden, was zumeinen in modellhaften Versuchen an einzelnen Schulen bereitspraktiziert wird30, zum anderen aber durch eine dahinführende,

Looks. Popkultur – Medien– Rassismus, Berlin 1994sowie Elke Amberg: Wir set-zen dem Rassismus unse-ren Mut entgegen, in: Frank-furter Rundschau vom 14.Juni 1997.

26 Gisela Helwig: Ausge-staltung des Gleichberechti-gungsgebots, in: Frauen inDeutschland, Informationenzur politischen Bildung, 1.Quartal 1997, Heft Nr. 254,S. 16-26 (Zitat S. 26).

27 Vgl. Maria Mies: Patri-archat und Kapital – Frauenin der internationalen Arbeits-teilung, Zürich 1992, S. 28.

28 Zitat aus: SieglindeRosenberger: Geschlechter,Gleichheiten, Differenzen,Wien 1996, S. 85. Zum My-thos der Frauenrolle sieheElizabeth Janeway: Man’sWorld, Woman’s Place, NewYork 1971.

29 Dieter Schnack undThomas Gesterkamp:Hauptsache Arbeit, Reinbekbei Hamburg 1996, S. 189.Die Autoren stellen gleich-zeitig beispielhaft dar, wieschwer es auch oft Männerndurch ihre Umwelt gemachtwird, aus diesem Rollenkli-schee auszubrechen. Siehedazu auch Ulrich Beck: Risi-kogesellschaft - Auf demWeg in eine andere Moder-ne, Frankfurt 1986, S. 161-204.

30 Siehe zum Beispiel dieBeschreibung von Karl Ge-bauer: Turbulenzen im Klas-senzimmer - EmotionalesLernen in der Schule, Stutt-gart 1997, S. 37-46. Auchwenn Gebauer keine »revo-lutionär linken« Modellver-suche beschreibt, so zeigenseine Beispiele bereits heu-te bestehende Möglichkei-ten auf, tradiertes Verhaltenabzubauen.

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spezifische pädagogische Ausbildung der Betreuerinnen und Be-treuer und von Lehrerinnen und Lehrern auf eine allgemein gültigeBasis gestellt werden muß. (Da Bildungspolitik immer noch An-gelegenheit der Bundesländer ist, könnte z.B. die PDS auf entspre-chende Änderungen hinwirken.) Nur so können dann auch alsKonsequenz die immer noch vielfach existierenden starren,geschlechtsfixierten Berufsbilder, vor allem im Handwerk, korri-giert werden.

Im Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte derVereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 heißt es unter ande-rem: »Jeder Mensch hat das Recht auf Leben.« Was gehört aberzum Leben? Auf der Fachtagung »Multimedia und Arbeitswelt«,veranstaltet von der Industriegewerkschaft Medien und der Deut-schen Postgewerkschaft am 3. und 4. Februar 1997 in Bonn, mein-te der amerikanische Professor Joseph Weizenbaum, daß zumGrundrecht auf Leben auch das Recht auf Nahrung und Wohnunggehöre. Das wirkt auf den ersten Blick selbstverständlich. Dennohne Nahrung und (zumeist) ein Dach über dem Kopf könnendie meisten Menschen nicht leben. Wie sieht es aber in der Realitätaus? Für beides müssen sie arbeiten, wenn sie denn Arbeit finden.Das ist ein massiver Widerspruch. Für Nahrung und Wohnungdürften sie gar nicht arbeiten müssen, wenn sie wirklich ein Rechtauf Leben haben sollen. Dies klingt zuerst einmal utopisch, abernur, weil wir es seit Jahrtausenden gewohnt sind, uns abzuschuften,um uns und unsere Kinder zu ernähren. Nur heißt das nicht, daßdas richtig ist. Der erste Ansatz ist die Abschaffung der auf Waren-produktion ausgerichteten Gesellschaft, auch wenn dies ebenfallsreichlich utopisch klingt, wie zum Beispiel Ernst Lohoff erst kürz-lich vermerkt hat.31 Am deutlichsten hat diese Forderung bislangRobert Kurz ausgeführt: »Der jetzt geforderte ›dritte Weg‹ kannkein Mittelweg mehr sein. Er muß in eine Gesellschaft jenseitsvon Markt und Staat führen, d.h. in die Aufhebung des modernenwarenproduzierenden Systems. ... Damit fällt auch der ›Arbeits-platz‹-Fetischismus, weil die individuelle Reproduktion in einerentmonetarisierten, inhaltlich vernetzten Gesellschaft nicht mehrvon der Verausgabung abstrakter Arbeitskraft in ebenso abstraktenbetriebswirtschaftlichen Vernutzungsprozessen abhängig gemachtwerden kann.«32 Was zuerst wie eine Kritik an Marx wirkt und mitder These des Demokratieverlustes bei Fortfall der Lohnarbeitunvereinbar ist, bedeutet in Wahrheit nur eine konsequente Fort-entwicklung Marxscher Ideen, wie auch der Rezensent des Kurz-schen Buches Der Kollaps der Modernisierung, Rudolf Hickel, am4.Januar 1992 in der Frankfurter Rundschau dem Autor attestierte.

Jede Analyse sowie Kritik der Situation und jedwedes Ent-wickeln von Utopien muß jedoch eines Tages an der Umsetzbarkeitdieser Gedanken meßbar sein. Vom »müssen« und »sollen«weitergehend, kommt es nunmehr darauf an, Umsetzungsschrittezu entwickeln und die Kräfte und Prozesse zu benennen, die dieVeränderung unserer Gesellschaft herbeiführen hilft. Auch wennsich die unterschiedlichsten Kräfte und Personen diverser politi-scher Couleur in der westlichen Welt einig sind, daß Veränderun-gen nötig sind und wir unsere Gesellschaft verändern müssen,

31 Ernst Lohoff: editorial,in: Krisis Nr. 18. März 1996,S. 5.

32 Robert Kurz: Der Kol-laps der Modernisierung,Leipzig 1994, S. 310f.

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so sind wir doch in großen Teilen noch weit von einer neuensozialistischen Gesellschaft entfernt und müssen sehen, wie wirim Bereich des Möglichen Veränderungen dahingehend herbei-führen, ohne nur plakativ nach der Abschaffung der Warengesell-schaft zu rufen. Hier kommen den Einzelnen, den Parteien, Gewerk-schaften und der Regierung unterschiedliche Aufgaben zu, diewiederum alle ineinandergreifen müssen.

Erstens: Der erste Schritt auf dem Weg zu einer neuen Gesell-schaft ist die Willensbildung der Menschen. Über die politischeDiskussion im kleinsten Kreis, das vorbildhafte Verhalten derIndividuen, der Erziehung von Hort bis Hochschule, bis hin zuden Medien und den Diskussions-Kreisen, Veröffentlichungen,bzw. Veranstaltungen von Parteien kann eine breite, allgemeineAkzeptanz für die Umgestaltung wachsen. Dies mündet in dennächsten Schritt, in dem die Legislative durch geeignete Struk-turmaßnahmen die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffenhat, damit sich das, was die einzelnen erkannt haben, auch um-setzen läßt.

Zweitens: Ein weiterer, kleiner (wenn auch wichtiger) Schritt aufdem langen Weg in eine neue Arbeitswelt, in der Arbeit ganzallgemein als selbstbestimmter, freiwilliger, kreativer Gestaltungs-prozeß zwischen Mensch und Natur definiert wird, ist sodann zumBeispiel die Schaffung eines neuen Steuermodells, das weit überdie »Reformansätze« der SPD mit ihrer geforderten Senkung derLohnnebenkosten, der Entlastung des konsumintensiven Einkom-mens und der Unternehmenssteuerreform hinauszugehen hat,da die von der SPD geforderten Veränderungen letztendlich nursystemstabilisierend wirken. Nicht mehr die menschliche Arbeit,sondern der Produktionsausstoß von Betrieben ist zu besteuern(gerade wenn sie mehr und mehr vollautomatisch produzieren!).Eine Umweltsteuer muß eingeführt werden, in der Betriebedazu angehalten werden, nicht nur schadstoffarm zu produzieren,sondern ihren Abfall auch entsprechend zu entsorgen. Je höherdie Gefahr für die Allgemeinheit aus den Abfallprodukten seinkönnte, desto höher müßen nicht nur die Auflagen, sondern auchdie Steuern für diese Unternehmen ausfallen. Als entscheidenderSchritt muß eine hohe Kapitalertragsteuer für all die Unternehmeneingeführt werden, die nicht in Form von Kooperativen mehrheit-lich den Beschäftigten gehören. Dies knüpft an Überlegungenan, die z. B. der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler DavidMiller in seinem Buch Market, State, and Community und derÖkonom John Roemer entwickelt haben. Nach Millers Modell»sind Kooperativen die dominante Unternehmensform« in demvon ihm propagierten Marktsozialismus. »Jede Kooperative ent-scheidet selbst über ihre Produkte, Produktionsmethoden, Preise,usw. und konkurriert auf dem Markt mit anderen Kooperativen. ...Die erwirtschafteten Nettogewinne fließen in eine Gemeinschafts-kasse, aus der dann Einkommen gezahlt, Rücklagen gebildet wer-den usw.«33 Dies geht weit über die zu Recht kritisierte Arbeitneh-merbeteiligung als sogenannter »Königsweg« zur Sicherung vonArbeitsverhältnissen hinaus.34 Auch die Quotierung ist in neuerForm einzurichten. So sehr sie in ihrem Bezug auf die patriarchali-

33 Zitiert nach ThomasBonschab: Marktsozialismusals neues Gesicht, in:Frankfurter Rundschau vom18. März 1997.

34 Zur Kritik an diesemModell vgl. zum BeispielThomas Enke: Arbeitneh-merbeteiligung – kein Königs-weg für sichere Jobs, in:Disput, Nr. 7, 1997, S. 7f.

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sche Gesellschaftsordnung für Feministinnen ein Paradoxon dar-stellt, so ist eine Form denkbar, in der zum einen auch Männerder Quotierung dergestalt unterliegen, daß kein Arbeitsplatz für sieohne gleichzeitig bezahlte Zeit für Arbeit im Reproduktions-bereich, im Sozialen und Ökologischen garantiert wird35 und zumanderen jede erziehende Frau und alleinerziehende Männer eineum mindestens 25 Prozent erhöhte Entlohnung (die Erhöhungmüßte möglicherweise in der ersten Stufe vom Staat subventioniertwerden) erhalten. Der Gesetzgeber hat auch – als ersten »kleinen«Schritt – für die notwendige legislative Basis für Übergänge zwi-schen Kurz- und Vollzeitbeschäftigung (z.B. Flexibilisierung derArbeitszeit, Kurzarbeitergeld auch im öffentlichen Dienst, etc.),zwischen Arbeitslosigkeit und Beschäftigung (ABM, Strukturpoli-tische Lohnsubventionen, etc.), zwischen Bildung und Beschäfti-gung (Umschulung, Fort- und Weiterbildung), zwischen privaterTätigkeit und Erwerbstätigkeit (Elternurlaub, Sabbatical) und zwi-schen Beschäftigung und Rente oder Pension (Teilzeitrente, Lohn-subventionen für Ältere) zu sorgen, wie zum Beispiel Dieter Kleinim Kommentar Zur Programmatik der Partei des DemokratischenSozialismus36 hervorgehoben hat. All diese Maßnahmen wie auchradikalere Arbeitszeitverkürzungen werden zunehmend auch vonführenden Wirtschaftswissenschaftlern dringend empfohlen, wiezum Beispiel von Arne Heise vom Wirtschafts- und Sozialwissen-schaftlichen Institut in Düsseldorf.37

Drittens: Um all diese Maßnahmen finanzieren zu können,bedarf es zusätzlich zum normalen Gesetzgebungsverfahren aucheiner Verfassungsänderung, um die Aufteilung der Staatseinnah-men neu zu regeln und damit das Steueraufkommen anders zu ver-teilen. Dann kann der Bundeshaushalt der BRD neu strukturiertund alleine der Verteidigungshaushalt drastisch reduziert werden,um Mittel in die Kommunen zurückfließen zu lassen, die dieseverstärkt für die Entlohnung sogenannter gemeinnütziger Aufga-ben wie Alten- und Krankenpflege, Betreuung und Umweltpflegeund -schutz auszugeben haben. So ist eine spezielle Pflege- undBildungssteuer für größere Betriebe denkbar, die direkt für Pflege,Betreue und Bildung, bzw. Ausbildung gedacht ist. Auch die Er-richtung von Prestigebauwerken bestimmter Unternehmensgrup-pen wie Banken, Versicherungen und Autohersteller muß so hochbesteuert werden, daß die entsprechenden Rückflüsse den Kommu-nen zugute kommen. Bei der ebenfalls denkbaren Einführung einesMindesteinkommens sind vor allem Menschen (ob Mann oderFrau), die Kinder aufziehen, durch besondere Zulagen wirtschaft-lich zu kompensieren bzw. dem Arbeitslohnempfänger gleichzu-stellen. In Verbindung mit der Entwicklung von Teilzeitbeschäfti-gungsverhältnissen, der zu erwartenden deutlichen Zunahme vonTeleheimarbeitsplätzen und dem durch Outsourcing bedingtenAnwachsen von abhängigen Selbständigen wird sich dann nichtnur das Wirtschafts- sondern auch das Gesellschaftsgefüge verän-dern. Die community im Sinne einer engen, überschaubaren Nach-barschaft wird das Industrieballungszentrum und die Stadt alsMittelpunkt des Erwerbslebens ablösen. Hausarbeit und Erwerbs-tätigkeit werden untrennbar miteinander verbunden sein.

35 Zu dem kompliziertenThema der Quotierung vgl.z.B. Frigga Haug: Frauen-Politiken, Hamburg – Berlin1996, S. 35-45.

36 Zur Programmatik derPartei des DemokratischenSozialismus, Ein Kommen-tar, herausgegeben von:Gesellschaftsanalyse undPolitische Bildung e.V.,Berlin 1997, S. 171.

37 Vgl. Arne Heise: Arbeitfür Alle – Vision oder Illusion?,Marburg 1996, S. 290ff.

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Viertens: Hier sind als weiterer Schritt dann die Gewerkschaftenund Arbeitgeber gefragt, als Partner nicht nur die in vielen Berei-chen sich bereits entwickelnde Willensbildung der Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer umzusetzen, sondern gemeinsam Wegezu finden, zum einen die bereits vorhandenen Regelungen auszu-schöpfen und zum anderen durch neue Vereinbarungen denGesetzgeber zum Handeln zu zwingen, wie z.B. VW mit seinenArbeitszeitkonten-Regelungen die Regierung zum Erarbeiten vonentsprechenden Gesetzentwürfen genötigt hat. In den Bereich derbereits heute tarifierbaren Regelungen gehören das Verankern vonmehr Teilzeitarbeitsplätzen mit garantiertem Rückkehrrecht, dieArbeitszeitverkürzung mit integrierter Fort- und Weiterbildungs-verpflichtung (Modell: z.B. 36-Stunden-Woche, davon gehen 2Stunden fest für entsprechende Bildungsveranstaltungen weg, blei-ben 34 Stunden als disponierbare Arbeitszeit bei einer vertragli-chen Arbeitszeit von 32 Stunden, was bedeutet, daß pro Wocheautomatisch zwei Stunden als Mehrarbeit dem Langzeitarbeitskon-to für z.B. ein Sabbatical oder Verkürzung der Lebensarbeitszeitgutgeschrieben werden), Altersteilzeit-, Zeitkonten- und Teleheim-arbeit. Allerdings setzt dies nicht nur bei den Arbeitgebern, sondernauch bei vielen Gewerkschaften Umdenkprozesse voraus, z.B.was das Verhältnis zu neuen Technologien anbelangt. Historischbegründbar und verständlich haben sich Gewerkschaften ganz all-gemein gegen neue Technologien gewandt, wenn diese sich alsJob-Killer erwiesen haben. In der IG Druck und Papier (später IGMedien) waren die Setzer die ersten, die diesen Prozeß mitgemachthaben. Das Beispiel der Setzer zeigt aber gerade auch, daß man mitder klassischen Abwehrhaltung die neuen Technologien weder ver-hindern, noch alte Berufsbilder retten kann und man gleichzeitigdas Vertrauen der jungen Kolleginnen und Kollegen verliert, diemit diesen Technologien gut zu leben und umzugehen wissen, einpositives Verhältnis dazu haben und Gewerkschaften daher nichtals Partner sehen, sondern für einen aussterbenden Dinosaurier hal-ten. Von daher haben die Gewerkschaften die Informations- undKommunikationstechnologien als Chance demokratischen Lernensund eines allgemeinen Informationszugangs zu begreifen. Sie müs-sen sich im Bereich audio-visuelle Medien mit den heutigen undvor allem den Zukunftsmöglichkeiten der neuen Techniken ausein-andersetzen, dürfen sie nicht a priori ablehnen, sondern kritisch be-trachten und Szenarien entwickeln, wie sie in Zukunft damit um-zugehen denken und wo sie Entwicklungen begrüßen, wo ableh-nen, neue Arbeitsorganisationen und Berufsbilder mitgestalten(wie teilweise bereits geschehen) und Schutz vor radikaler Selbst-ausbeutung bzw. absoluter Abhängigkeit fordern bzw. anbietenkönnen. Der Sachverstand hierzu ist in vielen Betrieben bereitsvorhanden, was auch die Betriebs- und Personalräte in die Pflichtnimmt.

Fünftens: Darüber hinaus ist es mehr denn je – nicht nur aufGrund der Internationalisierung des Kapitals, sondern speziell auchwegen des engeren Zusammenwachsens von Europa – dringendnotwendig, daß sich systemkritische Parteien und die Gewerk-schaften über den bis dato klassischen Austausch von Grußadres-

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sen hinaus in internationaler Zusammenarbeit verbinden, um ge-meinsam Strategien zu entwickeln, die man dem bereits sehr gutinternational zusammenarbeitenden Kapital entgegensetzen kann.

Da kaum von einer »Einsicht« der Kapitalisten in die Abschaf-fung der Warengesellschaft ausgegangen werden kann und schlag-artige revolutionäre Veränderungen nicht zu erwarten sein dürften,sind die erwähnten »kleinen« Schritte die ersten notwendigenMaßnahmen, um eine grundlegende Veränderung unserer kapitali-stischen Gesellschaftsordnung zu erreichen und die Menschenmit den Möglichkeiten der Veränderung und einer sozialistischenGesellschaft vertraut zu machen. Die angestellten Überlegungensollen daher nur als kurzer Abriß Handlungsnotwendigkeiten undChancen in einer sich verändernden Arbeitswelt skizzieren, wobeider Überschaubarkeit wegen bewußt auf eine detaillierte Darstel-lung des Komplexes der Internationalisierung von Arbeit und derglobalen Arbeitswelt mit den verschiedenen Entwicklungsphasenin den Schwellen- und Dritte-Welt-Ländern verzichtet wurde. Nuram Rande sei noch erwähnt, daß die Hoffnung vieler, die neuenTechnologien auf der Basis der Digitalisierung schüfen neueArbeitsplätze, zur Zeit wenig begründbar erscheint.38 Durch die Digitalisierung und die Verbreitung von Daten-Netzen kommt esgerade in den Bereichen wie Reisen/Transport, Finanzdienstlei-stungen, Verarbeitung und Softwareentwicklung zu einem globalenOutsourcing. So verdienen Software-Programmierer und Ingenieu-re in Indien zum Beispiel zwischen einem Fünftel und einem Ach-tel des Monatsgehalts ihrer Kollegen in den USA, Westeuropa undJapan, wobei Programmierer in Rußland und China noch wenigererhalten und von daher stark auf den internationalen Markt drän-gen. Der Arbeitslosigkeit jedenfalls läßt sich heute aufgrund desAbbaus der klassischen Industriearbeitsplätze und des Übergangsder Unternehmen vom traditionellen Großbetrieb über die Aufspal-tung in kleinere Kernbetriebe hin zum »virtuellen Unternehmen«jedoch nur begegnen, indem man entweder radikal zum Manche-ster-Liberalismus zurückkehrt wie zur Zeit in Ländern wie denUSA, England oder den Niederlanden oder mit einem neuen Wirt-schafts- und Gesellschaftssystem.

38 Die Unternehmensbe-ratungsfirma Arthur D. Littlekam in diesem Zusammen-hang zu dem Schluß, daßin Europa im Laufe dernächsten zehn Jahre 4 Mil-lionen neuer Multimedia-Arbeitsplätze entstehen wer-den. FAZ vom 28. April 1994und vom 19. Januar 1995.

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Die Auseinandersetzungen um die Wege zur Bekämpfung derMassenarbeitslosigkeit werden gegenwärtig durch ein Phänomencharakterisiert: Das Ausmaß der Massenarbeitslosigkeit sowie diepolitischen, sozialen und ökonomisch-finanziellen Bedrohungen,die von ihr ausgehen, nehmen ständig zu, die Maßnahmen, siezurückzudrängen und neue Arbeitsplätze zu schaffen, erweisensich hingegen als wirkungslos bzw. angesichts der Größe des Pro-blems als völlig inadäquat. In fast allen EU-Ländern sind trotz desrelativ günstigen Verlaufs der Wirtschaftskonjunktur der letztenJahre die Arbeitslosenquoten weiter angestiegen. Hiervon sindbesonders Frauen und Jugendliche betroffen.

Daraus ergeben sich neue Herausforderungen an eine zumvorherrschenden Neoliberalismus alternative Wirtschafts-, Beschäf-tigungs- und Sozialpolitik. Die Bekämpfung der Massenarbeitslo-sigkeit ist zur Schlüsselfrage einer linken Reformstrategie gewor-den. Von ihr werden die Ergebnisse der gesellschaftlichen Ausein-andersetzungen auf anderen wichtigen Politikfeldern entscheidendbeeinflußt: die Erhaltung und Weiterentwicklung des Sozialstaates,die Überwindung der Krise der öffentlichen Haushalte, der öko-logische Umbau in Richtung nachhaltiger, zukunftsfähiger Ent-wicklung.

Von diesen Überlegungen ausgehend, sollen einige für ein alter-natives Konzept zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit undfür den linken Diskurs wichtige Fragen aufgeworfen und erörtertwerden.Welches sind die veränderten Bedingungen in bezug auf die Mas-senarbeitslosigkeit, die bei einer realistischen alternativen Politikberücksichtigt werden müssen?Ist Vollbeschäftigung unter den heutigen Bedingungen noch einrealistisches Ziel?Worin bestehen die spezifischen Aspekte der Arbeitslosigkeit undihrer Bekämpfung in ökonomisch schwachen Regionen zum Bei-spiel in Ostdeutschland?

Bedingungen in der Massenarbeitslosigkeit Mitte/Ende der neun-ziger JahreDie wichtigste Schlußfolgerung soll vorangestellt werden: Ohneneue Überlegungen sowie soziale und institutionelle Innovationenauf den hierfür relevanten Gebieten wird es nicht gelingen, dieMassenarbeitslosigkeit zu überwinden und wirksame Schritte zu

Klaus Steinitz – Jg. 1932;Prof. Dr., Leiter der Arbeits-gemeinschaft Wirtschafts-politik beim Parteivorstandder PDS und Herausgeberder Schriftenreihe »Beiträgezur Wirtschaftspolitik«;zuletzt in »UTOPIE kreativ«:»Massenarbeitslosigkeit –ein unentrinnbares Schick-sal?«, Heft 69/70 (Juli/August 1996).

86UTOPIE kreativ, H. 85/86 (November/Dezember) 1997, S. 86-99

KLAUS STEINITZ

Massenarbeitslosigkeit in den neunziger Jahren – Schlußfolgerungenfür linke Alternativen

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einer Vollbeschäftigung neuer Art zu gehen. Soll die Massenar-beitslosigkeit wirksam bekämpft werden, so müssen Politik undInstrumentarium nicht nur weiterentwickelt, sondern umgestaltetwerden.

Vor allem folgende veränderte Bedingungen und Zusammenhän-ge sind zu berücksichtigen:

Erstens unterscheidet sich die Massenarbeitslosigkeit heutewesentlich von der Arbeitslosigkeit in den sechziger und siebzigerJahren in ihrem Ausmaß, in ihren weit stärkeren gesamtgesellschaft-lichen, ökonomischen und sozialen Wirkungen sowie in ihren Be-ziehungen zum Konjunkturzyklus.

Mit fast vier Millionen offiziell registrierten Arbeitslosen imDurchschnitt der Jahre 1994 bis 1997 ist die Arbeitslosenquote inder Bundesrepublik mehr als viermal so hoch wie in den sechzigerund siebziger Jahren. Die Arbeitslosenquote auf Basis der regi-strierten Arbeitslosen lag bis 1973 unter zwei Prozent und in derzweiten Hälfte der siebziger Jahre zwischen 2,5 und 4,5 Prozent,gegenwärtig liegt sie über 11 Prozent (berechnet als Verhältnis derArbeitslosen zu allen Erwerbspersonen, wenn richtigerweise dieArbeitslosenquote als Verhältnis der Arbeitslosen zu den »abhängi-gen Erwerbspersonen« berechnet wird, liegt sie um mehr als einenProzentpunkt höher). Von offener und verdeckter Arbeitslosigkeitsind fast acht Millionen Menschen (22 Prozent der »abhängigenErwerbspersonen«) betroffen.

Auf die Massenarbeitslosigkeit ist es vor allem zurückzuführen,daß die ökonomisch-finanziellen, sozialen und demokratischenGrundlagen der Gesellschaft untergraben werden. Vor allem ge-fährdet sie die sozialen Sicherungssysteme, indem von immer we-niger Beitragszahlern (Erwerbstätigen) Sozialleistungen für mehrMenschen getragen werden müssen. Die finanziellen Belastungender öffentlichen Haushalte durch die Arbeitslosigkeit (Ausgabenund Einnahmeausfälle) betrugen in Deutschland nach offiziellenAngaben 1996 rund 160 Mrd. DM. Das sind etwa 10 Prozent derEinnahmen der öffentlichen Haushalte durch Steuern und Sozial-beiträge oder 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. 1997 werdensie trotz Leistungskürzungen nochmal um eine zweistellige Mil-liardengröße zunehmen. Gegenüber dem Zeitraum 1975 bis 1980sind diese fiskalischen Belastungen im Jahresdurchschnitt auf dassechsfache angewachsen.

Die Beziehungen zwischen konjunkturellen und strukturellenFaktoren der Arbeitslosigkeit haben sich verändert.

Der Begriff »strukturell« muß jedoch näher bestimmt werden,da ihm verschiedene Inhalte zugeordnet werden. Die Neoliberalenheben ebenfalls strukturelle Ursachen der Arbeitslosigkeit hervor,verstehen jedoch darunter vor allem, daß die Arbeitsmärkte zuunflexibel, zu stark reguliert sind und daß die Löhne dem (Über-)Angebot an Arbeit nicht angepaßt, zu hoch sind. Im folgenden wirdder Begriff strukturell in einer völlig anderen Bedeutung verwen-det, im Sinne der Prozesse, die unter dem Stichwort »Krise desFordismus« subsumiert werden können. Der für den Fordismuswesentliche Zusammenhang zwischen Wachstum von Massenpro-duktion, Massenkaufkraft und Massenkonsum, der auch zu einem

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Zuwachs an Beschäftigung führte, war in den Industrieländern inden sechziger und siebziger Jahren bestimmend. Dieser Zusam-menhang wird heute zunehmend untergraben und aufgelöst. DieSchwächung der Massenkaufkraft, ihr Zurückbleiben hinter derEntwicklung des Produktionspotentials und der Produktivität wirdzur wichtigsten unmittelbaren Ursache steigender Arbeitslosigkeit.Mit der geringen Wirtschaftsdynamik verschieben sich auch dieGewichte zwischen den verschiedenen Wegen zur Profiterhöhung.Bei geringem Wachstum des Produktionsvolumens oder sogar beiStagnation wird es zu einem Kernproblem der Unternehmen, dieKosten zu senken, so daß die Profitmasse erhöht werden kann.Damit wird der Druck auf die Umwälzung der gesamten Betriebs-weise zur Einsparung von Ressourcen und Aufwendungen, vorallem zur Senkung der Arbeitskosten durch massenhafte Freiset-zung von Arbeitskräften, in neuer Art und Weise zu einer Schlüs-selfrage der Kapitalverwertung.1 Die mit geringerem Wirtschafts-wachstum einhergehende forcierte Umverteilung von unten nachoben schwächt den Binnenmarkt und damit auch die wirtschaftli-chen Antriebskräfte.

Zweitens ist die Massenarbeitslosigkeit mit Veränderungen in derWirkung vieler, die Erwerbsarbeit beeinflussender Faktoren ver-bunden. Sie reichen von der Individualisierung der Lebensstile undInteressen sowie entsprechender Differenzierung der an die Arbeitgestellten Anforderungen, über die zunehmende Berufstätigkeitder Frauen, Veränderungen in den Wirtschafts- und Beschäftigten-strukturen bis zu den veränderten Spielräumen nationaler Wirt-schafts- und Beschäftigungspolitik.

Deutlich wird dies bei der Arbeitszeit. Im Vergleich zu densechziger und siebziger Jahren zeigt sich eine stärkere Interessen-differenzierung und Individualisierung der Arbeitsverhältnisse, dienatürlich eine einheitliche Strategie der Gewerkschaften zurArbeitszeitverkürzung erschweren. In der Bundesrepublik hat sichder Umfang der Wochenendarbeit seit 1965 etwa verdoppelt. DerUmfang von Teilzeitarbeit hat sich von vier Prozent 1960 auf 18Prozent 1995 und der Gleitzeitarbeit von sechs Prozent 1972 auf 26Prozent 1995 erweitert. Rund 80 Prozent aller abhängig Beschäf-tigten sind heute von irgendeiner Form flexibler Arbeitszeit betroffen.2

Die Erwerbstätigenstrukturen haben sich in den letzten Jahr-zehnten beträchtlich verändert: Von 1960 bis 1995 ging in West-deutschland die Anzahl der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft(einschließlich Forstwirtschaft und Fischerei) von 3,6 Millionenauf 0,8 Millionen und im verarbeitenden Gewerbe von 9,6 Millio-nen auf 7,8 Millionen zurück.3 Der Verlust von Arbeitsplätzen indiesen beiden Bereichen betrug 4,6 Millionen. Dieser Rückgangwurde durch den Zuwachs im tertiären Bereich (Handel und Ver-kehr, Dienstleistungsunternehmen – Kreditinstitute, Versicherun-gen, sonstige Dienstleistungsunternehmen –, Staat, private Haus-halte und Organisationen ohne Erwerbszweck) um rund 7,5Millionen Erwerbstätigen mehr als ausgeglichen. Der Zuwachs derErwerbstätigen von 1960 bis 1995 beruhte vor allem auf Dienstlei-stungsunternehmen (von 1,8 Millionen auf 5,2 Millionen) undStaat (von 2,4 Millionen auf 4,2 Millionen). Die Anzahl der

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Erwerbstätigen im Handel und Verkehr stieg nur von 4,8 Millionenauf 5,5 Millionen. Seit 1992 kehrt sich jedoch der bisherige Trendum. Die Erwerbstätigenzahl ging seitdem in den Bereichen Handelund Verkehr sowie Staat absolut zurück und stagnierte im gesam-ten tertiären Bereich. Diese Tendenz wird sich in den nächsten Jah-ren fortsetzen. Die Möglichkeiten, den Arbeitsplatzabbau in denproduzierenden Bereichen durch Zuwächse im tertiären Bereich»abzupuffern«, nehmen nicht nur ab. Der Rückgang der Erwerbs-tätigen in verschiedenen Dienstleistungsbereichen – in ihnen gibtes angesichts der Revolution in den Informationstechniken ein sehrgroßes Rationalisierungspotential – wird selbst zu einer Quellezunehmender Arbeitslosigkeit.

Schließlich muß in diesem Zusammenhang noch die zunehmen-de Entsicherung der Arbeitsververhältnisse hervorgehoben werden.Der Anteil prekärer, wenig geschützter und diskriminierender Ar-beitsverhältnisse (befristete Beschäftigung, Leiharbeit, neue Heim-arbeit, geringfügige Beschäftigung, Scheinselbständigkeit, Be-schäftigte in Kleinbetrieben mit verringertem Kündigungsschutz)hat sich in den letzten Jahren beträchtlich vergrößert. Eine beson-ders rasche Ausweitung erfahren Formen der abhängigen Selbstän-digkeit oder Scheinselbständigkeit, die vor allem im Ergebnisder Auslagerung von Unternehmensfunktionen oder -teilfunktio-nen entstehen. Gegenwärtig sind rund ein Viertel aller Erwerbstäti-gen von mindergeschützten Beschäftigungsformen betroffen.4 Die-se Tendenzen der Entsicherung der Arbeitsverhältnisse spielt in derUnternehmensstrategie eine doppelte Rolle – einerseits als Instru-ment zur Kostensenkung und andererseits zur flexiblen Reaktionauf veränderte Bedingungen.5

Mindergeschützte Beschäftigungsverhältnisse bewirken, daßbisher von den Unternehmern getragene Risiken immer mehr aufdie Beschäftigten und auf die Gesellschaft – Sozialversicherungenund Sozialhilfe – verlagert werden. Die Nachteile für die Beschäf-tigten liegen insbesondere in dem relativ geringen Verdienst, in derhöheren Arbeitsplatzgefährdung, in der unterdurchschnittlichenBeschäftigungsdauer und in den stark eingeschränkten Qualifizie-rungs- und beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten. Hinzu kommt,daß mindergeschützte Arbeitsverhältnisse in Deutschland bishergrößtenteils nicht durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze entstan-den sind, sondern indem geschützte derart umgewandelt wurden.Die negativen Wirkungen prekärer Arbeitsverhältnisse werdennoch dadurch verstärkt, daß sie eng mit anderen Formen der Dis-kriminierung und Ausgrenzung verbunden sind. Der Anteil vonFrauen, von Ausländern und davor Langzeitarbeitslosen an denin prekären Arbeitsverhältnissen Beschäftigten ist überdurch-schnittlich hoch.

Diese Tendenzen unterstreichen, wie notwendig es ist, bei derAnalyse von Arbeitslosigkeit und Beschäftigung nicht dabei stehenzu bleiben, wie viele irgendwie beschäftigt sind, sondern größeresGewicht auf die Art und Qualität der Tätigkeiten zu legen. LinkePolitik darf sich nicht auf Forderungen wie: »Arbeit, Arbeit,Arbeit!« oder »Arbeit muß her!« beschränken. Sie muß vielmehrdarauf konzentriert werden, neue Arbeitsplätze zu schaffen und

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zugleich die Bedingungen für sinnvolle, menschenwürdige, exi-stenzsichernde Arbeit zu sichern bzw. zu verbessern.

Drittens gewinnen die regionalen Unterschiede hinsichtlichHöhe und Struktur der Arbeitslosigkeit – sowohl zwischen den EU-Ländern als auch zwischen Regionen innerhalb von Ländern – eingrößeres Gewicht.

In Deutschland hat sich mit der Art und Weise der Transforma-tion der DDR-Wirtschaft in eine kapitalistische Marktwirtschaftdiese regionale Problematik dramatisch verschärft. Sie führte zurVernichtung von rund 40 Prozent der 1989 vorhandenen Arbeits-plätze, in der Industrie sogar von mehr als zwei Dritteln; die offi-zielle Arbeitslosenquote war im ersten Quartal 1997 mit über 18Prozent fast doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern mit10 Prozent – nach dem Herbstgutachten der Wirtschaftsforschungs-institute wird diese Divergenz 1998 noch zunehmen: in denneuen Bundesländern auf 19,6 Prozent, in den alten Bundesländernauf 9,5 Prozent. Die reale Arbeitslosigkeit oder »Unterbeschäftigung«beträgt fast 30 Prozent und in einigen Gebieten Ostdeutschlands 50Prozent. Der Anteil der Beschäftigten in arbeitsmarktpolitischenMaßnahmen (verdeckte Arbeitslosigkeit) betrug bisher das Mehr-fache Westdeutschlands, wobei sich in der letzten Zeit infolgedrastischer Mittelkürzungen eine Angleichung an die Verhältnisseder alten Bundesländer vollzieht. Frauen sind weit stärker von derArbeitslosigkeit, insbesondere der Langzeitarbeitslosigkeit betrof-fen (60 bzw. 75 Prozent aller Arbeitslosen bzw. Langzeitarbeitslo-sen sind in Ostdeutschland Frauen). Verzerrte Beschäftigtenstruk-turen haben sich herausgebildet: im Baugewerbe waren z.B. 1996ebenso viele beschäftigt wie im gesamten verarbeitenden Gewerbe,der relative Anteil der in Forschung und Entwicklung Beschäftig-ten beträgt in Ostdeutschland nur noch ein Drittel des Anteils inden alten Bundesländern. Der starke Zuwachs der Selbständigenwiderspiegelt zum Teil, daß der Schritt in die Selbständigkeit mitall seinen Risiken für viele der einzige Ausweg aus der Arbeitslo-sigkeit ist. Die Arbeitslosigkeit ist auch in den Jahren hoher Zu-wachsraten des Bruttoinlandsprodukts in Ostdeutschland (1992-1994) kaum geringer geworden. Seit Anfang 1995 ist die Anzahlder Erwerbstätigen von Quartal zu Quartal beständig zurückgegangen.

Kann Vollbeschäftigung noch ein realistisches Ziel sein?Der Begriff Vollbeschäftigung geht auf J. M. Keynes zurück und istein wesentliches Element der von ihm begründeten Wirtschafts-theorie und -politik. Im Gegensatz zur Neoklassik geht Keynesdavon aus, daß ein Zustand der Vollbeschäftigung nicht automa-tisch durch die »Selbstheilungskräfte« des Marktes hergestelltwird. Keynes sah im volkswirtschaftlichen Nachfragemangel dieeigentliche Ursache der Arbeitslosigkeit, und daher in der makro-ökonomischen Steuerung der Nachfrage nach Konsumgütern undInvestitionen – z.B. durch öffentliche Beschäftigungsprogramme –den Hauptansatzpunkt, um zu einem Gleichgewicht auf Basis vonVollbeschäftigung zu kommen.

Vollbeschäftigung bedeutet grundsätzlich, daß jeder, der aufdem Arbeitsmarkt seine Arbeitskraft anbietet, auch eine Beschäfti-

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gungsmöglichkeit erhält. Praktisch wird jedoch Vollbeschäftigungso aufgefaßt, daß darin eine bestimmte Arbeitslosenquote, die sichinsbesondere aus saisonalen Schwankungen, regionalen Entwick-lungsproblemen, Strukturveränderungen ergibt, eingeschlossen ist.Es gibt nun verschiedene Ansätze, die »tolerierbare« Arbeitslosen-quote zu bestimmen. Als ein quantitativer Maßstab für einen Zu-stand der Vollbeschäftigung wird davon ausgegangen, daß die Zahlder »offenen Stellen« nicht geringer sein dürfe als die Zahl der»registrierten Arbeitslosen«. Danach bestand in der Zeit nach derÜberwindung der Nachkriegsarbeitslosigkeit seit 1960 – als erst-mals die Zahl der offenen Stellen die der Arbeitslosen überstieg –bis 1973 »Vollbeschäftigung«. Es wird auch versucht, Vollbeschäf-tigung mit Hilfe bestimmter Zielvorgaben, die sich tendenziell er-höht haben, zu bestimmen. Zunächst wurden 1 bis 3 Prozent als imRahmen der Vollbeschäftigung liegend angesehen, heute schon biszu 5 Prozent. Diese fehlende Eindeutigkeit des Begriffs »Vollbe-schäftigung« erschwert natürlich seine Verwendung.

Zwischen diesen Problemen der Bestimmung von Vollbeschäfti-gung und den Marxschen Untersuchungen zur industriellen Reser-vearmee oder der »Überbevölkerung« als »einer Existenzbedin-gung der kapitalistischen Produktionsweise« besteht eine gewisseAnalogie.6 Die relative Überbevölkerung existiert nach Marx indrei Formen: »flüssige, latente und stockende«. Bei einer weitenAuslegung der Vollbeschäftigung könnte davon ausgegangen wer-den, daß die fließende oder flüssige Überbevölkerung zumindestteilweise – soweit die Zeit der Erwerbslosigkeit zeitlich kurz istund relativ rasch eine neue Beschäftigung gefunden wird – hierinenthalten ist. Zur Arbeitslosigkeit jenseits einer weit gefaßten Voll-beschäftigung würden vor allem die stockende Überbevölkerungmit einer sehr unregelmäßigen Beschäftigung, aber auch Teile derfließenden und der latenten Überbevökerung gezählt werden müssen.

Die Widersprüchlichkeit und fehlende Eindeutigkeit des BegriffsVollbeschäftigung könnte ein Grund sein, ihn nicht bei der Bestim-mung der Aufgaben und Ziele einer alternativen Wirtschaftspolitikzu verwenden und ihn durch einen anderen Begriff zu ersetzen.Dies wäre jedoch m. E. nicht richtig. Einerseits nimmt dieser Be-griff schon traditionell in den gewerkschaftlichen Kämpfen und inden Auseinandersetzungen mit dem Neoliberalismus einen wichti-gen Platz ein. Andererseits würde mit einem anderen Begriff diefehlende Eindeutigkeit auch kaum behoben werden.

Aus den veränderten Bedingungen ergibt sich die Konsequenz,daß eine »keynessche Vollbeschäftigung«, wie sie in den meistenIndustrieländern in den sechziger und siebziger Jahren zeitweisevorhanden war, heute nicht mehr realisiert werden kann. Heißtdies, daß wir uns vom Ziel der Vollbeschäftigung verabschiedenmüssen? Dies ist nur dann und insoweit notwendig, soweit es sichum traditionelle Vorstellungen von Vollbeschäftigung handelt. Wirkönnen und sollten jedoch bei dieser Zielstellung bleiben, wennwir entsprechend den eingetretenen Veränderungen, von denWidersprüchen und Chancen der heutigen Entwicklung ausgehend,eine Vollbeschäftigung neuer Art anstreben. Sie ist eine unmittel-bare Konsequenz aus den oben charakterisierten neuen Bedingun-

»Die kapitalistische Akku-mulation produziert viel-mehr, und zwar im Verhält-nis zu ihrer Energie undihrem Umfang, beständigeine relative, d.h. für diemittleren Verwertungsbe-dürfnisse des Kapitals über-schüssige, daher überflüssi-ge oder Zuschuß-Arbeiter-bevölkerung. (...) Sie schafftfür seine wechselnden Ver-wertungsbedürfnisse dasstets bereite exploitableMenschenmaterial, unab-hängig von den Schrankender wirklichen Bevölke-rungszunahme. (...) Abge-sehn von den großen, peri-odisch wiederkehrendenFormen, welche der Pha-senwechsel des industri-ellen Zyklus ihr aufprägt, sodaß sie bald akut in den Kri-sen erscheint, bald chro-nisch in den Zeiten flauenGeschäfts, besitzt sie fort-während drei Formen: flüssi-ge, latente und stockende.«Karl Marx: Das Kapital,Erster Band, in MEW, Bd.23, S. 658, 661 und 670.

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gen, sie wird durch eine andere Qualität, einen veränderten Inhaltbestimmt und erfordert schließlich auch neue Wege bzw. Realisie-rungsrichtungen. Eine solche Vollbeschäftigung neuer Art sollteein bestimmendes Element alternativer Wirtschaftspolitik an derSchwelle der Jahrtausendwende sein.

Als wesentliche Elemente einer Vollbeschäftigung neuer Art bzw.von Veränderungen gegenüber der traditionellen Vollbeschäftigungkönnen angesehen werden:

Erstens: Die Vollzeiterwerbsbiographie kann nicht mehr wiefrüher das Kriterium und die allein bestimmende Grundlage fürVollbeschäftigung sein. Vielmehr setzt Vollbeschäftigung heuteund in Zukunft voraus:

• veränderte Beziehungen zwischen Vollzeit- und Teilzeitarbeits-verhältnissen – Teilzeitarbeiten (damit auch die darauf beruhendensozialen Probleme);

• größere Variabilität in der Gestaltung des Arbeitslebens – Unter-brechungen im Arbeitsleben (Kindererziehung, Sabbaticals,fließende Übergänge in das Rentenalter, u.a.);

• mehrmaliger Wechsel des Arbeitsplatzes bzw. Unterbrechungender Arbeitstätigkeit sowie Veränderungen in den Arbeitsinhaltenund der beruflichen Qualifikation infolge struktureller und techno-logisch-organisatorischer Veränderungen sowie Rationalisierungs-maßnahmen;

• veränderte Relationen zwischen abhängig Beschäftigten undSelbständigen.

Bei dieser größeren Variabilität der Arbeitsverhältnisse bekämp-fen sich zwei entgegengesetzte Tendenzen, einerseits die Erosiondes Normalarbeitsverhältnisses in Richtung Deregulierung undEntsicherung im Profitinteresse der Unternehmer, andererseits diestärkere Prägung der Arbeitsverhältnisse durch Individualisierungund größere Zeitsouveränität im Interesse der abhängig Beschäf-tigten. Mit diesen Veränderungen im Erwerbsleben treten auchneue Fragen der sozialen Sicherheit in den Vordergrund. Die bis-herige direkte Abhängigkeit der sozialen Leistungen von der gear-beiteten Zeit muß in Richtung einer nicht Arbeitszeit abhängigensozialen Grundsicherung – vor allem für Zeiten der Erwerbslosig-keit und für das Alter – modifiziert werden.

Zweitens: Die Wege zur Vollbeschäftigung verändern sich: DasWirtschaftswachstum verliert aus verschiedenen Gründen, insbe-sondere wegen der Umweltgefährdung, an Bedeutung, Vollbe-schäftigung kann nicht mehr erreicht werden auf der Grundlageallein privatwirtschaftlicher, profitorientierter Erwerbsarbeit. DieHerausbildung eines öffentlich geförderten gemeinnützigen Sek-tors für gesellschaftlich notwendige und nützliche aber betriebs-wirtschaftlich nicht profitable Arbeiten wird zu einer unerläßlichenBedingung und zum Bestandteil der Vollbeschäftigung.

Das heißt, Vollbeschäftigung neuer Art setzt auch eine neuartigeKombination marktwirtschaftlicher, profitorientierter Erwerbsar-beit und öffentlich geförderter Erwerbsarbeit voraus.

Drittens: Vollbeschäftigng neuer Art verlangt, die Gleichstellungder Geschlechter in der Erwerbsarbeit zu sichern und eine gleich-berechtigte Teilung der bezahlten Erwerbsarbeit und der unbezahl-

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ten Familien- oder Reproduktionsarbeit zwischen Männern undFrauen anzustreben.

Viertens: Das Ziel der Vollbeschäftigung darf nicht darauf be-grenzt werden, jedem, der an der Erwerbsarbeit teilnehmen will,irgendeinen Arbeitsplatz anzubieten. Vielmehr müssen die qualita-tiven Aspekte der Arbeit, ihr Inhalt und ihr Beitrag zur Selbstver-wirklichung der Menschen, und auch die Umweltverträglichkeitder Arbeit in die Vollbeschäftigung neuer Art integriert werden.Dies setzt eine neue Qualität demokratischer Mitbestimmung inden Betrieben voraus.

Fünftens: Für die Vollbeschäftigung neuer Art ist auch ein verän-dertes Verhältnis zwischen der direkten Arbeit oder Beschäftigungund der Bildung charakteristisch. Einmal gewinnt die Bildung, ins-besondere Weiterbildung, Qualifizierung und auch Umschulung,einen höheren Stellenwert für die Beschäftigungschancen, zum an-deren werden sich auch die quantitativen Beziehungen zwischenunmittelbarer Arbeitszeit und Bildungszeit wesentlich zugunstender letzteren verändern.

Vollbeschäftigung neuer Art bedeutet somit, daß sich der Inhaltder Vollbeschäftigung, die Wege sie zu erreichen und auch dieBeziehungen zu anderen Politikfeldern wandeln.

Auf dem Hintergrund der tiefgreifenden technologischen Verän-derungen und der Umgestaltung der gesamten gesellschaftlichenBetriebsweise ist die eskalierende Massenarbeitslosigkeit Resultatder Unterordnung aller Vorgänge unter das Erfordernis kapitalisti-scher Produktionsverhältnisse, hohe Unternehmensprofite zu erzie-len sowie einer fehlerhaften, inadäquaten Wirtschafts-, Beschäfti-gungs- und Sozialpolitik. Die neoliberale Politik versagt bei derBekämpfung der Arbeitslosigkeit, indem sie nicht nur ungenügend,sondern direkt kontraproduktiv auf die veränderten Bedingungenund Herausforderungen reagiert und zudem noch die falschen po-litischen Prioritäten setzt. Das »Beschäftigungswunder« in denUSA macht nur das Dilemma des Neoliberalismus deutlich: Dieneuen Jobs beruhen zu einem großen Teil auf prekären, unge-schützten Arbeitsverhältnissen und führen zur Ausdehnung von Ar-mut in der Arbeit. Der Rückgang der offiziellen Arbeitslosenquo-te in den USA und auch in Großbritannien beruht zudem zu einemnicht geringen Teil darauf, daß durch statistische Tricks die Ar-beitslosenzahlen nach unten gedrückt werden.

Die bisherigen Wege und Instrumente zur Bekämpfung derArbeitslosigkeit – Wachstum, steigender Exportüberschuß, tradi-tionelle Arbeitsmarktpolitik – reichen, abgesehen von den ökologi-schen und anderen Konflikten, die sich aus einer Orientierung aufhohes Wachstum und größere Exportüberschüsse ergeben, nichtaus. Das neoliberale Konzept der Lohnkürzung, der Senkung vonSozialleistungen, der Deregulierung und Entfesselung der Markt-kräfte, kann zwar zeitweilig zu einem gewissen Zuwachs anArbeitsplätzen, vor allem an Billigjobs und in ungeschützten Ar-beitsverhältnissen, führen. Dies geschieht jedoch zu einem sehrhohen Preis: Soziale Polarisierung und Segmentierung spitzen sichweiter zu, der Sozialstaat wird ausgehöhlt, die Impulsfunktion desBinnenmarkts und insgesamt die Zukunftsfähigkeit der Gesell-

»Bei Löhnen, die so markt-gerecht sind, daß sich dieUnternehmer genug Gewin-ne aus der Beschäftigungzusätzlicher Arbeitskräfte er-hoffen können, herrschtVollbeschäftigung... (...) Ausalledem folgt, daß Deutsch-land heute unter einer struk-turellen Arbeitslosigkeit lei-det, wesentlich bedingt da-durch, daß die Tariflöhne imNiveau zu hoch sind und inihrer Struktur nicht zu denKnappheitsrelationen derGegenwart und Zukunft pas-sen. Alte Besitzstände sindzementiert. Die vertikaleLohnskala ist von unten herkomprimiert, so daß einfa-che Arbeit mehr kostet alssie wert ist. (...) So gesehenzahlen die Arbeitslosen alsAußenseiter heute den Preisdafür, daß die Beschäftigtenals ‘Insider’ sich einen Real-lohn erkämpft und gesicherthaben, der zu hoch ist, ummit Vollbeschäftigung ver-einbar zu sein.«Herbert Giersch: Die Indu-strie und das Beschäftigungs-system im weltweiten Struk-turwandel, in: Arbeit der Zu-kunft, Zukunft der Arbeit,Stuttgart 1994, S. 167 u. 169.

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schaft werden untergraben. Langfristig werden hierdurch nichtMassenarbeitslosigkeit zurückgedrängt, sondern vielmehr nochmehr Arbeitsplätze vernichtet.

Wege zur Schaffung neuer Arbeitsplätze, zur Bekämpfung derMassenarbeitslosigkeit und damit auch für eine Vollbeschäftigungneuer Art sind:

Erstens: Die Herausbildung eines öffentlich geförderten gemein-nützigen Beschäftigungssektors.

Er könnte als ein dritter Sektor bezeichnet werden, der wederzum ersten (»Normal«)Arbeitsmarkt gehört, noch dem sozial dis-kriminierten und im wesentlichen auf eine zeitweilige Brücken-funktion zum ersten Arbeitsmarkt reduzierten zweiten Arbeits-markt zugerechnet werden kann. Die Notwendigkeit eines solchengemeinnützigen Leistungsbereichs ergibt sich vor allem daraus,daß es einen riesigen Umfang gesellschaftlich notwendiger undnützlicher Arbeiten im sozial-kulturellen und Umweltbereich, beider Stadt- und Wohngebietssanierung sowie auf anderen Gebietengibt, die nicht erledigt und sogar zunehmend vernachlässigt wer-den, weil sie sich unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nichtrentieren, betriebswirtschaftlich uneffektiv sind.

Ein solcher öffentlich geförderter Beschäftigungssektor als dau-erhaftes und perspektivisches Element der Beschäftigungssiche-rung, der auch frei von tariflicher Diskriminierung sein muß, ist un-ter den heutigen und zukünftigen Entwicklungsbedingungen eineunverzichtbare Voraussetzung für Vollbeschäftigung. Er könntezum größten Feld sozialer und institutioneller Innovationen wer-den. Er ist, ausgehend von den kapitalistischen Grundstrukturender Erwerbsarbeit, zunächst ein gewisser Fremdkörper, der sich nurentfalten kann, wenn vorhandene Blockierungen aufgebrochenwerden. Es ist daher notwendig, seine Stellung im System der Er-werbsarbeit, seine Verflechtungen mit den anderen Bereichen, sei-ne Spezifika und Gemeinsamkeiten genauer zu bestimmen. Dazugehört auch der Nachweis, daß er seinem Wesen nach keineöffentlich finanzierte Konkurrenzinstitution zur Privatwirtschaftoder zum öffentlichen Dienst sein soll, und daß das Prinzip derGemeinnützigkeit durchaus auch mit ökonomischer Effizienz undRationalität zu verbinden ist. Es müßte weiter über mögliche Re-gelungen nachgedacht werden, wie Gemeinnützigkeit mit dem In-teresse an guten Ergebnissen bzw. hoher Wertschöpfung verbundenwerden kann, und wie die erzielten ökonomischen Resultate auchzu seiner eigenen Stabilisierung und Ausdehnung verwendet, ins-besondere direkt als Finanzierungsquellen genutzt werden können.

Dieser »dritte Sektor« enthält ein großes Potential neuer Mög-lichkeiten nicht nur zur Schaffung gesellschaftlich nützlicher undökologisch sinnvoller Arbeitsplätze, sondern ebenfalls zur Demo-kratisierung des Wirtschaftslebens und zur Entfaltung selbstbe-stimmter Formen des Wirtschaftens, zur Zurückdrängung derDominanz des Profitprinzips und zur Stärkung öffentlichen undgenossenschaftlichen Eigentums, zur Verbindung von Beschäfti-gungssicherung mit aktiver, zukunftsorientierter Strukturgestal-tung, zur Herausbildung und Stärkung regionaler Wirtschaftskreis-läufe. Er eröffnet im Unterschied zu anderen Modellen der Be-

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schäftigungsförderung bessere Möglichkeiten, die sogenannte»Zielgruppenförderung« (Langzeitarbeitslose, gering Qualifizierte,Menschen mit Behinderungen u.a.) in die allgemeine Struktur- undBeschäftigungspolitik zu integrieren.

Ein solcher neuer öffentlich geförderter Beschäftigungssektorwird sich besser entfalten können, wenn an schon vorhandeneStrukturen und Erfahrungen des »zweiten Arbeitsmarkts« ange-knüpft wird, an Struktur- und Beschäftigungsgesellschaften, anABM-Projekte sowie an bestehende Selbsthilfeprojekte, an sozia-le, kulturelle und feministische u.a. Initiativen.

Probleme der Finanzierung des öffentlich geförderten Beschäfti-gungssektors ergeben sich nicht daraus, daß er insgesamt zu teuerist, sondern vor allem daraus, daß die Einsparungen und Ausgabenjeweils andere Institutionen und Ressorts betreffen, die durch hoheMauern voneinander getrennt sind, und daß sie auch zeitlich mehroder weniger stark auseinanderfallen. Regelungen, die es ermögli-chen, Einsparungen an einer Stelle, z.B. der Bundesanstalt für Ar-beit und der Haushalte der Kommunen (Wegfall von Sozialleistun-gen für bisher Erwerbslose), zur Finanzierung von Projekten desöffentlich geförderten Beschäftigungssektors wirksam zu machen,wären eine zukunftsweisende soziale Basisinnovation für dieBekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Nach vorliegenden Un-tersuchungen könnten die Aufwendungen, einschließlich Investi-tionen und andere Sachleistungen, für die in einem solchen öffent-lich geförderten Sektor Beschäftigten durch an anderen Stellen freiwerdende Mittel bzw. zusätzliche Einnahmen zu über 60 bis 70Prozent refinanziert werden. Ein wichtiger Schritt könnte die vonder Bundestagsgruppe der PDS vorgeschlagene Schaffung einesföderal gegliederten und demokratisch verwalteten Fonds fürsoziale und ökologische Gemeinschaftsaufgaben sein.7

Zweitens: Eine differenzierte und flexible Politik der Arbeitszeit-verkürzung, die zu größeren Beschäftigungseffekten beiträgt. Füreine Beurteilung der Zusammenhänge zwischen Arbeitszeitverkür-zung, möglichem Lohnausgleich und Beschäftigungsentwicklunggibt die Entwicklung der letzten Jahrzehnte Aufschlüsse.8 Im Ver-laufe von 30 Jahren, von 1965 bis 1995, ist im früheren Bundesge-biet die Anzahl der Erwerbstätigen um rund 1,7 Millionen (von26,8 Millionen auf 28,5 Millionen, 106,5 Prozent) und die Anzahlder beschäftigten ArbeitnehmerInnen um 3,8 Millionen (von 21,6Millionen auf 25,4 Millionen, 117 Prozent) gestiegen. Im selbenZeitraum ging das Arbeitsvolumen aller Erwerbstätigen von 54,8Mrd. Stunden auf 44,4 Mrd. Stunden – auf 81 Prozent – zurück.Damit sank die durchschnittliche Jahresarbeitszeit je Erwerbstäti-gen auf 76 Prozent, von 2.047 Stunden auf 1.559 Stunden. Die Re-duzierung des gesamten Arbeitsvolumens um 10,4 Mrd. Stundenentspricht der Erwerbsarbeit von rund sechs einhalb Millionen Er-werbstätigen. In derselben Zeit stiegen die Bruttolöhne je beschäf-tigten ArbeitnehmerIn auf das 5,8fache. Hieraus ergibt sich: Ohnedie beträchtliche Senkung der Arbeitszeit wäre es zu einem größe-rem Rückgang der Anzahl der Erwerbstätigen gekommen. Auchunter Berücksichtigung der Preissteigerung sind die realen Lohn-einkommen je Beschäftigte in diesem Zeitraum, in dem die durch-

»Der Keynesianismus be-trachtet die Realität wie sieist. Zwischen Wirklichkeitund theoriebildender Refle-xion wird kein metaphysi-scher Filter eingeschoben.Die These vom marktauto-matisch bewirkten (Voll-)Beschäftigungsgleichge-wicht wird nicht bestrittenbzw. widerlegt, weil etwader Keynesianismus eineGegenmetaphysik zurGleichgewichtstheorie ver-träte, sondern weil die Rea-lität jene These tagtäglichwiderlegt und in großen Kri-sen der Marktautomatismusimmer weiter vom Vollbe-schäftigungsniveau weg-führt. Keynes behaupteteauch keineswegs, daß Voll-beschäftigung – und zwarauf Dauer – unmöglich wä-re, sondern Gleichgewichtund Krise sind ErgebnissewirtschaftspolitischenHandelns bzw. Nicht- oderFehlhandelns.«Karl-Georg Zinn: KritischeBemerkungen zur Metaphy-sik in der Politischen Öko-nomie, in: Frank Deppe,Sabine Kebir u.a.: Eckpunk-te moderner Kapitalismus-kritik, Hamburg 1991, S. 115.

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schnittliche Arbeitszeit um ein Viertel reduziert wurde, wesentlichgestiegen, brutto auf etwas mehr als das Doppelte, netto auf knappdas Anderthalbfache. Dies geschah natürlich nicht auf Kosten derProfite. Der Anteil der Gewinne und Vermögenseinkommen amVolkseinkommen lag 1995 in den alten Bundesländern unterBerücksichtigung des höheren Anteils der beschäftigten Arbeitneh-merInnen an den Erwerbstätigen höher als 1965.

Ohne weitere Arbeitszeitverkürzung wird es nicht gelingen, dieMassenarbeitslosigkeit zu überwinden und eine Vollbeschäftigungzu erreichen. Es müssen jedoch wesentliche Veränderungen in denRichtungen, der Differenziertheit sowie der sozialen Flankierungder Arbeitszeitverkürzung erreicht werden. Vollbeschäftigung neu-er Art bedeutet im Hinblick auf Arbeitszeitverkürzung u.a.:

• Generelle Arbeitszeitverkürzungen müssen besser mit indivi-duellen Gestaltungsmöglichkeiten entsprechend den spezifischenInteressen der Beschäftigten verbunden werden, d.h. eine höhereZeitsouveränität unterstützen.

• Die soziale Absicherung und Flankierung von Arbeitszeitver-kürzungen der verschiedensten Art – z.B. von Bildungsurlaub undanderen Arten zeitweiliger Freistellungen, der Erweiterung derTeilzeitarbeit und speziell des Übergangs größerer Gruppen vonErwerbstätigen zur Teilzeitarbeit, um dadurch zusätzliche Arbeits-plätze zu schaffen bzw. vorhandene zu sichern – gewinnt einenhöheren Stellenwert.

• Die Arbeitszeitverkürzung und die Gestaltung der konkretenArbeitszeitregimes müssen dazu beitragen, die Bedingungen fürFrauen zu verbessern, an der Erwerbsarbeit teilzuhaben.

• Die veränderten Bedingungen für Arbeitszeitverkürzung undSicherung der Arbeitsplätze werfen auch neue Probleme auf fürLohnausgleich bei Arbeitszeitverkürzung und zur Verknüpfung desLohnausgleichs mit Beschäftigungsgarantien, die weiter diskutiertwerden sollten. Voraussetzung für die Anwendung solcher diffe-renzierter Formen müßte immer die Zustimmung der Gewerk-schaft, der betroffenen Belegschaften bzw. der Betriebsräte sein.

Drittens: Eine aktive Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Ausbil-dungspolitik, die der Größe der Probleme und Herausforderungender Massenarbeitslosigkeit entspricht. Im Gegensatz zum neolibe-ralen Rückzug des Staates aus seiner wirtschafts- und beschäfti-gungspolitischen Verantwortung, setzt eine Vollbeschäftigungneuer Art auch eine neue Qualität staatlichen Engagements für dieSchaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen und vor allem ei-ne andere Politik voraus. Dies gilt vor allem für das Setzen andererpolitischer Prioritäten. Nicht Geldwertstabilität und Senkung deröffentlichen Schuldenquote dürfen für sich an der Spitze politi-scher Zielstellungen stehen. Vielmehr muß die Schaffung zu-kunftsfähiger Arbeits- und Ausbildungsplätze höchste wirtschafts-und finanzpolitische Priorität erhalten.

Eine aktive Struktur- und Beschäftigungspolitik ist für dieVollbeschäftigung neuer Art unverzichtbar. Die Schaffung neuerArbeitsplätze, indem die Felder gesellschaftlich nützlicher Er-werbsarbeit erweitert und die durch den Profit gezogenen Grenzenfür die Erwerbsarbeit überschritten werden, die Arbeit mit Hilfe

»Es gelingt nicht, steigen-des Produktionspotentialund Nachfrage in einemzur Vollbeschäftigung hinrei-chenden Gleichgewicht zuhalten. Deshalb ist die we-sentliche Ursache der Mas-senarbeitslosigkeit nicht aufder Angebotsseite, sondernauf der Nachfrageseite zusuchen. (...) Daher baut sichallmählich Massenarbeitslo-sigkeit auf. Arbeitslose ver-fügen über geringere Ein-kommen, so daß nunmehrneben der sättigungsbeding-ten Nachfrageverluste sol-che wegen fortfallenderMassenkaufkraft treten.Die Nachfrageschwächebeginnt sich in einem Teu-felskreis selbst zu verstär-ken: mehr Arbeitslose,weniger Nachfrage, nochmehr Arbeitslose, weitereNachfrageverluste usw.«Karl-Georg Zinn: Jenseitsder Markt-Mythen, Wirt-schaftskrisen: Ursachen undAuswege, Hamburg 1997,S. 67 und 74.

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von Arbeitszeitverkürzung gerechter verteilt werden kann unddurch eine höhere Massenkaufkraft der Binnenmarkt gestärkt wird,setzt eine neue Qualität staatlicher Wirtschaftspolitik voraus.

Vollbeschäftigung neuer Art verlangt jedoch auch, daß Arbeits-plätze nicht durch ungezügeltes, umweltschädliches Wachstumoder durch die Ausdehnung eines Niedriglohnsektors entstehen,sondern vielmehr auf einer ökologisch und sozial zukunftsfähigen,nachhaltigen Entwicklung beruhen. Diese kann jedoch nicht durchdie entfesselten Marktkräfte, sondern nur durch eine wirksame Ver-bindung von gesellschaftlicher Regulierung und Marktsteuerungerreicht werden.

Die Zurückdrängung der Massenarbeitslosigkeit und Schritte zueiner Vollbeschäftigung neuer Art verlangen beträchtliche finan-zielle Mittel, u.a. für den Auf- und Ausbau des öffentlich geförder-ten Beschäftigtensektors, für zeitweilige Lohnkostenzuschüsse beigrößeren Arbeitszeitverkürzungen, für die Erweiterung der Mög-lichkeiten der Länder und Kommunen zur Vergabe öffentlicherAufträge und zur Unterstützung von Existenzgründern sowie füröffentliche Investitions- und Beschäftigungsprogramme auf Län-der-, Bundes- und EU-Ebene. Eine aktive Beschäftigungspolitik istdaher sehr eng mit der Haushalts- und Finanzpolitik verflochten.Gerade an den Finanzierungsproblemen wird deutlich, daß dieBekämpfung der Massenarbeitslosigkeit nicht von einer offensivenVerteilungs- und Umverteilungspolitik zu trennen ist. In diesemSinne ist die Forderung nach einer sozialen und ökologischen Steu-erreform, die die seit Jahren forcierte Umverteilung von unten nachoben stoppt und eine Umverteilung von oben nach unten einleitet,unverzichtbarer Bestandteil des Kampfes gegen Massenarbeitslo-sigkeit. Die Politik der Bundesregierung, die auf Haushaltskonso-lidierung durch Sparen und Ausgabenkürzungen gerichtet ist, kannnicht dazu führen, die Massenarbeitslosigkeit zurückzudrängen.

In der Erklärung und in dem Memorandum europäischer Wirt-schaftswissenschaftler und Wirtschaftswissenschaftlerinnen »Voll-beschäftigung, sozialer Zusammenhalt und Gerechtigkeit – Füreine alternative Wirtschaftspolitik in Europa« vom Mai diesesJahres werden konkrete Vorschläge unterbreitet, um die Arbeits-losigkeit durch eine andere Politik auf den verschiedensten Gebie-ten, speziell Geldpolitik, Fiskalpolitik sowie Arbeitsmarkt- undWohlfahrtspolitik, zu bekämpfen.

Viertens: EU-weite Koordinierung wichtiger Elemente einer zu-kunftsorientierten Beschäftigungspolitik, die den veränderten inter-nationalen Verflechtungen, den intensiveren Abhängigkeitsver-hältnissen zwischen den nationalen Ökonomien und auch deneingeschränkten Spielräumen rein nationaler Arbeitsmarktpolitikentspricht.

Die Deregulierungswirkungen der entfesselten internationalenFinanzmärkte und unkontrollierte Währungstransaktionen, die ei-ner wirksamen Struktur- und Beschäftigungspolitik entgegenste-hen, müssen eingedämmt werden. Ohne eine Re-Regulierung in-ternationaler Finanz- und Geldbeziehungen im Rahmen der EUund auf internationaler Ebene nimmt die Gefahr weiter zu, daß be-schäftigungspolitische Konzepte und Maßnahmen einzelner Staa-

»Aus der nachfrageseitigenErklärung der Massenar-beitslosigkeit folgt nun aberkeineswegs, daß sich diewirtschaftlichen Problemeauf Dauer mittels Nachfra-gepolitik und orthodoxerWachstumsorientierunglösen lassen. (...) Die öko-logischen Globalschädenverbieten es, die Arbeitslo-sigkeit auf dem Weg einertraditionellen Nachfragean-kurbelung zu beseitigen...«Karl-Georg Zinn: Jenseitsder Markt-Mythen, Wirtschafts-krisen: Ursachen und Aus-wege, Hamburg 1997,S. 78, 48.

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ten untergraben oder sogar verhindert werden. Die Rahmenbedin-gungen des Maastrichter Vertrages müßten so verändert werden,daß die allein monetaristische Orientierung auf Geldwertstabilitätüberwunden und soziale und ökologische Kriterien bzw. Mindest-standards sowie Ziele zur Verringerung der Arbeitslosigkeit aufge-nommen werden.9

Eine beschäftigungspolitische Initiative auf EU-Ebene gehört zuden vordringlichsten Aufgaben im Kampf gegen Massenarbeitslo-sigkeit. Ein Schritt in diese Richtung könnte der in der erwähntenErklärung europäischer Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschafts-wissenschaftlerinnen enthaltene Vorschlag sein, ein großes Beschäf-tigungsprogramm aufzulegen, das auf einer erheblichen Ausweitungder öffentlichen Ausgaben beruht. Es soll aus zwei eng miteinanderverflochtenen Teilen bestehen, einer eigenen Investitionsinitiativeder EU für einige wichtige Bereiche, z.B. ökologisch verträglicheeuropäische Infrastrukturprojekte für Eisenbahnverbindungen unddezentrale Energieversorgung, und gemeinsam entwickelten undgut koordinierten Projekten auf nationaler und regionaler Ebene.

Spezifische Aspekte der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit inökonomisch schwachen Regionen – z. B. in OstdeutschlandZusätzliche Schwierigkeiten und Probleme bestehen in ökono-misch schwachen Regionen, weil meist eine überdurchschnittlichhohe Arbeitslosigkeit mit anderen negativen Faktoren zusammen-fällt: mit geringer Finanzkraft der kommunalen und anderen regio-nalen Institutionen, unterdurchschnittlich entwickelter Infrastruk-tur, schwachem wissenschaftlich-technologischen Hinterland so-wie einer hohen Fluktuation jüngerer Menschen, die keine Ausbil-dungs- und Arbeitsmöglichkeiten haben. Der höchste Saldo derFortzüge gegenüber den Zuzügen in den »Wanderungen« zwischenden neuen und den alten Bundesländern besteht in der Altersgrup-pe 18 bis 24 Jahre.

Zum Zeitpunkt der Vereinigung gab es in Ostdeutschland zwarbeträchtliche strukturelle und technologische Defizite in der Wirt-schaft, gleichzeitig waren aber ein relativ hohes Industrialisie-rungsniveau, gut ausgebildete Fachkräfte und ein recht leistungs-fähiges Forschungspotential vorhanden. Heute, sieben Jahre nachder Vereinigung, wird die Wirtschaftsregion der neuen Bundeslän-der u.a. dadurch charakterisiert, daß trotz mehrerer Jahre hoherZuwachsraten der Produktion, die gesamtwirtschaftliche Leistungnoch nicht wieder den Stand von 1989 erreicht hat, die Industrie-produktion sogar noch unter 50 Prozent des Produktionsausstoßes1989 liegt, das Forschungspotential auf ein Fünftel geschrumpftist. Die traditionellen regionalen Verflechtungsbeziehungen wur-den weitgehend zerschnitten. Die neuen Bundesländer wurden zueiner von Westdeutschland weitgehend abhängigen Wirtschaftsre-gion – rund 85 Prozent der Kapazitäten der Industrie sind in west-deutscher Hand.

Für eine Politik, die auf eine menschenwürdige, existenzsichern-de Arbeit für alle, die an der Erwerbsarbeit teilnehmen wollen, ge-richtet ist, ergeben sich aus den generellen Problemen ökonomischschwacher Regionen sowie aus den spezifischen ostdeutschen Be-

»Die Menschen werdennicht bereit sein, die funda-mentalen Veränderungen zuakzeptieren, die erforderlichsind, um dauerhafte Vollbe-schäftigung mit dauerhaftniedrigem Wachstum bzw.Wachstumsverzicht zu ver-einbaren, solange sie ihrematerielle Existenz durchMassenarbeitslosigkeit be-droht sehen. Die Rückkehrauf das Vollbeschäftigungs-niveau ist der Schlüsselzum klemmenden Schloßder Wohlstandsgesellschaftohne Wachstum. (...) ...daßNachfrageexpansion nurkurz- bzw. mittelfristig inFrage kommt bzw. kommensollte, während auf längereSicht weitreichende Verän-derungen im Wirtschaftsme-chanismus derart erforder-lich sind, daß Vollbeschäfti-gung bei dauerhaft niedri-gen Wachstumsraten, mögli-cherweise gar bei völligerStagnation, gewährleistetwerden kann. Dies erfordertUmverteilungen von Arbeitund Einkommen, also Ar-beitszeitverkürzungen, ver-bunden mit Maßnahmender Einkommensverteilung.«Karl-Georg Zinn: Jenseitsder Markt-Mythen, Wirtschafts-krisen: Ursachen und Aus-wege, Hamburg 1997,S. 78f.

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dingungen u.a. folgende Schlußfolgerungen, die hier nur stich-punktartig erwähnt werden können.

Die Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland kann nur dannzurückgedrängt werden, wenn es gelingt, die zerschnittenen regio-nalen Verflechtungen auf neuer Grundlage zumindest teilweisewiederherzustellen und eine innovative Re-Industrialisierung unterBeachtung ökologischer Erfordernisse zu erreichen. In Ostdeutsch-land kommt daher einer innovativen, stark regional orientiertenStrukturpolitik, ihrer Verbindung mit der Wirtschaftsförderung, ei-ne weit über das »Normale« hinausgehende Bedeutung zu. Diezielgerichtete Herausbildung zukunftsfähiger Strukturen als Trägerder Regionalentwicklung und die Förderung regionaler Verflech-tungsbeziehungen müßten in Ostdeutschland, grundsätzlich auchin Krisenregionen in den »alten« Bundesländern und in anderenEU-Ländern, zu tragenden Elementen einer Politik zur Verringe-rung der Arbeitslosigkeit werden.

Einem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor müßte für dieWirtschaftsentwicklung und die Schaffung von Arbeitsplätzen inden neuen Bundesländern, sowie generell in ökonomischschwächeren Regionen, eine besondere Bedeutung zukommen.Dies ergibt sich vor allem aus der überdurchschnittlich hohen Ar-beitslosigkeit dieser Regionen sowie daraus, daß eine regionaleStrukturentwicklung in den neuen Bundesländern auf der bisheri-gen Grundlage und mit den traditionellen Instrumenten der Ar-beitsmarktpolitik und der Wirtschaftsförderung kaum Chancenenthält, um aus der desolaten Situation herauszukommen.

Die Schaffung und Erweiterung eines öffentlich geförderten Be-schäftigungssektors könnte in ökonomisch schwächeren Regioneneine wichtige Rolle bei der Bekämpfung der Massenarbeitslosig-keit spielen. Sie könnte auch dazu beitragen, innovative Strukturenund den notwendigen Strukturwandel in Richtung höherer Anteilesozial-kultureller Dienstleistungen und des ökologischen Umbauszu fördern.

Anmerkungen

1 Vgl. Marco Revelli: Vom »Fordismus« zum »Toyotismus«, Das kapitalistische Wirtschafts-und Sozialmodell im Übergang, in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus, 4/97, S. 18.

2 Vgl. Joachim Bischoff, Richard Detje: Zeitsouveränität und politische Bewegung, in: Sup-plement der Zeitschrift Sozialismus, 9/96, S. 11f.

3 Vgl. zu diesen und den folgenden Angaben: Statistisches Jahrbuch 1995 für die Bundesre-publik Deutschland, S. 106/7; Jahresgutachten 1996/97 des Sachverständigenrates zur Be-gutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Tabelle 23.

4 Jahresgutachten 1996/97 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaft-lichen Entwicklung, S. 181.

5 Hildegard Matthies, Ulrich Mückenberger, Claus Offe, Edgar Peter, Sibylle Raasch: Arbeit2000, Anforderungen an eine Neugestaltung der Arbeitswelt, Hamburg 1994, S.175ff.

6 Vgl. Karl Marx: Das Kapital, Erster Band, in MEW, Bd. 23, S. 666ff.7 Vgl. Heidi Knake-Werner (Hrsg.): Uns geht die Arbeit aus und wird doch immer mehr, PDS

im Bundestag, Bonn 1997, S. 55ff.8 Die folgenden Berechnungen beruhen auf dem Tabellenteil des Jahresgutachtens 1996/97 des

Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Situation, Tabellen 23,30, 33, 73 und 77.

9 Vgl. Memorandum ’97, Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Köln 1997, S. 241.

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Wie sich weltweit von Tag zu Tag immer deutlicher abzeichnet,muß das auf Kredit- und Zinswirtschaft beruhende kapitalistischeFinanz- und Wirtschaftssystem aus Gründen der systemimmanentstetig anwachsenden Zinslasten immer daran scheitern, daß amEnde die gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten, die zur Bedie-nung der alle Bereiche der Volkswirtschaft überziehenden Zinsan-sprüche erforderlich sind, nicht mehr realisiert werden können. Istdieser Punkt erreicht, hat sich als zwangsläufige Folge der demSystem zugrunde liegenden Zinsmechanik – mit ihren vielfältigenMöglichkeiten zur Ausbeutung und Bereicherung – die Scherezwischen arm und reich immer weiter geöffnet. Großem Reichtumin den Händen weniger steht die große Bevölkerungsmehrheitgegenüber, die am Gesamtvermögen gar nicht oder nur geringfügigbeteiligt ist – und dies, obwohl der Reichtum Weniger gerade durchdie harte Arbeit der gesamten ökonomisch aktiven Bevölkerungmit erwirtschaftet worden ist (vgl. auch »UTOPIE kreativ« Heft 52:42ff. und Heft 73/74: 99ff.).

Soll das kapitalistische Finanzierungssystem zinsfrei und wachs-tumsunabhängig umgestaltet werden, ist es unumgänglich, die Besitz-stände der Reichen wegen der von ihnen herrührenden negativengesamtwirtschaftlichen Effekte, wie Nachfragerückgang, Reallohn-senkung, Sozialabbau und Massenarbeitslosigkeit in Wechsel-wirkung mit Pleiten und Betriebseinschränkungen, auf ein Maßzurückzuführen, das weitere schädliche Einflüsse auf den Wirt-schaftsprozeß ausschließt. Die Umverteilung der Besitzstände derVermögensbesitzer ist eine unabdingbare Voraussetzung für denÜbergang vom kapitalistischen zu einem zinsfreien und wachs-tumsunabhängigen Finanzierungssystem. Es liegt im Wesen dieserUmstellung begründet, daß sie sich mit Entschädigungsansprüchenim herkömmlichen Sinne nicht verträgt.

Prinzipiell stehen dem auch keine durchgreifenden, aus demGrundgesetz (GG) herzuleitende Einwände entgegen. Nach Artikel15 GG können Grund und Boden, Naturschätze und Produktions-mittel zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, dasArt und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentumoder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.Bezüglich der Entschädigung wird auf Artikel 14 Abs. 3 Satz 3 GGverwiesen. Danach ist die Entschädigung unter gerechter Abwägungder Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen.

Den historischen Hintergrund für die Einführung des Artikel 15

Herbert Niemann – Jg. 1924;Jurist, langjährige Tätigkeitin der Sozialversicherung,veröffentlichte u.a.: »ZurZukunft und Sicherheit vonRenten- und Versorgungs-ansprüchen« und »›Woh-nungskatastrophe‹. Ursa-chen und Auswege«; zuletztin »UTOPIE kreativ« Nr. 52(Februar 1995): »Kein Lichtim Tunnel. Die wachstums-zehrende Wirkung des Zin-ses und ihre Folgen« sowiein Nr. 73/74 (November/Dezember 1996): »Ist derKapitalismus am Ende? DieZinsfalle hat zugeschnappt«

100UTOPIE kreativ, H. 85/86 (November/Dezember) 1997, S. 100-107

HERBERT NIEMANN

Überlegungen zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft

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in das Grundgesetz bildeten die Erfahrungen mit dem kapitalisti-schen Wirtschaftssystem in der Zeit vor und zwischen den beidenWeltkriegen. Die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten istohne die wirtschaftlichen Verfallserscheinungen vor 1933 nichtdenkbar. In der Zeit, als das Grundgesetz entworfen und diskutiertwurde, war das spätere »Wirtschaftswunder« der fünfziger undsechziger Jahre auch nur andeutungsweise nicht vorhersehbar. ImGegenteil, sozialistisches Gedankengut als Alternative zu denwohlbekannten Defiziten des kapitalistischen Systems war nochnicht diskreditiert und in den Köpfen vieler herausragender Per-sönlichkeiten dieser Epoche tief verwurzelt. In weiser Voraussichtmöglicher Wiederholung kapitalistischer Verfallserscheinungen hatdie sozialistische Alternative in Artikel 15 GG ihre verfassungs-mäßige Grundlage gefunden. Wegen der Verweisung auf den Art.15 Satz 2 GG auf Art. 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 GG könnte eine ober-flächliche Betrachtung zu der Ansicht führen, daß hinsichtlich derEntschädigung bei einer Überführung von Privateigentum in Ge-meineigentum das Gleiche gelte wie bei einer Enteignung nachArt. 14 Abs. 3 Satz 1 GG. Denn nach Art. 14 Abs. 3, Satz 3 GGist bei einer Enteignung in jedem Einzelfall die Entschädigungunter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit undder Beteiligten zu bestimmen. Einer solchen, auf den Einzelfall aus-gerichteten Anwendung dieser Regelung auf Enteignungen nachArtikel 15 GG muß mit Entschiedenheit widersprochen werden.

Bei Enteignungen nach Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG ergibt sich inaller Regel die Höhe des Entschädigungsanspruchs daraus, daß einwirklicher Opferausgleich die im Einzelfall durch die Enteignungverletzte Gleichheit wiederherstellen soll. Enteignungen nach Arti-kel 14 GG sind – im Gegensatz zu Maßnahmen nach Artikel 15 GG– Einzelfälle. Demgemäß ist z.B. bei der Enteignung von Grund-stücken bei der Entschädigung der jeweilige Verkehrswert zugrun-de zu legen. Eine Vergesellschaftung dagegen zielt auf die bestehendeEigentumsordnung und Wirtschaftsverfassung insgesamt. Nicht dieVeränderung einzelner Eigentumstitel und Rechtslagen, sonderndie Umbildung wichtiger, für den Bestand von Wirtschaft und Staatgrundlegender Institutionen überhaupt ist ihr Wesen. Es bedarfkeiner näheren Darlegung, daß jede Überführung in Gemeineigen-tum im Rahmen der Regelungen nach Artikel 15 GG aufgrund derdamit verbundenen Finanzierungsprobleme praktisch auf ewig aus-geschlossen bliebe, wenn auch hier der Grundsatz der Entschädi-gung nach dem Verkehrswert gelten würde. Zur Erreichung des mitArtikel 15 GG ins Auge gefaßten Ziels bliebe nur die Möglichkeiteines gewaltsamen Umsturzes. Dem will gerade Artikel 15 GG aufrechtsstaatlichem Wege mit rechtsstaatlichen Mitteln vorbeugen.

In der BRD würde sich, wenn vom Verkehrswert ausgegangenwürde, die Entschädigung für in Gemeineigentum zu überführendeRechte an den Produktionsmitteln sowie an Grund und Boden wohlauf mehr als 10 Billionen DM belaufen. Die Entschädigung müßtedem zukünftigen Sozialprodukt entnommen werden, was wieder-um für einen unüberschaubar langen Zeitraum die Kaufkraft derübrigen Bevölkerung unerträglich mindern und als zwangsläufigeFolge für unabsehbare Zeit die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft

Im folgenden werden ein-schlägige Passagen ausdem Festvortrag vonW. Zeidler (seinerzeit Vize-präsident, später Präsidentdes Bundesverfassungsge-richts) auf dem 53. DeutschenJuristentag in Berlin 1980zum Thema:»Grundrechteund Grundentscheidungender Verfassung im Widerstreit«,erschienen im Verlag C.H.Beck, München, wiederge-geben.

»Gesetze sind nicht schondann ›verfassungsgemäß‹,wenn sie formell ordnungs-mäßig ergangen sind. Siemüssen auch materiell inEinklang mit den Grund-werten der freiheitlichdemokratischen Grundord-nung ... stehen, aber auchden ungeschriebenen ele-mentaren Verfassungs-grundsätzen und den Grund-entscheidungen des Grund-gesetzes entsprechen,vornehmlich dem Grundsatzder Rechtsstaatlichkeit unddem Sozialstaatsprinzip(BVerfGE 6,32).«

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zum Schaden des Gemeinwohls schwer beeinträchtigen würde.An die Stelle von mühelosen Einkünften aus Vermögen und Kapi-talanlagen würden Einkommensansprüche aus Entschädigungslei-stungen treten, die in ihrer ökonomischen Wirkung mühelosenZinseinkünften gleichzustellen wären. Die Teilung der Gesellschaftin arm und reich würde fortbestehen.

Unberücksichtigt bliebe dabei, wie es überhaupt in verhältnis-mäßig kurzer Zeit nach dem 2. Weltkrieg und nach der Währungs-reform 1948 zu der gigantischen Vermögensanhäufung bei einerverhältnismäßig kleinen Gesellschaftsgruppe kommen konnte.Eine realistische Betrachtungsweise führt schnell zu der Einsicht,daß sich im Eigentum an Produktionsmitteln sowie an Grund undBoden, soweit es sich nicht um Kleineigentum handelt, nicht dievon den Eigentümern durch angemessene Entlohnung eigenerArbeit und deren Verwertung erbrachte Eigenleistung widerspie-gelt. Die private Vermögensakkumulation großen Stils ist vor allemErgebnis und Folge des kapitalistischen Ausbeutungs- und Berei-cherungssystems, das bei geschickter Anlage vorhandener Vermögenderen relativ rasche Vermehrung ermöglicht. Dieser Vermögenszu-wachs geht freilich immer zu Lasten derer, die zwar die dafürnotwendigen produktiven Leistungen erbringen müssen, aber amZuwachs selbst nicht oder nur unzureichend teilhaben können. Diedem kapitalistischen System zugrunde liegende Gewinn- und Zins-mechanik macht unausweichlich die Reichen immer reicher unddie Armen tendenziell ärmer.

Ohne das für Investitionen jedweder Art durch die Sparer zurVerfügung gestellte Geld hätte die jetzt vorhandene Vermögensan-sammlung in privater Hand keine Basis gehabt. Sie wäre unmög-lich gewesen. Die alle Bereiche der Volkswirtschaft überziehendenZinslasten haben aber ihre Quelle nicht nur in der enormen Aus-weitung der umlaufenden Geldkapitalmenge, sondern auch in denEigentumsrechten am Produktionsapparat und den Rechten anGrund und Boden. Die Zinslasten – einschließlich aller Arten mühe-loser Einkünfte – belaufen sich in der BRD nunmehr auf mehrerehundert Milliarden DM pro Jahr. Da mühelose Einkünfte dauerhaftnur über das Wachstum im Bereich der Realinvestitionen erwirt-schaftet werden können, wirken sie bei unzureichenden Wachs-tumsraten wie eine Würgekette, die das gesamte Wirtschaftslebenzunehmend einengt und lähmt.

Ohne eine Währungsreform, die das Geldkapital auf einenBruchteil der umlaufenden Menge reduziert, ist ein wirtschaftlicherNeuanfang erfolgreich nicht in Gang zu setzen. Eine Abwertungder Spargelder und des sonstigen Geldkapitals auf fünf bis zehnProzent seines bisherigen Wertes erscheint unausweichlich, wennin der BRD das mit einer Währungsreform angestrebte Ziel einergesamtwirtschaftlichen Erholung erreicht werden soll.

Die von den Verfechtern kapitalistischer Wirtschaftsdogmengenährte Vorstellung, die Ansammlung von Geldvermögen sei fürden Sparer die Basis dauernden Wohlstands, zumindest eineverläßliche Absicherung gegen die Wechselfälle des Lebens, istIrreführung und Illusion zugleich. Das durch Sparen angesammelteGeldvermögen hat im kapitalistischen System lediglich Buchwert,

»Bei der ... Institutsgarantiedes Grundgesetzes mitherausragender Bedeutung– der Eigentumsgewährlei-stung in Artikel 14 Absatz 1– ist eine gleichartige Er-scheinung wie in Artikel 6Absatz 1 zu beobachten.Innerhalb des grundrechtli-chen Schutzbereiches ver-laufen die potentiellenKonfliktlinien entsprechendden unterschiedlichenFunktionen als subjektivesRecht, Institutsgarantie undwert-entscheidende Grund-satznorm. Die verfassungs-rechtliche Rechtsprechungder letzten Jahre hat mitzunehmender Deutlichkeitunterschieden zwischenzwei Aspekten des Eigen-tumsrechts: einmal seinerindividualbezogenen Kom-ponente, in der das Eigen-tum als zentrales Elementpersönlicher Freiheit, alssachliches Substrat eigen-verantwortlicher Lebensge-staltung bestätigt und unterbesonders nachhaltigenSchutz gestellt wird; zumanderen seiner sozialbezo-genen Komponente, in derdas Eigentum in das sozialeUmfeld des Eigentumsinha-bers dergestalt hineinwirkt,daß andere Menschen ihrer-seits auf dieses ihnen frem-de Eigentum angewiesensind, um ihren Anspruch aufein freiheitliches und men-schenwürdiges Leben ver-wirklichen zu können.«

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da es im volkswirtschaftlichen Reproduktionsprozeß verwendet,insbesondere in Sachkapital angelegt worden ist. So gesehen istdieses Geld nichts als eine mit Zinsansprüchen ausgestatteteFiktion. Das Spar- bzw. Geldvermögen ist wertmäßig nur solangevon Bestand, wie stetig neue Spareinlagen gebildet werden und vorallem wie die Zinsansprüche durch ein ausreichend hohes Wirt-schaftswachstum gedeckt werden. Reicht das Wachstum der Ge-winne und Einkünfte zur Bedienung der Zinsansprüche nicht mehraus, ist bei zunehmendem wirtschaftlichen Verfall auch die Sicher-heit des Geldvermögens nicht mehr gewährleistet. Um die für einegesunde Volkswirtschaft erforderliche und unverzichtbare Geld-wertstabilität wieder zu erreichen, bedarf es einer Reduzierung desGeldkapitals und der entsprechenden Zinslasten auf eine volks-wirtschaftlich vernünftige Größenordnung. Paradox dabei ist, daßalle die Sparer – und das ist der überwiegende Teil der Bevölke-rung –, deren Zinseinkünfte nicht höher sind als die Zinslasten, dieüber Preise, Mietzins und Steuern auf sie abgewälzt werden, ohneWährungsreform über die ihnen aufgebürdeten Lasten am Endeselbst Opfer des umlaufenden Geldvermögens und der damitverbundenen Kredit- und Zinswirtschaft werden. Eine Währungs-reform, auch wenn sie die Einlagen der kleinen Sparer weitgehendentwertet, würde für sie auf jeden Fall eine Aufbesserung ihrerlaufenden Einkünfte bringen.

Mit einer drastischen Entwertung des Geldvermögens wäre gera-de der Teil der Bevölkerung in seinem Vermögensbestand getrof-fen, der durch seinen Konsumverzicht und sein Sparen die An-sammlung sonstiger großer Vermögen in anderen, wenigen Händenerst ermöglicht hat. Die Umstellung auf ein zinsfreies sozialisti-sches Finanzierungssystem setzt deshalb nicht nur die Abwertungder umlaufenden Geldkapitalmenge voraus, sondern erfordert alsAkt ausgleichender Gerechtigkeit vor allem auch die Überführungder privaten Rechte an den Produktionsmitteln sowie an Grund undBoden in Gemeineigentum. Es würde in krasser und unvertretbarerWeise dem Sozialstaatsgebot widersprechen, nur die Bestände anSpareinlagen zu reduzieren und die Eigentümer an den Produk-tionsmitteln sowie an Grund und Boden wie bei früherenWährungsreformen weitgehend ungeschoren zu lassen oder durchunangemessen hohe Entschädigungen einseitig zu begünstigen.

Nur mit dem Verstopfen aller Quellen müheloser Einkünfte läßtsich das Ziel eines zukunftsorientierten wirtschaftlichen Neube-ginns erreichen. Das Privateigentum an Produktionsmitteln und anGrund und Boden ist ebenso wie das umlaufende Geldkapital ste-tige Quelle müheloser Einkünfte und damit neben dem GeldkapitalUrsache für wirtschaftlichen, sozialen und staatlichen Verfall. Der-artige, mit Anwachsen der mühelosen Einkünfte sich immer fatalerauswirkende Verfallsursachen gilt es zu überwinden und für immeraus dem Weg zu räumen.

Aus gesellschaftspolitischen und gesamtwirtschaftlichen Grün-den wird auch in Zukunft die Ansammlung privater Spargelder inbegrenztem Umfang erforderlich sein. Für die Anschaffung teurerGebrauchsgüter, für den Erwerb von Eigenheim oder Eigentums-wohnung sowie als Vorsorge für den Notfall kann auf Sparen in

»Gerade in dieser Stadtbesteht, wenn man in die-sem Zusammenhang überGrundwerte spricht, Veran-lassung zur Erinnerung anden Ausspruch HeinrichZilles, daß man mit einerWohnung einen Menschenebenso ermorden kann wiemit einer Axt. Und die Recht-sprechung der Zivilgerichtezu Inhalt und Reichweitedes Eigentums lief oft weni-ger darauf hinaus, demTäter die Axt zu entwinden,als vielmehr darauf, ihrenGriff auch noch zu vergolden.«

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keiner Wirtschaftsordnung verzichtet werden. Weil das sozialisti-sche Finanzierungsmodell grundlegend anders aufgebaut ist, darfallerdings die Ansammlung von Spargeldern für Investitions-zwecke der Wirtschaft und des Staates nicht mehr das Ziel sein.Die Sparmenge insgesamt muß auf die Menge beschränkt bleiben,die für die eigentlichen und echten Sparziele in einer Volkswirt-schaft erforderlich ist. Das Sparvermögen des einzelnen darf niewieder Unterbau neuer großer Vermögensansammlung werden.Die Verwandlung von Geld in Finanzierungs- oder Sachkapital,das über seine Verzinsung mühelose Einkünfte abwirft, gilt es zuverhindern. Die Sparmenge darf deshalb nicht wie bisher uferlosweiterwachsen, sie muß insgesamt in ihrem Umfang begrenztwerden. Durch eine geeignete Zins- und Finanzpolitik ist diesesZiel durchaus zu erreichen.

Bei Sparbeträgen, die eine bestimmte Höhe überschreiten, wärean eine Belastung mit Minuszinsen zu denken. Dies aber könntezum Horten von Bargeld, zum sogenannten »Strumpfsparen« ver-leiten. Das Ziel einer Beschränkung auf eine konstante Spar- undGeldmenge würde auf diese Weise nicht erreicht. Als wirksamerdürften sich in diesem Zusammenhang die von inflatorischenEntwicklungen ausgehenden Rückwirkungen erweisen. Auch imsozialistischen Finanz- und Wirtschaftssystem wird zur Erhaltungund Steuerung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts eine ge-wisse inflationistische Entwicklung nicht zu umgehen sein, siekönnte bedarfsweise zur Ankurbelung der Wirtschaft durch »freshmoney« sogar wirksame Hilfe leisten.

Unabdingbares Ziel muß es aber bleiben, die Inflationsraten soniedrig wie möglich zu halten. Auch in einer wachstumsunabhän-gigen Wirtschaftsordnung bedarf es großer Anstrengungen, diewirtschaftlichen Prozesse im Gleichgewicht zu halten. Soll ge-samtwirtschaftliche Stabilität nicht gefährdet werden, muß beieiner Wirtschaftsentwicklung ohne Wachstum jeder inflationärwirkenden Preis- oder Lohnanhebung alsbald umgekehrt eine ent-sprechende Lohn- oder Preisanhebung folgen. Reales Wirtschafts-wachstum muß mit einer entsprechenden Lohnanhebung oder Ver-kürzung der Arbeitszeit abgegolten werden. ProduktivitätsbedingteProduktverbilligungen könnten über ein Sinken der Preise zurealen Lohnsteigerungen führen. Wird so verfahren, entfällt dasSchreckgespenst einer stabilitätsgefährdenden Inflation.

Da es im sozialistischen Finanzierungssystem außer der im Um-fang beschränkten Spargeldmenge kein der Entwertung unterlie-gendes Geldkapital mehr gibt, entfallen die bisher von einer Ent-wertung des Geldvermögens ausgehenden Ängste. Es versteht sichvon selbst, daß die Abkehr von der Kredit- und Zinswirtschaft keinFreibrief für hohe Inflationsraten sein kann und sein darf. Auch imkapitalistischen Finanzierungs- und Wirtschaftssystem werden In-flationsraten von wenigen Prozenten nicht als stabilitätsgefährdendangesehen. Um bei breiten Bevölkerungsschichten das Interesseam Sparen für die genannten volkswirtschaftlichen Sparziele zuwecken, ist hier – bei konstant zu haltender Sparmenge – die Ge-währung von Zinsen als Anreiz gesamtwirtschaftlich ohne weiteresvertretbar. Stabilitätsgefährdende Auswirkungen wie bei der kapi-

»Mit dem Eigentumsrechtsteht infolge einer wenigerrechtlichen als mythischenKorrelation zum Sozial-staatsprinzip der Gedankeeines allgemeinen Anspruchsauf Erhaltung jeglichenBesitzstandes in enger Ver-bindung. In Anwendung aufdas Thema von Belastungs-verschiebungen im Steuer-recht hat der Bundesfinanz-minister am 7. Mai 1979 inBonn vor dem DeutschenSteuerberaterkongreß hier-zu ausgeführt, daß ›Besitz-stände und Vergünstigun-gen in großem Umfangkaum je ernsthaft in Fragegestellt werden können‹.Fast könnte man glauben,Hans Matthöfer habe mitdieser Formulierung UlrikeMeinhof übertroffen: ihm sei... (es) gelungen, eine über-zeugende Begründung fürden Terrorismus zu liefern...Würde nämlich diese Be-merkung des Bundesfinanz-ministers tatsächlich einwirksames konstituierendesPrinzip unseres Staatswe-sens zutreffend beschrei-ben, könnte man Bestrebun-gen zum Gebrauch vonGewalt als Mittel des politi-schen Handelns nicht mitÜberzeugungskraft wider-sprechen. Wo die Möglich-keit zur Reform fehlt, wirdRevolution legitim...«

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talistischen Kredit- und Zinswirtschaft können – auch wegen derGeringfügigkeit der anfallenden Zinslasten – nicht auftreten. Wenndann die Inflationsrate zum Maßstab für die Staffelung der Zins-höhe würde, könnte in schonender Weise mit einfachen Mittelndem überproportionalen Anwachsen der Sparmenge wie auch dem»Strumpfsparen« vorgebeugt werden. Kleinere Sparbeträge wür-den mit höheren Zinsen abgegolten als größere Beträge.

Um schon von Anfang an eine möglichst breite Streuung desnach einer Währungsreform verbleibenden Sparvermögens für diegesamte Bevölkerung sicherzustellen, wäre es vertretbar und bietetsich an, den Abwertungssatz des Geldkapitals von der Höhe des imEinzelfall jeweils vorhandenen Gesamtvermögens abhängig zumachen. In das zu berücksichtigende Vermögen wären neben demGeldvermögen auch die Eigentumsrechte an den Produktionsmit-teln und an Grund und Boden einzubeziehen, wobei die Entschädi-gung insgesamt auf eine bestimmte Höhe zu beschränken wäre.Dies würde zu einer sozial gerechtfertigten Staffelung des Neuver-mögens nach Maßgabe des bisher vorhandenen Vermögens führen,wobei zugleich alle Entschädigungsansprüche abgegolten wären.

Es darf nie vergessen werden: Der bei der Umstellung auf dassozialistische Finanzierungssystem erforderliche Eingriff in Ver-mögensrechte hat keinen Strafcharakter, sondern ist Voraussetzungfür die Wiedergenesung der Volkswirtschaft. Nur eine gesundeVolkswirtschaft sichert das Überleben jedes einzelnen in Wohl-stand und Freiheit. Sinkt bei fortschreitendem wirtschaftlichenVerfall der allgemeine Wohlstand weiter, gefährdet dies auch denWohlstand und die Zukunft der bisher Privilegierten. Aber nochmehr: Nicht übersehen werden dürfen die Millionen Mitbürger, diedurch Arbeitslosigkeit oder sonstwie schwere Vermögenseinbußenhinnehmen mußten und deren Lebens- und Zukunftschancen aufsschwerste beeinträchtigt worden sind.

Privilegien sind das Grab der Freiheit und der Gerechtigkeit(Seume). Aus Recht wird Unrecht. Das Aufbegehren der Benach-teiligten wird legitim, wenn der verfassungsmäßige Grundzustandsozialer Gerechtigkeit nicht wieder hergestellt wird. In diesemZusammenhang sollte ein weiteres nicht übersehen werden: DiePrivilegierten brauchen, weil auch sie nur innerhalb einer geordne-ten Gemeinschaft überleben können, zur Sicherung ihrer Existenzdie Nicht- oder Wenigerprivilegierten. Die aber brauchen für ihrÜberleben die Privilegierten nicht.

Bei der Frage der Entschädigung stehen sich der Schutz des Ei-gentums gem. Artikel 14 GG und das Sozialstaatsgebot des Artikel20 GG gegenüber. Grundrechte sollen den einzelnen vor Übergriffendes Staates schützen. Ihre Garantie setzt einen funktionierendenStaat voraus. Grundbedingung hierfür ist eine funktionierendeWirtschaft. Die Existenzsicherung des Staates hat immer Vorrangvor Grundrechten, wenn Grundentscheidungen der Verfassung undGrundrechte in Widerstreit geraten. Nur ein gerechter Staat kann sei-ne ureigensten Aufgaben erfüllen und ist überlebensfähig. Die Be-achtung des Sozialstaatsgebots hat deshalb für jeden Staat höchstePriorität, will er nicht selbst die Axt an seine Wurzeln legen.

Angesichts des sich gegenwärtig abzeichnenden weiteren allge-

»Fällt in einer politischenAuseinandersetzung mitBezug auf konkrete Interes-sen des Stichwort ›Besitz-standswahrung‹, ist esmeist zu Ende mit der Ent-scheidungsfähigkeit; kommtnoch das Epithon ›sozialerBesitzstand‹ hinzu, scheintes manchmal sogar mit derDenkfähigkeit vorbei zusein. Auch hier hat der mitder allgemeinen Re-Ideolo-gisierung einhergehendeRealitätsverlust zur Verdrän-gung der Erkenntnis geführt,welche Einbußen an staats-bürgerlich-politischer undwirtschaftlich-sozialer Chan-cengleichheit die unum-schränkte Herrschaft einesBesitzstandsdenkens beiden derzeit bestehenden,gegenüber früher veränder-ten Verhältnissen bewirkt.«

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meinen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Niedergangs gibtes für die Politik, für den Staat, nur drei Möglichkeiten: 1) Es bleibtbei der derzeitigen Wirtschaftsordnung. Der fortschreitende, alleGesellschaftsgruppen erreichende Verfall wird in Kauf genommen,bis die Gegenkräfte sich formiert haben und notfalls einen gewalt-samen Wandel herbeiführen. In Kauf genommen wird auch, daßder allgemeine Lebensstandard stetig zurückgeht und mit demweiteren Verfall von Produktionsstätten und zunehmender Arbeits-losigkeit die Chancen für eine zukünftige wirtschaftliche Erholungsich von Tag zu Tag verschlechtern. 2) Es wird das sozialistischeSystem eingeführt, zugleich aber werden den bisher Privilegiertenunbezahlbare Entschädigungsansprüche eingeräumt. Dies wäreeine Lösung, die nicht besser wäre als die vorgenannte Möglich-keit. Gleichmäßiger allgemeiner Wohlstand würde nicht erreicht,der angestrebte Wirtschaftsaufschwung würde verfehlt, der Staatbliebe in seiner Existenz nach wie vor ungesichert. 3) Mit Ein-führung des sozialistischen Systems fallen mehr oder weniger ent-schädigungslos die bisherigen Besitzstände. Die Wirtschaft kommtwieder in Fahrt, der allgemeine Wohlstand blüht auf. Die bisherPrivilegierten erhalten die reale Möglichkeit, sich nach Fähigkeitund Leistung eine neue Existenz aufzubauen, sofern sie nicht aufdem bisherigen Arbeitsplatz verbleiben können. Sie sind ohnebesondere Benachteiligung den übrigen Bürgern gleichgestellt, dieebenfalls durch Lohnerwerb ihren Lebensunterhalt bestreiten müs-sen. Im Widerstreit zwischen verfassungsrechtlich notwendigerGrundentscheidung zur Sicherung des Staates und des Gemein-wohls und den sich aus Artikel 14 GG ergebenden Grundrechtenkann und darf es keinen Zweifel geben, wie sich der Staat zu ent-scheiden hat, soll er weiterhin Heimat aller Bürger sein.

Wer durch eigene Leistung und leistungsbezogenen Lohn sichselbst eine angemessene Existenz sichern kann, bedarf keiner zu-sätzlichen Vermögensbasis. Durch seinen Beitrag zum System derallgemeinen sozialen Sicherheit wird für die Wechselfälle des Le-bens und für das Alter vorgesorgt. Je früher die Umstellung auf ei-ne neue Wirtschaftsordnung erfolgt und je geringer der bis dahineingetretene gesamtwirtschaftliche Verfall, desto leichter kann derbisherige allgemeine Wohlstand und für jedermann eine angemes-sene Absicherung im Alter erhalten werden.

Nicht unbeachtet bleiben darf, daß viele der bisher Privilegiertennicht oder nicht in ausreichender Weise dem System der allge-meinen sozialen Sicherheit angehören und wegen des bereitserreichten Alters eine eigene angemessene soziale Sicherungnicht mehr aufbauen können. Hier könnte an die Vorschrift desArtikel 2 § 50 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsge-setzes von 1957 angeknüpft werden, mit der es den Vertriebenennach dem 2. Weltkrieg ermöglicht wurde, eine eigene soziale Siche-rung zu erwerben. Je nach dem Umfang des bisherigen Vermögenskönnte die dafür zu gewährende Entschädigung großzügig zumAufbau einer sozialen Sicherung bemessen und verwendet werden,um eine angemessene Gleichstellung mit vergleichbaren Berufs-gruppen zu erreichen. Aber auch dies würde nur möglich sein,wenn in der verbleibenden Zwischenzeit das verteilungsfähige

»Das magische Dreieckaus den Grundwerten desDemokratieprinzips, desSozialstaatsgebotes unddes Gleichheitssatzes läßtsich nur dann in eine wenig-stens annähernd harmoni-sche Struktur bringen, wennein Staatswesen die rechtli-che Möglichkeit und die poli-tische Kraft hat, Privilegienzu entziehen und Besitz-stände abzuschaffen.«

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Sozialprodukt und der allgemeine Wohlstand nicht drastischzurückgehen.

Es versteht sich von selbst, daß das Nutzungsrecht an Eigenheimenund Eigentumswohnungen grundsätzlich nicht angetastet werdenbraucht oder sollte (vgl. dazu: »Wohnungskatastrophe« Ursachenund Auswege, in Sozialismus, 2/94, S. 37ff.). Ob und inwieweitdies auch zu gelten hat, wenn jemand über mehrere Eigenheimeund Eigentumswohnungen verfügt, bedarf besonderer Prüfung. Einesmuß aber auch hier gewährleistet bleiben: Das Eigentum an Wohn-raum darf nie mehr Grundlage für die Erzielung müheloser Ein-künfte sein.

Die weltweite Abschaffung der Kredit- und Zinswirtschaft mitallen sich daraus ergebenden Notwendigkeiten und Folgen mußAusgangs- und zentraler Bezugspunkt eines gegenüber dem bishe-rigen völlig anderen, neu zu entwickelnden Wirtschaftssystemssein. Angesichts der allgemein sich verschärfenden Krise des kapi-talistischen Systems und der bei zunehmendem wirtschaftlichenVerfall für den inneren Frieden der davon betroffenen Länder dro-henden Gefahren gibt es zum Sozialismus keine ernstzunehmendezukunftssichernde Alternative. Es hilf nicht weiter, zum Abwürgender erforderlichen Diskussionen auf die historischen Erfahrungenmit dem Gemeineigentum im Staatssozialismus und dessen be-kannte Fehlentwicklungen hinzuweisen. Die Gegenfrage lautetvielmehr, ob die Entwicklung nicht anders hätte verlaufen können,wenn der Sozialismus die Möglichkeit gehabt hätte, sich frei ohneden äußeren Druck seiner Gegner zu entfalten. Welche Überlegun-gen nunmehr unter veränderten Bedingungen der Weltlage weiter-führen können, muß wegen der Vielschichtigkeit des Themas einerbesonderen Ausarbeitung vorbehalten bleiben.

Wer weiterhin aus Überzeugung einer sozialistischen Gesell-schafts- und Wirtschaftsordnung ablehnend gegenübersteht, darfsich nicht mit einem »weiter so wie bisher« begnügen. StaatlicherSelbstmord auf Raten wird von keiner Verfassung toleriert. Alle,seien es Wirtschaftswissenschaftler oder Verantwortliche in Politikund Wirtschaft, sind aufgerufen, schlüssige und für jedermannnachvollziehbare, am Gemeinwohl orientierte Vorschläge zu unter-breiten, wie dem weiteren wirtschaftlichen und gesellschaftlichenVerfall in anderer Weise als bisher erfolgreich begegnet werdenkann. Produktions- wie Nachfrageseite müßten dabei gleichge-wichtig in die Betrachtung einbezogen werden, da nur so gesamt-wirtschaftliches Gleichgewicht angesteuert werden kann. Die ausder Zins- /Wachstumsproblematik herrührende und für den weite-ren Gang der Weltgeschichte schicksalhafte Verflechtung von un-zureichenden Wachstumsraten und zunehmender Arbeitslosigkeitdarf dabei nicht mehr ausgeklammert bleiben.

»Die Einschätzung derjeweiligen Staatsverfassungauf ihre rechtsschöpfendeKraft und das Niveau ihrerpolitischen Kultur hängtnicht zuletzt davon ab,wieweit sie sich als fähigerweisen, im Interesse derzukunftsgerichteten Freiheitund Gleichheit aller Bürgerdie Verkrustung aufzubre-chen, die aus dem gegebe-nen status quo an Rechten,Privilegien und – auch alssozial bezeichneten –Besitzständen aller Artbestehen.«

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Vorspann1947 errregte der 68jährige Dresdner Romanist Victor KlempererAufsehen mit einem Essay-Band über die Verformung der deutschenSprache in der Zeit des Faschismus. »LTI. Notizbuch eines Philo-logen« wurde zu einem Standardwerk vor allem für die jüngerintellektuelle Generation, die begreifen wollte, was in deutschenKöpfen zwölf Jahre lang alles entgleist war.

Fast 50 Jahre später erschienen die Tagebücher, die KlemperersArbeitsgrundlage für die LTI abgegeben hatten. Darin hatte dieserdem liberalen deutschen Bürgertum entstammende verbundeneMann, der seiner jüdischen Herkunft wegen ausgegrenzt, verfolgtund beinahe nach Auschwitz deportiert worden wäre, mit erschüt-ternder Genauigkeit den alltäglichen Holocaust in der KulturstadtDresden dokumentiert. Der fast 1600 Seiten umfassende Doppel-band »Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten« wurde zu einem dererfolgreichsten deutschen Sachbuch-Editionen der Nachwendezeit.Inzwischen sind mehr als 150 000 Exemplare verkauft. Verlage in13 Ländern haben Übersetzungs- und Nachdruckrechte erworben.

Weithin unbekannt blieb bisher, wie sich Klemperers letzte Lebens-jahre gestalteten. Daß er 1945 der KPD beitrat und bis zu seinemLebensende der DDR loyal blieb, reichte dem Mitherausgeber derF.A.Z., Karl-Friedrich Fromme bereits hin, Klemperer als eineMischung von alterndem Oportunisten und heimlichem Wider-standskämpfer zu porträtieren. Die Tagebücher von 1946 bis 1959zeigen in Wirklichkeit einen zutiefst für die Wiedergewinnung derdeutschen Kulturfähigkeit in der sowjetischen Besatzungszone undin der frühen DDR engagierten Hochschullehrer, Publizisten undKulturbund-Redner. Daß er dabei auch in Zweifel gerät und häufigin Widerspruch zu den schon damals immer häufiger auftretendenMachtideologen und Verfälschern der sozialistischen Idee steht,lag in seinem Naturell. Der frühere Chefredakteur der »NeuenDeutschen Literatur«, Walter Nowojski, arbeitet derzeit für dieAufbau-Verlag an der Herausgabe der Tagebücher von 1946 bis1949 – ein schwieriges Unterfangen unter anderem deshalb, weilein Teil der erwähnten Zeitgenossen noch lebt und Persönlich-keitsrechte geschützt werden müssen.

Victor Klemperer war wütend. »Engherzig, stur, dumm und gehäs-sig«, schreibt er in einem Brief. »Verfehlte und unmarxistischeAnwendung marxistischer Theorien.« Und: »Solange das Institut

Peter Jacobs – Jg. 1938,Studium der Journalistik inLeipzig, Redakteur fürAußenpolitik – ab 1961 beider »Berliner Zeitung« und1975 bei der »Neuen Berli-ner Illustrierten«, von 1995bis zur Einstellung derZeitschrift 1997 bei der»Wochenpost«. Autor zahl-reicher Reportagebücher,Bildbände (alle mit demFotografen Thomas Bill-hardt) und Kinderbücher.Lebt als freiberuflicherJournalist in Berlin.

* Klemperers Tagebüchersind seit einiger Zeit im Auf-bau-Verlag bis zum Endedes Jahres 1945 komplett.Zuletzt erschienen die Auf-zeichnungen der MonateJuni bis Dezember 1945,eine Übernahme der Fas-sung aus den »DresdnerHeften«. Auch die erstenMonate in der sowjetischenBesatzungszone sind damitdokumentiert. Es fehlt der

108UTOPIE kreativ, H. 85/86 (November/Dezember) 1997, S. 108-113

PETER JACOBS

»Ein bißchen unter Naturschutz«.Victor Klemperers Tagebücher ausder frühen DDR-Zeit erscheinenim Aufbau-Verlag*

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unter meinem Namen läuft, lasse ich sie (die Arbeit) weder alsLiteraturhistoriker noch als Marxist passieren.«

Anlaß für den professoralen Zorn ist eine Doktorarbeit. Darinklassifiziert ein karriereversessener Aspirant den französischenDichter Vercors als Idealisten und Kantianer, was damals in derDDR einer Beschimpfung gleichkam. Um seinen Zorn nicht aus-ufern zu lassen, sucht der Professor nach einer psychologischenErklärung: »Soweit mir bekannt ist, bewirbt sich M., der von derLDP herkommt, ehrlichen Herzens um die Aufnahme in die SED,dies mag ihn in die Blindheit des 250prozentigen hineintreiben.«

Da scheint alles überkreuz. Als Klemperer die Philippika am17.Februar 1954 in Dresden zu Papier bringt, leitet er das Romani-sche Institut der Humboldt-Universität in Berlin, ist Abgeordneterder Kulturbundes in der DDR-Volkskammer, Mitglied des PEN-Klubs und Nationalpreisträger. Die LDP, die LiberaldemokratischePartei der DDR – heute von der FDP vereinnahmt – gilt als Sam-melbecken für wohlgesonnene Aufbauhelfer klein- und mittelbür-gerlicher Herkunft, für Leute etwa wie Victor Klemperer selbst.Doch der ist Ende 1945 in die KPD eingetreten und somit 1946Mitglied der SED geworden. Mit vielen Selbstbefragungen undSelbstzweifeln, wie man aus dem 45er-Tagebuch jetzt weiß.

Klemperers DDR-Biographie – eine Schlidderpartie und bisheute viel Anlaß für Spekulationen und Polemiken. Das wiederver-einigte Deutschland mit seinem unstillbaren Durst nach Rechtha-berei leidet an einem gespaltenen Klemperer-Bild. Die DDR hatihn beherbergt und mehr oder weniger schon immer für sichbeansprucht. Der Westen hat ihn erst nach der Wende entdeckt.Nachholebedarf mischt sich mit neuen Vorurteilen. War er einHeilssuchender? Heuchelte er gelegentlich? War er feige? War ersubversiv? Verfiel er einem Irrglauben oder verschaffte er sichnur die zeitgemäße Hülle des Marxismus, um für sich selbst nurnoch die Ethik von Voltaire bis Diderot gelten zu lassen in einerZeit, die ihm das Dringendste geboten hatte, das er nach denDresdner Schreckensjahren brauchte: die Befreiung aus der täglichenTodesangst?

Die Hörer in dem stets überfüllten Hörsaal über dem Auditoriummaximum der Humboldt-Universität in Berlin erlebten in tristerNachkriegszeit Rauschhaftes: Wenn Klemperer sich in seiner etwasaltmodischern Art vor den Studenden verbeugt hatte und seinenhandgroßen Spickzettel zog, den er Schnuller nannte, dann brachenüber sie die Schönheit provencialischer Poesie, die geistigenGenüsse voltairescher Skepsis, der hitzige Atem der französischenRevolutionsliteratur herein. »Alfred Kantorowicz, der alles wußteüber die damals in der Nachkriegszeit so spannende Emigrantenli-teratur, wirkte dagegen langweilig«, sagt sich einer, der damalsbei beiden Professoren Prüfling war. Verklärte Erinnerung an einenälteren, leicht gebeugt gehenden und fast gemütlich wirkendenHerrn mit schalkhaften Augen, der seinen kippensammelndenStudenten der Nachkriegsgeneration auch schon mal aus seinerSonderration Zigaretten anbot.

Klemperers Weg durch die frühe DDR-Zeit war mit guten, bis-weilen hehr zu nennenden Vorsätzen gepflastert. Er strebte zuerst

letzte Mosaikstein: Klemper-ers letzte 15 Jahre, daskurze, streitbare, von neuemGlück gestreifte Leben inder DDR. Verlag und Her-ausgeber werden voraus-sichtlich noch bis 1998brauchen, um diesen Restseines Nachlasses aufarbei-ten und publizieren zu kön-nen. Das Material wird dürf-tiger, die Arbeit schwieriger,denn es waltet das eiserneGesetz der Rücksichtnahmeauf noch lebende Personenoder betroffene Nachkom-men.

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nach Reinigung, nach Entnazifizierung des Kulturbegriffs. Er woll-te die Jugend nicht mit einer Klassenkampf- sondern mit seinerKulturbotschaft erreichen, nämlich daß »die Hitlerzeit den äußerstenGegensatz zu den Grundanschauungen der deutschen klassischenZeit bedeutet hat, und daß aus der Verirrung des Kulturdenkensdie Gesamtheit der nazistischen Verbrechen hervorgegangen ist«.Marxistisches Vokabular kam dabei, wie auch später, kaum beiihm vor.

Alles, was der Überlebende des Dresdner Holocaust-Alltags inden 15 Nachkriegsjahren, die ihm geblieben sind, politisch undgesellschaftlich beginnt, steckt voller Zwiespalt. Er sieht in derlatenten Russenfeindlichkeit seiner Umgebung eine Fortsetzungdes alten Franzosenhasses und der gräßlichen Gefühlslage, diedie tausendfachen alltäglichen Verbrechen an den Juden möglichgemacht hat. »Ist zur Zeit mit den Juden nichts anzufangen, so tutes der Russe«, schreibt er 1950 in einem Zeitungsartikel.

Der Staatsgründung in der damaligen sowjetischen Besatzungszo-ne stellt er keine optimistische Geburtsurkunde aus. »Die deut. dem.Republik. Das tobt seit gestern durch den Rundfunk«, steht unterdem Datum 12. Oktober 1949 in Klemperers Tagebuch. »Die Präsi-dentenwahl, die Aufmärsche, die Reden. Mir ist nicht wohl dabei.Ich weiß, wie alles gestellt und zu Einstimmigkeit vorbereitet ist. Ichweiß, daß es nazistisch genauso geklungen hat und zugegangen ist.«

Die geistige Wende in den deutschen Köpfen sieht er nicht ge-kommen: »20 Millionen (Ostdeutsche) sind noch kein Drittel desdeutschen Volkes und von den 20 sind mindestens ein Dutzendantisowjetisch«. Ein Fundament auf schwankendem Grund: »Ichweiß, daß die demokrat. Repbulik innerlich verlogen ist, die SEDals ihr Träger will die soz. Republik, sie traut nicht den Bürgerlichen,und die Bürgerlichen mißtrauen ihr. Irgendwann gibt es Bürger-krieg«.

Zwei Jahre später begründet er in der Volkskammer die Zustim-mung des Kulturbundes für das sogenannte Gesetz zum Schutzdes Friedens, zeigt Verständnis für die Härte des Vorgehens gegenSaboteure, Agenten des Klassenfeindes – ein Instrument, das eben-das von ihm beklagte Mißtrauen festschreibt und in erheblichemMaße den Aufruhr vom 17. Juni herbeiführen hilft.

Was wie eine zynische Gefälligkeitserklärung klingt, ist eherdie Reaktion auf böse eigene Erfahrungen im kalten Krieg. Klem-perer sieht seine Peiniger im Staate Adenauers weiter am Werk.Im Westen wird er nicht gedruckt und ist als Propagandist desOstens unter Beschuß geraten. »Salonbolschewist«, »verkalkteSenilität, die sich zu Propagandazwecken mißbrauchen läßt«,schrieb im August 1949 die bayrische Presse, als er die Urkundezum Ehrendoktorat seines Lehrers Karl Voßler der Witwe über-brachte und bei dieser Gelegenheit auf einem Vortrag in Schwabingin privatem Kreis seine Ängste vor dem latenten Faschismusäußerte. Er hatte die Munition freilich selbst geliefert, als er aufebenso gereizte wie ungeschickte Weise seine Hoffnungen auf einesozialistische Alternative verteidigte – die sowjetischen Panzerals Friedensboten, den Uranbergbau in Sachsen als Beginn einerblühenden Atomindustrie.

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Im September 1950 reiste er im Auftrag der Gesellschaft fürDeutsch-Sowjetische Freundschaft – dort war er Vorstandsmitglied– nach Frankfurt am Main, um einen Vortrag über seinen Huma-nismusbegriff zu halten. Einlader: die Vereinigung der Verfolgtendes Naziregimes (VVN) und ein paar Genossen von der KPD.So lag über dem Auftritt des Professors aus dem Osten im Hinter-zimmer einer Kneipe in Eschersheim der Hauch einer konspira-tiven Versammlung. Sie wurde nach 15 Minuten von der Polizeiaufgelöst. Klemperers Tagebuchnotiz: »Ich war gerade im 13. Jahr-hundert angekommen«. Fünf Jahre später reiht die Zeitung »DieWelt« den Dresdner Romanisten unter die Vergessenen ein undfügt hinzu: »Klemperers Schicksal, seine geistige und politischeFunktion in der DDR hindern den 75jährigen Professor daran,über die gesamtdeutsche Sprachsituation nachzudenken«. Es istdie Zeit, da die Germanistikstudenten zwischen Hamburg undTübingen die »LTI« sich über Verwandte im Osten besorgen.

Klemperer, Prototyp eines deutschen Bildungsbürgers, der dieKulturen in ihren großen Zusammenhängen sieht und Toleranzüber alles stellt, bewegt sich auf einer ideologischen Doppelspur.Er will die klassenkämpferischen Kurzschlüsse vulgärmarxisti-scher Interpretatoren von der DDR-Romanistik fernhalten undzugleich eine linguistischen Feldzug gegen die »amerikanischeZerreißprobe« führen. »Da nun die Einheit der deutschen Nationaufs schwerste gefährdet ist und da alles darauf ankommt, daßihr geistiger Zusammenhang, ihr Einanderverstehen unbedingtgewahrt bleibt, so bedeutet schon die leisteste sprachliche Disso-nanz eine schwere Gefahr«, sagt er auf einem Vortrag im Becher-Klub des Kulturbundes 1952 in Berlin. Er hat traumatisch einSchaufensterschild aus Paris vor Augen: »English spoken – Ame-rican spoken«. Mit ähnlicher Berechtigung könnte da in einerferneren Zukunft die Ankündigung erscheinen; »Hier spricht manOstdeutsch – hier spricht man Westdeutsch«. Seinen Angstraum setzter um in heute befremdlich wirkende Klischees des kalten Krieges:»Die nazistische Sprachpest, von der wir uns zu befreien bestrebtsind, und halbwegs befreit haben, blüht drüben wieder auf. Ihre vonhier vertriebenen Verbreiter dürfen dort ihr Idiom weiterpflegen, da esder faschistischen Gesinnung und Absicht der Vereinigten Staatenentspricht«.

Opportunismus, Irrtum oder Verblendung? Klemperers öffentli-che Äußerungen aus dieser Zeit lassen – wenigstens partiell – aucheinen anderen Schluß zu. In der zitierten Rede ruft er Stalin alsKronzeugen an: »Wie Richelieu weiß er, daß das Bemühen umSprache nicht unwichtiger ist als irgendein politisches undmilitärisches Bemühen«. Der sowjetische Führer hat zwei Jahrezuvor eine Broschüre über »Marxismus und die Fragen der Sprach-wissenschaft« verbreiten lassen, in der – für die stalinistischeDenkschule seltsam genug – davon die Rede ist, daß Sprache nichtvon Revolutionen neu erfunden werde und keinen Klassencharak-ter habe. Für Klemperer eine These, in der er in einer Zeit der zu-nehmenden Indoktrination sein eigenes Kulturverständnis weiterdeutlich machen kann. »Es ist doch so, daß der Mensch zuerst ein-mal eine Kopf- oder Steiß- oder sonstige Lage im Mutterleib hat«,

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schreibt er zwei Jahre später in dem oben zitierten Brief. »Und dasZweite: jeder Mensch zuletzt eine Sarglage hat, die auch wiedermit der Klassenlage nichts zu tun hat, sofern man in diesem zwei-ten Fall nicht das Begräbnis erster, zweiter oder sonstiger Klasseund die daraus folgende Beschaffenheit für wesentlich erklärenwill.« Der Brief ist freilich vertraulich.

Endlich Ordinarius einer richtigen Universität zu werden – daswar sein Traum seit Weimar. Mit einiger Mühe gewann er seineProfessur an der Technischen Hochschule Dresden zurück, die ihmdie Nazis 1935 genommen hatten. Eine Genugtuung, aber nichtdie wissenschaftliche Erfüllung für den 67jährigen Romanisten. Ineinem Alter, wo die meisten Professoren bereits das Kürzel em.hinter ihrem Titel tragen, gelangte er endlich ans Ziel.

1947 bietet ihm die Universität Greifswald einen Lehrstuhl an. Insein Tagebuch notiert seine Begeisterung für ein »prachtvollesDirektorenzimmer, das meine Sehnsucht erregt: hier mit Schreib-maschine und Sekretärin allein sein!« Der Rektor beschafft ihmsogar einen Schrebergarten auf dem Gelände der Ohrenklinik.Doch Klemperer kühlt schnell ab. Er beklagt die Gesellschaft derblassen mickrigen Studienräte, den rauhen pommerschen Ton ge-gen den Fremden und: »Wenig Essen, viel russische Unsicherheit,Häuser wurden beschlagnahmt«. Aber im März 1948 vermerkt erein »Erlösungstelegramm« aus Halle. Die Universität hat eine lan-ge geisteswissenschaftliche Tradition. Und liegt näher an Berlin.Dort hält er am Romanischen Institut der Humboldt-Universität imWintersemester 1950/51 Gastvorlesungen über die französischeLiteratur der Renaissance. Karge Zeiten: Man zahlt ihm 35 Markpro Stunde und beschafft ihm Benzinmarken für seinen Dienstwa-gen, einen Vorkriegs-BMW. Aber das Amt des Ordinarius ist seit1949 verweist. Im Sommer 1951 erhält Klemperer die Berufung.

Fortan führt der Mann, der sein halbes Leben lang von Alltags-sorgen fast erdrückt wurde, ein für die fünfziger Jahre in der DDRrelativ komfortables Professorenleben. Das Staatssekretariat fürHochschulwesen versieht ihn mit einem Einzelvertrag, dem höch-sten Privileg für Fachleute bürgerlicher Herkunft, deren Mitarbeitman sich versichern will. Das bringt in der Regel ein Gehalt von3200 Mark, Altersversorgung und Ausbildungsmöglichkeiten fürdie Kinder nach Wunsch. Klemperer, kinderlos, setzt er ein Gehaltvon 4000 Mark durch. Er hat gelernt, sich vom Rest des Lebens zuholen, was ihm so lange versagt blieb. Und der Staat trägt es ihmdie Ehren hinterher. 1952 händigt ihm Präsident Wilhelm Pieck denNationalpreis dritter Klasse aus – es wäre womöglich eine höhereStufe geworden, wenn nicht Lion Feuchtwanger auf der Kandida-tenliste für die erste Klasse gestanden hätte.

Womöglich ist das Klemperers beste Zeit. Er hat 1952 zum zwei-ten Mal geheiratet, reist nach Rumänien, nach Frankreich, nachItalien und befaßt sich mit der Vollendung seiner wissenschaftlichenPublikationen. Das Tagebuch ist immer dabei. Er schreibt nochimmer in jener äußerst sparsamen Weise wie im Krieg, zweizeiligzwischen den Linien und seine Frau Hadwig muß Federhalter undTintenfaß, ohne die er nicht auskommt, bis nach China mitschleppen.

Da, wo immer der Platz für seine Zweifel, seine Sprachbeobach-

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tungen, seine Porträtskizzen, seinen Überlebenswillen war, domi-niert nun immer mehr privater Kleinkram. Selten nimmt er nochpolitische Vorgänge auf. Anfang 1953 beschäftigen ihn die Prozes-se gegen jüdische Ärzte in Moskau ziemlich heftig. Aber er hatkein Verständnis für die Flucht führender Köpfe der JüdischenGemeinde nach dem Westen: »Diese Leute haben eben mit demJoint (der an Konfessionsjuden Pakete schickte) zusammengear-beitet«, schreibt er in sein Tagebuch. Der Joint ist jenes amerikani-sche Hilfskomitee, das von der sowjetischen Propaganda zu einermonströsen Agentenorganisation hochstilisiert wird. Klempererversucht, eine jüdische Genossin aus Leipzig zu beruhigen: »Dumußt doch wissen, daß wir unmöglich Antisemitismus haben. Esgeht doch gegen Zionismus im Bund mit USA, mit Kapitalismus«.

Die Tonlage eines politisch fast schon Etablierten. Doch 1956der neue Schock. Als Chrustschows Geheimbericht über die Ver-brechen Stalins im Westen bekannt wird, befindet sich Klempererzu einem Studienaufenthalt in Paris. »Hadwig liest ihn genau, ichwerfe mit Abscheu Blicke hinein«, notiert er jetzt. »Es ist ganzgräßlich und desillusioniert mich vollkommen.« Dann der Ungarn-Aufstand, die Nachrichten über die Verfolgung des Petöfi-Kreisesin Budapest und die Verhaftung Wolfgang Harichs und Walter Jan-kas in Berlin. Kantorowicz, der kurz darauf in den Westen wech-selt, soll verhört worden sein. Klemperer fragt sich, ob das nichtauch ihn selbst treffen könnte und antwortet sarkastisch: »Immer-hin bin ich der Schußlinie ferner und ein bißchen unter Natur-schutz. Man braucht den alten Herrn nicht mehr ernst zu nehmen.«

Noch einmal, im Sommer 1957, zeigt sich der nun 76jährigeKlemperer streitbar. Im »Sonntag«, der offiziellen Zeitschrift desKulturbundes, ist ein höhnischer Artikel über eine Romanisten-tagung in Halle erschienen. Zwei westdeutsche Fachkollegenhaben auf Klemperers Einladung teilgenommen. Das paßt denFunktionären schon nicht mehr in die Landschaft. Die Worte vonLiebe, Verstehen und gleichem Denken klängen sehr schön patrio-tisch, heißt es da im »Sonntag«, aber: »Zwei deutsche Staatsge-bilde stehen sich gegenüber. Das eine baut den Faschismus, dasandere den Sozialismus auf«. Das Vokabular, das später zu demBegriff antifaschistischer Schutzwall vermauert wird, schimmertauf. Klemperer protestiert gegen die «diffamierende Begleitmu-sik«, «böse Taktlosigkeit « und «Anödung«. Sein Brief wird niegedruckt. Am 18. Oktober zeigt er sich zutiefst resigniert: «ImÜbrigen wird mir die Politik immer widerlicher. Sie lügen undstinken alle beide, Osten und Westen, gar zu sehr«.

Im Frühjahr 1959 bricht das Tagebuch ab. Klemperer hat einenschweren Anfall erlitten, die Angina pectoris zwingt ihn fürmehrere Monaten ins Krankenhaus. Um Weihnachten holt ihnHadwig nach Hause. Er starb am 11. Februar 1960, 18 Monate,bevor die Mauer den deutschen Sprach- und Kulturraum für acht-undzwanzig Jahre zweiteilte.

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114UTOPIE kreativ, H. 85/86 (November/Dezember) 1997, S. 114-122

Die Diskussion um die Rechts- und Justizgeschichte ist heutevielfach von Schnellschüssen, von skandalisierenden, moralisie-renden, die historischen Ursprünge der DDR ausblendenden Be-trachtungen geprägt.1 Es wäre nicht verwunderlich, wenn man ge-rade bei der Abfassung einer Biographie Hilde Benjamins (1902-1989) jenem »Zeitgeist« juristischer Zeitgeschichtsschreibung un-terliegen würde. Steht doch die frühere Vizepräsidentin des Ober-sten Gerichts (OG) der DDR (1949-1953) und spätere Justizmini-sterin (1953-1967) mit ihrem Namen heute oft für alle negativenSeiten der Justiz der DDR und muß als Beleg für eine angeblichkontinuierliche 56jährige Diktatur im östlichen Teil dieser neuenRepublik herhalten.2 Um es gleich vorwegzunehmen: Die Autorinerlag nicht der Versuchung einer solchen historischen Planierung.Vielmehr versucht sie fernab eines moralisierenden Stils, sich aufTatsachen und historische Zusammenhänge zu beschränken.

In den ersten drei Abschnitten des Buches werden die Jugendund das juristische Studium Hilde Benjamins, ihre Arbeit als An-wältin sowie ihr Leben unter der nazifaschistischen Herrschaftbeschrieben. Die in Bernburg/Saale geborene Hilde Benjamin wardas erste von drei Kindern einer bürgerlich-liberalen Familie, die1904 nach Berlin übersiedelte. Die Schule besuchte sie u.a. miteiner Tochter Karl Liebknechts, engagierte sich im »Wandervogel«und entdeckte ihre Liebe zur Musik. Nach dem Abitur studierte sievon 1921-24 Rechtswissenschaft in Berlin, Heidelberg und Ham-burg, wo sie bei Moritz Liepmann (1869-1928) auch eine Disserta-tion zu Strafvollzugsfragen begann, aber nicht beendete (S. 24).Liepmann hatte für die Rechtsforderungen der deutschen Arbeiter-bewegung damals vor allem eine Bedeutung aufgrund seiner ab-lehnenden Haltung zur Todesstrafe und seines Rechtsgutachtenszur höchstrichterlichen Rechtsprechung gegen Kommunisten. EineArbeit, die im übrigen nicht unwesentlich auf eine Initiative derJuristischen Zentralstelle der KPD-Reichstagsfraktion und die Ver-bindung des kommunistischen Anwalts Ernst Hegewisch zu Liep-mann zurückzuführen ist.3 Daß Hilde Benjamin das juristische Stu-dium wählte, wofür auch das Vorbild Liebknechts mit ausschlag-gebend war (S. 21), ist zugleich ein Indiz für ihr Selbstbewußtseinund ihre damalige Unangepaßtheit. Denn erst 1922 wurden per Ge-setz (auf Initiative des sozialdemokratischen ReichsjustizministersGustav Radbruch) die Berufe der Rechtspflege für Frauen geöffnet.Ihr ausgeprägtes soziales Engagement zeigt sich zugleich in ihrer

Volkmar Schöneburg –Jg. 1958, Studium derRechtswissenschaft an derHumboldt-Universität zuBerlin, 1987 Promotion.Wissenschaftlicher Mitarbeiteram Institut für Kriminalwis-senschaften der JuristischenFakultät der Humboldt-Univer-sität zu Berlin.

* Dies sind Anmerkungen zudem Buch von Andrea Feth:Hilde Benjamin – Eine Bio-graphie, Schriftenreihe Justiz-forschung und Rechtssozio-logie, Bd. 1, Berlin VerlagArno Spitz GmbH, 1997,278 Seiten, 49,00 DM, dieüber das Maß einer Rezen-sion hinausgehen. Seitenan-gaben im Text beziehen sichauf den angegebenen Titel.

1 Vgl. aus der jüngstenZeit Holger Haerendel:Gesellschaftliche Gerichts-barkeit in der DeutschenDemokratischen Republik,Frankfurt a.M. 1997. DerAutor versteigt sich sogar

VOLKMAR SCHÖNEBURG

Hilde Benjamin – Eine Biographie*

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Arbeit als Werksstudentin im Hamburger »Rauhen Haus« (S. 23),einer noch heute existierenden sozialen Einrichtung der evangeli-schen Kirche.

Während des Studiums trat Hilde Benjamin dem SozialistischenStudentenbund bei und begann damit, Russisch zu lernen. Im No-vember 1924 legte sie ihr Referendar- und im November 1928 ihrAssessorexamen ab. Prägend für ihre weitere Entwicklung war dieEhe mit Georg Benjamin (1895-1942), dem Bruder des Philoso-phen Walter Benjamin (1892-1940)4. Georg Benjamin arbeitete alsArzt im Wedding und war Mitglied der KPD. Gemeinsam mitihrem Mann engagierte sich Hilde Benjamin, die sich im Novem-ber 1927 der KPD anschloß, beruflich wie privat für die sozialisti-sche Idee. (S. 29)

Im April 1929 wurde Hilde Benjamin zur Rechtsanwaltschaftzugelassen. Ihre Praxis eröffnete sie im »roten« Wedding, einemBerliner Arbeiterbezirk. Die Tätigkeit als Anwältin wurde bestimmtvon den sich angesichts der Weltwirtschaftskrise zuspitzendensozialen und politischen Gegensätzen sowie einer eskalierendenArbeitslosigkeit. Sie verteidigte Arbeiter in politischen Strafsachen,agierte im Prozeß gegen die an der Tötung Horst Wessels Betei-ligten, vertrat Arbeiter in Mietsachen und machte sich als Spezia-listin in Arbeitsrechtsfragen einen Namen. (S. 31ff) Oft übernahmsie Mandate der proletarischen Rechtsschutzorganisation RoteHilfe Deutschlands (RHD), auf deren (und nicht auf dem der RGO,S. 40) III. Reichskongreß im Oktober 1929 sie in den Zentralvor-stand gewählt wurde. Im Rahmen der RHD oder der MarxistischenArbeiterschule (MASCH) hielt sie zudem Vorträge zum Arbeits-recht, gegen den Abtreibungsparagraphen des Strafrechts und halfJugendorganisationen. Es war aber auch jene Zeit, in der der aufdem VI. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale 1928eingeleitete ultralinke Kurs unter dem Zeichen der Sozialfaschis-mus-These die Arbeit in der KPD und RHD beeinflußte. Nach derMachtergreifung der Nazifaschisten wurde ihr auf der Basis desGesetzes über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft vom 7. April1933 wie der Mehrzahl der Anwälte der RHD die Zulassung ent-zogen. (S. 42)

Leider verabsäumte es die Verfasserin – im Gegensatz zur Zeitnach 1945 – durch Nutzung der Bestände des vormaligen Partei-archivs der SED und bereits publizierter Forschungsergebnisse dasWirken Hilde Benjamins für die RHD in der Weimarer Republikgenauer auszuleuchten: Beispielsweise zählte sie neben Felix Hal-le, Alfred Apfel, Johannes Werthauer, Ludwig Bendix, Emil JuliusGumbel, Eduard Alexander u.a. zum Vorstand der deutschen Lan-desgruppe der 1929 gegründeten Internationalen Juristischen Ver-einigung und publizierte in deren Revue.5 Auch die Kenntnisseüber das sowjetische Recht im Umfeld der RHD waren genauer alsangenommen. (S. 40) Felix Halle, der Rechtsberater der KPD undim übrigen Autor des erstmals 1924 veröffentlichten Klassikerseiner Rechtsliteratur von unten »Wie verteidigt sich der Proletarierin politischen Strafsachen vor Polizei, Staatsanwaltschaft und Ge-richt?« (vgl. S. 32), war an der Herausgabe der deutschen Fassungdes Werkes »Allgemeine Rechtslehre und Marxismus«(1929) von

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dazu, daß die »Besetzungder Konfliktkommissionenals nicht rechtsstaatlichgerügt werden« müßten.(S. 35)

2 Vgl. beispielsweiseRudolf Wassermann:Freisler und Benjamin alsExponenten totalitärerJustiz, in: Deutsche Richter-zeitung, 1994, S. 281-284;Horst Sendler: Über Rechts-staat, Unrechtsstaat undanderes – Das Editorial derHerausgeber im Meinungs-streit, in: Neue Justiz, 1991,S. 379-382.

3 Vgl. Moritz Liepmann:Kommunisten-Prozesse,München 1928; Institut fürGeschichte der Arbeiterbe-wegung (IfGA), ZentralesParteiarchiv (ZPA) I 2/711/1.

4 Vgl. Werner Fuld:Walter Benjamin. Zwischenden Stühlen. Eine Biogra-phie, München 1979.

5 Vgl. Volkmar Schöne-burg: Rechtswissenschaftvon »unten« – Zum 60. Ge-burtstag der InternationalenJuristischen Vereinigung, in:Neue Justiz, 1989, S. 487-490.

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E. Paschukanis beteiligt. Es wurden Aufsätze in der Zeitschrift»Das Neue Rußland« sowie Broschüren von Krylenko, Pasche-Oserski und Schirwindt veröffentlicht. Zudem gab es die hochin-formativen, von der KPD genutzten Publikationen von HeinrichFreund.6 Das eigentliche Problem bestand vielmehr darin, daßdie Entwicklungen in der Sowjetunion Ende der zwanziger Jahrezunehmend unkritischer reflektiert wurden.7 Der Dissertation vonPetra Gängel hätte außerdem der Wortlaut des mit Schreiben vom6. Mai 1933 ausgesprochenen Auftrittsverbots für Hilde Benjaminentnommen werden können.8 Jenes Schriftstück unterzeichnete derdamalige Staatssekretär im Preußischen Justizministerium, RolandFreisler, der heute mit Hilde Benjamin gleichgesetzt wird,9 was ei-ne unverschämte und unhistorische Verniedlichung des Faschismusund seiner Terrorjustiz ist.

Während der faschistischen Herrschaft schwebte über HildeBenjamin immer das Damoklesschwert einer Verhaftung. DenLebensunterhalt für sich und ihren 1932 geborenen Sohn mußtesie durch eine Anstellung bei der sowjetischen Handelsvertretung(bis 1936), später durch Gelegenheitsarbeiten bestreiten. Ein-schneidend für ihr weiteres Leben war die zweite Verhaftung ihresMannes 1935 und seine Ermordung im KZ Sachsenhausen imAugust 1942. (S. 44)

Die folgenden Kapitel umfassen Hilde Benjamins Tätigkeit inder Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), die Zeit als Vizepräsi-dentin des OG, als Justizministerin sowie ihren Einfluß auf dieFamilien- und Strafgesetzgebung in der DDR. 1945 wurde HildeBenjamin zunächst von der sowjetischen Besatzungsmacht alsStaatsanwältin in Steglitz eingesetzt. Ab September 1945 arbeitetesie (1946 als Leiterin der Abteilung Personalwesen) in der neugegründeten Deutschen Zentralverwaltung der Justiz (DJV).Anhand einer Fülle von Archivmaterialien wird belegt, daß hier ihrName vor allem für eine radikale Entnazifizierung der Justiz sowiefür die von der SMAD geforderte Konzeption der Volksrichter-ausbildung, die zugleich Notlösung, Ausdruck demokratischerReformbestrebungen und Perspektivmaßnahme zur Lenkung derJustiz durch die SED war10, steht. Nicht von ungefähr stand mitdem Jahr 1948 (und nicht von Beginn an, S. 59!) für die SED dergesellschaftskundliche Unterricht im Mittelpunkt der Ausbildung.Erfolgte doch in jenem Jahr die endgültige Festlegung auf dassowjetische Macht- und Gesellschaftsmodell. Deutlich wird in demBuch, daß es in der Volksrichterfrage innerhalb der DJV unter-schiedliche Ansätze gab, doch Hilde Benjamin sich letztlich mitihren Vorstellungen durchsetzen konnte. Auch persönliche Span-nungen (S. 59), die sich in dem Maße zuspitzten, wie sich die SED-Führung in eine alle gesellschaftlichen Prozesse leitende Stellungbrachte, waren in der DJV anzutreffen. Richtig ist auch, daß durchHilde Benjamin und Ernst Melsheimer (1897-1960; Leiter derAbteilung Gesetzgebung, später Vizepräsident der DJV und von1949-1960 Generalstaatsanwalt) Schlüsselpositionen in der DJVdurch Kommunisten besetzt waren. Hingegen sind die Belege fürdie Behauptung, daß Hilde Benjamin die eigentliche Chefin derDJV war und über ein eigenes Informationssystem verfügte (S. 59),

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6 Vgl. ders.: Menschen-rechte, Strafrecht und Arbei-terbewegung, in: Philosophiedes Rechts und das Rechtder Philosophie, Frankfurta.M. 1992, S. 81-88; ders.:Rechtswissenschaft von»unten«..., a.a.O., S. 489 f.;Rainer Kosewähr/GertQuilitzsch: Verschollen inder Geschichte – VomSchicksal des HeinrichFreund und seiner Werke,in: Recht in Ost und West,10/89, S. 266 ff.

7 Vgl. Volkmar Schöne-burg: Proletarischer Rechts-schutz und die Rechtsent-wicklung von »unten«, in:Ein Jurist mit aufrechtemGang. Götz Berger zum90. Geburtstag, Berlin 1995,S. 12.

8 Vgl. Petra Gängel:Die Rote Hilfe Deutschlandsund »ihre« Rechtsanwälteim Kampf gegen die politi-sche Justiz der WeimarerRepublik, Berlin 1985(Dissertation A). In demSchreiben wird ihr vorgehal-ten, »sich im kommunisti-schen Sinne betätigt zuhaben.« Als Gründe werdenangeführt:»1. Verteidigungvon Kommunisten und Ent-gegennahme von Gebührenhierfür seitens der RotenHilfe. 2. Leistung von Spen-den für die Rote Hilfe.«

9 Vgl. Rudolf Wassermann:a.a.O..

10 So Andreas Gängel:Die Volksrichterausbildung,in: Im Namen des Volkes?,Wissenschaftlicher Begleit-band zur Umstellung desBundesministeriums der Ju-stiz, Leipzig 1996, S. 55.

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nicht stichhaltig genug. Ganz anders als die angeführten Zeitzeu-gen schildert Wolfgang Abendroth (1906-1985), der, bevor er sich1948 einem möglichen Zugriff durch den sowjetischen Geheim-dienst entziehen mußte, in der DJV in die Volksrichterausbildungintegriert war, ihr Auftreten. Insbesondere bei Konflikten, dieauch auf der Beharrung auf zu strenger Parteidoktrin durch SED-Mitglieder beruhten, war ihm stets Hilde Benjamin, die er zugleichmenschlich schätzen lernte, eine Hilfe.11

Im Dezember 1949 wurde Hilde Benjamin, die auf der 1. Juri-stenkonferenz der SED (1./2. März 1947!) auch in den Rechtspoli-tischen Ausschuß beim Zentralsekretariat der SED gewählt wordenwar (S. 76), Vizepräsidentin des OG und gleichzeitig Vorsitzendefür erstinstanzliche Strafverfahren. (S. 78) Es ist die Art und Weiseder Ausführung dieser Funktion, die heute nicht zu Unrecht derschärfsten Kritik unterzogen wird. Dreizehn erstinstanzliche Urtei-le wurden unter ihrem Vorsitz vom ersten Strafsenat des OG ge-fällt, in denen auf z.T. exorbitant hohe Freiheitsstrafen sowie zwei-mal auf Todesstrafe erkannt wurde. In der Biographie werden dieeinzelnen politischen Strafverfahren, die die sogenannten Kon-zernprozesse sowie Verfahren auf der Grundlage des berüchtigtenArtikel 6 Abs. 2 der Verfassung der DDR von 1949 (Kriegs- undBoykotthetze) umfaßten, dargestellt. In wohltuender Differenz zuanderen Publikationen12 verweist die Verfasserin auf den zeithisto-rischen Kontext der 1950 geführten Strafverfahren gegen Mitar-beiter der Deutschen Continentale Gasgesellschaft (DCGG) sowiegegen Angehörige des Solvay-Konzerns. In Ausführung des Pots-damer Abkommens, in dem die Alliierten aufgrund der Beteiligungdes deutschen Großkapitals an den Verbrechen des Hitlerfaschis-mus für eine Demokratisierung Deutschlands auch die Zerschla-gung der Großagrarier und Konzerne für notwendig hielten, wur-den auf der Basis entsprechender SMAD-Befehle in der SBZ weit-gehende Enteignungen durchgeführt. (S. 83f.) Gegen die Über-führung von Konzernen und anderen Betrieben in Volkseigentumund die damit einhergehende wirtschaftliche Umwälzung gab eswiederum Widerstand. Beispielsweise versuchten führende Vertre-ter der DCGG, Teile des Unternehmens durch Verlagerung in denWesten der Enteignung zu entziehen.13 Trotzdem sind sowohl derDCGG- als auch der Solvay-Prozeß grundsätzlich zu kritisieren:Offensichtlich ging es nämlich in jenen Verfahren nicht nur darum,durch das Potsdamer Abkommen legitimierte Entwicklungen straf-rechtlich zu schützen. Ein Blick hinter die Fassade (sprich: in dieSED-Akten) dokumentiert auch eine Inanspruchnahme des Straf-rechts durch Fremdinteressen. Ziel des DCGG-Prozesses war esneben der Legitimierung der Enteignungen auch, wirtschaftlicheSchwierigkeiten als ausschließliche Folge äußerer Angriffe er-scheinen zu lassen und möglichen politischen Widerstand bürgerli-cher Blockpolitiker gegen die herrschende Politik präventiv zu un-terbinden.14 Zudem galt das Volkseigentum, als eine der Säulen derGesellschaftskonzeption des sozialistischen Aufbaus, schon zudiesem Zeitpunkt als »heilig« und »unantastbar«.15 EntsprechendeAngriffe sollten daher die volle Wucht des Strafrechts spüren.16 Umdiese Wirkungen zu erzielen, wurden die Konzernprozesse als

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11 Vgl. Wolfgang Abend-roth: Ein Leben in derArbeiterbewegung, Frankfurta.M. 1981, S. 201.

12 Vgl. Rudi Beckert:Die erste und letzte Instanz,Goldbach 1995.

13 Vgl. Wolfgang Mittmann:Fahndung. Große Fälle derVolkspolizei, Berlin 1995,S. 53 ff.

14 Vgl. mit weiteren Quel-lenangaben Falco Werken-stein: Politische Strafjustizin der Ära Ulbricht, Berlin1995, S. 57 f.

15 Protokoll der Verhand-lungen des III. Parteitagesder SED (20. bis 24. Juli1950), Berlin 1951, S. 65.

16 Vgl. Max Fechner:Die demokratische Gesetz-lichkeit im Kampf der natio-nalen Front für die EinheitDeutschlands, in: NeueJustiz, 1949, S. 202.

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»Schauprozesse« (beispielsweise im Dessauer Theater!), derenRahmen durch das Politbüro der SED vorgegeben wurde, insze-niert. Hohe Strafen waren ein zwangsläufiges Resultat.

Der zweite Kritikpunkt richtet sich gegen die juristische Argu-mentation, die das OG unter Federführung von Hilde Benjaminentwickelte, um diese Ziele zu erreichen. Zum Beispiel erfolgte dieVerurteilung im DCGG-Prozeß nach SMAD-Befehl Nr.160, derSabotage und Diversionsakte unter Strafe stellte. Die Tatbestands-beschreibungen dieses Befehls, der außerdem in voneinander starkabweichenden Übersetzungen kursierte, waren an sich schon vage.Das OG stellte dazu noch fest, daß für die Erfüllung des Tatbe-standes bereits eine Tätigkeit genüge, die geeignet ist, eine Durch-kreuzung staatlicher Organe herbeizuführen, also realiter sie garnicht durchkreuzen muß! Daneben wurden die Tatbestände zu»Unternehmensdelikten« erklärt, was die Gleichsetzung von Voll-endung und Versuch der Tat (später sogar die Vorbereitung), vonTäter und Gehilfen bedeutete.

Ähnlich verhielt es sich mit der Anwendung des Tatbestandes der»Boykotthetze« durch das OG unter Vorsitz von Hilde Benjamin.Gegenstand der »Schauprozesse« waren überwiegend strafrecht-lich durchaus relevante Handlungen solcher Organisationen wieder »Kampfgruppe gegen die Unmenschlichkeit« oder des »Unter-suchungsausschusses freiheitlicher Juristen«.17 Doch dehnte dasOG die Strafbarkeit nach Art. 6, Abs. 2 der Verfassung, der ohnehinschon durch ein inakzeptables Maß an Unbestimmtheit sowie einenviel zu weiten Strafrahmen charakterisiert war, mit Hilfe des Kon-strukts des »Unternehmens« bereits auf entfernteste Vorbereitungs-handlungen aus, was wiederum eine Instrumentalisierung in derSystemauseinandersetzung und einen z.T. krassen Widerspruchzwischen den angeklagten Taten und ausgeworfenen hohen Strafenzur Folge hatte. Den nachgeordneten Gerichten ermöglichte dieRechtsprechung des ersten Strafsenats des OG unter Vorsitz HildeBenjamins, worauf im vorliegenden Buch nicht eingegangen wird,in vielen Urteilen jegliche Kritik an der herrschenden Politik,die oft unter Wahrnahme des Rechts auf freie Meinungsäußerungartikuliert wurde, nach Art. 6 zu bestrafen. Mit seiner uferlosenAuslegung schuf das OG eine Situation, die es erlaubte, wenigeran konkrete Handlungen als an die jeweilige Gesinnung mit denTatbeständen des politischen Strafrechts anzuknüpfen und dieRechtsanwendung aktuellen politischen Zwecken unterzuordnen.Gleichzeitig wurden mit dieser Praxis die Rechtsforderungen derJuristen der RHD, die diese innerhalb der Strafrechtsreformdis-kussion in der Weimarer Republik für die KPD erhoben hatten,konterkariert.18

Die von Hilde Benjamin mitbestimmte Judikatur des OG injenen Jahren entsprach dem sich Ende der vierziger/Anfang derfünfziger Jahre als herrschend in der DDR herauskristallisierendenRechtsverständnis, nach dem das Recht immer nur eine Funktionder Staatsmacht, niemals deren Maßstab sein kann. Diese Auffas-sung, nach der das Recht auf dem Weg zur sozialistischen Gesell-schaft als Hebel des Fortschritts fungiere, sprach dem Recht jegli-che Eigenständigkeit und überdies die Allgemeinheit ab, um die

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17 Vgl. Frank Hagemann:Der Untersuchungsaus-schuß Freiheitlicher Juristen1949-1969, Frankfurt a.M.1994.

18 Vgl. Volkmar Schöne-burg: Kriminalwissenschaft-liches Erbe der KPD 1919bis 1933, Berlin 1989.

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Normativität des Rechts in einer gegebenen Situation zugunstender scheinbar entwicklungslogisch vorbestimmten gesellschaftli-chen Dynamik zu relativieren.19 Nicht zufällig steht die Flexibili-sierung des Rechtssystems in einem engen Zusammenhang mit derRezeption der Positionen des sowjetischen GeneralstaatsanwaltsWyschinski (1883-1954) zur Rolle des Richters als qualifiziertenpolitischen Funktionärs (S. 117), aber auch seines Rechtsbegriffs20,gepaart mit der falschen stalinschen Legitimationsformel von derständigen Verschärfung des Klassenkampfes beim Aufbau des So-zialismus. Insbesondere Hilde Benjamin blieb von dessen Aussa-gen stark beeindruckt, was sich noch in ihrem Nachruf auf denChefankläger der Moskauer Prozesse dokumentiert.21 In gewisserWeise reflektieren die Prozesse vor dem OG jene sich durchsetzen-de Generallinie in der Politik der SED, die statt auf Demokra-tie-Entfaltung auf Klassenkampf-Verschärfung orientierte.22 Wobeidieses instrumentelle Rechtsverständnis durchaus dem von derSowjetunion übernommenen Gesellschaftskonzept mit der domi-nierenden, alle gesellschaftlichen Entwicklungen steuernden Stel-lung der »Partei neuen Typus« adäquat war. Letztlich entspraches auch dieser Logik der Rechtsgestaltung als ausschließlichesMachtinstrument der Mächtigen23, wenn die Initiativen für Straf-verfahren, ihre Rahmenbedingungen, z.T. ihr Ausgang oder späte-re Begnadigungen bis Anfang der 60er Jahre bei als politisch wich-tig eingestuften Vorgängen vom Politbüro der SED ausgingenbzw. von diesem festgelegt wurden. (S. 118ff) Zugleich fand einsolches instrumentelles Verständnis vom Recht für Kommunistenwie Hilde Benjamin seine scheinbare Bestätigung in den Erfahrun-gen mit der Klassenjustiz in der Weimarer Republik und demTerror der Nazifaschisten. Daneben gab es, worauf die Verfasserinwiederum hinweist (S. 106ff), Rückwirkungen durch die Rechts-praxis in den USA (so die Verurteilung der Rosenbergs wegenSpionage 1951 zum Tode !) und der BRD auf der Grundlage desneuen Staatsschutzstrafrechts von 1951.

Das Buch räumt auch mit der Legende auf, daß Hilde BenjaminTodesurteile mit Freude verkündet habe.24 Ihr Verhältnis zur Todes-strafe war durchaus widersprüchlich. (S. 104 f., 113) Sie folgteaber jenem aus der Sowjetunion stammenden Stereotyp, daß inZeiten des zugespitzten Klassenkampfes die Todesstrafe als Vertei-digungsmittel des proletarischen Staates unabkömmlich sei, ohnedieses beliebig einsetzbare Rechtfertigungsmuster weiter zu hinter-fragen. Die Argumentation ist fast identisch mit der deutscherKommunisten in der Internationalen Juristischen Vereinigung1929/30, als diese die Anwendung der Todesstrafe in der Sowjet-union gegenüber kritischeren Linksintellektuellen zu legitimierensuchten.25 Insgesamt kann konstatiert werden, daß Hilde BenjaminsAnsichten zur Strafrechtsanwendung sehr stark durch ein Freund-/Feindbild oder (wie es später hieß26) durch das »Differenzierungs-prinzip« geprägt wären: Während den wirklichen oder vermeintli-chen Klassenfeind aus generalpräventiven Gesichtspunkten herausdie ganze Schärfe des Strafgesetzes treffen sollte, galt es, demgestrauchelten Werktätigen und Jugendlichen in Anknüpfung anAuffassungen sozialistischer Kreise von vor 1933 die hilfreiche

SCHÖNEBURG Hilde Benjamin119

19 Vgl. mit weiteren Quel-len Hermann Klenner: ÜberVorverständnisse von Rechtin neuerer Zeit, in: Politi-sches Denken. Jahrbuch1995/96, Stuttgart/Weimar1996, S. 54 f; Sigrid Mendel:Legitimation und Parteiherr-schaft in der DDR, Frankfurta.M. 1992, S. 97f.

20 Vgl. A.J. Wyschinski:Die Hauptaufgaben derWissenschaft vom sozialisti-schen Sowjetrecht, in:Sowjetische Beiträge zurStaats- und Rechtstheorie,Leipzig 1953, S. 76 (»DasRecht ist die Gesamtheitder Verhaltensregeln, dieden Willen der herrschen-den Klasse ausdrücken undauf gesetzgeberische Weisefestgelegt sind... Die Anwen-dung dieser Regeln wirddurch die Zwangsgewaltdes Staates gewährleistetzwecks Sicherung, Festi-gung und Entwicklung dergesellschaftlichen Verhält-nisse und Zustände, die derherrschenden Klasse ge-nehm und vorteilhaft sind.«)

21 Vgl. Hilde Benjamin:Andrej JanuarjewitschWyschinski. Aus dem Nach-ruf des Ministers der Justiz,in: Staat und Recht, 1954,S. 691-694; vgl. auch NeueJustiz, 1954, S. 678f.

22 Vgl. Hermann Klenner:Die gescheiterte Alternative,in: Rolf Steding (Hrsg.):Recht in den neuen Bundes-ländern, Hamburg 1991, S. 11.

23 Vgl. ders.: Die Rechts-konzeption der SED und ih-re Widerspiegelung in derRechtsordnung der DDR, in:Dietmar Keller u.a. (Hrsg.):Ansichten zur Geschichteder DDR, Bd. II, Berlin/Bonn 1994, S. 160 ff.

24 Vgl. Gilbert Furian:Der Richter und sein Len-

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Hand der Resozialisierung zu reichen.27 Beide Seiten waren auchGrundlage ihrer Arbeit in den Gesetzgebungskommissionen in derDDR. (S. 176ff.) So wird im Strafrechtsergänzungsgesetz (StEG)von 1957, an dessen Erarbeitung Hilde Benjamin wesentlich betei-ligt war, einerseits der Art. 6, Abs. 2 der Verfassung in mehrerekonkretere Staatsschutzstraftatbestände unter Beibehaltung exorbi-tant hoher Strafandrohungen aufgeschlüsselt, was die Normierungder Rechtsprechung des OG unter Vorsitz der Vizepräsidentin war.Andererseits sah das StEG den Ausschluß strafrechtlicher Verant-wortlichkeit wegen Geringfügigkeit mangels schädlicher Folgenund die bedingte Verurteilung sowie den öffentlichen Tadel alsneue, weniger destruktive Strafarten vor. Übrigens konnte sich diedamalige Justizministerin hinsichtlich einer weniger häufigenAndrohung der Todesstrafe im StEG gegen den Einspruch ErichMielkes nicht durchsetzen. (S. 188 f.) Aber den fast gleichzeitigenVorstoß des OG, die Todes-strafe gänzlich aus dem Strafrecht derDDR zu verbannen, was wiederum den Forderungen der Arbeiter-parteien in der Weimarer Republik entsprochen hätte, versagte siedie Unterstützung.28

Der Autorin der Biographie ist es jedoch entgangen, daß HildeBenjamin bereits die Gesetzgebungskommission zur Erarbeitungdes kurz erwähnten (S. 190) Strafgesetzbuchentwurfs von 1952/53leitete. Die Auswertung dieses Materials hätte zu Tage gefördert,daß viele Straftatbestände des StEG von 1957 lediglich (manchmalleicht veränderte) »Auskopplungen« aus diesem nicht verabschie-deten Entwurf sind.29 In den Entwurf von 1952/53 war auch dasVolkseigentumsschutzgesetz vom Oktober 1952, das einen hyper-trophierten Schutz vor Delikten gegen die neuen Eigentumsformenbeinhaltete (ein Jahr Zuchthaus als Mindeststrafe!), integriert. DieVerfasserin hebt hervor, daß Hilde Benjamin im August 1953die schematische Anwendung dieses Gesetzes durch die Gerichtebei geringfügigen Taten (beispielsweise Diebstahl einer volkseige-nen Bockwurst) kritisiert hat. (S. 188) An dieser Stelle muß korri-gierend ergänzt werden: Viele Strafgerichte in der DDR versuch-ten, die hohe Mindeststrafe von einem Jahr Zuchthaus, die das Ge-setz vorsah, durch Anwendung der bedingten Strafaussetzung (§346 StPO) zu um-gehen. Dies wiederum wurde seitens der SED-Führung als »versöhnlerische« Haltung gebrandmarkt.30 HildeBenjamin und Max Fechner (1897-1960), bis 1953 Justizminister,verwiesen wiederholt darauf, daß »Verbrechen gegen das Volksei-gentum ihrer Schwere nach neben Verbrechen gegen unseren Staatstehen«31 und wandten sich gegen die »opportunistischen Haltun-gen«32 in der Richterschaft. Ganz in diesem Sinne war dann eineRichtlinie des OG vom 29. April 1953 gehalten. Doch war einesolch repressive Strafpolitik gar nicht durchzustehen. Schon imMai 1953 stellte Melsheimer fest: Am Ende des Jahres würdenallein 40 000 Menschen wegen Verletzung des Gesetzes im Zucht-haus sitzen, was schlechterdings untragbar sei.33 Also legte nuneine Rundverfügung vom 26. Mai 1953 des Generalstaatsanwalts,des MdJ und des Präsidenten des OG fest, daß das Gesetz nicht for-mal auf kleine und geringfügige Angriffe angewendet werden dür-fe. Das Paradoxon, daß nun Hilde Benjamin diese verfehlte Straf-

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ker. Politische Justiz in derDDR, Berlin 1992, S. 14(Interview mit R. Beckert).

25 Vgl. W.I. Lenin: Werke,Bd. 30, Berlin 1961, S. 318;Revue der InternationalenJuristischen Vereinigung(IJV), 1930, S. 30; EduardAlexander: Die Internationa-le Juristische Konferenz inBerlin, in: Inprekorr, 1929,S. 2719 sowie die Kontro-verse zwischen F. Bill,E. Paschukanis und A.Apfel, abgedruckt in: DasTage-Buch, 1929, S. 2168-2171, S. 2221 und S. 2223.Der vollständige Brief vonPaschukanis, der Teilneh-mer der Gründungskonfe-renz der IJV in Berlin war,befindet sich im alten KPD-Archiv (IfGA, ZPA I2/711/5).

26 Vgl. Walter Ulbricht: DieEntwicklung des deutschenvolksdemokratischen Staa-tes 1945 bis 1958, Berlin1958, S. 534, 633; Protokolldes V. Parteitages der SED,Berlin 1959, S. 1549.

27 Vgl. Hilde Benjamin:Aus Reden und Aufsätze,Berlin 1982, S. 59.

28 Vgl. Volkmar Schöne-burg: Strafrecht und Staats-sozialismus, in: DietmarKeller u.a. (Hrsg.): Ansich-ten zur Geschichte der DDR,Bd. II, a.a.O., S. 182.

29 Vgl. ders.: Strafrechtund Strafrechtsdenken inder DDR: Kontinuität deut-scher Strafrechtsgeschich-te? - Der StGB-Entwurf von1953, in: Jahrbuch zurStaats- und Verwaltungswis-senschaft, 9/1996, S. 44 ff.

30 Vgl. IfGA, ZPA IV2/13/409; Gerda Grube:Das juristische Studium unddie Fortbildung der Richter,in: Neue Justiz, 1953, S. 67.

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politik den unteren Gerichten anlastete, ist nur ein weiteres Bei-spiel dafür, wie die Partei- und Staatsführung in der DDR eigeneFehlleistungen kaschierte, leugnete und sich selbst aus der Verant-wortung nahm. Die Fehler wurden eben nach ulbrichtscher Maß-gabe im »Vorwärtsschreiten überwunden«!

Im Kontext mit Hilde Benjamins Gesetzgebungsarbeiten in denfünfziger Jahren wird auch ihre Beteiligung an der wissenschaftli-chen Diskussion erwähnt. (S. 178) Unberücksichtigt geblieben ist,daß sie und Hans Gerats als »Anleiter« zum »Kollektiv der Straf-rechtler« zählten. Dieses Kollektiv, dem noch Jochen Rennebergund John Lekschas angehörten, wurde auf einem Dozentenlehr-gang 1951 in Forst-Zinna gebildet. Ziel des Lehrgangs war es,für die z.T. vakanten Lehrstühle an den Universitäten Dozentenauszubilden. Das »Kollektiv der Strafrechtler« erarbeitete an derDeutschen Verwaltungsakademie in Forst-Zinna für ihr LehrgebietVorlesungen. Zudem sind der dortigen Arbeit eine Reihe grundle-gender Publikationen entsprungen, die die theoretische Basis derReformarbeiten jener Zeit abgaben.34 Renneberg und Lekschasanvancierten später zu den führenden Strafrechtswissenschaftlernin der DDR, die u.a. an der Ausarbeitung des 1968 (nicht 1967!)verabschiedeten StGB wesentlich beteiligt waren. Diese fast zehn-jährige Tätigkeit stand wiederum unter der Leitung von Hilde Ben-jamin. (S. 190 ff.) Die Neukodifikation des gesamten Strafrechtswar ein in vielen Teilen fortschrittliches und international beach-tetes Reformwerk. Es unterscheidet sich gravierend von dem Ent-wurf von 1952/53, auch wenn der Begriff des »Unternehmens«seine Wurzeln in der Rechtsprechung der fünfziger Jahre besitzt.(S. 205) Jedenfalls sind die Verschärfungen, vor allem des politi-schen Strafrechts, aber auch der Rückfallbestimmungen und dieder sog. Asozialität, die eine extensive Verfolgung Andersdenken-der ermöglichten, erst auf Novellierungen in den siebziger Jahrenzurückzuführen, können also Hilde Benjamin nicht mehr angelastetwerden.

Wiederum quellenreich belegt die vorliegende Biographie, daßsich Hilde Benjamin nach dem Zusammenbruch des Hitlerfaschis-mus auf dem Feld des Familienrechts und für die Gleichberechti-gung der Frauen besonders stark engagierte. (S. 206 ff.) Hierscheint am deutlichsten ihre soziale Utopie, deren Verwirklichungsie anstrebte, auf. Bruchlos konnte sie an alte Forderungen derArbeiterbewegung zur Gleichberechtigung der Frauen in der Fami-lie und im Berufsleben, zur Aufhebung der Diskriminierung allein-stehender Mütter und unehelicher Kinder sowie zur Veränderungdes Scheidungsrechts anknüpfen. Vieles von dem wurde in derDDR gesetzgeberisch umgesetzt, wobei manches (beispielsweisedas Abtreibungsrecht) auch widersprüchlich verlief.

Am 15. Juli 1953 wurde Max Fechner seines Amtes als Justiz-minister der DDR enthoben, aus dem ZK der SED ausgeschlossenund 1955 in einem Geheimprozeß vor dem OG zu einer Freiheits-strafe von acht Jahren verurteilt. Auslöser dafür war ein InterviewFechners im ND vom 30. Juni 1953, in dem er u.a. mitteilte, daßAngehörige der Streikleitungen vom 17. Juni 1953 nicht bestraftwürden. (S. 127) Nachfolgerin Fechners wurde Hilde Benjamin,

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31 Hilde Benjamin: »Volks-eigentum ist unantastbar!«,in: Neue Justiz, 1953, S. 62.

32 Max Fechner: ÜberSchwerpunkte der Recht-sprechung in Straftaten, in:Neue Justiz, 1953, S. 227.

33 Vgl. IfGA, ZPA IV2/13/409.

34 Vgl. John Lekschas:Zum Aufbau der Verbre-chenslehre unserer demo-kratischen Strafrechtswis-senschaft, Berlin 1952, S. 3;Von den Anfängen der mar-xistisch-leninistischenRechtswissenschaft in derDDR. Ein Gespräch mit Teil-nehmern des ersten Lehr-gangs für wissenschaftlicheAspiranten (Forst Zinna), in:Neue Justiz, 1989, S. 351-355.

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was das Politbüro der SED gleichzeitig mit der Absetzung Fech-ners am 14. Juli beschlossen hatte. Der Leser erhält Informationenüber den autoritären Leitungs- und den Arbeitsstil der Ministerin,der durch großen Fleiß und dementsprechend hohe Anforderungenan die Mitarbeiter gekennzeichnet war; über den Ausbau der Ju-stizsteuerung, beginnend mit einem Operativstab, der zur straf-rechtlichen Reaktion auf den 17. Juni gebildet wurde; über ihreAuffassung von sozialistischer Gesetzlichkeit und Parteilichkeit;über den Kompetenzverlust des Justizministeriums nach demRechtspflegeerlaß 1963 und über ihre Mitarbeit in der »Justizkom-mission«, die die dem Politbüro vorgelegten Urteilsvorschläge zubegutachten hatte. Interessant ist, daß Hilde Benjamin in einemSchreiben vom 3. Dez. 1962 an den Leiter der Abteilung Staats-und Rechtsfragen des ZK der SED die Richtigkeit dieser Vorge-hensweise in Frage stellt. (S. 154) Aus den Akten des Politbürosgeht hervor, daß sich dieses seit 1963 nur noch einmal (1971) miteinem Strafverfahren beschäftigte. (S. 155) Als Justizministerinversuchte Hilde Benjamin, auch der Justiz eine gewisse Eigenstän-digkeit zu bewahren, ordnete sich aber wie auch in anderen Fragenletztlich immer der herrschenden Ulbricht-Linie unter. (S. 158)

Keinen Aufschluß liefert die Arbeit über ihre unrühmliche Rollein den Verfahren gegen die Janka/Harich-Gruppe.35 Das bisherBekannte deckt sich aber mit ihrer generell harten Haltung gegenvermeintliche und wirkliche Gegner der DDR.

Am 13. Juni 1967 mußte Hilde Benjamin nach dem Willen derSED-Spitze als Justizministerin zurücktreten. Die Gründe fürdas unfreiwillige Ausscheiden bleiben im Dunkeln. (S. 224) Biszu ihrem Tode am 18. April 1989 übernahm sie den Lehrstuhl»Geschichte der Rechtspflege« an der Akademie für Staats- undRechtswissenschaften, wo unter ihrer Ägide rein apologetischePublikationen zur Geschichte der Rechtspflege erschienen sind,36

deren kritische Bewertung in der DDR nicht veröffentlicht werdendurfte. Zudem förderte sie Forschungen zur RHD in der WeimarerRepublik. Sicher aus nicht ganz selbstlosen Motiven. Aber viel-leicht auch, um an die Ursprünge des eigenen Schaffens noch ein-mal zurückzukehren.

Hilde Benjamnin war zwar seit 1954 Mitglied des ZK der SED,gehörte aber nie dem engsten Führungskreis an. Die Autorin mut-maßt, daß dies neben ihren Erlebnissen aus der Nazizeit ein Grundfür ihre Unerbittlichkeit gewesen sei. In gewisser Weise symboli-siert das Leben Hilde Benjamins auch die Tragik der gescheitertenAlternative. Eine Alternative, zu deren Verständnis gerade auch derbiographische Zugang beiträgt. Trotz einiger Lücken ist dafür dievorliegende Arbeit ein solider Beitrag.

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35 Vgl. Walter Janka:Schwierigkeiten mit derWahrheit, Berlin/Weimar1990, S. 83 ff.

36 Vgl. Zur Geschichte derRechtspflege der DDR, Bd.1 bis 3, Berlin 1976, 1980und 1986.

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Nachdem auf dem NATO-Gipfel von Madrid im Juli 1997 be-schlossen wurde, mit Ungarn, Tschechien und Polen in Beitritts-verhandlungen einzutreten, könnten sich diese Länder bald in dem-selben Boot wieder finden, in dem die Türkei schon lange sitzt –nämlich in der Gruppe jener Staaten, die zwar Mitglied der NATOsind, deren Beitrittsbegehren zur Europäischen Union aber immerwieder auf die lange Bank geschoben werden.

Die Ankündigung der US-Amerikaner, sich für eine Osterweite-rung der NATO durch die Aufnahme der drei genannten Ländereinzusetzen, fiel zeitlich beinahe zusammen mit der erneuten Ab-lehnung eines umfassenden, dem Marshall-Plan ähnlichen Hilfpro-grammes für die ehemals sozialistischen Länder Mittel- und Ost-europas durch Präsident Clinton, die dieser anläßlich des 50. Jah-restages des Beginns der Marshall-Plan-Hilfe für das Nachkriegs-westeuropa wiederholte. Wann und wo auch immer in den zurück-liegenden Jahren westliche Politiker das Projekt eines »neuenMarshall-Plans« für Mittel- und Osteuropa zurückgewiesen haben,beteuerten sie zugleich inbrünstig, daß dieses Mal das ausländischePrivatkapital die Aufgabe übernehmen würde, die vom Wirt-schaftskrieg im Kalten Krieg und vom Kollaps des östlichen Han-delsblocks (des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe, wie er of-fiziell genannt wurde) zerrütteten mittel- und osteuropäischenVolkswirtschaften wiederaufzubauen.

Dies alles erinnert in fataler Weise an die US-amerikanischePolitik nach dem Ersten Weltkrieg, als ebenfalls privates Kapitalin großem Umfang in die zerstörten Volkswirtschaften Europas,einschließlich Deutschland, expandierte. Aufgrund des anarchischenCharakters dieser Kapitalbewegungen konnte dadurch jedoch diesich anbahnende größte wirtschaftliche und soziale Katastrophedieses Jahrhunderts nicht verhindert werden. Die US-Amerikanerunternahmen damals in den zwanziger Jahren zu wenig und zuspät, um die Schuldenlasten Deutschlands zu reduzieren. Statt des-sen unterstützten sie noch jene rigiden monetaristischen Konzepte,die die wirtschaftliche Depression nur vertieften und verlängerten.

Auch nach dem Fall der Berliner Mauer nahmen die ausländi-schen Investitionen in Mittel- und Osteuropa zu, ohne daß sie bisheute jedoch zu einer tatsächlichen Rekapitalisierung der Regiongeführt hätten. Ungarn z.B., in das bis 1996 etwa die Hälfte allerprivaten Direktinvestitionen in der Region geflossen sind, weistein niedrigeres Wachstum des Bruttoinlandprodukts auf als Polen,

UTOPIE kreativ, H. 85/86 (November/Dezember) 1997, S. 123-127123

László Andor – Jg. 1966;Herausgeber der politisch-theoretischen Zeitschrift»Eszmélet«, lehrt an derÖkonomischen UniversitätBudapest im Fachbereichfür Politische Wissenschaft;Autor des Buches »MarketFailure« (zusammen mitM. Summers), letzte Veröf-fentlichung in »UTOPIEkreativ« in Nr. 63 (Januar1996) »Peripherisierungin Ungarn«.

»US-Präsident Bill Clintonhat darauf bestanden, daßdie NATO in einer erstenRunde nur um Polen, Ungarnund Tschechien erweitertwird. Der französischePräsident Jacques Chiracdagegen forderte zunächstdie Aufnahme von Slowe-nien und Rumänien.«Aus: »Neues Deutschland«vom 9. Juli 1997.

LÁSZLÓ ANDOR

Für den Osten nichts als Versprechungen

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Tschechien, die Slowakei oder Rumänien – alles Länder, die ande-re und sogar langsamere Formen der Privatisierung der Wirtschaftanwandten.

Immer wieder hat das offensichtliche Versagen der entfesseltenMarktkräfte bei einer schnellen wirtschaftlichen Erholung undeiner Verbesserung des Lebensstandards für die Mehrheit der Be-völkerung in den östlichen Reformländern die Debatten über dieNotwendigkeit und die Möglichkeit eines ‘neuen Marshall-Planes’neu angeheizt. Daß die Auseinandersetzungen darum nie wirklichverstummten, kann als Beweis für die andauernde gesellschaftlicheInstabilität gelten, der Politiker wie andere Vertreter der öffentli-chen Meinung Tribut zollen müssen. Diese Instabilität in den Län-dern Mittel- und Osteuropas hat verschiedene Seiten. Sie betrifftdie Entsicherung der persönlichen Verhältnisse all derer, diearbeitslos werden oder deren sozialstaatliche Absicherungen verlo-rengehen; damit verbunden ist die Kriminalisierung der Wirtschaft– von allgegenwärtiger simpler Steuerhinterziehung bis zur Öl-Mafia –; da ist das Wiederaufleben ethnisch motivierter Gewalt undrassistischer Aggressionen und schließlich betrifft dies auch dieneuen Kapitalisten, deren neuen Besitztümern oft die rechtlicheLegitimation fehlt.

Die wahre Ursache für diese allgemeine Entsicherung liegt imTransformationsprojekt selbst beschlossen; nicht zuletzt in demVersuch, eine kapitalistische Gesellschaft mittels einer neolibera-len Schocktherapie (schnelle Liberalisierung, Deregulierung undPrivatisierung) aus der Taufe zu heben. Der Druck westlicher Re-gierungen und multinationaler Organisationen, eine solche politi-sche Strategie zu verfolgen, hat faktisch in allen ReformländernMittel- und Osteuropas Wirkung hinterlassen, selbst in jenen Län-dern, deren Regierungen neoliberalen Konzepten eher ablehnendgegenüberstanden. In den Ländern jedoch, in denen die Regierun-gen sich zumindest für einige Zeit vor den Karren einer neolibera-len Wirtschaftspolitik spannen ließen, waren die Folgen besondersverheerend.

Polen war das Land, in dem die, nach den Wahlen im Sommer1989 installierte, stramm anti-kommunistisch eingestellte Solidar-nosc-Regierung das erste und wahrscheinlich radikalste neolibe-rale – maßgeblich von Beratern mit »Dritte-Welt«-Erfahrung,einschließlich des berühmt-berüchtigten Havard-Professors JeffreySachs daselbst, inspirierte – Wirtschaftsprogramm ins Werk zu set-zen versuchte. Nachdem damit im Januar 1990 begonnen wurde,gelang es der Regierung innerhalb eines Jahres, Millionen vonMenschen auf die Straße zu werfen und faktisch überflüssig zumachen. Allein der Zusammenbruch der Massenkaufkraft ermög-lichte es, die Inflation zu stoppen und den ›Nachfrageüberhang‹bei den wichtigsten Lebensmitteln zu beseitigen. Der Preis dafürwar allerdings eine sich im Zuge der abnehmenden öffentlichenUnterstützung für das Reformprogramm zuspitzende politischeKrise und wachsender Druck auf die Solidarnosc, die sich nachdem Rücktritt von Premierminister Tadeusz Mazowiecki gezwun-gen sah, noch zwei weitere Premiers zu verschleißen, bis sieschließlich in einer Koalition unter Führung des Chefs der Bauern-

»Allein die Aufnahme Tsche-chiens, Polens, Ungarns undder Slowakei, so das Bud-getbüro des US-Kongresses... in einer ModellrechnungEnde 1996, würde in dennächsten 15 Jahren bis zu124,7 Mrd. Dollar kosten. 42bis 51,8 Mrd. davon müßtendie NATO-Neulinge aufbrin-gen, um ihre Streitkräfte aufPakt-Standard zu bringenund sich fit zu machen fürdie Strategie weltweiterInterventionsfähigkeit. (...)(Bei den Waffen) ... witternstaatliche Waffenhändler wiedie großen Rüstungsfirmenfette Geschäfte. So hat dasPentagon den heißestenNATO-Anwärtern schon malmoderne Kampfflugzeuge imWert von bis zu acht Milliar-den Dollar angeboten.«Olaf Standke in: »NeuesDeutschland« vom 8. Juli1997.

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partei Waldemar Pawlak Zuflucht nehmen mußte. Auch die außer-ordentliche Belohnung für dieses politische Abenteuer durch dieUSA, die immerhin eine Halbierung der polnischen Auslands-schulden durchsetzten, half jedoch am Ende nichts. Letztendlichmußte die in offensichtlichem Zerfall begriffene Solidarnosc-Bewegung nach den Wahlen im September 1993 der post-kommu-nistischen Linken die Regierungsgeschäfte überlassen.

Unter dem Eindruck der polnischen Erfahrungen entschlossensich zwei andere Länder, die ebenfalls unter einer post-kommuni-stischen Führung standen, die Experimente mit neoliberalen Re-formkonzepten nicht fortzusetzen. Trotz starken Drucks durch denInternationalen Währungsfonds (IWF) verfolgten Rumänien undBulgarien zurückhaltende, vorsichtige Reformprogramme, obwohlnatürlich auch in diesen Ländern die wirtschaftliche Lage nachdem Zusammenbruch des RGW 1991 schweren Verwerfungen aus-gesetzt war. Infolge der Anwendung der ›bewehrten‹ Philosophievon Zuckerbrot und Peitsche durch die allmächtigen internationa-len Organisationen wurden schlußendlich jedoch auch diese beidenLänder in Richtung Schocktherapie gedrängt. Anfang 1997 wurdedieses Ziel dann endlich erreicht – die neugewählten Regierungenüberantworteten die nationalen Währungen dem freien Fall undsenkten die Reallöhne innerhalb weniger Monate in zweistelligenGrößenordnungen.

Demgegenüber wurde in der Tschechischen Republik zwar vonder neoliberalen Rhetorik weidlich Gebrauch gemacht, ohne siejedoch wirklich umzusetzen, während sich in Ungarn genau dasGegenteil ereignete; bis 1995 wurde viel über Gradualismusräsoniert und Neoliberalismus praktiziert. Infolge dessen wird Un-garn heute von Massenarbeitslosigkeit und wachsender sozialerwie regionaler Polarisierung heimgesucht, während in Tschechienweiterhin nahezu Vollbeschäftigung herrscht und die Privatisierungöffentlicher Dienstleistungen 1997 gerade erst begonnen hat. Aus-gerechnet die post-kommunistische Ungarische SozialistischePartei hat nach 1995 das neoliberale Reformprojekt wiederbelebt,was unter anderem zeitweilig die rechts-populistische Partei derKleinen Landwirte zur beliebtesten Partei werden ließ und ihr denRuf einbrachte, als einzige ernsthaft Widerstand gegen die offen-sichtlich von IWF und Weltbank inspirierte Politik zu leisten.Kürzlich ist nun allerdings angesichts eines gigantischen Handels-bilanzdefizits auch der tschechische Premier Vaclav Klaus zumpraktischen Neoliberalismus bekehrt worden, wodurch der bisdato stabilsten und scheinbar erfolgreichsten Variante der Wieder-Vermarktwirtschaftlichung in Mittel- und Osteuropa quasi überNacht aller Glanz abhanden gekommen ist.

Anderenorts ist die Lage indessen noch wesentlich dramatischer.Abenteuerliche Finanzspekulationen haben Albanien an den Randdes Bürgerkrieges gebracht. Die schwerwiegendsten Folgen zeitig-te das neoliberale Krisenmanagement jedoch im früheren Jugosla-wien und in der ehemaligen UdSSR. In Jugoslawien hat die Un-vereinbarkeit der Positionen in bezug auf die Geldpolitik und dieVerteilung der Auslandsschulden zwischen den föderativen Repu-bliken schließlich zum Zerfall des gemeinsamen Staates geführt. In

»Die Europäische Unionwird Ende dieses Jahresentscheiden, ob sie ihre Mit-gliederzahl von bisher 15auf 21 erhöht. Polen, Tsche-chien, Ungarn, Slowenien,Estland und Zypern wurdenam Mittwoch in Strasbourgvon der EU-Kommission alsdie Länder vorgeschlagen,mit denen Anfang 1998 Bei-trittsverhandlungen aufge-nommen werden sollen. (...)Die fünf osteuropäischenLänder haben nach einerUntersuchung der Kommis-sion große Fortschritte beider Entwicklung von Demo-kratie und Marktwirtschaftgemacht. Sie müssen aberlaut Sauter (EU-Kommis-sionspräsident - d. Red.)noch ‘bedeutende zusätzli-che Anstrengungen’ unter-nehmen.«Aus: »Neues Deutschland«vom 17. Juli 1997.

»Der Türkei werden auchkünftig enge Beziehungenzur EU angeboten, abernicht die angestrebte Mit-gliedschaft. Die Türkei ihrer-seits warnte die EU vorBeitrittsgesprächen mit demgriechischen Teil Zyperns.Falls diese Pläne voran-schreiten, habe die Türkeikeine andere Möglichkeit,als sich mit der Nordhälfteder Insel zu vereinigen,sagte Vizepräsident BülentEcevit.«Aus: »Neues Deutschland«vom 16. Juli 1997.

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einer neuen Ära der Barbarei haben verschiedene Formen desMilitarismus, des ethnischen und des Bandenterrors inzwischenMillionen Opfer unter jenen Völkern gefordert, die früher in zweigroßen sozialistischen Föderationen – in der Sowjetunion und inJugoslawien – friedlich miteinander lebten.

Sowohl in den Ländern, die gemeinsame Grenzen mit diesenStaatengebilden hatten, d.h. in fast allen ex-staatssozialistischenStaaten, als auch unter den in der Region engagierten Geschäfts-leuten hat dies zu aufgeregten Debatten darüber geführt, wie Ge-walt eingedämmt sowie Recht und Ordnung wieder hergestelltwerden könnten. Der beste Weg zur Überwindung der allgemeinenEntsicherung wäre sicherlich wirtschaftliche Entwicklung, die vorallem durch eine beschleunigte Integration dieser Staaten in einengesamteuropäischen Wirtschaftsraum in Gang gebracht werdenkönnte. Dadurch könnten in den Transformationsländern Arbeits-plätze und damit wachsende Einkommen für die arbeitenden Men-schen in der Region geschaffen und gesichert werden. Dies würdejedoch eine Art konzertierte Aktion von seiten der wichtigstenwesteuropäischen Regierungen erfordern. Diese sind jedoch ge-genwärtig vollauf damit beschäftigt, ihre einigen Volkswirtschaftenzu strangulieren, um in den kommenden fünf Jahren eine einheitli-che Währung einführen zu können. Nur 1993 und 1994 waren siegezwungen, sich stärker mit den Problemen des Ostens zu befas-sen; das war in den ersten beiden Jahren der Clinton-Administrati-on, als die US-amerikanische Außenpolitik die Beschäftigungmit den Problemen der ehemalig sozialistischen Länder Mittel- undOsteuropas an die EU überantwortet hatte. Damals versprach dieEU den zehn assoziierten mittel- und osteuropäischen Ländern diebaldige Mitgliedschaft. Tatsächlich hat die EU jedoch viel zuwiedersprüchliches, zu wenig und zu spät für die Stabilisierungund Entwicklung in Mittel- und Osteuropa unternommen.

Das Dayton-Abkommen von Ende 1995 – ein reichlich dubioserFriedensvertrag für den Balkan – markiert schließlich die massiveRückkehr der USA auf die politische Bühne in Mittel- und Osteu-ropa; allerdings nur zum Zwecke einer militärischen Befriedung,ohne darüber hinaus gehende Aussicht auf wirtschaftlichen und so-zialen Fortschritt. Die Entscheidung über die Osterweiterung derNATO ist nichts anderes als die Fortsetzung dieser Politik. DasDilemma zwischen »mehr Arbeitsplätzen oder mehr Polizei«wurde von der US-amerikanischen und der westeuropäischenAußenpolitik zugunsten der letzteren aufgelöst.

Sicherlich werden die Verhandlungen über die NATO-Mitglied-schaft sich im Zugewinn an Wählerstimmen für die Sozialdemo-kraten in Polen und die Sozialisten in Ungarn niederschlagen. DiePolen sind wahrscheinlich glücklich, zu einer Verteidigungsallianzzu gehören, deren Atomraketen gegen Moskau gerichtet sind. Siesollten jedoch nicht vergessen, daß sie im Falle einer tatsächlichenAggression der Russen gegen den Westen, lange bevor die ersteAtomrakete gestartet wird, zuerst mit konventionellen MittelnDeutschland gegen die vorrückenden russischen Panzer verteidi-gen müßten. Eine noch wesentlich schwerer wiegende Wahnvor-stellung ist jedoch die Erwartung, daß eine NATO-Mitgliedschaft

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den ersehnten EU-Beitritt näherbringen würde. Dagegen sprechenschon allein die harten ökonomischen Fakten, die Mittel- undOsteuropa vom Maastricht-Europa trennen. Die Realeinkommenliegen hier nach wie vor erst bei einem Zehntel dessen vonDeutschland, der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten istungleich größer als in den meisten EU-Ländern und die Konver-genzkriterien für die europäische Währungsunion können imnächsten Jahrzehnt kaum, wenn überhaupt jemals, erfüllt werden.

Die Osterweiterung der EU ist sicherlich unverzichtbar, wennOsteuropa tatsächlich, d.h heißt ohne autoritäre Strukturen, dauer-haft stabilisiert werden soll. Dies würde allerdings ein viel umfas-senderes Herangehen an ein wirkliches europäisches Integrations-projekt erfordern, ein Projekt ohne diese unpopuläre und die Inter-essen des Kapitals bedienende Einheitswährung, dafür aber mitmehr Entwicklungspolitik, die diesen Namen verdient, mit wenigerZugeständnissen an die Interessen privatwirtschaftlicher Ressour-cenallokation, aber mit umfassenden Sicherheitsstrukturen, wiez.B. die OSZE. Das wäre keineswegs allein im Interesse der Men-schen in Mittel- und Osteuropa. Westeuropa könnte ebenfalls eineMenge gewinnen – mehr Sicherheit und positive Rückwirkungenaus der wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf jeden Fall.

AUS DEM ENGLISCHEN VON ARNDT HOPFMANN

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Am 9. Dezember 1996 schlossen sich die gesellschaftlichen Verei-nigungen »Bund der Realisten«1, die Konstruktiv-ökologischeBewegung Rußlands »Kedr«, der Sozialistische JugendverbandRußlands und die Sozialistische Partei der Werktätigen zur Rußlän-dischen Bewegung für einen neuen Sozialismus zusammen2. DieRegistrierung beim Justizministerium der Russischen Föderationerfolgte am 19. Februar 1997.

Ein entscheidender Grund, sich auf ein gemeinsames Programmzu einigen, war das Bestreben, endlich etwas gegen die sich stän-dig vertiefende wirtschaftliche und politische Krise in Rußland zutun, den zerstörerischen Tendenzen eine konstruktive entgegenzu-setzen. Das sollte zunächst außerhalb des Parlaments geschehen,denn die Duma hatte sich nach Meinung der Mitglieder der neuenVereinigung bisher nicht als konstruktive politische Kraft profilie-ren können. Hinzu kam ihre Besorgnis darüber, daß die Regierungdie Mittel für jene Einrichtungen zusammenstrich, die sich mit demUmweltschutz beschäftigen. Der sich immer mehr auf die perma-nente Umgestaltung des Apparates reduzierenden Reform setztendie Mitglieder der neuen Bewegung ihre Orientierung auf denneuen Sozialismus entgegen.

Was sie darunter verstehen, umriß Juri Wladimirowitsch Petrow3

in seinem Referat auf dem 1. Kongreß der Rußländischen Bewe-gung für neuen Sozialismus am 21. Februar 19974, an dem 128Delegierte teilnahmen. Der angestrebte neue Sozialismus wirdsich grundlegend von dem Modell, das es in der UdSSR gegebenhat, unterscheiden. Es soll ein menschlicher und demokratischerSozialismus sein, den nichts mit dem »Obschtschina-Sozialismus«der ersten Jahre der Sowjetmacht und nichts mit dem staats-büro-kratischen der letzten Jahre der UdSSR verbindet.

Die postindustrielle Epoche, das Zeitalter der Information ver-langt nach einer Gesellschaft, die der technologischen Entwicklungkeine Schranken setzt. Der neue Sozialismus mit seinem rationellfunktionierenden System »Mensch – Gesellschaft – Natur« schaffthierfür die notwendigen Rahmenbedingungen. Eine Losung, unterder die neue Bewegung agiert, lautet »Alles für den Menschen –alles zum Wohle des Menschen«. Die für die Vereinigung eintre-tenden Organisationen verfügen über ein Netz von Basisgruppen in74 Regionen des Landes, in denen viele kompetente Menschentätig sind.5 Der Grundstein ist gelegt, jetzt müssen nur noch dieMassen für die Idee gewonnen werden. Der Kongreß stimmte der

Wladislaw Hedeler – Jg. 1953,Dr. phil., Philosophiehistoriker,Berlin.

1 Der aus dem Club derRealisten (gegründet am14. März 1994) hervorge-gangene Bund der Realistenexistiert seit dem 11. Feb-ruar 1995. Die Realistentreten für die WiedergeburtRußlands als wirklicherVolksmacht ein.

2 Sojus obschtschest-wennych objedinenij »Ros-sijskoe dwishenie sa nowyjsozialism«.

3 J. W. Petrow (Jg. 1939),Parteifunktionär seit 1967,stand 1991 der Administra-tion des Präsidenten vor.

4 In: Materialy I sjesdaRossijskogo dwishenija sanowyj sozialism. Auszüge in:Realist, Nr. 5(43), 5.-11. 3.1997, S. 2. Siehe auch dasim Vorfeld des Kongressesveröffentlichte Interview

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WLADISLAW HEDELER

Für einen neuen Sozialismus

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Empfehlung des Initiativkomitees zu, eine Zeitschrift »Sozialismusdes XXI. Jahrhunderts« zu gründen, die diese Ideen propagiert.Für Ende 1997, Anfang 1998 ist eine internationale Konferenzgeplant. In die Kampagne zur Propagierung des neuen Sozialismussind die Zeitung »Realist«6 und die Zeitung der Ökologiebewegung»Spasenie« (»Rettung«) einbezogen.

In Vorbereitung auf den Gründungskongreß erfolgten Sondie-rungsgespräche mit Vertretern zahlreicher sozialistischer Bewe-gungen, darunter der Vereinigten Industriepartei Rußlands (Ros-sijskaja objedinennaja promyschlennaja partija), dem Bund derArbeit (Sojus truda), der Agrarpartei Rußlands7, der Volks-Union,der Neuen Linken8, der Russischen Volkssozialistischen Partei, derSozialdemokratischen Union u.a.

Ljudmila Stepanowna Wartasorowa,9 Co-Vorsitzende der neuenBewegung und Vorsitzende der Sozialistischen Partei der Werktäti-gen, legte auf dem Kongreß die Ziele und Prinzipien des der Ver-einigung zur Diskussion und Abstimmung vorgelegten Programm-entwurfes dar.10 Sie leitete ihr Referat mit der Feststellung ein, dieEntwicklung habe gezeigt, daß sich sozialdemokratische Konzeptenicht für Rußland eignen. Sowjetrußland, die Sowjetunion undRußland haben verschiedene »Sozialismen« ausprobiert. Mit Blickauf die jüngste Geschichte läßt sich der Beweis erbringen, daßSozialismus und Gewalt durchaus keine Zwillingsbrüder sind. Inden letzten zehn Jahren haben verschiedene politische Kräfte ver-sucht, die Russen zu Einsiedlerkrebsen zu erziehen. Das sei ihnenaber nicht gelungen, denn die Menschen halten an einigen Wertender untergegangenen Gesellschaft fest. Die Wurzeln dieser Wert-vorstellungen reichen weit in die russische Geschichte zurück. Andiese Werte knüpft der neue Sozialismus, den die Bewegung imRahmen einer Politik der kleinen Schritte verwirklichen will, an.

Ein Wesenszug des neuen menschlichen und soziale Gerechtig-keit garantierenden Sozialismus ist die Basisdemokratie. Diesewird und muß direkter sein, als die von der Duma praktizierteVertretungsdemokratie. Der russische Staat, der noch nicht zumRechtsstaat herangereift ist, könne unter dem Motto »Das Rechtsteht höher als der Präsident« errichtet werden. Im neuen Sozialis-mus werden sich Eigentum und Markt entfalten können. Diestrategisch wichtigen Bereiche, die von entscheidender Bedeutungfür den wissenschaftlich-technischen Fortschritt sind, müssenals staatlicher Sektor erhalten bleiben, es muß alles darangesetztwerden, einen richtigen Markt an die Stelle des vorhandenenprimitiven zu setzen. Es wird Bereiche geben, in denen Markt-mechanismen keine Priorität haben. Die Wirtschaft muß eine öko-logische sein.

In einer Zeit, in der der Präsident aufgerufen hat, nach einereinigenden nationalen Idee zu suchen, will die Bewegung beschei-denere Ziele anstreben. Um die Herausbildung einer russischenIdee zu befördern, will sie zunächst unter der Losung »Bürger Ruß-lands – das klingt stolz« agieren.

An die Vorträge schloß sich eine Debatte an, in der zahlreicheRedner11, darunter ausländische Gäste12, das Wort ergriffen. Bishersind Sammelbewegungen der Linken in Rußland meist gescheitert,

»Der neue Sozialismus istein Volkssozialismus«, in:Realist, Nr. 3 (41), 12.-18. 2.1997, S. 2.

5 In 16 Regionen der 89Subjekte der RussischenFöderation sind alle Grün-dungsorganisationen vertre-ten, in 25 drei, in 21 zwei.In 15 Regionen gibt es bis-her keine. Über die Gestal-tung der Regionalpolitiksprach der Co-Vorsitzendeder Bewegung und Vorsit-zende von »Kedr«, A. A.Panfilow. Materialy I sjesdaRossijskowo dwishenija sanowyj sozialism. Moskau1997, S. 32-36.

6 Die Zeitung im Umfangvon 8 Seiten erscheint seitNovember 1995 alle zweiWochen unter dem Motto»Rußland war, ist und wirdgroß sein«.

7 Die von M. I. Lapschingeleitete Partei wurde am26. Februar 1993 gegründet.

8 Die aus sozialistischenClubs hervorgegangenePartei bestand von 1990 bisMärz 1992. Die Partei löstesich auf und erklärte diePartei der Arbeit zu ihremRechtsnachfolger.

9 L. S. Wartasarowa (Jg.1938), 1980-1989 Abtei-lungsleiterin im Institut fürEnergieforschung der Aka-demie der Wissenschaften,dann Parteifunktionen,Gründungsmitglied derSozialistischen Partei derWerktätigen.

10 Siehe auch ihren Artikel»Schöpfertum und Würde«in Realist, Nr. 4 (42), 19. 2.-4. 3. 1997, S. 2.

11 Die Beiträge von 27Rednern sind im herausge-gebenen Material über denI. Parteitag dokumentiert.

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bzw. waren nicht von langer Dauer. Diese negative Erfahrung ist zuberücksichtigen, hob G. I. Skljar13 (Kaluga), Mitglied des politi-schen Rates der Bewegung für neuen Sozialismus hervor. In derProvinz arbeiten die lokalen Administrationen oft ohne Programm.Dort wo wir über Einfluß verfügen, können wir, indem wir be-stimmte Politiker unterstützen, unser Programm propagieren, hobSkljar hervor. N. F. Dolshnikow (Orlow) schloß sich dem Vorred-ner an und hob als Voraussetzung politischer Arbeit vor Ort hervor,daß die Menschen das Programm verstehen müßten. A. K. Isajew,Sekretär des Föderalrates der Gesamtrussischen föderativen Bewe-gung »Sojus truda« (»Union der Arbeit«) wies auf die Gewerk-schaften als den Hauptverbündeten der Linken hin. Seine Organi-sation ist in über 70 Subjekten der Russischen Föderation vertretenund hat bereits Erfahrungen im Arbeitskampf sammeln können.B. F. Slawin14, Vorsitzender des Exekutivsekretariats der Partei derSelbstverwaltung der Werktätigen fragt nach dem Neuen an demvon der Bewegung propagierten Sozialismus und unterstreicht dieNotwendigkeit, mit einem deutlich von dem der KPRF unterschie-denen Kurs ins Volk zu gehen. Der neue Sozialismus muß heran-reifen, es wäre falsch, einen neuen auszudenken, zu deklarierenoder lediglich sozialdemokratische Programme zu wiederholen,unterstrich A. W. Busgalin, Vorsitzender des Sowjets der Inter-nationalen Assoziation »Wissenschaftler für Demokratie undSozialismus«. Der hohe theoretische Anspruch des vorgelegtenProgrammentwurfes sei kein Fehler, erklärte A. N. Malzew, Abge-ordneter der Duma und Vorsitzender der Sozialistischen Partei derWerktätigen im Gebiet Nishnij Nowgorod. Bereits die auf demKongreß verkündeten Losungen haben gezeigt, daß die Bewegungüber genügend sachkundige und kompetente Propagandisten ver-fügt, die in der Lage sind, das Programm unter die Leute zu brin-gen. Ju. M. Poljakow, Chefredakteur des Almanach »Realist«erklärte die Ausrichtung auf die Intellektuellen. Die aus Petersburgangereisten W. W. Schemetow (Kedr) und W. W. Kalaschnikow(Sozialistische Partei der Werktätigen) wiesen auf möglicheSchwerpunkte der Arbeit in den Regionen hin. Wir müssen denMenschen die Hoffnung wiedergeben, forderte N. A. Lisizyna ausNowgorod und gegen die liberalen Ideen ankämpfen, die Rußlandbereits zweimal an den Rand des Abgrundes gebracht haben,ergänzte I. S. Danilenko vom »Bund der Realisten«. Über die Ar-beit unter Ärzten, Frauen und Militärangehörigen berichteten I. N.Gluchowa (Chabarowsk), W. I. Tscherewatenko (Dongebiet) undE. A. Netschajew (Kostroma). Immer wieder war davon die Rede,daß Sjuganows KPRF und die LDPR unter Shirinowski eigentlichnicht wie Oppositionsparteien in Erscheinung treten.

Folgende Dokumente wurden verabschiedetEntschließung des I. Kongresses der Rußländischen Bewegung fürneuen Sozialismus;Aktionsprogramm der Rußländischen Bewegung für neuen Sozia-lismus;Ziele, Prinzipien und Schwerpunktaufgaben der RußländischenBewegung für neuen Sozialismus;

12 Die Ansprachen vonAlexander Lilow (Bulgarien),S. N. Kijaschko (Ukraine),R. A. Tschakwetadse (Geor-gien), Laszlo Kapoi (Un-garn) und die Grußtelegram-me aus Sofia, Warschauund Serbien sind veröffent-licht. Es nahmen außerdemVertreter sozialistischer Par-teien aus Weißrußland,Deutschland, Griechenland,Dänemark, Finnland undFrankreich teil. Die Grußbot-schaften der Kosaken, Shiri-nowskis und des stellvertre-tenden Vorsitzenden derDuma (veröffentlicht in:Realist, Nr. 4(42) 19.2.- 4.3.1997, S. 1) wurden nicht indie Broschüre übernommen.

13 Gennadij IwanowitschSkljar (Jg. 1953), Absolventdes Instituts für Landma-schinenbau und der Mo-skauer Parteihochschule derKPdSU, Komsomol- undParteifunktionär in Rü-stungsbetrieben, Delegierterdes 28. Parteitages derKPdSU, Führungsmitgliedder Sozialistischen Parteider Werktätigen.

14 Slawin trat 1993 ausder Rußländischen Parteider Kommunisten (Rossijs-kaja Partija Kommunistow)aus und schloß sich kurzzei-tig der KPRF an.

15 Der Hochschullehrerund Initiator der »Marxisti-schen Plattform« gehörte1991 zu den Mitbegründernder Partei der Werktätigen.Dieser in 17 Regionen desLandes vertretenen Parteigehörten ca. 200 Mitgliederan.

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Wer sind die »neuen Sozialisten«?Wesensmerkmale des neuen SozialismusPrinzipien und Prioritäten

Der neue Sozialismus und die DemokratieDer neue Sozialismus und der StaatDer neue Sozialismus und das EigentumDer neue Sozialismus und die soziale MarktwirtschaftDer neue Sozialismus und die ökologischen PrioritätenDer neue Sozialismus und die humanistischen WerteDer neue Sozialismus und die Sicherheit des VaterlandesDer neue Sozialismus und die Außenpolitik;

Beschluß des I. Kongresses der Rußländischen Bewegung für neu-en Sozialismus über das Programmdokument »Ziele, Prinzipienund Schwerpunktaufgaben der Rußländischen Bewegung für neu-en Sozialismus«;Appell des I. Kongresses der Rußländischen Bewegung für neuenSozialismus;Entschließung des I. Kongresses der Rußländischen Bewegung fürneuen Sozialismus Über die Unterstützung der Forderungen derFöderation Unabhängiger Gewerkschaften Rußlands;Entschließung des I. Kongresses der Rußländischen Bewegung fürneuen Sozialismus Über die negativen Folgen der Reorganisationder föderativen Ministerien und Institutionen;Statut der Union gesellschaftlicher Vereinigungen der Rußländi-schen Bewegung für neuen Sozialismus.

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Einladung

zum 2. Crossover-Kongreß am 13./14.12.1997 in Bochum

Vom Machtwechsel zum Politikwechsel

Projekte für einen solidarisch-ökologischen New Deal

Die Wahlsiege der Linken in Großbritannien und Frankreich haben Europa in Bewegung gebracht.Der Neoliberalismus in der Prägung der bislang in Europa dominierenden konservativen Partei-en stößt an seine Grenzen. Schon die erdrutschartigen Wählerbewegungen in Großbritannienhatten deutlich gemacht, wie groß das Bedürfnis nach Veränderung in ganz unterschiedlichengesellschaftlichen Gruppen ist. Die neue französische Politik hat das Dogma einer ausschließ-lich stabilitätsorientierten europäischen Währungsunion in Frage gestellt und das Ziel der Be-schäftigungssicherung ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Illusionen sind nicht ange-bracht; aber das politische Terrain ist neu eröffnet worden. Aktive Beschäftigungspolitik undeine an gesellschaftlichen Zielsetzungen orientierte Wirtschaftspolitik stehen wieder auf derAgenda, das Dogma der Standortlogik bleibt nicht mehr unwidersprochen.

Auch in Deutschland haben die Regierungswechsel in Frankreich und Großbritannien dieverknöcherte politische Landschaft aufgerührt: Konservative und Liberale sind erstmals wirk-lich in Sorge vor einem Machtverlust. Die Linke schöpft Hoffnung, daß es 1998 nach 16 Jahrenendlich zu einem Regierungswechsel kommen könnte. Daß die Politik der konservativ-liberalenKoalition mehr als verbraucht ist und auf immer größeren Unwillen trifft, hat sich bereits in denletzten Monaten gezeigt: von der gewerkschaftlichen Großdemonstration in Bonn bis zu den Anti-Atomprotesten im Wendland, von den betrieblichen Kämpfen in Ostdeutschland bis zu den Pro-testen der Wohlfahrtsverbände und Patientengruppen gegen die Bonner Gesundheitspolitik, vomWiderstand der Kohle-Kumpel bis zu den Schülerprotesten gegen Bildungsabbau und Lehrstel-lennot. Daß sich in der Gesellschaft neue Hoffnung auf eine andere Politik regt, hat ganzbesonders die Erfurter Erklärung von Künstlern, Wissenschaftlern und Gewerkschaftern deut-lich gemacht, die die Menschen in unserem Land aufruft, die Wende zu einer anderen Politik indie eigenen Hände zu nehmen.

Den Oppositionsparteien ist es bislang nicht wirklich gelungen, Protest und Unzufriedenheitüber die Politik der Bundesregierung politisch aufzugreifen und in einer gesellschaftlichenBewegung für eine neue Politik zu bündeln. Es wird zu wenig erkennbar, welche Konturen dieAlternative zum herrschenden Modell haben soll. Zwar werden im einzelnen gute Reformvor-haben entwickelt, es fehlt aber an einem zusammenhängenden Konzept, mit dem die zentralengesellschaftlichen Probleme bewältigt werden können. Allzu oft fehlt der Mut zu Konflikten,weil die Deutungsmuster des Neoliberalismus bis weit in das Oppositionslager wirksam sind. Esbesteht die Gefahr, daß auch eine rot-grüne Regierung im Kern das neoliberale Projekt fortsetzt.

Ein Neoliberalismus light mit ökologischen und sozialen Tupfern wäre jedoch nicht in derLage, die enormen gesellschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen, vielmehr bestünde dieGefahr einer Diskreditierung rot-grüner Perspektiven. Wenn es nicht bald gelingt, die politischenAlternativen deutlicher zu profilieren, befürchten wir, daß der Impuls der linken europäischenWahlsiege versickern und die vorhandene Unzufriedenheit in der Gesellschaft in resignativerPolitikverdrossenheit enden wird.

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Eine solche verhängnisvolle Entwicklung muß verhindert werden. Denn unsere Gesellschaftsteht vor einer Wegscheide: Wird die Aushöhlung solidarischer Strukturen fortgesetzt und damitdem Gemeinsinn die Basis entzogen oder gelingt es, einen grundlegenden Richtungswechseleinzuleiten und eine Politik der Vollbeschäftigung für Frauen und Männer, der Erneuerung desSozialstaats und der ökologisch nachhaltigen Wirtschaftsweise in Angriff zu nehmen? Wer denWechsel will, muß auch bereit sein, profilierte Alternativen anzubieten und ein gesellschaftlichesBündnis für den Wechsel zu formieren. Nur so kann die neoliberale Hegemonie durchbrochenund die Mehrheitsfähigkeit für eine andere Politik errungen werden.

Wir brauchen ein neues Bündnis, einen solidarisch-ökologischen »New Deal«, der verschiede-ne gesellschaftliche Kräfte in dem Ziel eint, unsere Produktions-, Arbeits- und Lebensweisen inRichtung ökologischer Nachhaltigkeit umzustellen, entsprechende Innovations- und Investiti-onsfelder zu fördern, dabei neue Arbeit zu schaffen und den Sozialstaat auf erneuerter Grundla-ge zu sichern. Die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit spielt dabei eine Schlüsselrolle: Voll-beschäftigung kann nur erreicht werden, wenn eine radikale Arbeitszeitverkürzung, die doppel-te Umverteilung von Erwerbs- und Familienarbeit zwischen Männern und Frauen, der Aufbaueines neuen Beschäftigungssektors für sozial, kulturell und ökologisch sinnvolle Vorhaben undeine entsprechende Erschließung neuer Bedarfsfelder miteinander verbunden werden. Der öko-logische Umbau muß dabei als zentrales Beschäftigungs- und Wachstumsfeld angesehen wer-den. Die ökologische Ausrichtung insbesondere von Verkehr und Energie im Rahmen eines öko-logischen Zukunftsinvestitionsprogramms schafft neue Arbeit. Wenn es gelingt, mit der ökolo-gischen Wende neue Arbeit für Vollbeschäftigung zu schaffen, können auch die Systeme der so-zialen Sicherung erhalten, erneuert und ausgebaut werden. Ökologischer Umbau, Vollbeschäfti-gung und Sozialstaat sind die zentralen Koordinaten eines solidarisch-ökologischen »New Deal«.

Wir, Mitglieder von SPD, Bündnis’90/Die Grünen und PDS, wollen einen Beitrag dazu leisten,Eckpunkte eines solidarisch-ökologischen »New Deals« zu entwickeln. Mit »Crossover«, einergemeinsamen Initiative der drei Zeitschriften »spw – Zeitschrift für sozialistische Politik undWirtschaft«, »Andere Zeiten« und »Utopie kreativ«, arbeiten wir an politischen Alternativen zuMassenarbeitslosigkeit, sozialer Spaltung, ökologischer Krise und Demokratieabbau.

Unseren Beitrag zur Herausbildung von Reformalternativen sehen wir einerseits darin, in unse-ren Parteien für das Aufbrechen von Politikblockaden zu werben. Andererseits begreifen wir den»Crossover«-Prozeß als eine Möglichkeit, unterschiedlichen politischen Kräften der Linken einForum für den Dialog zu bieten. Wir wollen die widerspruchsvolle Geschichte der Linken in Ostund West kritisch reflektieren, Gemeinsamkeiten ausloten und divergierende Positionen produk-tiv verarbeiten. Dabei suchen wir den Austausch mit linken Kräften aus anderen europäischenLändern.

Mit einem Kongreß in Berlin und Tagungen in Magdeburg und Hannover haben wir Grundlagendafür geschaffen. Beim ersten Crossover-Kongreß ging es uns darum, durch konkret machbareReformprojekte das politische Terrain neu zu öffnen und der ökonomistischen Entpolitisierungder Politik entgegenzuwirken. Nun kommt es darauf an, Schlüsselprojekte eines ökologisch-solidarischen Umbaus zu erarbeiten, damit der angestrebte Regierungswechsel auch zu einemPolitikwechsel führt.

Wir wollen oppositionelle Diskussionsprozesse zusammenführen und weiterentwickeln, wirwollen das Ringen um eine andere Politik nicht an Parteien delegieren, sondern selber politischeingreifen, um einen Politikwechsel in Deutschland und Europa möglich zu machen.

Wir laden deshalb zu einem reformpolitischen »Crossover«-Kongreß am 13./14. Dezember 1997nach Bochum ein.

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I.Wer die »Utopia« des Thomas Morus1 verstehen will, ist gut bera-ten, sie in der Perspektive ihrer strukturellen Verklammerung mitder Sozialkritik an den Verelendungstendenzen im England des16. Jahrhunderts zu lesen, auf die sie eine Anwort zu geben ver-sucht. Weder Gott noch andere überirdische Mächte, weder Dämo-nen noch ein blindes Schicksal sind die Urheber jener Verhältnisse,an denen eine ganze gesellschaftliche Schicht, nämlich die derPachtbauern2, zugrundegeht, sondern die Menschen selbst. Aus deranalytischen Erforschung der gesellschaftlichen Bedingungen ihrereigenen Depravation, so müssen wir dieses 1516 erschienene klas-sische Werk interpretieren, gewinnt das utopische Konstrukt desgelungenen Lebens jenseits theologischer Spekulation und mythi-scher Suggestion nicht nur seine Plausibilität. Ebenso wichtig ist,daß erst die Negation dessen, was als weltimmanente Ursache desmateriellen und psychischen Elends ausgemacht wurde, die Kontu-ren des alternativen Gesellschaftsmodells erkennen läßt.

Doch worum geht es Morus3 bei seiner vernichtenden Kritik anden sozialen und politischen Mißständen unter der HerrschaftHeinrichs VIII., deren Schärfe im zeitgenössischen Kontext ihres-gleichen sucht? Ihr Ausgangspunkt ist die Desintegration des Ge-meinwesens: Deren sozio-ökonomische Begründungszusammen-hänge, die in diesem Werk schonungslos aufgedeckt werden, ste-hen nicht beziehungslos nebeneinander. Vielmehr werden sie alsAusfluß einer einzigen Institution verstanden, die gleichsam dieStruktur der Gesamtgesellschaft prägt: Es ist die Verfügung überPrivateigentum. Die aus ihr folgenden »unzähligen, ebenso häufigentstandenen wie niemals endenden Streitigkeiten« verhindertennicht nur die Verwirklichung einer stabilen Ordnung, weil die Ge-setze – so viele von ihnen auch Tag für Tag erlassen werden – nichtausreichten,«einen jeden das, was er sein Privateigentum nennt, er-werben oder schützen oder genügend von fremdem Besitz abgren-zen zu lassen« (44). Noch entscheidender sei, daß sie strukturellauf staatlicher Ebene eine humanere Politik verhindere. Hythlode-us, der Parteigänger der Utopier und Morus’ alter ego, wird nichtmüde, darauf hinzuweisen, daß das Gemeinwohl, das »bonumcommune«, an der Logik der Besitz- und Machtkumulation, dieaus der Verwertung des Privateigentums folgt, scheitern müsse. Diegesetzliche Festlegung eines Höchstvermögens, die Einschränkung

Richard Saage – Jg. 1941,Politikwissenschaftler, Pro-fessor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

1 Im folgenden zitiere ichnach folgender Edition:Thomas Morus, Utopia, in:Der utopische Staat. Über-setzt und hrsg. v. Klaus J.Heinisch, Reinbek bei Ham-burg 1970, S.7-110. Die Be-legstellen der Morus-Zitate,durch runde Klammer gekenn-zeichnet, befinden sich imText. Die Zitate wurden ver-glichen mit dem lateinisch-englischen Original: The bestState of a Commonwealthand the New Island of Uto-pia. A Truly Golden Handbook,No Less Beneficial than En-tertaining by the Distin-guished and Eloquent AuthorThomas More Citizen andSheriff of the Famous Cityof London, in: The CompleteWorks of St. Thomas More,Vol. 4. Edited by EwardSurtz, S.J. and J.H. Hexter,New Haven and London 1965.

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RICHARD SAAGE

Zum Verhältnis von Individuum undStaat in Thomas Morus’ »Utopia«

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der Macht des Fürsten und des Volkes sowie die Sicherung einerintegren Amtsausübung durch eine entsprechende Gesetzgebunglegten zwar nahe, daß »diese Übelstände gemildert und abge-schwächt werden«. In letzter Instanz ein bloßes Kurieren an Sym-ptomen, bekämpften sie das Übel nicht an der Wurzel, »so langejeder sein persönliches Eigentum besitzt. Während man nämlichauf der einen Seite zu heilen sucht, verschlimmert man die Wundenauf der anderen. So entsteht abwechselnd aus der Heilung dereinen die Krankheit der anderen, weil man keiner etwas zusetzenkann, ohne es der anderen wegzunehmen« (45).

Wenn aber auf der Grundlage des Privateigentums eine »gerech-te und erfolgreiche Politik« nicht möglich ist, weil »das Beste denSchlechtesten zufällt« (44), ist die Frage nach der Alternative auf-geworfen. Der bloße Hinweis, daß sie in der Errichtung des Ge-meineigentums als der materiellen Grundlage des »besten« Staatesbestehe, ist zu abstrakt, um überzeugen zu können. Wir sind, somüssen wir Hythlodeus interpretieren,in unserem Bewußtsein der-maßen von der Institution des Privateigentums geprägt, daß wir uns»kein Bild von einem solchen Zustand (...) zu machen vermögen,oder nur ein falsches«. Und er fährt fort: »Wenn du aber mit mir inUtopia gewesen wärest und hättest mit eigenen Augen die dortigenSitten und Einrichtungen gesehen, wie ich, der ich mehr als fünfJahre dort gelebt habe und niemals mehr hätte fortgehen wollen,wenn nicht um von dieser Welt zu künden, dann würdest Du ohneweiteres gestehen, nirgendwo sonst ein so wohlgeordnetes Staats-wesen gesehen zu haben wie dort« (46).

Tatsächlich geht es Morus in seinem »wohlgeordneten Staatswe-sen« um die gesellschaftlich konkrete Darstellung der sozialen Ge-rechtigkeit, die gleichsam im dialektischen Gegenzug zu dem kri-tisierten Zustand extremer Ungerechtigkeit ihr spezifisches Profilgewinnt. Wie die Menschen durch eine falsche Organisation ihrergesellschaftlichen Verhältnisse deren Zerrüttung bewirken, so kannes keine andere Instanz geben, dem Elend zu entkommen, als diekonstruktive Kraft ihrer eigenen Vernunft. Der Kern der Verfas-sung der Utopia, das Gemeineigentum, ist nicht deswegen gerecht,weil es – wie bei Platon – einem intelligiblen, d.h. transzendentenUrbild nahekommt. Seine Legitimität gewinnt es vielmehr aus deroptimalen Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse in ihrem in-nerweltlichen Kontext: »Wo allen alles gehört, ist jeder sicher, daßkeinem etwas für seine persönlichen Bedürfnisse fehlt (...). Es gibtweder Arme noch Bettler dort, und obwohl keiner etwas besitzt,sind doch alle reich« (106). Das Ziel der Verfassung Utopias bestehtdarin, »soweit es die öffentlichen Belange zulassen, allen Bürgernmöglichst viel Zeit von der menschlichen Fron für die Freiheit undPflege des Geistes sicherzustellen« (58). Wie das Staatsziel, so wirdauch der Ursprung des Gemeinwesens säkular gedacht: Die Utopiersind nämlich der Meinung, daß die »staatlichen Gesetze über dieVerteilung der Lebensgüter, d.h. also der Grundlagen des Wohler-gehens« entweder von einem guten Fürst erlassen worden sind wiein ihrem Falle von dem Gründungsvater Utopos. Oder ein Volk,»das weder von Tyrannenmacht gezwungen noch von List getäuschtist«, setze sie »in gemeinsamer Vereinbarung« (71f) fest.

2 Vgl. Morus’ berühmtenKommentar zur Einhegungder Allmende: »›Das sindeure Schafe‹, sagte ich, ›dieso sanft und genügsam zusein pflegten, jetzt aber, wieman hört, so gefräßig undbösartig werden, daß siesogar Menschen fressen,Felder, Gehöfte und Dörferverwüsten und entvölkern‹«(26). Und nun folgen klassi-sche Sätze einer frühneu-zeitlichen Kapitalismuskritik:»Damit also ein einzigerPrasser, in seiner Unersätt-lichkeit eine unheilvolle Pestfür sein Vaterland, einigetausend Morgen zusam-menhängenden Ackerlandesmit einem einzigen Zauneinfriedigen kann, werdendie Pächter vertrieben;durch Lug und Trug umgarntoder mit Gewalt unter-drückt, werden sie enteignetoder, durch Schikanen zumVerkauf gezwungen« (ebd.).

3 Zur Biographie Morus’,der am 26. Oktober 1529zum Lordkanzler HeinrichsVIII. ernannt und am 6. Juni1535 enthauptet wurde,weil er die Suprematie desKönigs über die englischeKirche ablehnte, vgl. diegrundlegende Untersuchungvon Richard Marius: Tho-mas Morus. Eine Biogra-phie. Aus dem Amerikani-schen von Ute Mäurer,Zürich 1987.

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Dieser hohe Säkularisierungsgrad der utopischen Fiktion bedeu-tet einen Bruch mit dem Mittelalter, der oft unterschätzt wurde4. Soist die Architektur Utopias vollkommen rationalistisch; sie läßtweder den natürlichen Formen noch der individuellen Gestaltungund dem historisch Gewachsenen Raum5. Die geometrischen Mu-ster überwiegen eindeutig. So bilden die Küsten der Insel Utopia»einen wie mit dem Zirkel gezogenen Kreisbogen von 500 MeilenUmfang und geben der ganzen Insel die Gestalt des zunehmendenMondes« (48). Auch die 54 Städte Utopias sind auf eine strengegeometrische Struktur festgelegt: Im Grundriß quadratisch, setzensie sich aus vier gleich großen Bezirken mit einem Versorgungs-zentrum zusammen. »Alle haben dieselben Anlagen und, soweit esdie geographische Lage gestattet, dasselbe Aussehen« (49), so daßjeder, wie Morus hervorhebt, der eine von ihren Städten kennt,weiß, wie alle anderen aussehen (50). Auch die funktionale Struk-tur der Städte läßt eine strikte rationalistische Planung erkennen:»Die Straßen sind zweckmäßig angelegt: Sowohl günstig für denVerkehr, als auch gegen die Winde geschützt« (52). Die Architek-tur der aus drei Stockwerken bestehenden Häuser ist standardisiert.Auch die Anordnung der Gebäude erfolgt nach dem Prinzip derBlockbebauung: Die Zuordnung von Gärten zu der Hinterseite derHäuser ist ebenso einheitlich (ebd.) wie die des Ackerlandes zu denStädten (49). Jede Stadt besitzt auf keiner Seite weniger als zwölfMeilen Bodenfläche. Liegen jedoch die Städte weiter voneinanderentfernt, so ist der Umfang des Bodens beträchtlich größer. Wiekeine Stadt das Bestreben hat, ihr Gebiet zu vergößern, so bleibtauch die Einwohnerzahl ebenso konstant wie die Gesamtpopula-tion Utopias. Selbst die Verhältnisse auf dem Land sind nach einemeinheitlichen Muster gestaltet (49).

Die Homogenität der Architektur hat ihre Entsprechung, wie esscheint,nicht nur in den gesellschaftlichen Beziehungen der Uto-pier, sondern auch in ihrem Selbstverständnis. Regionale Unter-schiede zwischen den Bewohnern der Städte und des flachen Lan-des gibt es nicht: Uniformiert gekleidet, stimmen sie in Sprache,Sitten, Einrichtungen und Gesetzen vollständig überein (49). DieseGleichförmigkeit macht nicht einmal halt vor dem Tagesablauf derUtopier: Er ist nach einem bestimmten Muster bis in die Detailsfestgelegt (55). Selbstverständlich gehört die Differenzierung zwi-schen arm und reich oder zwischen unterschiedlichen Ständen derVergangenheit an. Vor allem aber ist das Denken der Utopier voll-kommen zweckrational und ihr Verhältnis zur Natur instrumentell.Wenn es ihrem Nutzen dient, holzen sie ihre Wälder ab und forstensie an einer anderen Stelle wieder auf. Sie haben dabei »nicht nurden besseren Ertrag im Auge, sondern auch die Transportverhält-nisse: das Holz soll mehr in der Nähe des Meeres, der Flüsse oderder Städte selbst wachsen, weil man ja Feldfrüchte auf dem Land-wege mit viel geringerer Mühe als Holz über weite Strecken ver-frachten kann« (78). Aber auch das Verhältnis zum eigenen Körperunterscheidet sich klar von der Selbstwahrnehmung der mittel-alterlichen Menschen. So betrachten sie es als eine Undankbarkeitgegenüber der Natur, wenn man seinen eigenen Körper durchFasten schwächt oder sich selbst peinigt, »nur um des nichtigen

4 Vgl. hierzu Thomas Nip-perdey: Die Funktion derUtopie im politischen Den-ken der Neuzeit, in: Archivfür Kulturgeschichte, Bd.44(1962), S. 371: NorbertElias: Thomas Morus’Staatskritik, in: WilhelmVoßkamp (Hrsg.), Utopiefor-schung. InterdisziplinäreStudien zur neuzeitlichenUtopie, Bd. II, Frankfurt amMain 1985, S. 144; KrishanKumar: Utopia and Anti-Utopia in Modern Times,Oxford, New York 1987,S. 20 ff; Richard Saage,Utopieforschung. Eine Bi-lanz, Darmstadt 1997, S. 56ff.

5 Vgl. hierzu neuerdingsRichard Saage, Eva-MariaSeng: Geometrische Musterzwischen frühneuzeitlicherUtopie und russischerAvantgarde, in: Zeitschriftfür Geschichtswissenschaft,44. Jg. (1996), S. 679 ff;Gerd de Bruyn: Die Diktaturder Philanthropen. Entwick-lung der Stadtplanung ausdem utopischen Denken,Braunschweig, Wiesbaden1996, S.61ff.

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Scheins der Tugend willen und um künftige Beschwerden leichterertragen zu können, die vielleicht niemals auftreten werden« (77).

Auch wenn nicht behauptet werden kann, die Utopier hätten sichmit einem einzigen Schnitt von der traditionellen Herkunftsweltgetrennt, so ist doch erstaunlich, in welchem Maße sie sich aus denBindungen des mittelalterlichen »Ordo« lösen. Daß sie auf ihre Ge-wissensfreiheit in religiösen Angelegenheiten pochen, ist genausoeine notwendige Konsequenz dieser Tatsache wie die Wahrneh-mung des Wahlrechts im Rahmen ihrer Repräsentationsorgane.Sie betrachten ihr Leben nicht als eine bloße Vorstufe zum Jenseits,sondern wollen ihr Glück in dieser Welt verwirklichen, und zwarin einer Weise, daß sie ihr »Leben möglichst sorglos und fröh-lich...führen« (71). Andererseits ist Utopia, wie es scheint, ein kon-fliktfreies, egalitäres und zugleich rational durchkonstruiertes Ge-sellschaftsmodell, das, auf strikte Funktionalität festgelegt, durcheinen »subjektfeindlichen Institutionencharakter«6 gekennzeichneterscheint. Wie sind diese beiden Tendenzen zu vereinbaren? Gibtes vielleicht einen Zwiespalt zwischen Freiheitlichkeit und rigidemInstitutionalismus in der der »Utopia« zugrundeliegenden Konzep-tion, die ihrem Verfasser möglicherweise gar nicht bewußt war?Oder ist das, was die Vermutung eines freiheitlichen Individualis-mus für sich zu reklamieren vermag, in Wirklichkeit kein origi-närer, sondern lediglich ein von übermächtigen Instititutionengewährter Freiraum, der jederzeit von ihnen wieder zurückgenom-men werden kann? Ist die Einbindung der einzelnen in säkula-risierte gesellschaftliche Funktionszusammenhänge nach ihrerEmanzipation aus der mittelalterlichen Seinshierarchie mit derAuslöschung des Individuums verbunden?

Diese Fragen, die die Morus-Forschung in zwei Lager spaltet7,sind mit den wenigen anthropologischen Aussagen in Morus’»Utopia« nicht zu beantworten. Einerseits wird dem Menschen dieFähigkeit, ein tugendhaftes Leben zu führen und, weitgehend aufsich selbst gestellt, einen vorbildlichen Staat aufzubauen, aus-drücklich zugebilligt: Ohne diese Prämisse bräche die Konstruk-tion Utopias in sich zusammen. Andererseits haben sie sich nochnicht von der mittelalterlichen Vorstellung der Erbsünde befreienkönnen. Obwohl die Utopier Heiden sind, lauert in ihrem Gemein-wesen »die Sünde, immer bereit zum Sprung«.8 So ist von derSucht nach Luxus und »sinnlosen Ehrbezeugungen« (72f) und den»üblen Verlockungen verwerflicher Begierden«, die »nicht nurfür die höchste Lust gehalten, sondern sogar unter die wichtigstenLebenszwecke gezählt werden« (72) ebenso die Rede wie von derWandelbarkeit der menschlichen Natur, die das Absinken selbstvon Tugendhaften »in Verderbnis und Laster« zumindest nicht aus-schließt (102). Morus hat offenbar ein dualistisches Menschenbild,das keineswegs monokausal auf einen rigiden Institutionalismusfestgelegt ist. Das Problem des möglichen Zwiespalts in der Kon-struktion der Utopia ist also nur dann zu beantworten, wenn wirnachvollziehen, welche Spielräume Morus dem einzelnen gegen-über seinem idealen Staat tatsächlich zubilligt. Das aber setzt voraus,daß wir uns den wirtschaftlichen, familialen und politischen Institu-tionen »Utopias« in ihrem Verhältnis zu den einzelnen zuwenden.

6 Wilhelm Voßkamp:Thomas Morus’ Utopia:ZurKonstituierung einesgattungsgeschichtlichenPrototyps, in: ders. (Hrsg):Utopieforschung, Bd. II.(Anm.4), S. 191.

7 Für eine Utopia-Interpre-tation, die die humanistisch-liberalen Elemente betont,vgl. Gustav Landauer, DieRevolution, Frankfurt amMain 1923, S.67 f; demge-genüber findet sich beiElias, Thomas Morus’Staatskritik (Anm. 4), S. 87eine die funktionalistisch-archaistischen Aspekte derHerrschaftsmechanismenUtopias betonende Auslegung.

8 Marius: Thomas Morus(Anm.3), S. 222.

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II.Platon, auf dessen »Politeia« sich Morus immer wieder beruft(vgl.8, 21, 36, 43f, 79), glaubte noch, die Harmonie und Statik dergesellschaftlichen Verhältnisse dadurch sichern zu können, daß erder politisch herrschenden Kaste Eigentumslosigkeit verordnete,während die physisch arbeitenden Schichten, also Handwerker,Bauern etc., weiterhin auf der Grundlage des Privateigentums wirt-schafteten. Morus geht insofern über den kommunistischen AnsatzPlatons hinaus, als er das Gemeineigentum zur Basis des gesamtenWirtschaftslebens erhob: Produktion, Distribution und die Organi-sation der Arbeit sind nicht auf individuelle Profitrealisierung, son-dern auf kollektive Bedürfnisbefriedigung des Gemeinwesens be-zogen. Ihre Garantie obliegt der Lenkung durch die zentralen undlokalen Behörden. So ist nicht der Markt, sondern der Senat, der inder Hauptstadt Utopias, Amaurotum, seinen Sitz hat, dafür verant-wortlich, daß der in einzelnen Bezirken erwirtschaftete Überfluß anjene Orte gebracht wird, in denen Mangel herrscht, und zwar un-entgeltlich, »ohne daß die Empfänger diejenigen, die etwas abge-ben, entschädigen« (64). Vor Ort verteilen die städtischen Behör-den in Magazinen die Güter an die Familienältesten. Sie erhaltenalle gewünschten Produkte ohne Bezahlung und Gegenleistung. Dadie Lebensmitel im Überfluß vorhanden sind, gilt es als sicher, daßniemand mehr fordert, als er benötigt (59f). Mit der optimalen undlangfristig gesicherten Bedürfnisbefriedigung entfällt die Konkur-renz um knappe Güter ebenso wie Gold und Silber als Zahlungs-mittel.

Die Hauptquelle des gesellschaftlichen Reichtums in Morus’Utopia ist die Landwirtschaft. Nicht zufällig üben alle Männer undFrauen gemeinsam ein einziges Gewerbe aus: den Ackerbau. »Vonihm ist keiner befreit; in ihm werden alle von Kindheit an unter-wiesen, teils durch theoretischen Unterricht in der Schule, teilspraktisch, indem die Kinder auf die der Stadt benachbarten Äcker,gleich wie zum Spiel, geführt werden, wo sie nicht nur zuschauen,sondern zur Übung der Körperkräfte auch zupacken« (54). EinenBauernstand jedoch gibt es nicht. Zwar sind die Gehöfte unter derLeitung eines Hausvaters oder einer Hausmutter zweckmäßig überdie ganze Anbaufläche verteilt, die, mit landwirtschaftlichem Gerätversehen, mindestens 40 Männer und Frauen und zwei bodenge-bundene Dienstleute umfassen. Doch »aus jedem Haushalt ziehenjährlich 20 Personen in die Stadt zurück«, nachdem sie zwei Jahreauf dem Land zugebracht haben. »An ihre Stelle treten ebenso vie-le Neue aus der Stadt. Sie werden von denen, die bereits ein Jahrdort gewesen sind und sich daher auf die Landwirtschaft verstehen,eingewiesen, (...) damit nicht alle zugleich dort Neulinge sind undvon der Landwirtschaft nichts wissen (...)« (49). Das Einbringender Ernte ist Angelegenheit der staatlichen Behörden. Sie schickendie angeforderte Zahl von Erntehelfern aufs Land, so daß »beischönem Wetter die ganze Ernte fast an einem einzigen Tag einge-bracht werden kann«. Außer der Landwirtschaft erlernt jeder Uto-pier, also auch jede Frau, ein besonderes Handwerk. Die Zahlist freilich begrenzt. Morus nennt: Tuchmacherei, Leinenwebereisowie das Maurer-, Schlosser- oder Zimmermannsgewerbe. Die

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handwerkliche Produktion erfolgt im patriarchalischen Familien-verband ähnlich wie in der Landwirtschaft.

Auf den ersten Blick paradox genug, sieht Morus in dieser in ih-rer Dynamik gebremsten Planökonomie auf der Grundlage des Ge-meineigentums nicht nur die Voraussetzung dafür, daß die Versor-gung für zwei Jahre im voraus gesichert ist und daß Überschüssefür den Außenhandel produziert werden (50). Darüber hinaus sol-len die Utopier nicht länger als sechs Stunden am Tag arbeitenmüssen (55). Die Plausibilität dieser Aussage versucht Morusdurch zwei weitere Argumente zu stützen. Zunächst geht er von derAnnahme aus, daß die üblichen landwirtschaftlichen Tätigkeitensorgfältig verrichtet werden müssen, »um den von Natur zu kargenBoden durch künstliche Mittel und mühsame Arbeit zu verbes-sern«. Der Natur mit ihrem nicht überall fruchtbaren Land und ei-nem nicht allzu gesunden Klima (78) muß also erst mühsam abge-rungen werden, was die ideale Gesellschaft zu ihrer Reproduktionbenötigt. Dieser Kampf ums Überleben macht die vollständigeMobilisierung der Arbeitsressourcen nowendig, die ihrerseits,von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Arbeitspflicht für alle Be-wohner erzwingt, verbunden mit einer strikten Überwachung derArbeitsabläufe durch staatliche Aufseher, die sogenannten Sypho-granten (S.54). Zugleich tragen verschiedene Varianten von Skla-venarbeit nicht unerheblich zur Schaffung des gesellschaftlichenReichtums bei (vgl.74, 80f). Die Prosperität der Wirtschaft wirdaber auch dadurch gesteigert, daß sie von dem in anderen Ländernwirksamen Zwang entlastet ist, mehr als die Hälfte der Bevölkerung(Frauen, Priester, Großgrundbesitzer und Dienerschaft, arbeitsfähi-ge Bettler) ernähren zu müssen, die untätig ist.

Ein anderes Argument, das die Erreichung des Ziels der Über-flußproduktion realistisch erscheinen lassen soll, kommt hinzu. Eswerden in Utopia nur lebensnotwendige Gewerbe betrieben. Tätig-keiten, die dem Luxus und dem lasterhaften Vergnügen dienen,sind untersagt, weil Bedürfnisse, die nicht auf die Natur, sondernauf Konventionen zurückgehen, als irregeleitete Gewohnheiten derMenschen stigmatisiert werden. So gilt es als anstößig, wenn Frau-en sich schminken (84). Auch ist das Tragen prachtvoller Kleidungein Verstoß gegen die bestehende Ordnung. Die Utopier tragen bei»der Arbeit einen einfachen Anzug aus Leder oder Fellen, der biszu sieben Jahren hält. Wenn sie ausgehen, ziehen sie ein Oberge-wand darüber, das jene gröbere Kleidung verdeckt: seine Farbe istauf der ganzen Insel dieselbe, und zwar die Naturfarbe«. Einenplausiblen Grund, sich mehr Kleider zu wünschen, gibt es nicht;denn erhielte der einzelne sie, »so wäre er weder gegen die Kältebesser geschützt noch sähe er in seiner Kleidung auch nur um einHaar vornehmer aus« (58). Vor allem aber wird die wirtschaftlicheEntwertung der Symbole des Luxus, nämlich Gold und Silber,durch die Sitten und Gebräuche der Utopier bestärkt. »Während sienämlich aus sehr geschmackvollen, aber billigen Ton- und Glasge-schirren essen und trinken, stellen sie aus Gold und Silber nicht nurfür die Gemeinschaftsräume, sondern auch für die Privathäuserallerorts Nachtgeschirre und lauter Gefäße für schmutzige Zweckeher. Zudem werden die Ketten und schweren Fußfesseln, in die sie

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die Sklaven schließen, aus denselben Metallen geschmiedet« (66).Innerhalb der Grenzen Utopias wertlos, spielen Edelmetalle nur imAußenhandelsverkehr eine Rolle: Man verleiht es an andere Län-der oder verwendet es zur Kriegführung (64f).

Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Wirtschaft Utopiasfür die Befriedigung sogenannter »natürlicher Bedürfnisse« produ-ziert, deren Sättigungsgrad auf dem niedrigen Niveau einer gesun-den, aber im ganzen frugalen Lebensweise angesiedelt erscheint.Die Wirtschaft hat es also mit einer begrenzten und konstantenNachfrage zu tun. Doch auf der anderen Seite ist der Preis für die-se Entlastung evident. Er besteht darin , daß im WirtschaftslebenUtopias kaum Spuren individueller Entfaltung der einzelnen wederals Konsument noch als Produzent erkennbar sind, weil sowohl derpersönlichen Verfügung über Eigentum als auch der selbstbe-stimmten Befriedigung der Bedürfnisse der Boden entzogen ist.Die Ökonomie ist eine zentral gesteuerte Maschinerie, in der dieeinzelnen sowohl im produktiven als auch im konsumtiven Sektorals genormte Teile mit außerordentlich begrenzten Optionsmög-lichkeiten zu funktionieren haben.

III.Doch die Frage ist, ob das politische System den einzelnen gibt,was ihnen die Wirtschaft vorenthält: individuelle Selbstbestim-mung. Läßt der politisch-gesellschaftliche Überbau, der sich überdiese vom Gemeinbesitz dominierte und gebändigte Wirtschafts-weise der Utopier erhebt, zumindest Ansätze eines autonomen Bür-gerlebens erkennen? Im utopischen Denken seit der Antike spieltein diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle, ob und wie derStaat die Beziehungen zwischen den Geschlechtern regelte. Aufden ersten Blick scheint Morus eine erstaunlich liberale Sexualmo-ral zu vertreten. So erhob er bei der Partnerwahl die sinnlichen Rei-ze zu einem zentralen Aspekt der Eheschließung: Es ist nämlich beiden Utopiern üblich, daß »eine würdige und ehrbare Hausfrau (...)den Bewerber die Frau, ob es nun eine Jungfrau oder eine Witweist, nackt ansehen (läßt), und ebenso stellt auf der anderen Seite einrechtschaffener Mann dem Mädchen den Freier nackt vor« (82).Auch steht bei den Utopiern das »Wohlgefühl der Sinne« (57) unddie »Freuden der Liebe« (191), die sich einstellen, wenn man »einKind zeugt« (75), als unverzichtbarer Bestandteil des mensch-lichen Glücks hoch im Kurs. Doch diese Aufwertung der Sinnebetrachtet Morus zugleich dann als eine Gefahr für die Grundlagendes Gemeinwesens, wenn man versäumt, ihre Dynamik durch star-ke Institutionen zu kanalisieren. Die Utopier sehen nämlich voraus,»daß sich selten zwei Menschen in ehelicher Liebe verbinden wür-den, in der man sein ganzes Leben mit einem Partner verbringenund obendrein die mit dem Ehestand verbundenen Beschwerlich-keiten ertragen muß« (82). Aus diesem Grunde habe der Staat mitder Androhung von Zwangs-und Sklavenarbeit dem Ehebruch und»dem freien Zusammenleben« (ebd.) sorgsam entgegenzuwirken.Dem entspricht, daß Scheidungen nur unter erschwerten Bedin-gungen und mit Zustimmung des Senats möglich sind. Ferner istdie Größe der Familie strikt reglementiert. Sie darf nicht weniger

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als 10 und nicht mehr als 16 Erwachsene zählen. Mitglieder über-großer Familien werden in kinderarme eingegliedert. Auch dasheiratsfähige Alter wird vom Staat festgelegt: Die Frauen verehe-lichen sich nicht vor dem 18., die Männer nicht vor dem 22.Lebensjahr.

Daß in der Tat in Utopia die monogame Ehe keineswegs der in-stitutionelle Rahmen einer von allen gesellschaftlichen Zwängenentlasteten Liebesgemeinschaft ist, sondern als entscheidendes In-strument der sozialen Kontrolle konzipiert worden ist, wird nichtzuletzt auch an der starken Stellung der väterlichen »potestas«deutlich, die in der Familie stellvertretend für den Staat regiert. Der»pater familias« nimmt nicht nur die Beichte der Familienmit-glieder ab (104); bei kleineren Vergehen wird ihm sogar die Kom-petenz zugesprochen, die Ehefrau zu strafen (83). Aber auch außer-halb des Innenraums der Familie trifft die Maxime zu, daß »jedeBewegung aller Familienmitglieder von denen beobachtet wird,unter deren Autorität und Zucht sie auch daheim stehen« (104). Vorallem aber ist dem monogamen Familienverband die Grundlageder traditionellen patriarchalischen Autonomie entzogen: das Pri-vateigentum. Selbst das Haus der Familie ist »öffentlich«: dessenTüren, leicht zu öffnen, »lassen einen jeden ein: So gibt es keiner-lei Privatbereich. Denn sogar die Häuser wechseln sie alle zehnJahre durch Auslosung« (52). Auch das Motiv Platons, daß dieMahlzeiten öffentlich einzunehmen seien, findet sich bei Moruswieder: »Jeder Häuserblock besitzt (...) einige geräumige Hallen ingleichem Abstand voneinander, eine jede unter ihrem besonderenNamen bekannt (...) Jeder von ihnen sind 30 Familien zugeteilt,die dort ihre Mahlzeiten einnehmen« (60). Eine Ausnahme machenfreilich die auf dem Lande wohnenden Utopier: Sie »essen alle beisich zu Hause« (63).

Dies vorausgesetzt, verwundert es nicht, daß das politischeSystem Utopias im engeren Sinne aus den Familien hervorgeht:Je 30 Familien wählen jährlich einen Vorstand, den sie Syphograntoder Phylarch nennen. Diese Vorstände sind die eigentlichen poli-tischen Aktivbürger. Aus ihnen rekrutieren sich die vier übergeord-neten staatlichen Institutionen, nämlich die Instanz des Staatspräsi-denten, der eine Art auf Lebenszeit gewählter Wahlmonarch ist,der Protophylarchen bzw. Traniboren, des Senats und der Volks-versammlung. An das Prinzip der Wahl und des Repräsentations-prinzips gebunden, stellt sich die Frage, ob wir es mit einer frühenVariante der liberalen Demokratie zu tun haben. Bekanntlich nahmdas westliche Verfassungsdenken vom subjektiven Naturrecht sei-nen Ausgang, das das autonome Individuum in den Mittelpunkt derHerrschaftslegitimation stellte. Ihm zufolge konstituieren ursprüng-lich Gleiche und Freie über einen Vertrag die Regeln, unter denensie im Staat koexistieren wollen. In den liberalen Varianten desVertragsdenkens geschieht dies im Medium eines herrschaftsfreienDiskurses, der seinerseits nur zustandekommen kann in einer frei-en Gesellschaft, deren Institutionen es ermöglichen, daß die ein-zelnen ungehindert ihre individuellen und gemeinsamen Interes-sen, durch Erfahrung und Reflexion vermittelt, zu erkennen unddurchzusetzen vermögen. Doch das ganze Konstruktionsprinzip

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der Utopia steht quer zu einer autonomen, d.h. staatlich nichtre-glementierten gesellschaftlichen Öffentlichkeit, in der sich dermündige Bürger als politisches Subjekt überhaupt erst entfaltenkönnte.Über öffentliche Angelegenheiten außerhalb des Senats undder Volksversammlung zu beraten, wird für ein todwürdigesVerbrechen gehalten (53), heißt es programmatisch9: Wir haben esalso in Morus’ »Utopia« mit einer repräsentativen Demokratieohne demokratische Bürger zu tun. Kodifizierte Grund- und Men-schenrechte, die den autonomen Bürgerstatus gegenüber demstaatlichen Zugriff absichern, sind nicht vorgesehen, weil offenbarunterstellt wird, daß die staatlichen Funktionsträger a priori imInteresse der einzelnen handeln.10

Charakteristisch für das Amtsverständnis der Utopier ist indiesem Zusammenhang die Institution der Syphograntie. DerenAufgabe ist nicht die Exekution des autonom artikulierten Bürger-willens. Ihre wichtigste und fast einzige Funktion besteht vielmehrdarin, »dafür zu sorgen und darüber zu wachen, daß keiner müßigherumsitzt, sondern jeder fleißig sein Gewerbe betreibt, ohne sichjedoch vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein ununterbrochenals Lasttier abzumühen. Denn das wäre schlimmer als sklavischePlackerei!« (54). Die Syphogranten kontrollieren nicht nur auf-grund einer bestimmten Sitzordnung die Gespräche bei den öffent-lichen Mahlzeiten, sondern überwachen die Einhaltung der Reise-beschränkung, der die Utopier unterworfen sind. Zwar kann jeder,sofern er die Zustimmung des Hausvaters oder des Ehegatten be-sitzt, sich im jeweiligen Territorium seiner Stadt frei bewegen,doch will er Verwandte oder Bekannte in einer anderen Stadt auf-suchen, so bedarf es der staatlichen Erlaubnis des zuständigen Sy-phogranten oder Traniboren. »Wenn jedoch einer auf eigene Faustaußerhalb seines Bezirkes herumstreift und ohne obrigkeitlichenErlaubnisschein angetroffen wird, so wird er als Ausreißer betrach-tet, schmählich zurückgebracht und hart gezüchtigt; wagt er das-selbe noch einmal, so wird er mit Zwangsarbeit bestraft« (63). Imübrigen unterliegt der legal Reisende auch am Besuchsort einerstrikten Arbeitsdisziplin: Niemand erhält etwas zu essen, »bevor ernicht so viel Arbeit geleistet hat, wie man dort vor der Mittags-oder vor der Abendmahlzeit gewöhnlich schafft. Unter dieserBedingung darf er innerhalb des städtischen Bereichs überall hin-gehen« (63).

Das Ziel dieser Regelung ist eindeutig: Die durchgängige Kon-trolle des politisch »korrekten« Verhaltens der Bürger und die Auf-rechterhaltung der Arbeitsmoral. In Utopia, so müssen wir Morusinterpretieren, fehlen vorstaaliche, aber politisch relevante gesell-schaftliche Ebenen zwischen den einzelnen und dem Staat, aufdenen spontane Kommunikation und unzensierte Verständigungüber das »bonum commune« zwischen Bürgern stattfinden kann.Es gibt, wie es heißt, »keinerlei Möglichkeit zu Müßiggang undkeinerlei Vorwand, sich vor der Arbeit zu drücken: Keine Weinstu-be, keine Bierschänke, nirgendwo ein Freudenhaus, keine Gele-genheit zur Verführung, keinen Schlupfwinkel, keine Lasterhöhle.Vor aller Augen vielmehr muß man seine gewohnte Arbeit verrich-ten oder seine Freizeit anständig verbringen« (63). Was aber eine

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9 Im lateinischen Originalheißt es: »Extra senatum,aut comitia publica de rebuscommunibus inire consilacapitale hebetur« (Morus:The best State (Anm.1),S.124.)

10 Vgl. hierzu RichardSaage: Utopie und Men-schenrechte, in: ders.: Ver-messungen des Nirgendwo.Begriffe, Wirkungsgeschich-te und Lernprozesse derneuzeitlichen Utopien,Darmstadt 1995, S.117-130.

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»anständig verbrachte Freizeit« ist, bestimmen nicht die Bürgerselbst, sondern die zuständigen Behörden. Freilich darf nicht ver-schwiegen werden, daß Utopia weitgehende Wissenschaftsfreiheitund religiöse Toleranz gewährt. Was ganz offensichtlich dem nor-malen Bürger vorenthalten wird, konzediert man in Utopia denWissenschaftlern: Die Resultate ihrer Diskurse sind offen. So wei-chen ihre Lehrmeinungen in bestimmten Aspekten nicht nur vondenen der alten Philosophen ab. Auch untereinander sind sie sichnicht in jeder Beziehung einig (89). Aber auch in religiösen Ange-legenheiten bietet Utopia einen weiten Raum für Gewissensfrei-heit. Utopos, der Gründungsvater, schloß nicht aus, daß Gott einevielfältige und mannigfache Verehrung wünscht (98). Akzeptiere eraber eine bestimmte Art der Anbetung, so werde sich die wahreAnsicht kraft der ihr immanenten Vernunft von selbst behaupten;beide Möglichkeiten setzten ruhiges Argumentieren und das Verbotjedes Fanatismus voraus (98). Aus diesem Grund herrscht in Uto-pia generell die Maxime, »daß keinem seine Religion zum Nach-teil gereichen darf« (97)

Allerdings stellen weder die Erhebung der geistigen Entfaltungder einzelnen zum Staatsziel noch die Konzedierung der Wissen-schaftsfreiheit und der religiösen Toleranz einklagbare individuali-stische Vorbehalte gegenüber dem Zugriff des utopischen Levia-thans auf seine Bürger dar. Die Bildung ist unter der Kontrolle desStaates. Eine ihrer Hauptaufgaben besteht nicht zufällig darin,»den noch zarten und bildsamen Kinderseelen von vornherein ge-sunde und der Erhaltung des Staatswesens dienliche Anschauungeneinzuflößen. Wenn die dem Knaben in Fleisch und Blut überge-gangen sind, begleiten sie den Mann durchs ganze Leben und er-weisen sich als höchst nützlich zur Sicherung des Gemeinwesens,dessen Verfassung ja nur durch Entgleisungen ins Wanken gerät,die aus verkehrten Anschauungen entspringen« (102). Im Interessedes Staates ist es auch, daß den Wissenschaften jenes Maß an Un-abhängigkeit zu gewähren ist, ohne das sie ihre Innovationskraftverlieren. Und die religiöse Tolerenz in Utopia hat dort ihre Gren-ze, wo das Interesse des Staates an starken Institutionen beginnt.Der Gründungsvater Utopos verbot nämlich »feierlich und streng:So tief unter die Würde des Menschen zu sinken, daß man meine,auch die Seele gehe mit dem Leib zugrunde oder die Welt nehmeohne jede Vorsehung aufs geratewohl ihren Lauf« (89). DieBegründung dieses Verdikts ist charakteristisch genug: Wer dieUnsterblichkeit der Seele leugne, vom dem sei zu erwarten, »daßer die Staatsgesetze seines Vaterlandes entweder insgeheim mitList und Tücke umgehen oder gewaltsam außer Kraft zu setzenversuchte« (98), da er doch über sein körperliches Dasein hinauskeine weitere Hoffnung hege.

IV.Abschließend kann festgestellt werden, daß die eingangs formu-lierte Hypothese von einem Zwiespalt im Gesellschaftsmodell Uto-pias nicht verifizierbar ist. Es ist gezeigt worden, daß Morus denStaat nicht vom einzelnen her denkt; vielmehr ist dessen Vernunfta priori in den Institutionen des starken Staates aufgehoben. Zwar

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nehmen die einzelnen im Rahmen ihrer Familien an Wahlen teil.Doch haben sie nicht zwischen Alternativen zu optieren, sonderndie bestehende sozio-politische Superstruktur zu akklamieren. IhreMöglichkeiten, selbstverantwortliche Entscheidungen zu treffen,sind äußerst begrenzt. Bei ihrer Freizeitgestaltung können siewählen, ob sie sich geistig weiterbilden oder sich ihren Handwer-ken widmen wollen (55). Auch steht es ihnen frei, den Wehrdienstaußerhalb Utopias zu verweigern (92). Und schließlich dürfen sieentscheiden, ob sie »privat« zu speisen wünschen (61) und bei Er-krankung zu Hause liegen wollen (60f). Doch abgesehen davon,daß in den beiden zuletzt genannten Entscheidungssituationen diestaatliche Alternative der öffentlichen Mahlzeit bzw. des Kranken-hauses wegen ihrer hohen Qualität attraktiver für sie ist als die»private« Lösung, sind die Bürger ansonsten nicht Subjekte derPolitik, sondern Gegenstand der Fürsorge und der Kontrolle deröffentlichen Instanzen, die ihre Funktionsfähigkeit überwachen.

Wer dieses Szenario vom Standpunk eines freiheitlichen Indivi-dualismus kritisiert, sollte freilich bedenken, daß Utopias Angebotfür die verelendeten Unterschichten des 16. Jahrhunderts nicht vonvornherein unattraktiv war. Unterhalb der Ebene des Existenzmi-nimums vegetierend, konnte für sie das Opfer persönlicher Freiheitfür eine Welt materieller Sicherheit in dem Maße zumutbar er-scheinen, wie die Entfaltung ihrer Individualität in den elendenVerhältnissen, in die sie verstrickt waren, ohnehin kein Thema war.Ferner sollte nicht verschwiegen werden, daß Morus Antiindividu-alismus, wie gezeigt wurde, keineswegs einseitig seiner Anthropo-logie zuschreibbar ist. Er muß nämlich auch im Zusammenhangmit dem Stand der Naturbeherrschung zu Beginn des 16. Jahrhun-derts gesehen werden, in der die Reproduktion der Gesellschaftnoch fast ausschließlich auf den Einsatz menschlicher und tieri-scher Muskelkraft zurückzuführen ist. Zwar sind die Utopierdurchaus aufgeschlossen gegenüber dem wissenschaftlich-techni-schen Fortschritt. So betonen sie den engen Zusammenhang zwi-schen der Wissenschaft und ihrer Anwendung als Technik, die »zurErleichterung und Bequemlichkeit des Lebens beitragen« (79) soll.Als Beispiele nennt Morus die Astronomie, deren Erkenntnisse siezur Wettervorhersage nutzen. Auch verfügen sie über eine Art Brut-maschine, die ihnen die Geflügelzucht sehr erleichtert (50) sowieüber die Technik des Buchdrucks und der Papierherstellung. Dochandererseits wird deutlich, daß in Utopia – in Übereinstimmungmit dem Stand der Entwicklung des 16. Jahrhunderts – der Wis-senschaft als Voraussetzung einer über Technik vermittelten Natur-beherrschung nur periphere Bedeutung zukommt. Die Freiräumefür Muße konnten noch nicht über Maschinen, sondern nur durchmenschliche Handarbeit der Natur abgerungen werden. Hier stießdie Verallgemeinerung individueller Selbstentfaltung auf eine eher-ne Grenze, auch wenn nicht verschwiegen werden darf, daß einTeil der gesellschaftlich notwendigen Dienstleistungen in Utopiavon Sklaven verrichtet wird.

Im übrigen darf nicht übersehen werden, daß Morus selbst be-zweifelt hat, ob Utopia ein Modell für die europäische Zivilisationsein kann: eine Skepsis, die er auch auf den Geltungsanspruch sei-

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nes Konstrukts bezog. Tatsächlich finden sich im Text der Utopiakeine Hinweise dafür, daß Morus von der Annahme ausging, diesoziopolitischen Verhältnisse seiner Zeit sollten und könnten nachdem Vorbild Utopias radikal umgestaltet werden. Es ist nicht ein-mal sicher, daß er sich eindeutig mit Utopia identifizierte. Er gibtnämlich zu bedenken, daß das Gemeingut ein erträgliches Lebenunmöglich mache, »weil sich jeder vor der Arbeit drückt, da kei-nerlei Zwang zu eigenem Erwerb drängt und ihn das Vertrauen auffremden Fleiß faul macht« (45). Außerdem befürchtet er, der Weg-fall des gesetzlich geschützten Privateigentums führe zwangsläufigzu »Mord und Aufruhr« (ebd). Und selbst nachdem Hythlodeusdieser Kritik durch die Schilderung der Institutionen Utopias ent-gegengetreten ist, sind seine Zweifel an der eigentlichen Grundla-ge der utopischen Verfassung, »nämlich an ihrem gemeinschaftli-chen (kommunistischen) Leben und der Lebensweise ohne jedenGeldumlauf« (109), nicht zerstreut; »denn allein schon dadurchwird aller Adel, alle Erhabenheit, aller Glanz, alle Würde, alles,was nach allgemeiner Ansicht den wahren Schmuck und die wah-re Zierde eines Staatswesens ausmacht, vollständig ausgeschaltet«(109). Andererseits räumt Morus freilich ein, daß es im Staat derUtopier »vieles gibt«, was für die europäischen Staaten anstre-benswert sei (110). Er enthalte nicht wenig, so an anderer Stelle,»was man zum Vorbild nehmen könnte, um die Mißstände der hie-sigen Städte und Staaten, Völker und Reiche zu verbessern« (20).Doch darüber, wie diese Reformperspektive in Politik umzusetzensei, schweigt er sich aus. Eher resignierend stellt er fest, diesesZiel sei wünschbar; erhoffen könne man seine Verwirklichungnicht (110). Selbst Hythlodeus, der radikale Parteigänger der Uto-pier, räumte ein: »Und während jene (d.h. die Utopier) sich bei dereinen Begegnung (mit Hythlodeus) alle unsere brauchbaren Erfin-dungen zu eigen gemacht haben, wird es, wie ich vermute, langewähren, bis wir irgendeine Einrichtung, die bei ihnen besser ist, alsbei uns, übernehmen« (47).

Es ist zu Recht festgestellt worden, daß Morus zwar das Problemder Realisierbarkeit von Utopien bereits sah, jedoch angesichts desbegrenzten Spielraums der Gestaltbarkeit der gesellschaftlichenVerhältnisse aufgrund des unentwickelten Standes der Naturbe-herrschung keine konkreten Transformationsperspektiven zu eröff-nen vermochte. Dennoch muß ihr eine Kühnheit zugebilligt wer-den, deren innovatorische Qualität nicht hoch genug einzuschätzenist. Verglichen mit den Phantasiebildern einer besseren Welt, diehinter ihm lag, werden die Menschen in Utopia nicht nur weitge-hend als »Urheber ihrer eigenen gesellschaftlichen Einrichtungendargestellt«.11 Im Licht des Geltungsanspruchs der Utopia als einesregulativen Prinzips, in dessen Licht sich die Defizite der eigenenGesellschaft brechen und die Perspektiven begrenzter Reformensichtbar werden, verliert darüber hinaus die Wirklichkeit der realexistierenden Gesellschaft die Qualität einer unveränderlichen Sub-stanz. Zumindest im Denken der Menschen läßt sie Alternativen zu.

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11 Elias: Thomas Morus’Staatskritik (Anm.4), S. 144.

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Der Umgang mit deutschen Opfern des Massenterrors in derSowjetunion war maßgebend bestimmt von der kommunistischenParteitradition, Andersdenkende zu diffamieren und zu verfolgen,einer Tradition, die mit Hilfe der Parteischulung und auf ihrgründender »Parteierziehung« in die Mitgliedschaft hineingetragenwurde und diese dann weitgehend prägte.

Die politische TraditionMit der Mitte 1948 initiierten Entwicklung der SED zur »Parteineuen Typus« leitete die SED-Führung jene geschichtliche Periodeein, die wie keine andere von den sowjetischen Erfahrungengeprägt war. Ihre Politik basierte unverhüllt auf Inkriminierungund Verfolgung Andersdenkender, die, so ein Beschluß des Partei-vorstandes vom 29. Juli 1948, der »Ausmerzung von schädlichenund feindlichen Elementen«1 dienten. Im gleichen Jahr wurde dieZentrale Parteikontrollkommission (ZPKK) der SED etabliert, diesich mit den disziplinarischen Verstößen der SED-Mitglieder zubeschäftigten hatte und bald in allen Ländern bzw. Bezirken undKreisen ein straff organisiertes Netz von Kommissionen hatte, de-ren Mitglieder aufgrund ihrer besonderen Parteitreue ausgewähltwurden.2 Die gesamte Geschichte der SED und in besondererWeise ihre frühen Jahre sind von der Stigmatisierung, Verfolgung,Verurteilung, ja Tötung wahrhaftiger oder mutmaßlicher Anders-denkender nicht zu trennen. Die Repressionen dienten der Macht-erhaltung der Parteidiktatur und einer sich konstituierendenFührungsschicht. Die Partei»säuberungen« waren, auch wenn sieunter den Gegebenheiten der Nachkriegszeit und der besonderenpolitischen Situation im geteilten Deutschland nicht die blutigenAusmaße wie in der UdSSR erlangten, Mittel zum Ausschlußunbequemer Opponenten wie der Erziehung der gesamten Mit-gliedschaft der SED.3 Andersdenkende wurden als Opportunistenund Revisionisten, Sozialdemokraten, Versöhnler, Trotzkisten,Kosmopoliten, Kapitulanten, Dogmatiker, Sektierer oder Agentendiffamiert, isoliert, aus der SED ausgeschlossen und zum Teilstrafrechtlich verfolgt.

Zu den ersten Opfern der Sanktionen gehörten Sozialdemokra-ten. Von den im März 1946 in der SPD der SBZ organisiertenund später der SED beigetretenen ca. 680 000 Mitgliedern wurdenunter dem Vorwurf des Sozialdemokratismus viele Tausende ver-folgt. Neben dem Sozialdemokratismus war, nicht erst seit den

Meinhard Stark – Jg. 1955,Diplomlehrer für Geschichte,pädagogischer Mitarbeiter inBerlin (Ost). 1994 Promotionan der Humboldt-UniversitätBerlin mit dem Thema»Deutsche Frauen des GU-Lag. Eine zeit- und lebens-geschichtliche Befragung«(wird z.Z. für den Druck vor-bereitet). Forschungen undVeröffentlichungen sowieRundfunkdokumentationenzu diesem Thema. Mitarbei-ter an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.

1 Für die organisatorischeFestigung der Partei und fürihre Säuberung von feindli-chen und entarteten Ele-menten. Beschluß des Par-teivorstandes der SED vom29. Juli 1948, in: Dokumen-te der SED, Band II, Berlin1952, S. 83 ff.

2 Ebenda, S. 97.

3 Aus den von der SED-Führung 1950 dekretiertenVerhaltensweisen für Partei-mitglieder: »3. Wenn etwasgeschieht, was du nicht ver-stehst, wenn du einen Feh-ler gemacht hast, ein schlech-tes Gefühl über eine deinerHandlungen hast – gehe zurPartei. Sie hat für vielesVerständnis, wenn sie weiß,du bist ehrlich und ver-schweigst ihr nichts. 4. Derverdient nicht den Nameneines Genossen, der vor derPartei etwas verbirgt, ihr die

146UTOPIE kreativ, H. 85/86 (November/Dezember) 1997, S. 146-157

MEINHARD STARK

Die SED-Führung und die deutschen Opfer der »Säuberung« in der UdSSR

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Schauprozessen in Osteuropa, erneut der Trotzkismus zum gefähr-lichsten Widersacher erklärt worden. Nach einem Protokoll desSekretariats des ZK der SED vom 21. November 1949 wurdenVorfälle mit »trotzkistischen Gruppierungen« und »Schumacher-Agenten« in Leipzig zum Anlaß genommen, in der Presse gegendiese Stellung zu nehmen und sie einer permanenten Verfolgungauszusetzen.4 Die Schauprozesse gegen Rajk in Ungarn und Kostowin Bulgarien im September bzw. Dezember 1949 nahm die SED-Führung zum Anlaß für eine umfassende »Überprüfung« allerWestemigrantInnen, in deren Folge zahlreiche Personen aus derSED entfernt oder von ihrer Funktion entbunden wurden. Auf demIII. Parteitag der SED im Juli 1950 konstatierte W. Pieck: »In derBerichtsperiode führte unsere Partei den Kampf gegen die trotzki-stische und titoistische Agentur des anglo-amerikanischen Imperia-lismus als Kampf gegen die ärgsten Feinde der Arbeiterklasse undaller Werktätigen. ... Wir müssen jedoch sehen, daß im Kampf ge-gen die Trotzkisten und Titoisten bei uns keine genügende Aktivitätentwickelt wurde, so daß die trotzkistische Agentur in unserenReihen noch nicht vollständig aufgedeckt ist. ... Der Kampf für dieSauberkeit der Reihen unserer Partei und für die Vertreibung dermaskierten Feinde der Arbeiterklasse aus unserer Partei ist eineunerläßliche Bedingung für unsere weitere Entwicklung zur Parteivon neuem Typus.«5 Der Parteitag beschloß denn auch eine Über-prüfung aller Mitglieder und Kandidaten der SED nach sowjeti-schem Vorbild. In deren Folge sind ca. 150.000 Mitglieder undKandidaten aus der SED ausgeschlossen bzw. gestrichen worden.6

Diese Kampagne war mit einer politischen Propaganda verbunden,die sich gegen alle »Abweichler« in der Geschichte der KPDrichtete und deren Protagonisten inkriminierte oder als nunmehr»bekehrte« Kommunisten präsentierte.7

Die Parteischulung Neben der autoritären Parteidisziplin sah die SED-Führung in derpolitischen Schulung und Erziehung der Gesamtmitgliedschafteine wesentliche Voraussetzung und Bedingung ihrer Politik.8

Daß sich Disziplin und politische Erziehung im Verständnis derHerrschenden gegenseitig bedingten und förderten, wurde in einemBeschluß des Vorstandes der SED vom 3. Juni 1950 evident, wo eshieß: »Es ist eine der entscheidenden Lehren des Rajk-Prozessesin Ungarn und des Kostow-Prozesses in Bulgarien wie auch derverstärkten Sabotage- und Schädlingsarbeit der anglo-amerikani-schen Kriegstreiber und ihrer Handlanger gegen die DeutscheDemokratische Republik, daß die ideologische Sorglosigkeit unddie mangelhafte politische Wachsamkeit nur durch eine systemati-sche ideologische Erziehungsarbeit der Mitglieder und Funktionä-re überwunden werden kann.«9 Dementsprechend ist ein flächen-deckendes und differenziertes Parteischulungssystem errichtetworden, an dem alle Mitglieder und Kandidaten der SED teilzu-nehmen hatten. Kritik- und bedingungslos wurden die stalinisti-schen Weltbilder und Erklärungsmuster sowie ihre historiographi-schen Legitimierungsschriften – deren Hauptwerke gerade in derZeit des offenen Terrors in der UdSSR entstanden waren – über-

Aufklärung verweigert, dieAuffindung der schwachenund faulen Stellen erschwert.5. ... Es darf nichts »Uner-klärliches« geben, das wirauf sich beruhen lassen,statt es zu untersuchen. 6.Dabei müssen wir berück-sichtigen, daß sich derFeind in erster Linie aufschwankende, kleinbürgerli-che Elemente konzentriertund sie auszunutzen ver-sucht, auf Mitglieder, dieschon einmal von der Par-teilinie abgewichen sindoder parteifeindlichen Grup-pen angehört haben, aufehemalige Trotzkisten, Frak-tionäre, rechte Opportuni-sten, linke Sektierer, beson-ders wenn sie längere Zeitin westlichen Ländern gelebthaben.« Das ZK der SEDzur Verbindung von Funk-tionären der SED mit ameri-kanischen Agenten, in:Neues Deutschland,1. September 1950, S. 5.

4 SAPMO im BArch, Ber-lin, Bestand SED, I 2/3/164.Zudem fanden sich in derAkte Denunziationen vonSED-Mitgliedern gegenüberPaul Merker, Leo Bauer u.a.Ein Bericht wurde mit demhandschriftlichen Vermerk»Akte: Trotzkisten« versehen.Eine nachgetragene Notizüber die Sitzung der ZPKKvom 25.10.49 gibt Auskunftüber die Geisteshaltung ih-res Vorsitzenden Matern(seit 1941 in Moskau):»Lehren aus dem Kampfgegen feindliche Agenturen.... Der Trotzkismus – terrori-stische Gruppe zur Zerset-zung des organisierten Vor-trupps der Arbeiterklasse.Gekaufte – deklassierte Ele-mente – wurzellose Klein-bürger – Abschaum der un-tergehenden Welt.« In:SAPMO im BArch, Berlin,Bestand SED, NL 76/154.

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nommen und jeglicher politischer Schulung und Erziehung inner-halb der SED zugrundegelegt. Auf Dauer formierte sich so einden Führern williges Funktionärskorps. Unter Stalins Losung »DerLeninismus ist der Marxismus der Epoche des Imperialismus undder proletarischen Revolution« verwarf die SED-Führung weitge-hend die Erkenntnisse anderer Marxisten bzw. instrumentalisiertediese rein propagandistisch. So konnte es für W. Pieck im 20. Jahr-hundert »keinen Marxismus mehr geben außer den Leninismus«.10

Entsprechend kreisten alle Formen und Inhalte der Parteischulungvom Ende der vierziger bis Mitte der fünfziger Jahre um das Stu-dium der Geschichte der KPdSU und der Biographie Stalins. »Imkurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU sind alle grundlegen-den Leitsätze der marxistisch-leninistischen Lehre dargelegt unddie großen Erfahrungen der Kommunistischen Partei verallgemei-nert«, hieß es noch in einem ZK-Bericht vom 6. Februar 1956.11

Die Schrift »Geschichte der KPdSU (B). Kurzer Lehrgang« waroffiziell unter der Redaktion einer Kommission des Zentralkomi-tees der KPdSU (B) entstanden, deren Fassung vom ZK derKPdSU 1938 gebilligt wurde. Tatsächlich ist sie unter maßgebli-chem Diktat Stalins redigiert worden.12 Unmittelbar nach Kriegs-ende ist die Schrift vom KPD-Verlag Neuer Weg erstmals inDeutschland aufgelegt worden.13 Ganz im Stil und der Terminolo-gie der dreißiger Jahre ist hier der Kampf der Bolschewiki gegenAndersdenkende und Abtrünnige innerhalb der russischen und so-wjetischen Arbeiter- und Parteibewegung vom Ende des 19. Jahr-hunderts bis 1938 beschrieben und ihre politische und physischeVernichtung legitimiert worden. Dabei spielten die Vorgänge der»Säuberung« eine zentrale Rolle. Seitenweise wird die Liquidie-rung der »Volksfeinde« begründet, etwa unter den Überschriften:Die Entartung der Bucharinleute zu politischen Doppelzünglern;Die Entartung der trotzkistischen Doppelzüngler zu einer weißgar-distischen Bande von Mördern und Spionen usw. Auffallend sinddie Begriffe, mit denen die Verurteilten der Schauprozesse immerwieder versehen wurden, etwa: erbärmliche Überreste der Bucha-rin- und Trotzkileute; jämmerliche, vom Leben losgerissene undbis ins Mark verfaulte Fraktionsgruppe; verruchte Verbrecher, Ab-schaum der Menschheit, elendes Gewürm, nutzloses Gerümpel,nichtswürdige Lakaien der Faschisten u.a.14 Neben dem »KurzenLehrgang« war besonders die Schrift »J. Stalin. Kurze Lebensbe-schreibung«, die ebenfalls nach 1945 in der SBZ verlegt wurde,Grundlage der Parteierziehung innerhalb der SED. Zentral erarbei-tete Anleitungsmaterialien für Propagandisten des Parteilehrjahresgaben Themen und Inhalte vor. Eine 1950 von der Abteilung Pro-paganda der SED-Landesleitung Sachsen-Anhalt herausgegebene»Lektionsdisposition« stellte die Lektion VIII unter die Überschrift»Stalin, der Kampfgefährte Lenins im Kampf gegen Trotzkismusund andere parteifeindliche Elemente«.15 Hauptinhalt der Unter-weisung war ein Überblick über den Kampf der Bolschewiki gegenSozialdemokratismus, Opportunismus und Trotzkismus. Im Ab-schnitt VII der Lektion wurde unter dem Titel »Der Trotzkismus –eine Clique ideenloser, prinzipienloser Karrieristen, Doppelzüng-ler, Mörder und Spione« nicht nur eine Rechtfertigung für deren

5 Protokoll der Verhand-lungen des III. Parteitagesder SED, 20. bis 24. Juli1950, Berlin 1951, S. 81.

6 Otto Schön: Zum Ergeb-nis der Überprüfung derParteimitglieder und Kandi-daten, in: Neues Deutsch-land, 7. Mai 1952, S. 2.

7 Exemplarisch dafür ErichPaterna: Lehren aus demKampf Ernst Thälmannsgegen parteifeindliche Grup-pierungen. Unversöhnlich-keit gegen Opportunismusund Sektierertum – Voraus-setzungen für die Entwick-lung zur Partei neuen Ty-pus, in: Neues Deutschland,12. Januar 1951, S. 4, undRobert Siewert: Der Wegder KPO – von parteifeindli-cher Gruppierung zum Ver-rat an der Arbeiterklasse,in: Neues Deutschland,25. Januar 1951, S. 4.

8 Vgl. Ernst Richert: Agita-tion und Propaganda. DasSystem der publizistischenMassenführung in der So-wjetzone, in Zusammenar-beit mit Carola Stern undPeter Dietrich, Berlin/Frank-furt am Main 1958; EckardFörtsch: Parteischulung alsSystem der Kaderbildungin der SBZ (1946-1963),Dissertation, Erlangen-Nürnberg 1964.

9 Über die Verbesserungder Parteipropaganda.Beschluß des PV der SEDvom 3. Juni 1950, in: Doku-mente der SED: Band III,S. 46 f. Vgl. auch zahlreichevorangegangene und nach-folgende Beschlüsse derSED-Führung zur Partei-schulung, in: Dokumenteder SED, Band II ff.

10 Wilhelm Pieck: Die welt-historische Bedeutung desLeninismus, in: Tägliche Rund-schau, Berlin, 6. April 1949.

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Verfolgung in den dreißiger Jahren gegeben, sondern die Notwen-digkeit ihrer physichen Vernichtung begründet. Es heißt dort:»Trotzki, Bucharin, Sinowjew usw. schlossen sich zu einem Blockvon kriminellen Verschwörern, Spionen, Schädlingen, Mördern zu-sammen und nannten sich ›Block der Rechten und Trotzkisten‹. Sieorganisierten planmäßige Spionagearbeit, Schädlingsakte, Terror-akte und Morde (Mord an Kirow 1934, Mord an Gorki, Mordver-such an Molotow, Stalin usw.). Trotzki entwickelte unter demSchutz der Imperialisten vom Ausland her eine Kampagne antiso-wjetischer Hetze. ... Die Trotzkisten nahmen Verbindung zu dendeutschen Faschisten auf und halfen ihnen, den Krieg vorzuberei-ten (5. Kolonne, Henlein, de Gaulle, Quisling usw.).«16 Die resü-mierende Schlußfolgerung also: Die erfolgreiche Verwirklichungdes Stalinschen Kampfplanes habe dazu geführt, daß der Trotzkis-mus in der Sowjetunion ausgerottet und sein Wesen vor der ganzenWelt entlarvt worden sei.

Die SED-Schulung war in den fünfziger Jahren ein Ort kollekti-ver und organisierter Indoktrination, in der ausschließlich die ver-ordneten »Leitsätze des Leninismus« thematisiert werden durften.Biographische Belege geben davon besonders anschaulich Zeug-nis. Carola Stern berichtet über einen Lehrer, der von der Par-teihochschule der SED relegiert wurde, »weil er in einer LektionZitate von Trotzki und Bucharin benutzt hatte, um ihre ›partei-feindlichen Auffassungen‹ anschaulich zu machen«.17 Dem Ver-such Valentin Sengers, die Behauptung eines Lehrers an einer Par-teischule, nach der Stalin das größte Genie der bisherigen Mensch-heitsgeschichte schlechthin sei, in die Formulierung, Stalin seidas größte politische Genie unserer Epoche, zu modifizieren,begegnete die Parteiorganisation mit einem Parteiverfahren, das fürSenger mit einer Rüge endete.18 Auch für den Intellektuellen RobertHavemann war bis zum XX. Parteitag der KPdSU Stalin derbedeutendste damals lebende Marxist: »Seine Worte«, resümierteer, »waren unwiderleglich. Ich konnte mich nur bemühen, ihn zuverstehen. Wenn es mir nicht gelang, lag es nicht an Stalin, sondernan mir. ... Damals war ich der Meinung, daß man einen guten Ge-nossen daran erkennen kann, wie schnell er neue weise Einsichtender Partei verstehen und öffentlich für sie eintreten kann. Dieschlechten, unsicheren Genossen andererseits waren daran zuerkennen, daß sie in unbescheidener Überheblichkeit Einwendun-gen machten und völlig abwegige Fragen stellten, die man ambesten gar nicht beantwortete. Die schlechtesten Genossen aber,die schon mit einem Bein im Lager des Klassenfeindes standen,das waren jene Unglücklichen, die es wagten, Kritik an den führen-den Genossen der Partei zu üben, gar Kritik an dem führendenGenossen.«19 Im Kontext der komplexen »Parteierziehung« derSED führte das System der politischen Schulung zu »Gewohnheits-effekten, Reflexen und Reaktionen«, so Eckard Förtsch, die es den»Parteimitgliedern und Funktionären ermöglichten, alle Erschei-nungen automatisch in das kommunistische Alternativdenkeneinzuordnen«.20

11 SAPMO im BArch,Berlin, Bestand SED,IV 2/5/247.

12 Vgl. Vorwort zu J. W.Stalin: Werke, Band 1,Berlin 1953, S. IX, wo von»Stalins Werk ›Geschichteder KPdSU (B), KurzerLehrgang‹« die Rede ist.

13 Geschichte der Kom-munistischen Partei derSowjetunion (Bolschewiki).Kurzer Lehrgang, Berlin1945. Frühere Ausgaben indeutscher Sprache sind inMoskau verlegt worden.

14 Ebenda, S. 393 ff., 419 f.

15 Zur Vorbereitung des71. Geburtstages des Ge-nossen Stalin. Für Propa-gandisten. Lektionsdisposi-tionen, hrsg. von der Abtei-lung Propaganda der Lan-desleitung SED Sachsen-Anhalt, Manuskript, Halle1950. Weitere Schulungsli-teratur, die die Säuberungenin der UdSSR legitimierte:J. Stalin: Fragen des Leni-nismus; J. W. Stalin: Werke,Band 1-13, Berlin 1953-1955; Wilhelm Pieck: Redenund Aufsätze, Band I-II,Berlin 1951; Michael Say-ers/Albert E. Kahn: Diegroße Verschwörung, Berlin1949; A. J. Wyschinski: Ge-richtsreden, Berlin 1951. DieSchriften sind in Millionen-auflagen verbreitet worden. 16 Lektionsdispositionen,a. a. O., S. 68 f.

17 E. Richert: Agitationund Propaganda, a. a. O.,S. 313.

18 Valentin Senger: KurzerFrühling. Erinnerungen,Hamburg/Zürich 1992,S. 223 ff.

19 Robert Havemann:Warum ich Stalinist war undAntistalinist wurde. Texte ei-

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Zum Umgang mit den Opfern bis Mitte der fünfziger JahreVor 1956 konnten nur einzelne langjährige GULag-Häftlinge,meist prominente Opfer wie Susanne Leonhard oder die GebrüderSeydewitz, die UdSSR verlassen. Die SED-Führung hatte keinInteresse an den deutschen Überlebenden der blutigen »Säuberung«und betrieb eine überaus restriktive Remigrationspolitik.21 Bis Mit-te der fünfziger Jahre befanden sich in der SBZ/DDR vornehmlichsolche Opfer, die 1939/1940 nach Monaten aus der Untersuchungs-haft des NKWD entlassen worden waren und als rehabilitiertgalten, sowie Personen, die zwischen 1936 und 1941 von der so-wjetischen Seite an Deutschland ausgeliefert wurden und dort nichtselten bis 1945 in KZ schmachteten.22 Obgleich es sich alles in al-lem um eine kleine Personengruppe handelte, reagierte die SED-Führung auf alle publizistischen und literarischen Versuche im We-sten, das Schicksal von Opfern des Stalinschen Terrors zu themati-sieren, äußerst sensibel und konsequent. Am 9. Juli 1947 sandte F.Dahlem ein Schreiben an W. Pieck mit der Aufschrift »WeitereKampagne von seiten der Amerikaner gegen SU, Kommunisten,SED«; unter Punkt zwei konstatierte er: »Jetzt erfolgt ein weitererAngriff im Zusammenhang mit den Verhaftungen ehemaligerkommunistischer Agenten in der Sowjetunion, die nach Deutsch-land ausgeliefert wurden. ... Es muß die Linie bespro-chen werden,wie wir diesen Angriffen begegnen.«23 Ausgangspunkt war ein Vor-abdruck aus den Erinnerungen von Margarete Buber-Neumannüber ihre Erfahrungen mit dem GULag und im Nazi-KZ in derNew Yorker »Volkszeitung« vom 29. März 1947. Zunächst hüllteman sich in Schweigen, auch gegenüber allen anderen Veröffent-lichungen über deutsche Opfer des Stalinschen Terrors in westli-chen Medien.24 Die Erinnerungen von Viktor Krawtschenko »Ichwählte die Freiheit« führten 1949 in Paris zum sogenannten Kra-wtschenko-Prozeß, in dem erstmals die Verbrechen des StalinschenTerrorapparates vor einem demokratischen Gericht verhandeltwurden.25 Während dieser Prozeß in seiner Wirkung eher die so-wjetische Administration tangierte, so war die Wirkung eines Pro-zesses um die Erinnerungen von Margarete Buber-Neumann, der1951/1952 in der BRD stattfand, für die SED-Führung geradezuein Alarmsignal.26 Am 11. Januar 1951 beschloß das Sekretariatdes ZK der SED, eine spezielle Kampagne gegen den Buber-Neu-mann-Prozeß zu führen.27 Beide Prozesse machten deutlich, daßnicht nur die Autoren der publizierten Erinnerungen, sondern auchandere Opfer des GULag bzw. an Nazideutschland Ausgeliefertegewillt waren, öffentlich Zeugnis von ihren Schicksalen abzulegen.Auf den Prozeß von Margarete Buber-Neumann gegen Emil Carle-bach reagierte in der Manier der dreißiger Jahre ein redaktionellerBeitrag des »Neuen Deutschland« vom 13. Januar 1951 so: Zeu-gen, wie beispielsweise Willi Pawera, die nach ihrer Verhaftungdurch das NKWD an Nazi-Deutschland ausgeliefert wurden, dif-famierte er als »faschistische Agenten« und erklärte ihre Verhaf-tung in der UdSSR als rechtens; Margarete Buber-Neumann wurdeals »abgegriffene und ausgelaugte trotzkistische Agentin der Na-zis« verunglimpft, und es hieß, daß sie, »als sie 1940 die Sowjet-union verließ und sich nach Deutschland überstellen ließ, ... kei-

nes Unbequemen, hrsg. vonDieter Hoffmann und HubertLaitko, Berlin 1990, S. 192 ff.

20 E. Förtsch: Parteischu-lung..., a. a. O., S. 183 f.

21 M. Stark: Die Remigra-tion aus der UdSSR 1945-1962, in: 1945. Jetzt wohin?Exil und Rückkehr, hrsg.Verein Aktives Museum,Berlin 1995, S. 250-260.

22 Hans Schafranek:Zwischen NKWD undGestapo. Die Auslieferungdeutscher und österreichi-scher Antifaschisten ausder Sowjetunion an Nazi-deutschland 1937-1941,Frankfurt am Main 1990.

23 SAPMO im BArch,Berlin, Bestand SED,NL 36/640.

24 Bis 1952 erschienenu.a. Arthur Koestler: Dark-ness at Noon, London 1940;ders.: Sowjet-Mythos undWirklichkeit, Hamburg 1947;Victor Kravchenko: Ich wähl-te die Freiheit. Das privateund politische Leben einesSowjetbeamten, Hamburgo.J.; Margarete Buber-Neu-mann: Als Gefangene beiHitler und Stalin, München1949; Elinor Lipper: Elf Jah-re in sowjetischen Gefäng-nissen und Lagern, Zürich1950; Fritz Löwenthal: IhrSchicksal in der Sowjet-union. Deutsche Kommuni-sten als Opfer des NKWD,Berlin 1948; Rudolf Rocker:Der Leidensweg von ZenslMühsam, Darmstadt 1949;J. Ernest Salter: Der Unter-gang deutscher Kommuni-sten in der UdSSR. Teil I bisVII, in: Die Neue Zeitung(Berliner Ausgabe), Nr. 117ff., 21. Mai - 1. Juni 1950.

25 Nina Berberowa:Die Affäre Krawtschenko,Düsseldorf 1991; Boris

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neswegs dazu gezwungen (war), sondern ... aus freien Stücken ei-nen entsprechenden Revers unterschrieben« habe; als »zeitweiseLebensgefährtin des trotzkistischen Gestapo-Agenten Neumann«sei »es ihr in der Sowjetunion nach den großen Prozessen gegendie Bande trotzkistischer Spione, Diversanten und Mörder Endeder dreißiger Jahre ungemütlich geworden«.28

Dieser Umgang mit der Vergangenheit mußte zumindest für dieGruppe von EmigrantInnen, die schon aus der Sowjetunion in dieDDR übersiedeln konnten und die ohne oder mit weniger schwerenVerfolgungen davon gekommen waren, darüber aber Bescheidwußten und sich insgeheim eine kritische Reflexion bewahrt hat-ten, eine ernste Warnung und möglicherweise ein Anlaß sein, ihreErlebnisse im sowjetischen Exil neu zu bewerten, besser noch: zuverdrängen, die Vergangenheit zu versiegeln oder zu mystifizieren.Denn hier wurde unmißverständlich zum Ausdruck gebracht,daß die zahllosen Verhaftungen und Verfolgungen in der UdSSRrechtens waren; die Auslieferungen an Nazi-Deutschland wurdenwider besseres Wissen als »freiwillige Rückkehr« etikettiert.

In das Blickfeld der Kontrollorgane der SED traten in dieserZeit besonders Frauen und Männer mit einem Schicksal, ähnlichdem von Margarete Buber-Neumann. Mehrere Betroffene, die anDeutschland ausgeliefert wurden, fielen diesen Organen nachweis-lich zum Opfer: Heinz Blume ist 1950 aus der SED ausgeschlossenworden, »weil er die Haft in der UdSSR und die Auslieferung ver-schwiegen hatte«29; Adolf Holz wurde 1953 wegen Äußerungen,»die das Ansehen des Genossen Pieck und die Person des Genos-sen Stalin herabsetzen«, aus der SED verbannt30; Gerhard Schnei-der, 1936 in der Sowjetunion verhaftet und 1938 an Deutschlandausgeliefert, hat ein sowjetisches Militärtribunal am 24. Dezember1949 erneut zu Freiheitsentzug verurteilt31; Charlotte Müllerschloß die ZPKK während der Parteiüberprüfung 1951 als »trotz-kistisch-parteifeindliches Element« aus der SED aus, weil sie dieVerhaftung ihres Mannes in der Sowjetunion als ungerechtfertigtbetrachtete32; desgleichen wurde Charlotte Grünberg »wegen anti-sowjetischer Einstellung im Zusammenhang mit ihrer Verhaftungund Ausweisung durch die Sowjetunion in den Jahren 1937/1938«aus der Partei ausgeschlossen33.

Eine andere Art permanenter Stigmatisierung, Diffamierung undDisziplinierung von Ausgelieferten bzw. redseligen oder unbeque-men RemigrantInnen war die Weigerung, sie als Verfolgte desNaziregimes anzuerkennen, wie es das Beispiel von Martha Kühnezeigt34.

Im Frühjahr 1953 erlangte die Verfolgungsmanie der SED-Führung in Auswertung des Prozesses gegen Rudolf Slansky,Generalsekretär der Tschechoslowakischen KP und bekannterSowjetemigrant, sowie einer sich in der UdSSR abzeichnendenRepressionswelle einen neuen Höhepunkt.35 Diesmal sollte nichtnur zum wiederholten Mal die gesamte »Westemigration«, sondernm. E. auch die »Ostemigration« einer Säuberung unterworfen wer-den. Der Leitartikel des Juni-Hefts der »Einheit« von 1953, dersich auf die 13. Tagung des ZK vom Mai 1953 berief und unter derÜberschrift »Die Partei wird stärker, wenn sie ihre Reihen säu-

Nossik: Der seltsameProzeß oder ein MoskauerÜberläufer in Paris,Berlin 1992.

26 Zu den Hintergründendes Prozesses vgl. Schafra-nek: Zwischen NKWD undGestapo, a. a. O., S. 110 ff.

27 SAPMO im BArch,Berlin, Bestand SED, J IV2/3/166.

28 Neues Deutschland,13. Juni 1951.

29 In den Fängen desNKWD. Deutsche Opfer desstalinistischen Terrors in derUdSSR, hrsg. Institut fürGeschichte der Arbeiterbe-wegung, Berlin 1991, S. 39.

30 Ebenda, S. 101.

31 Ebenda, S. 206.

32 SAPMO im BArch,Berlin, Bestand SED, IV2/4/461.

33 Ebenda.

34 Martha Kühne: Am6. März 1888 in Leipzig ge-boren, Textilarbeiterin, KPD-Funktionärin, 1932/33 Ab-geordnete des SächsischenLandtages, lebte nach 1945in Leipzig.

35 Lehren aus demProzeß gegen das Ver-schwörerzentrum Slansky.Beschluß des ZK der SEDvom 20. Dezember 1952, in:Dokumente der SED, BandIV, S. 199 ff.

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bert!« erneut in eindringlicher Weise die Erfahrungen Stalinsbeschwor, verteidigte die »rechtzeitig erfolgte Liquidierung derAgentengruppen« in der Sowjetunion als »eine wichtige Voraus-setzung für den grandiosen Sieg der Sowjetunion im Zweiten Welt-krieg«; der Artikel verwies darauf, daß auch im Exil in der Sowjet-union Agenten tätig gewesen seien, und behauptete: »Auch dortwar es ihnen (den ›feindlichen Agenturen‹ – M. S.) gelungen, überihre trotzkistisch-bucharinsche Agentur in die revolutionäre Bewe-gung einzudringen. So hatten sie solche Verräter wie Remmele,Neumann, Schubert, Schulte und andere gewonnen. Aber mit derZerschlagung der trotzkistischen und bucharinschen Agentur wur-den auch die Verrätergruppen in den anderen kommunistischenParteien zerschlagen und die Reihen der kommunistischen Emi-gration weitgehend gesäubert.«36 Die sich im Zuge des Slansky-Beschlusses anbahnende Überprüfung der »Ostemigration« wirddadurch erhärtet, daß am 11. Februar 1953 die Akte des KPD-Archivs, die die Parteiausschlüsse während der Säuberung 1936/38zum Inhalt hatte, aus dem Büro Pieck an die ZK-Abteilung Leiten-de Organe überwechselte. In dem Begleitschreiben hieß es: »ImAuftrag des Genossen Wilhelm Pieck überreichen wir Dir Materia-lien über Parteiausschlüsse...«; auf einem nachfolgenden Blatt wareine Numerierung der Ausschlußgründe aufgeführt.37 Die Zusam-menstellung der Ausschlußlisten konnte ebenso wie die Qualifizie-rung der angeblichen Vergehen gegen die Partei m.E. nur dazu die-nen, Nachforschungen über das deutsche Exil in der UdSSR unterdem Paradigma des Slansky-Beschlusses zu beginnen. Die Unter-suchungen hätten gerade solche SED-Funktionäre aus dem sowjet-ischen Exil zu fürchten gehabt, die in der Vergangenheit in dieNähe mutmaßlicher Verräter und Agenten geraten waren. Der Ar-beiterprotest des 17. Juni 1953 verhinderte schließlich die großan-gelegte Parteiuntersuchung und rettete vielleicht damit manchemeine makellose Parteikarriere.

Die SED-Führung und die Opfer – nach dem XX. Parteitag derKPdSU von 1956Der XX. Parteitag der KPdSU bildete für die SED und besondersfür deren Führung eine der größten politischen Erschütterungenzwischen dem 17. Juni 1953 und dem Prager Frühling von 1968.Die Parteiführung reagierte auf die Diskussionen, vor allem unterIntellektuellen, mit taktierenden und hinhaltenden Debatten. Siebeendete diese schließlich mit der exemplarischen Verurteilungvon Harich, Janka, Schirdewan und anderen Kritikern 1957/58.Selbst die in der DDR stark abgeschwächte Stalinkritik desXX. Pateitages (die Geheimrede Chruschtschows war in der DDRpraktisch nur über westliche Medien zugänglich) traf die Masseder SED-Mitglieder völlig überraschend und fand in breiten Teilender an Stalin politisch sozialisierten Kader keine Akzeptanz. Dieanfangs diffusen Reaktionen der SED-Führung auf den XX. Par-teitag führten in den folgenden Monaten zu einer für die SEDunbekannt breiten und kontroversen Debatte, die Stalins »Verdien-ste und Fehler« thematisierte und zunehmend die Entwicklungder DDR, der SED und ihrer Führer einbezog. Zudem verwiesen

36 Einheit, Berlin, 8. Jg.,H. 6, Juni 1953, S. 761 ff.

37 Solche waren: »1. trotz-kistisch-sinowjewistischeund andere konterrevolu-tionäre Verbrechen gegendie Arbeiterklasse (im Zu-sammenhang mit Verhaf-tung), Parteiverrat; 2. Ver-bindung mit partei- und klas-senfeindlichen Elementenund Begünstigung ihrer Ver-brechen infolge mangelnderpolitischer Wachsamkeit,politische Zersetzungsarbeit;3. parteischädigendes Ver-halten; 4. politische Unzu-verlässigkeit; 5. Korrumpie-rung.« In: SAPMO imBArch, Berlin, Bestand SED,IV 2/3/82.

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SED-Mitglieder auf offene Fragen der Geschichte der kommuni-stischen Bewegung, insbesondere der SED, der KPdSU und desdeutschen Exils in der Sowjetunion.

Die SED-Bezirksleitung Erfurt brachte beispielsweise demPolitbüro der SED im April 1956 eine ganze Reihe derartigerFragen ihrer Parteimitglieder zur Kenntnis, so etwa: In den Jahren1930-1940 habe es in der SU Korruptionserscheinungen gegeben;es seien viele Menschen ausgewiesen worden; die Reaktion habezu jener Zeit geschrieben, Stalin entferne seine engsten Mitarbeiter– hatte sie damals rechtgehabt? Starb Max Hoelz eines natürlichenTodes? Warum traten das ZK und die alten Bolschewiki nichtgegen die Verletzung der Parteiprinzipien und die Terrorakte auf?Wenn Berija als Agent bezeichnet werde und als solcher überführtund abgeurteilt wurde, Stalin aber von seinen Schandtaten wußteund Berijas Terrorakte guthieß, ist er dann nicht ebenfalls alsAgent des Imperialismus und als Feind der sozialistischen Arbei-terbewegung anzusehen?38 In anderen Berichten hieß es: Ein Ge-nosse, der in der Emigration in der UdSSR war, fragte: »Was wirdaus den Genossen, die dort in der Emigration waren und heutenicht mehr sind?«39 Auch auf Piecks und Ulbrichts Rolle währenddieser Zeit gingen SED-Mitglieder ein: »Ulbricht und Pieck habenihre Köpfe nur durch Verrat von deutschen Genossen an den so-wjetischen Geheimdienst retten können« und »Walter Ulbrichtwar doch selbst in der Emigration in der Sowjetunion, warum hater damals Stalin nicht kritisiert, wenn es schon die anderen nichtgetan haben?«40

Diese unbequemen Fragen, vor allem aber die beginnende Ent-stalinisierung in der UdSSR, zwangen die SED-Führer, von ihrerZweckbehauptung der »zurecht Verurteilten« intern abzugehen undsich gegenüber den Verfolgten neu zu positionieren. Nicht unbe-trächtlich forciert wurde dieser Prozeß, als die Ausreisebedingun-gen aus der UdSSR liberalisiert wurden, und die Rückkehr derjeni-gen deutschen Emigranten einsetzte, die viele Jahre in Lagern undVerbannung hatten verbringen müssen. Allein in den Jahren 1954bis 1957 remigrierten annähernd 400 Personen, Familienangehöri-ge nicht mitgezählt.41

Im Umgang mit den Opfern verfolgte die SED-Führung vonAnbeginn eine Konzeption, die die biographischen Realitäten derOpfer und die wahre Rolle der Moskauer KPD-Führung in dendreißiger Jahren gleichermaßen versiegeln sollte. Die Rückkehren-den sollten innerhalb der SED-Strukturen aufgefangen, ihre Loya-lität gegenüber »der Partei« aktiviert und somit effektiv kontrolliertwerden. Die SED-Führung beauftragte damit die ZPKK, die sichbereits seit September 1955 vereinzelt dieser »Fälle« angenommenhatte.42 Das Verhalten aller Rückkehrenden im sowjetischen Exilwurde einer Prüfung durch die höchste Kontrollinstanz der SEDunterzogen, und die Opfer von einst hatten gegenüber »der Partei«erneut Rechenschaft abzulegen.

Auch nach dem XX. Parteitag der KPdSU sorgte die SED-Führung konsequent dafür, das Problem der deutschen Opfer desStalinschen Terrors aus der Öffentlichkeit fernzuhalten. Offiziellwurde die Parteimitgliedschaft von der 3. Parteikonferenz darüber

38 SAPMO im BArch, Ber-lin, Bestand SED, IV2/5/335.

39 Ebenda.

40 Ebenda.

41 Vgl. SAPMO im BArch,Berlin, Bestand SED,2/11/188; Politisches Archivdes Auswärtigen Amtes, Be-stand MfAA, Berlin B 3435und C 520/76.

42 SAPMO im BArch, Ber-lin, Bestand SED, IV2/4/455.

43 Walter Ulbricht: Derzweite Fünfjahrplan und derAufbau des Sozialismus inder DDR. Referat des Er-sten Sekretärs des ZK aufder 3. Parteikonferenz derSED, Berlin, 24. bis30. März 1956, Berlin 1956,S. 185.

44 SAPMO im BArch, Ber-lin, Bestand SED, J IV2/2/473.

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informiert, daß das ZK beschlossen habe, »zur Überprüfung vonAngelegenheiten von Parteimitgliedern, die bestraft wurden, sowievon ehemaligen Parteimitgliedern eine Kommission einzuset-zen.«43 Diese Kommission, die unter der Leitung Ulbrichts (!)stand, tagte erstmals am 19. April 1956. Im fünften Tagesordnungs-punkt beschäftigte sich das Gremium mit »Angelegenheiten vonKPD-Mitgliedern, die in der Sowjetunion verhaftet waren«, und esbeschloß, über deren Rehabilitierung auf dem Wege der Einzel-prüfung zu entscheiden.44

Nachdem bis 1956 das Schicksal von Leidtragenden wie imFalle von Willi Pawera und Margarete Buber-Neumann als Hetzedes Klassenfeindes diffamiert, renitente Opfer erneuter Verfolgungausgesetzt und die Stalinsche Ideologie und Praxis gegenüberAndersdenkenden von der SED kontinuierlich fortgeschriebenwurden, war deren Führung nunmehr genötigt, ihre Politik ge-genüber den Opfern zu modifizieren. Die neue Linie verkündeteUlbricht auf der 28. ZK-Tagung (27.-29. Juli 1956). In seinemBericht hieß es dazu: »Die Kommission hat dem Politbüro vor-geschlagen, die ZPKK zu beauftragen, die Rehabilitierung vonGenossen, die in der Sowjetunion verhaftet waren, auch wennsie nicht mehr am Leben sein sollten, zu prüfen und zu entscheiden.Diese Maßnahme, die von besonderer Bedeutung ist, ergibt sichaus den Feststellungen des ZK der KPdSU über die verbrecheri-schen Umtriebe der Berija-Bande in der Sowjetunion. Bereits vordem XX. Parteitag wurde begonnen, aus der Sowjetunion zurück-kehrende ehemalige Mitglieder der KPD, die unschuldig in Pro-zesse verwickelt, respektive administrativ behandelt waren, vollzu rehabilitieren und ihre Mitgliedschaft in der Partei wiederher-zustellen. Es ist eine selbstverständliche Pflicht, die Ehre derinzwischen verstorbenen und nicht zurückgekehrten Funktionäreund Parteimitglieder der KPD, die ebenfalls in solche Prozesse ver-wickelt waren, wiederherzustellen. ... Gegenüber den Genossen,die die Partei rehabilitiert hat, ist ein genossenschaftliches Verhal-ten an den Tag zu legen, ohne jede Voreingenommenheit.«45 Dasist (nach meinem Überblick) die einzige offizielle Stellungnahmeder SED-Führung, in der das Schicksal der deutschen Verhaftetenim sowjetischen Exil in die Nähe eines – freilich vernebelten – Un-rechts gerückt wurde. Schon in diesem kurzen Text legte Ulbrichtdie wesentlichen Züge des später praktizierten Umgangs mit denOpfern dar: Das offizielle Verschweigen der »Säuberung« solltefortgesetzt werden. Das kam schon darin zum Ausdruck, daß selbstdiese wenigen Zeilen nur für die Ohren der Mitglieder des ZK derSED bestimmt waren und in der später veröffentlichten Tagungs-broschüre fehlten.46 Unter Rehabilitierung verstand die SED-Führung die Prüfung jedes einzelnen und die endgültige Entschei-dung über die Parteimitgliedschaft durch die ZPKK, mehr nicht!Und das bezeichnete Ulbricht als »Maßnahme von besondererBedeutung«. Mit keinem Wort ging Ulbricht auf den bisherigenUmgang mit den Opfern ein: weder mit der Stalinkritik desXX. Parteitages, noch mit seinem authentischen Wissen als Zeit-zeuge des Geschehens, er griff lediglich auf »Feststellungen desZK der KPdSU über die verbrecherischen Umtriebe der Berija-

45 SAPMO im BArch, Ber-lin, Bestand SED, IV 2/1/81.

46 Vgl. Über die Arbeit derSED nach dem XX. Partei-tag der KPdSU und diebisherige Durchführung derBeschlüsse der 3. Partei-konferenz. 28. Tagung desZK der SED vom 27. bis 29.Juli 1956. Bericht des Polit-büros, gegeben vom ErstenSekretär des ZK, GenossenWalter Ulbricht. Beschluß,Berlin 1956. 47 Vgl. Untersuchung ge-gen Verrätergruppe Berijaabgeschlossen, in: NeuesDeutschland, 18. Dezember1953; Verräter Berija undKomplicen zum Tode verur-teilt und hingerichtet, in:Neues Deutschland, 25.Dezember 1953. Danachwaren es ausschließlichBerija und seine Komplicen(Ende 1953 als »Agentendes ausländischen Kapitals«hingerichtet), die mittels

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Bande« zurück. Allerdings stammten diese bereits aus dem Jahre1953.47 Seinerzeit waren sie für Ulbricht und die anderen Führerkein Anlaß gewesen, ihr Verhältnis zu den Opfern in irgendeinerWeise zu korrigieren. Auch danach blieben sie für die SED Unper-sonen. Der Rückgriff auf die Berija-Version, um die Massenverfol-gungen der dreißiger Jahre zu erklären, war eine entschiedeneAbsage Ulbrichts an die Stalinkritik Chruschtschows, der ja inseiner Geheimrede 1956 Stalin als Initiator des Terrors benannthatte. Die tatsächlichen Verbrechen bagatellisierte und verfälschteUlbricht selbst im Führungszirkel der SED mit solchen Formulie-rungen wie »unschuldig in Prozesse verwickelt« oder »admini-strativ behandelt« – danach mußte es auch Personen gegeben ha-ben, die schuldhaft in Prozesse verwickelt waren. Diese Termino-logie zerstreute kaum das Mißtrauen gegenüber den Verfemten undsuggerierte dem Uneingeweihten, es würde sich lediglich um ein-zelne Fälle, um nur wenige betroffene Menschen handeln. Zudemwar nur die Rede von KPD-Mitgliedern, nicht von Unorganisier-ten, die es unter den Opfern ebenfalls nicht wenige gab. Das Aus-maß der Verfolgung deutscher EmigrantInnen bzw. SpezialistInnenwar Ulbricht und Pieck allemal bekannt.

In Umkehrung bisheriger Praxis sprach Ulbricht nunmehr vonder selbstverständlichen Pflicht, die Ehre der inzwischen verstor-benen und nicht zurückgekehrten Funktionäre und Parteimitglie-der wiederherzustellen. Gemeint war keineswegs die öffentlicheErörterung der biographischen und zeitgeschichtlichen Erfahrun-gen der Opfer – wie es zeitweilig in der UdSSR geschah –, sonderneinzig die Wiederherstellung der Parteimitgliedschaft, und das ineinem parteiinternen Ritual der höchsten Geheimhaltungsstufe.Zur Verantwortung der damaligen KPD-Führung in Moskau undden eigenen biographischen Verstrickungen äußerte sich Ulbrichtauch vor dem ZK der SED nicht, Worte der Trauer und Anteilnah-me kamen nicht über seine Lippen. Wohl wissend, wie weit die»Parteierziehung« in der SED bis Mitte der fünfziger Jahre gedie-hen war, versagte Ulbricht vorsorglich den Kadern jede Voreinge-nommenheit gegenüber den Rehabilitierten und ordnete ein genos-senschaftliches Verhalten – was immer das heißen mochte – an.Für den kleinen Kreis derjenigen SED-Funktionäre, die dieseWorte Ulbrichts hörten oder lasen, zuvor aber politisch mit dem»Kurzen Lehrgang« geschult worden waren und meist wenig Inter-esse an dieser unbequemen Wahrheit hatten, waren diese dürftigenZeilen wohl kaum Anlaß, ihr bisheriges Stalin-Bild zu verwerfenoder gar systemkritische Gedanken zu entwickeln, wenn überhauptden Zuhörern dieser Passus im seitenlangen ZK-Bericht besondersaufgefallen war, kamen doch im Abschnitt über Kaderfragen dieviel brisanteren Angelegenheiten der unmittelbaren Zeitgeschichtezur Sprache.48

Schon auf der 30. ZK-Tagung Anfang 1957 verteidigte Ulbrichterneut die Notwendigkeit der damaligen Verhaftungen in derSowjetunion als »Sicherungsmaßnahmen im Innern und nachaußen«.49 Dieses aus den dreißiger Jahren übernommene Erklä-rungsmuster wurde von großen Teilen der Parteimitgliedschaft undmehr noch des Funktionärskorps als plausibles Argument verinner-

»Terrormethoden mit Perso-nen abrechneten« und»eine Reihe schwerster Ver-brechen begingen, um ehrli-che, der Sache der Kom-munistischen Partei undder Sowjetmacht ergebeneKader auszurotten«. Dasentsprach genau dem stali-nistischen Topos des XVIII.Parteitages der KPdSU von1939.

48 Es ging dabei um dieAufhebung eines Teils früherverhängter Parteistrafenund Parteiausschlüsse (F.Dahlem, A. Ackermann, J.Walcher u.a.), die Aufhe-bung und Korrektur vonUrteilen bzw. um Haftentlas-sungen von als »Agenten«verurteilten SED-Mitgliedern.Vgl. Mitteilung des Presse-amtes beim Ministerrat undAlles für die Festigung derdemokratischen Gesetzlich-keit, in: Neues Deutschland,21. Juni 1956.

49 SAPMO im BArch,Berlin, Bestand SED, NL182/517. In Abgrenzung zuChruschtschows Geheim-rede postulierte Ulbrichtaußerdem, daß »die dama-lige Politik des Zentralkomi-tees der KPdSU und diegeschichtliche Rolle desGenossen Stalin ... nocheiner zusammenhängendengeschichtlichen Würdigung«bedürften. Die »marxisti-schen Arbeiten des Genos-sen Stalin« sollten auchweiterhin geachtet und ausihnen gelernt werden, wennauch »bestimmte Vereinfa-chungen und theoretischfalsche Anschauungen«korrigiert werden sollten.

50 Ebenda.

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licht und bewahrt. Ulbricht konstatierte zwar, »Genosse Stalin«hätte »in einer bestimmten Zeit die Sowjetgesetze verletzt«, stellteaber unmißverständlich klar, daß »wir als Deutsche ... nicht dasgeringste Recht (haben), eine Diskussion über Fehler zu führen,die in der Sowjetunion geschehen sind in der Zeit, wo die Sowjet-union vom faschistischen Deutschland bedroht wurde«.50 Eineöffentliche Thematisierung der Schicksale deutscher EmigrantIn-nen und SpezialistInnen sowie deren Angehöriger hat die Partei-führung unter Ulbricht auch in der Folgezeit verhindert. Mehrnoch, wenn diese Zeit zur Sprache kam, wurde das gescheheneUnrecht bagatellisiert, als historisch erklärlich und notwendigbeschrieben. Ja, Ulbricht stilisierte sich im nachhinein selbstzum Opfer, gar zum Kämpfer gegen den Stalinschen Terror, wieer es auf dem VI. Parteitag der SED (15.-21. Januar 1963) tat. AlsReplik auf den XXII. Parteitag der KPdSU führte Ulbricht hieröffentlich aus: »Auch wir, die Mitglieder und die Führung derKPD, haben unter dem Stalinschen Personenkult und seinenTerrormethoden gelitten. Und wenn es einige Leute genau wissenwollen: Unser Politbüro hat sich gegen die Stalinschen Methodengewandt und fand dabei Verständnis und Unterstützung bei sowjeti-schen Genossen und beim Generalsekretär der KommunistischenInternationale, Genossen Georgi Dimitroff. ... Es war eine großeLeistung, daß es gelang, auch unter den schweren Bedingungen desHitlerkrieges und dazu noch der schädlichen Methoden Stalins dieKollektivität des Politbüros und die Einheit der Parteiführungaußerhalb und innerhalb des Landes zu sichern. (Lebhafter Bei-fall).«51 Der Mißbrauch der Leiden ermordeter und überlebenderGULag-Häftlinge für die Abrechnung mit dem »Stalinschen Perso-nenkult« und die Verlogenheit des angeblichen Widerstandes derMoskauer KPD-Führung gegen Stalin machen die Skrupellosigkeitder SED-Führung deutlich. Ihr tatsächlicher Umgang mit allenOpfern stalinistischen Terrors blieb bis zum Schluß, bestärkt durchden Sturz Chruschtschows 1964, verachtend und restriktiv.

Die wenigen hundert Überlebenden verlebten nach ihrer Über-siedlung in die DDR zwar materiell gesehen ihre besten Jahre.Sie trafen Mitte der fünfziger Jahre jedoch auf eine Parteimitglied-schaft, die an Stalin, dem »Kurzen Lehrgang« und der »Parteineuen Typus« politisch sozialisiert war. Auch nach dem XX. Par-teitag der KPdSU hatten die ehemaligen GULag-Häftlinge eher mitArgwohn und Mißtrauen, ja Feindseligkeit, als mit Nachdenklich-keit, Verständnis und Trauer über ihre erlebte Vergangenheit zurechnen. Die RemigrantInnen trafen auf eine Einheitspartei, dieweniger Erinnerungen an die alten deutschen Arbeiterparteienweckte als vielmehr an das bürokratische und restriktive Macht-gebaren der KPdSU und ihrer Führung. Die Opfer stießen aufFunktionäre und Parteimitglieder, die kaum Wissen und nochweniger Verständnis für ihre Biographien haben konnten und woll-ten und die gewohnt waren, sich im Kampf gegen »Abweichun-gen« aller Art an den Erfahrungen der KPdSU zu orientieren.52 DieMänner und Frauen trafen überwiegend auf Funktionäre und Par-teimitglieder, die mit den gleichen Mechanismen »gesäubert« wur-den (oder auch »säuberten«), wie sie selbst einst im sowjetischen

51 Protokoll der Verhand-lungen des VI. Parteitagesder SED, 15. bis 21. Januar1963, Berlin 1963, S. 237.Vgl. auch Hermann Weber:Ulbricht als »Stalin-Geg-ner«. Eine groteske Legen-de, in: Aufbau und Fall einerDiktatur. Kritische Beiträgezur Geschichte der DDR,Köln 1991, S. 59 ff. (Zuersterschienen in: »DritterWeg«. Diskussionsforumfür modernen Sozialismus,5. Jg., 1963, Nr. 2/3.)

52 Zu biographischenErfahrungen vgl. in: WennDu willst Deine Ruhe haben,schweige. Deutsche Frau-enbiographien des Stalinis-mus, hrsg. von MeinhardStark, Essen 1991.

53 Vgl. exemplarisch Ger-traud Teschner: Zum100. Geburtstag J. W. Sta-lins, in: Neues Deutschland,21. Dezember 1979, S. 6;Hanna Wolf/Wolfgang

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Exil. Sie trafen auf eine Partei, die eine wahrhaftige Erörterung ih-rer eigenen Geschichte verbot, diffamierte und verfolgte und stattdessen ein mystifiziertes Geschichtsbild konstruierte. In dieser Par-tei trafen sie auf ehemalige Bekannte und Freunde aus der Zeit dessowjetischen Exils, die wohl zumeist ihre Erinnerungen neu inter-pretiert und dem vorgegebenen Sowjetideal untergeordnet hatten.Sie trafen zudem auf Parteibürokraten und ehemalige Ostexilanten,für die sie nach wie vor Schuldige vor der Partei waren. Schließ-lich trafen die Verfolgten auf eine Parteiführung, die gewillt war,jegliche Diskreditierung ihrer offiziellen Geschichtsinterpretationzu verhindern und Übertritte zu ahnden. In der Öffentlichkeit derDDR blieb das Thema der Inhaftierung und Erschießung von deut-schen EmigrantInnen bzw. SpezialistInnen in der UdSSR auchnach dem XX. Parteitag der KPdSU unerwähnt. Offiziell war dasThema bis zum Schluß 1989 tabu.53

Schneider: Zur Geschichteder Komintern, in: NeuesDeutschland, 6./7. Mai 1989.

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Vom Neuanfang zu altbekannten PraktikenEines der schlimmsten, vielleicht das schlimmste Kapitel in derGeschichte der DDR ist das antisemitische Zwischenspiel der Jahre1952/53 mitsamt seiner Vorgeschichte und seinen Nachwirkungen.Das Beschweigen dieser Vorgänge in der DDR über die gesamteZeit ihrer Fortexistenz hemmte auch die notwendige Aufarbeitungder Diskussion über das Verhältnis der deutschen Arbeiterbewe-gung zu den Juden sowie zum Antisemitismus. Die wenigen in derDDR hierzu erschienenen Darstellungen sparten dieses heikle The-ma aus, sprachen statt dessen von einer immerwährenden Gegner-schaft der kommunistischen Bewegungen zu jederart Antisemi-tismus.1 Nach dem Sturz der SED-Führung und der Öffnung derArchive entstandenen eine Reihe von Arbeiten über das Thema»Die SED und die Juden«, die zum Teil wissenschaftlich fragwür-dig,2 zum Teil solide Forschungsarbeiten sind.3 Auch in der Pressewurde und wird das Thema immer wieder diskutiert.4 Auch derVerfasser dieses Aufsatzes hat in die Debatte eingegriffen.5 Dafürgab es Schelte aus sehr verschiedenen politischen Lagern. Im»Neuen Deutschland« testierte der Wiener Reinhard Pitsch demVerfasser »schlechtesten Willen« bei der Aufarbeitung der be-drückenden Geschehnisse; er »wollte die DDR fluchen«, statt sichan die Tatsachen zu halten.6 Mangelnde Objektivität bescheinigteihm auch Peter Maser, als Historiker bislang eher eine MünsteranerLokalgröße, nun aber, als wohl guter Parteiarbeiter, für die CDU inder Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Folgen derSED-Diktatur tätig. Keßler liebe »die sanften und gerade deshalbirreführenden Töne«; sein »Buch vermittelt fortlaufend ... Halb-wahrheiten, wie sie in PDS-Kreisen bis heute gängig sind«;7 Krei-se, die Maser offensichtlich gut zu kennen scheint. Es genügt, hieran den marxistischen, von der SED totgeschwiegenen HistorikerArthur Rosenberg zu erinnern. Dieser hatte 1932 in seiner »Ge-schichte des Bolschewismus« klargelegt: »Die Aufgabe, die ichhier zu lösen suche, ist eine wissenschaftliche und keine parteipoli-tische ... Ich habe das Buch keiner Partei oder Gruppe zuliebe ge-schrieben, und ich habe auch kein Bedürfnis zu ›Enthüllungen‹ oder›Abrechnungen‹.«8 Auch hier gilt es, seine Weg zu gehen und dieLeute reden zu lassen.

Im Lande, von dem aus die Vernichtung der europäischen Judenin die Wege geleitet wurde, verdient der Umgang mit Juden undJudentum gerade der ersten Nachkriegsjahre eine wissenschaftlich

Mario Keßler – Jg. 1955,Berlin. Dr. habil., wissen-schaftlicher Mitarbeiter amZentrum für zeithistorischeStudien Potsdam und Lehr-beauftragter am Otto-Suhr-Institut der Freien UniversitätBerlin. Veröffentlichte u.a.:Antisemitismus, Zionismusund Sozialismus (1994,2. Auflage); Zionismus undinternationale Arbeiterbewe-gung 1897-1933 (1994);Die SED und die Juden –zwischen Repression undToleranz (1995).

1 Henry Görschler: Die re-volutionäre Arbeiterbewe-gung und ihr Verhältnis zumAntisemitismus, in: Wissen-schaftliche Reihe der Karl-Marx-Universität Leipzig.Gesellschafts- und sprach-wissenschaftliche Reihe,1965, Nr. 3, S. 539-551;Walter Mohrmann: Antisemi-tismus. Ideologie und Ge-schichte im Kaiserreich undin der Weimarer Republik,Berlin (Ost) 1953. Eine

158UTOPIE kreativ, H. 85/86 (November/Dezember) 1997, S. 158-167

MARIO KESSLER

Antisemitismus in der SED 1952/53. Verdrängung der Geschichte bis ans Ende

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sorgsame Prüfung. Dabei springt für die Sowjetische Besatzungs-zone zunächst ins Auge, daß der Versuch eines Neuanfangs stärkerbetont wurde als im Westen. Deshalb wählten viele aus dem Exilzurückgekehrte oder in Deutschland illegal überlebt habende Judendie spätere DDR als Wohnort. Die Politik der sowjetischen Behör-den und ihrer deutschen Verbündeten stand in der SBZ im Zeichendes Anknüpfens an die Traditionen der deutschen Arbeiterbewe-gung aus der Zeit vor 1933, vor allem ihres kommunistischenZweiges. Doch damit knüpfte die SED, die sich seit 1948 in einemfolgenschweren Prozeß der Stalinisierung befand, auch an dasAssimilationskonzept der Kommunistischen Internationale zur Lö-sung der jüdischen Frage und zur Überwindung des Antisemitismusan: Juden sollten sich, ungeachtet der jeweiligen sozio-kulturellenUmstände, durch Verzicht auf eine (wie auch immer begriffene) jü-dische Identität in die kommunistische Bewegung einfügen. Inner-halb dieser Bewegung sollten sie für eine klassenlose Gesellschaftstreiten. In einer solchen Gesellschaft würde auch dem Antisemitis-mus jede Grundlage (die in der Komintern im wesentlichen auf öko-nomische Faktoren reduziert worden war) genommen werden. DerZionismus wurde in all seinen Varianten strikt abgelehnt.9

Es ist notierenswert, daß in der unmittelbaren Nachkriegszeitführende kommunistische Politiker verschiedentlich auf die Mit-schuld großer Teile des deutschen Volkes an den nationalsozialisti-schen Verbrechen hinwiesen; ein Thema, das in den Kontroversenum Daniel Goldhagens Buch »Hitlers willige Vollstrecker« jüngstan Aktualität gewann. Ein Beispiel von mehreren: Im Aufruf derKPD vom 11. Juni 1945 wurde betont, daß »in jedem deutschenMenschen das Bewußtsein und die Scham brennen (muß), daß dasdeutsche Volk einen bedeutenden Teil Mitschuld und Mitverant-wortung für den Krieg und seine Folgen trägt. Nicht nur Hitler istschuld an den Verbrechen, die an der Menschheit begangen wur-den! Ihr Teil Schuld tragen auch die zehn Millionen Deutschen,die 1932 bei freien Wahlen für Hitler stimmten, obwohl wir Kom-munisten warnten: ›Wer Hitler wählt, der wählt den Krieg!‹«10

Der Historiker Olaf Groehler schrieb, die Befreiung vom Hitler-Regime durch die Armeen der Antihitler-Koalition habe bei vielendeutschen Kommunisten zu einem »Bestätigungsglauben« von derRichtigkeit der eigenen Sache geführt. Dies und die Omnipräsenzder sowjetischen Administration bestimmten die Haltung derKPD/SED gegenüber den in Ostdeutschland lebenden Juden.11

In den Erklärungen der KPD wurde der Völkermord an denJuden zwar nicht ausgeblendet, fand aber keine spezielle Hervor-hebung. Dies entsprach der sowjetischen Linie, den Judenmord alsein nur sekundäres Merkmal der Nazi-Diktatur anzusehen. Den-noch gab es in den unmittelbaren Nachkriegsjahren – und nur da-mals – ernsthafte Überlegungen, den überlebenden Juden nicht nurIndividual-, sondern auch Kollektiv«entschädigung« zuteil werdenzu lassen. Dies war innerhalb der KPD nicht unumstritten. Bereitsim Verlauf seiner ersten Sitzungen hatte der Berliner Hauptaus-schuß der OdF (Opfer des Faschismus) den Begriff des Kämpfersgegen den Faschismus eingegrenzt, also den Kreis der Personen,die besondere Zuwendungen materieller Art erhalten sollten.

frühe Ausnahme: SiegbertKahn: Antisemitismus undRassenhetze. Eine Über-sicht über ihre Entwicklungin Deutschland, Berlin 1948.

2 Michael Wolffsohn: DieDeutschland-Akte. Judenund Deutsche in Ost undWest. Tatsachen und Legen-den, München 1995; meineRezension: Tatsachen oderLegenden? Die SED unddie Juden, in: DeutschlandArchiv, 1996, Nr. 3, S. 486-488.

3 Angelika Timm: Hammer,Zirkel, Davidstern. Das ge-störte Verhältnis der DDRzu Zionismus und StaatIsrael, Bonn 1997; LotharMertens: Davidstern unterHammer und Zirkel, Hildes-heim/Zürich/New York 1997.

4 Besonders in den zahl-reichen Artikeln, die HelmutEschwege unmittelbar nachder politischen Öffnungschrieb, z. B.: Die erneuteVertreibung der Juden, in:Leipziger Volkszeitung,21./22. Juli 1990.

5 Mario Keßler: Die SEDund die Juden – zwischenRepression und Toleranz.Politische Entwicklungen bis1967, Berlin 1995.

6 Reinhard Pitsch: Antise-mitismus in der DDR – Fak-ten und Fiktionen, in: NeuesDeutschland, 26. Mai 1995.

7 Peter Maser: Antisemitis-mus trotz Antifaschismus, in:Das Parlament, Nr. 52-53/1996, S. 21.

8 Arthur Rosenberg:Geschichte des Bolschewis-mus, Neuausg. Frankfurt a.M. 1966, S. 46.

9 Vgl. hierzu die Bücherdes Verfassers: Antisemitis-mus, Zionismus und Sozia-lismus. Arbeiterbewegung

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»Opfer des Faschismus«, so der Bericht in der »Deutschen Volks-zeitung«, »sind Juden, die als Opfer des faschistischen Rassen-wahns verfolgt und ermordet wurden, sind die Bibelforscher unddie ›Arbeitsvertragssünder‹. Aber soweit können wir den Begriff»Opfer des Faschismus« nicht ziehen. Sie alle haben geduldet undSchweres erlitten, aber sie haben nicht gekämpft!«12 Nach Ausein-andersetzungen innerhalb der OdF und der KPD sollte dann dafürSorge getragen werden, »die rassisch Verfolgten in den Kreis der ...Opfer des Faschismus einzubeziehen.«13

Nach seiner im Juli 1946 erfolgten Rückkehr aus dem mexikani-schen Exil engagierte sich Paul Merker besonders entschieden fürdie Belange der jüdischen Überlebenden des Völkermordes. Ermahnte gegenüber Walter Ulbricht verschiedentlich an, daß dieSED noch immer keine verbindlichen Richtlinien zur Frage derEntschädigung jüdischer Opfer des Faschismus ausgearbeitet habeund hob hervor, daß – wie 1947 in Thüringen14 – die Liberal-De-mokratische Partei die Initiative dazu ergriffen habe.15 Doch nochim August 1947 lehnte das Zentralsekretariat Merkers Forderungnach kollektiver »Entschädigung« der Juden ab, und zwar mit derBegründung, dies fördere den Antisemitismus.16 Nach einer Serievon Vorschlägen, Besprechungen und Rücksprachen innerhalbder SED-Gremien wurde am 5.10.1949, zwei Tage vor Gründungder DDR, eine Anordnung in die Wege geleitet, die sich auf indivi-duelle Betreuung der in Frage kommenden Personen (d. h. deranerkannten Verfolgten des Nazi-Regimes) und auf beachtlicheSozialleistungen für sie konzentrierte, jedoch keine Stellung bezogzu Fragen der Restitution oder zu Entschädigungszahlungen.17

Ohnehin hatte die Sowjetische Militäradministration in ihren Be-fehlen Nr. 124 und 126 verfügt, daß ehemals jüdische Firmen, fürdie sich der nationalsozialistische Staat besonders interessierthatte, als Nazi-Vermögen unter Sequester beziehungsweise Konfis-kation gelangt waren. Diese fielen somit aus den Restitutionsver-fahren heraus. Andere Schiedsverfahren verliefen äußerst schlep-pend oder wurden im April 1949 ausgesetzt. In Einzelfällen wurdeden Restitutionsansprüchen jedoch Genüge getan.18

Einen Monat nach Gründung der DDR, am 7. November 1949,richtete Hermann Matern, Vorsitzender der Zentralen Parteikon-troll-Kommission (ZPKK), einen Brief an die Landesparteikon-troll-Kommissionen. Darin waren der Plan und die Aufgaben zurÜberprüfung aller Verantwortlichen in Staat, Partei und Wirtschaftauf Landesebene festgelegt. Nora Goldenbogen wies am sächsi-schen Beispiel nach, daß die dazu nachgelieferten Überprüfungs-hinweise innerhalb der Schweizer Emigration die Exilanten jüdi-scher Herkunft bereits als besonders zu beobachtende Gruppenannten. Als Grund wurde die unterstellte Verbindung vieler ihrerMitglieder zur zionistischen Bewegung, zum US-Geheimdienstund zu einer angeblichen »trotzkistisch-jüdischen« Bewegung fest-gehalten. Bei allen aufgelisteten Emigrantenorganisationen wurdeauf den hohen Anteil von Juden verwiesen.

Materns Brief war der Auftakt zu einer Reihe von Überprüfungen,deren Angaben an die ZPKK sowie an eigens geschaffene Sonderkom-missionen weitergeleitet und dort miteinander verglichen wurden.19

und jüdische Frage im 20.Jahrhundert, 2. Aufl., Mainz1994; Zionismus und inter-nationale Arbeiterbewegung1897-1933, Berlin 1994.

10 Aufruf des ZK der KPDvom 11. Juni 1945, in:Dokumente und Materialienzur Geschichte der deut-schen Arbeiterbewegung,Reihe III, Bd. 1, Berlin (Ost)1959, S. 15f.

11 Olaf Groehler: Erblasten.Der Umgang mit dem Holo-caust in der DDR, in: HannoLoewy (Hg.): Holocaust. DieGrenzen des Verstehens.Eine Debatte über dieBesetzung der Geschichte,Reinbek b. Hamburg 1992,S. 110f.

12 Deutsche Volkszeitung(DVZ), 3. Juli 1945. DieDVZ war das Zentralorgander KPD.

13 Ebenda, 25. September1945.

14 Vgl. Thomas Schüler:Das Wiedergutmachungsge-setz vom 14. September1945, in: Jahrbuch für Anti-semitismusforschung 2,Frankfurt a. M./New York1993, S. 118-138.

15 SAPMO-BArch, DY 30,IV 2/2027/30.

16 Ebenda, Bl. 3.

17 Vgl. Timm, S. 66.

18 Vgl. Schüler, S. 131ff.

19 Nora Goldenbogen:Antisemitismus und»Säuberungen« in Sachsen(1949-1953), in: MarioKeßler (Hg.): Arbeiterbewe-gung und Antisemitismus.Entwicklungslinien im 20.Jahrhundert, Köln 1993,S. 126.

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Diese Hinweise wurden jedoch für die Betroffenen erst in derzweiten Überprüfungswelle, die die Merkmale einer »Säube-rungs«-Aktion annahm, zur Gefahr. Im Zusammenhang mit demantisemitischen Slánsky-Prozeß in Prag ergriff die SED-Führungauch Maßnahmen gegen Juden als solche. Dies geschah auf Druckder Moskauer Administratoren, die in der DDR wie in anderenSatellitenstaaten der Sowjetunion Schauprozesse nach berühmt-berüchtigter Lesart durchzuführen gedachten. Der antifaschistisch-demokratische Neuanfang in Ostdeutschland wurde durch altbe-kannte stalinistische Praktiken pervertiert.

Abusch und Merker als Zielscheibe »antizionistischer« MaßnahmenIn der ersten Welle der Partei-«Säuberungen«, die 1950/51 dieStalinisierung der SED vorantrieben, wurden auch jüdische Kom-munisten von den Mühlsteinen des Apparats zermalmt: RudolfFeistmann wurde in den Selbstmord getrieben,20 Lex Ende ging ander Ächtung als aus der SED Ausgestoßener zugrunde.21 Unter dendamals Verhafteten oder anderweitig Gemaßregelten befanden sichweitere Parteimitglieder jüdischer Herkunft. Doch spielte dieseHerkunft in den Überprüfungen ersichtlich noch keine Rolle,entscheidend waren dagegen die Emigration im Westen währendder NS-Zeit und das in der Emigration gezeigte oder unterstellteVerhalten. Eine Ausnahme bildeten die Vernehmungen AlexanderAbuschs durch die ZPKK.

Dabei wurde versucht, Abusch solche Kontakte zu Noel Field,dem Bauernopfer im schmutzigen Spiel, anzulasten, durch die erals angeblicher »Verschwörer« hätte entlarvt werden können.Abusch schien alle Voraussetzungen zu erfüllen: Er war Westemi-grant gewesen, als Jude ein Außenseiter, der dies durch Überange-paßtheit zu kompensieren suchte, und mußte Kontakte zu EricaWallach, der Pflegetochter des Ehepaars Field, einräumen.

Diese Kontakte zwischen Abusch und Erica Wallach waren je-doch, wie die Befragungen – besser: Vernehmungen – zeigten, reinzufälliger Natur gewesen. Abusch hatte in Prag einen Brief EricaWallachs entgegengenommen, um diesen an ihren früheren FreundLeo Bauer in Berlin zu übergeben. Bauer war jedoch kurz darauf,am 24. August 1950, als angeblicher »Parteifeind« festgenommenworden. Er wurde später in die Sowjetunion deportiert, zum Todeverurteilt, dann zu lebenslanger Haft begnadigt, schließlich 1956entlassen und ging in den Westen.22

In der ersten Befragung Abuschs am 10. Juli 1950 spielte derjüdische Aspekt noch keine Rolle.23 Um so stärker war dies in derzweiten Anhörung am 10. November desselben Jahres der Fall.

Max Sens und Hertha Geffke von der ZPKK unterzogen Abuscheinem wahren Verhör, in dem es unter anderem um Geldsammlun-gen »von jüdischen Wirtschaftsemigranten« in Abuschs mexikani-schem Exil, um den Verkauf von Pässen, Abuschs Mitgliedschaft inder deutsch-jüdischen Kulturorganisation Menorah, um seine –nicht existierende – Mitgliedschaft in der Jüdischen Gemeinde ging;schließlich um Abuschs Beziehungen zu Leo Zuckermann und vorallem zu Paul Merker.24 In einem nachgereichten Brief beteuerteAbusch noch einmal, was er schon während der Vernehmung

20 Vgl. Wolfgang Kießling:Partner im »Narrenpara-dies«. Der Freundeskreisum Noel Field und PaulMerker, Berlin 1994, S. 263.

21 Vgl. Keßler: Die SEDund die Juden, S. 70ff., mitzahlreichen archivalischenBelegen.

22 Vgl. Leo Bauer: »DiePartei hat immer recht«, in:Aus Politik und Zeitge-schichte, Bd. 27, 4. Juli1956, S. 405-413.

23 Vgl. SAPMO-BArch,DY 30, IV 2/4/11, Bl. 9ff.

24 Vgl. ebenda, Bl. 30ff.

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unterstrichen hatte: Er habe sich seit seinem 18. Lebensjahr »niewieder für jüdische Fragen interessiert, niemals darüber geschrie-ben, (er) besaß keine Erfahrung für politische Arbeit auf diesemGebiet, und (war) außerdem noch nichtjüdisch verheiratet.«25

Dabei waren nicht die von Abusch genannten Fakten bemer-kenswert, wohl aber der Ton seiner Erklärungen und seines Briefes.Er sprach und schrieb beinahe im Duktus der Entschuldigung da-von, daß er sich als Jugendlicher »unter schweren häuslichenKämpfen vom Einfluß des Judentums freimachte«, um sich derArbeiterbewegung zuzuwenden26 – als sei es gewissermaßen ehren-rührig, sich als Kommunist nach Auschwitz noch für jüdischeBelange zu interessieren. Mehr als alles andere gibt dies einenHinweis darauf, wie drastisch sich die Atmosphäre innerhalb desSED-Apparates geändert hatte.

Abuschs Begegnung mit Erica Wallach – auch sie inzwischenverhaftet und in die Sowjetunion verschleppt27 – war jedoch zuflüchtig, als daß sie die Basis für ein Konstrukt hätte abgebenkönnen, das Abusch in die Prozeß- und Verfolgungswelle stärkerhineingezogen hätte. Er wurde aus dem Politbüro ausgeschlossen,aber nicht verhaftet, und erlebte später wieder einen Aufstieg bishin zum Kulturminister und Stellvertretenden Ministerratsvor-sitzenden. Zum inneren Kreis der Mächtigen, dem Politbüro,bekam er jedoch nie wieder Zutritt.

Paul Merker erwies sich als ein geeigneteres Opferlamm: Er war,ungleich Abusch, Nichtjude, so daß gegebenenfalls der Vorwurfdes Antisemitismus propagandistisch leichter zurückzuweisen war.Er hatte sich im mexikanischen Exil aber sehr für eine künftigeEntschädigung der jüdischen Verfolgten, soweit dies irgend mög-lich war, eingesetzt, auch, wenn diese Opfer nicht in Deutschlandleben würden. Ebenso entschieden hatte er sich für die Existenzeines jüdischen Staates ausgesprochen; damit übrigens keineswegsim Widerspruch zur Haltung der Stalin-Führung und ihrer ostdeut-schen Genossen gestanden.28 Allerdings hatte ab 1949 die UdSSRihre Position gegenüber dem neuen Staat Israel geändert und setz-te nun auf einen Schulterschluß mit angeblich »progressiven«Kräften im arabischen Raum.29 Ein vorheriges Engagement fürIsrael konnte somit nunmehr leicht Bestandteil des Sündenregisterswerden, das über die Kommunisten bei der ZPKK und ihren Un-tergliederungen geführt wurde.

Am 2. Dezember 1952, parallel zum antisemitischen Slánsky-Prozeß und der dadurch geschürten Pogromstimmung, wurde PaulMerker verhaftet. Die Begründung wurde in einer ZK-Entschlie-ßung nachgeliefert, in der die »Lehren aus dem Prozeß gegen dasVerschwörerzentrum«, so der Titel, zu ziehen waren.30 Dieses Do-kument ordnete sich in die Bemühungen der osteuropäischen kom-munistischen Parteien ein, durch die »Entlarvung« von Parteifein-den« Beweise für die Unterwürfigkeit unter Stalins Repressionsap-parat zu liefern. Damit sollten alle nationalen Entwicklungswege –gar nach jugoslawischem Vorbild unter Tito – im Ansatz verhindertwerden. Die Kampagne gegen »Kosmopolitismus« – also inter-nationalistisches Verhalten – und »Zionismus« – gemeint war hierimmer die jüdische Herkunft – bildete dabei eine wichtige, wenn-

25 Ebenda, Bl. 43.

26 Vgl. auch die unveröf-fentlichten Passagen ausAbuschs Lebenserinnerun-gen, erstmals publiziert beiKarin Hartewig: Das »Ge-dächtnis« der Partei. Biogra-phische und andere Bestän-de im Zentralen Parteiarchivder SED in der »Stiftung Ar-chiv der Parteien und Mas-senorganisationen der DDRim Bundesarchiv«, in: Jahr-buch für Kommunismusfor-schung, Berlin 1993, S. 312-323, bes. S. 321.

27 Vgl. Erica Wallach:Licht um Mitternacht. FünfJahre in der Welt der Ver-femten, München 1969.

28 Zur Haltung ostdeut-scher Politiker gegenüberdem entstehenden StaatIsrael bis zu Stalins Kurs-wechsel vgl. Keßler, S. 47ff.;Timm, S. 81ff.

29 Zur sowjetischen Nah-ostpolitik und ihren antisemi-tischen Implikationen in denfrühen fünfziger Jahren vgl.Robert S. Wistrich (Hg.):The Left against Zion.Communism, Israel and theMiddle East, London/Totowa,N. J. 1979, bes. die Beiträgevon Peter Brod, Arnold Kram-mer und des Herausgebers.

30 Das Dokument ist ab-gedruckt in: Dokumente derSozialistischen Einheitspar-tei Deutschlands, Bd. 4,Berlin (Ost) 1954, S. 199-219.

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gleich nicht die alleinige Dimension. Das war ein spezifischesMerkmal des stalinistischen Antisemitismus. Damit sollte auch dienoch vorhandene internationalistische, um solidarisches Handelnbemühte Traditionslinie innerhalb der SED getroffen und mög-lichst abgeschnürt werden. Merker, so wurde ihm in der ZK-Ent-schließung vorgeworfen, habe im Exil zionistische Auffassungenvertreten und die Entschädigung der von den Nazis geraubten jüdi-schen Vermögen nur gefordert, um dem US-Finanzkapital das Ein-dringen in Deutschland zu ermöglichen. Dies wurde von derSED-Führung mit dem nazistischen Terminus der »Verschiebungdeutschen Volksvermögens« – so zweimal im Entschließungstext –gebrandmarkt.

Der Tod Stalins am 5. März 1953 und die einen Monat spätererfolgte Rehabilitierung der in Moskau verhafteten jüdischen Ärz-te verhinderten auch in den DDR weitere mögliche Repressalien,nicht aber die Verurteilung Merkers in einem Geheimprozeß, indem die Beschuldigungen antisemitischer Natur noch 1955 vollaufrechterhalten wurden.31

Nicht weniger bedrückend als die Verurteilung Merkers oder alsdie inzwischen bekanntgewordenen Fakten über seine Haft imMfS-Gefängnis Hohenschönhausen liest sich sein Kampf um einevollständige Rehabilitierung durch die SED-Führung.32

Am 21. Juli 1956 verkündete der Erste Strafsenat des OberstenGerichts der DDR lakonisch, daß »in der Strafsache gegen Merker,Paul Friedrich ... das Urteil des Obersten Gerichts vom 30. März1955 aufgehoben (wird). Der Angeklagte wird freigesprochen.«33

Damit gab sich Merker nicht zufrieden. Er verlangte eine vollstän-dige, also politische wie juristische Rehabilitierung sowie eine Ent-schädigung. Nach einem Brief an das Oberste Gericht34 entschieddieses, ihm eine Pauschalsumme von 50 000 DDR-Mark zu über-weisen.35 Auf Merkers Anfragen an die Parteiführung antworteteihm Walter Ulbricht am 31. Juli 1956. Ulbricht berief sich auf die28. ZK-Tagung vom Juli 1956, um daran anschließend an Merkerlapidar zu schreiben: »Die unter Berücksichtigung neuer Gesichts-punkte durchgeführte Nachprüfung ergab, daß die Dir zur Lastgelegten Anschuldigungen in der Hauptsache politischer Natursind, die eine strafrechtliche Verfolgung nicht rechtfertigen. Dashatte bereits zu Beginn dieses Jahres zu Deiner Freilassung undzur Wiederaufnahme des Verfahrens geführt. Mit sozialistischemGruß...«36 Jede weitere Diskussion innerhalb der Partei pflegte mannach einem solchen Bescheid mit der Warnung »Keine Fehlerdis-kussion!« abzubrechen. Doch Merker ließ nicht locker. Am 23.August 1956 schrieb er wiederum an Ulbricht und fragte ihn, wieder Satz auszulegen sei, daß die Merker zur Last gelegten An-schuldigungen in der Hauptsache politischer Natur seien, die einestrafrechtliche Verfolgung nicht rechtfertigten: »Hält das Zentral-komitee die gegen mich erhobenen und öffentlich verbreitetenAnschuldigungen weiter aufrecht und fühlt es sich nur zu demZugeständnis veranlaßt, festzustellen, daß diese Anschuldigungeneine strafrechtliche Verfolgung, die aber doch tatsächlich stattge-funden hat, nicht rechtfertigten?«, so Merker.37

Merker verteidigte, wie er betonte, seine Würde als Kommunist

31 Das entsprechendeUrteil des Obersten Gerichtsder DDR in der StrafsacheMerker vom 30. März 1955ist abgedruckt bei JeffreyHerf: Antisemitismus in derSED. Geheime Dokumentezum Fall Paul Merker ausSED- und MfS-Akten, in:Vierteljahreshefte für Zeit-geschichte, 1994, Nr. 4,S. 643-650.

32 Die entsprechendenDokumente sind abgedrucktbei Keßler: Die SED unddie Juden, S. 156-170.

33 SAPMO-BArch, DY 30,NL 102/27, Bl. 73.

34 Ebenda, Bl. 76.

35 Ebenda, Bl. 81.

36 Ebenda, Bl. 84.

37 Ebenda, Bl. 85.

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im und nach dem Prozeß sowie auch »die Interessen der Partei undihrer Führung gegen die Werkzeuge der Berijabande, die sich überdie Partei und ihre Führung erhoben, die mich auf das würdelo-seste behandelten und die mich verhöhnten, weil ich es nichtvorgezogen hatte, mich ihren Verfolgungen durch die Flucht nachWestdeutschland zu entziehen, sondern mich ihnen entgegen-stellte.« Als Anerkennung dafür sei er in einem für die Justiz derDDR schmachvollen Verfahren verurteilt worden. »Und nun,nachdem mit diesen Schändlichkeiten endlich aufgeräumt werdenmußte, werde ich von der Parteiführung immer noch wie einAussätziger gemieden.« Durch den Beschluß des 28. ZK-Plenumssei versucht worden, das Unrecht »nicht aus der Welt zu schaffen,sondern es zu beschönigen und es, wenn auch in stark abge-schwächter Form, weiter aufrecht zu erhalten.«38

In seiner Antwort räumte Ulbricht ein, daß Merkers »Aufnahmein die Partei auf Grund der Beschlüsse des 28. Plenums unver-züglich hätte vollzogen werden müssen. Deine Freilassung«,so Ulbricht weiter, »wurde von der Partei und von den staatlichenOrganen als Rehabilitierung betrachtet.«39

Dies war alles, was Merker an Genugtuung erfuhr. Es sei denn,man betrachtet jenes Stück Blech, das er kurz vor seinem Tode1969 überreicht bekam, den »Vaterländischen Verdienstorden«, alseine Kompensation für erlittenes Unrecht und für die Tatsache, daßMerkers Name jahrelang gleichsam für den eines »zionistischenAgenten« und Erzverräters stand.

Verdrängung der Geschichte bis ans EndeDie Welle an Parteiüberprüfungen, Verhaftungen, beruflichenDegradierungen und Parteiausschlüssen intensivierte sich währenddes gesamten Winters 1952/53.40 Auch die Jüdischen Gemeinden,soeben noch mit staatlichen Zuwendungen bedacht, galten nunsozusagen als »Fünfte Kolonne« des Imperialismus. Zu Beginndes Jahres 1953 wurden die Büros der Gemeinden von MfS-Mit-arbeitern durchsucht, Gemeindemitglieder verhaftet und verhörtund verschiedentlich den Gemeindemitgliedern vorgeworfen, sieseien als Zionisten »bereit und fähig, im Auftrage des amerikani-schen Geheimdienstes zu arbeiten.«41 In diesem Zusammenhangwurde Paul Merker unterstellt, er habe jüdische SED-Mitgliederaufgefordert, den Gemeinden beizutreten. Merker wies dieszurück, aber der Vorwurf wurde wiederholt.42 In der Tat waren zahl-reiche Juden in der DDR vom US-amerikanischen Joint Distribu-tion Committee materiell unterstützt worden; eine Tatsache, dieden Parteioberen seit langem bekannt und von ihnen toleriert wor-den war. Doch dies galt nunmehr als zutiefst suspekt. Nach einerGesprächsnotiz des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinden inder DDR, Julius Meyer, waren bereits im Dezember 1951 führen-de Gemeindemitglieder zur Sowjetischen Kontrollkommissionbestellt und gefragt worden: »Woher bekommen Ihre Gemeindenihre Anordnungen? Bekommen sie diese in der Weise wie dieKirche aus Rom? Haben sie Hirtenbriefe? ... Ist Ihnen denn nichtklar, aus welchen Gründen ›Joint‹ die Liebesgaben nach Deutsch-land bringt?«43

38 Ebenda, Bl. 87.

39 Ebenda, Bl. 92.

40 Vgl., neben der bereitsangeführten Literatur, vor al-lem Thomas Klein/WilfriedeOtto/Peter Grieder: Visionen.Repression und Oppositionin der SED (1949-1989), 2Bde., Frankfurt/Oder 1996,bes. Bd. 1, S. 25ff., 219ff.

41 Zit. nach Mertens, S.55, unter Bezugnahme aufeinen Bericht der Schweri-ner Staatssicherheit vom27. Januar 1953.

42 Vgl. den bei Keßler: DieSED und die Juden, S. 157-170, abgedruckten BriefMerkers an die ZPKK vom1. Juli 1956, bes. S. 169-170. Das Dokument befindetsich im SAPMO-BArch undträgt die Signatur NL 102/27,B. 1-38.

43 Julius Meyer, nach ei-nem Manuskript von RainerHildebrandt, dem Leiter derantikommunistischen»Kampfgruppe gegen Un-menschlichkeit« vom Früh-jahr 1953, in dem dieser ei-ne Gesprächsnotiz Meyersnach dessen Flucht nachWestberlin wiedergibt. DasManuskript befindet sich inden Jewish Research Archi-ves, New York (YIVO), undist zit. bei Olaf Groehler:Antifaschismus und jüdischeProblematik in der SBZ undder frühen DDR, in: OlafGroehler/Mario Keßler: DieSED-Politik, der Antifaschis-mus und die Juden in derSBZ und der frühen DDR,Berlin 1995, S. 16.

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Seit Ende 1952 wurden die Gemeindebüros von Angehörigen desStaatssicherheitsdienstes durchsucht und die Akten beschlag-nahmt.44 Dies löste große Ängste unter den Juden aus. Leo Zucker-mann, der zeitweilig Wilhelm Piecks Kanzleichef war, suchteZuflucht in der Westberliner Wohnung von Heinz Galinski. Alleinim Januar 1953 flohen 400 Juden in den Westen, darunter Zucker-mann und Meyer. Der amerikanische, in Berlin tätige RabbinerNathan Peter Levinson drängte Galinski, die Juden in der DDRaufzufordern, diese zu verlassen. Nach anfänglichem Zögern wil-ligte Galinski ein und berief eine Pressekonferenz ein. Die Ge-meindebibliothek wurde aus Ostberlin über die offene Grenze inden Westteil der Stadt gebracht.45 Auch die Vorsteher der JüdischenGemeinden von Leipzig, Erfurt, Halle und Schwerin gingen in denWesten. Erst Stalins Tod beendete diese Phase des Drucks und desLeidens. Doch blieb, wie der Zeitzeuge Heinz Brandt berichtete,das Mißtrauen vieler Juden gegenüber der Staatsmacht noch länge-re Zeit unterschwellig, doch deutlich spürbar. Immerhin wurdenjetzt die bislang sehr zögerlich bearbeiteten Rückkehrwünsche –es gab sie nach alldem tatsächlich noch! – jüdischer Emigrantenschneller bearbeitet, wie Carl Jacob Danziger und Franz Loeserfesthielten.46 Es gibt nichts, was den Druck auf die JüdischenGemeinden, was die Verfolgung jüdischer Kommunisten auch nurirgendwie rechtfertigen oder relativieren könnte. Dennoch bleibt,so makaber dies klingen mag, festzuhalten, daß es in der DDRkeine Exzesse wie in der Sowjetunion oder der Tschechoslowakeigab. In der DDR wurden von offizieller Seite, entgegen mancherBefürchtungen unter den Juden, keine Pogrome angezettelt oderauch nur geduldet. Im Gegenteil: Das »Neue Deutschland« berich-tete am 29. Januar 1953, daß die Bezirksgerichte von Magdeburg,Gera und Frankfurt/Oder mehrere Bürger, »die antisemitischeHetzparolen und Verleumdungen über jüdische Mitbürger verbrei-tet hatten«, zu Zuchthausstrafen von ein bis zwei Jahren verurteil-te.47 Schließlich traten während des Arbeiteraufstandes vom 17.Juni 1953 keinerlei antisemitische Begleiterscheinungen zutage.Die alte nazistische Propagandafigur vom »jüdischen Bolschewis-mus« zeigte keine Folgen! Die demonstrierenden Arbeiter entsan-nen sich demokratischer und teilweise auch sozialistischer Tradi-tionen und nahmen sie in ihren Forderungskatalog auf.48 LutzNiethammer betonte, die Juden in der DDR »sympathisierten in derRegel mit dem Drang nach einer Liberalisierung der Verhältnisseund mit einer Verdrängung des SED-Bonzentums, aber angesichtseiner bewegten und undisziplinierten Masse von Deutschen, dieacht Jahre nach Hitler die Macht der Straße erkämpften und unterdenen es binnen weniger Stunden auch zu Gewalttätigkeiten kam,empfanden sie Angst und waren deshalb der Roten Armee für ihreweitgehend unblutige Intervention nicht undankbar.«49 Dies decktsich mit den Stellungnahmen beispielsweise von Hans Mayer,der unmittelbar nach der Beendigung der Revolte durch diesowjetischen Truppen schrieb: »Es ging bei uns am 17. Juni inWahrheit um Faschismus oder Antifaschismus. Es ist sinnlos, sichin dieser Grundfrage irgend etwas vormachen zu wollen. Außer-dem haben die Älteren unter uns noch gewisse Bilder in der Erin-

44 Hierzu mit Belegen deran dieser Stelle weit sachli-cher argumentierende PeterMaser: Juden und JüdischeGemeinden in der DDR bisin das Jahr 1988, in: Shula-mit Volkov/Frank Stern(Hg.): Tel Aviver Jahrbuchfür deutsche Geschichte1991, Gerlingen 1991,S. 404.

45 Ebenda, sowieMertens, S. 54ff.

46 Vgl. Heinz Brandt: EinTraum, der nicht entführbarist. Mein Weg zwischen Ostund West, München 1967,S. 192f.; Carl Jacob Danzi-ger: Die Partei hat immerrecht, Stuttgart 1976, S. 27;Franz Loeser: Antisemitis-mus in der DDR, in: Konti-nent, 1989, Nr. 2, S. 50-54;vgl. auch ders.: Die unglaub-würdige Gesellschaft. Quovadis, DDR? Köln 1984(Loesers Memoiren).

47 Neues Deutschland, 29.Januar 1953.

48 Vgl.Thorsten Dietrich:Der 17. Juni 1953 in derDDR. Bewaffnete Gewaltgegen das Volk, Berlin1991.

49 Lutz Niethammer:Zur Einführung. Der 17. Juni- vierzig Jahre danach,in: Jürgen Kocka/MartinSabrow (Hg.): Die DDRals Geschichte. Fragen –Hypothesen – Perspektiven,Berlin 1994, S. 47.

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nerung, gewisse Klänge im Ohr. Klirrende Fensterscheiben, Ver-brennungen von Büchern und Papieren, Brandstiftungen, Plünde-rungen, Jagd auf Menschen, Lynchjustiz ... Was wäre geschehen,wenn das da gesiegt hätte?«50 Jahrzehnte später hielt Mayer imRückblick fest, daß es »kaum aufregend« in Leipzig war. »Ziem-lich viele Radfahrer auf feinen und unverkennbar westlichenFahrrädern, die rasch davonzuflitzen schienen, fielen mir auf.«51

Die Auseinandersetzung um den 17. Juni schob das Problem desAntisemitismus in der SED ganz in den Hintergrund. Es ist ein Pa-radoxon der Geschichte, daß gerade jüdische Kommunisten, dienoch Monate zuvor die Staatsmacht, ihren Partei- und Sicherheits-apparat und vor allem den Willen des sowjetischen Diktators fürch-ten mußten, nun in der Präsenz ebendieser Staatsmacht eine Ga-rantie für ihre – relativ – sichere Existenz sehen mußten. Dabeidachten durchaus nicht alle so, verdrängten nicht alle die be-drückende Wirklichkeit. Alfred Kantorowicz, der am 17. Juni imKrankenhaus lag, notierte wenig später in sein Tagebuch: »Warumhaben wir Intellektuellen und alten Sozialisten uns nicht an dieSpitze der Bewegung gestellt? Was außer passiver Resistenz,außer Raunzen, Klagen, äußerstenfalls geistiger Selbstbehauptunghaben wir getan?«52 Ob die demonstrierenden Arbeiter freilichauf staatstragende Intellektuelle damals gehört hätten, muß indeswenigstens offen bleiben. Nach dem 17. Juni saßen Ulbricht unddie Seinen fester denn je zuvor im Sattel. Diese neue Konstellationbewog die noch in der DDR verbleibenden Juden, sich oft not-gedrungen enger an das Regime zu binden.

Die Aufarbeitung des Antisemitismus in der DDR hätte somiteine freie Diskussion über Grundfragen der ostdeutschen Ge-schichte notwendig gemacht. Dies war bis zum Herbst 1989 nichtmöglich. Allerdings verschwand nach dem Tode Stalins der spezi-fisch stalinistische Antisemitismus, der zum einen als Waffe inFraktionskämpfen eingesetzt wurde, zum anderen sich gegenungeschützte Minoritäten – wie fast jede Spielart des Stalin-Terrors– richtete. Er feierte Anfang 1968 noch einmal in Polen einetraurige Wiederauferstehung, was – unter anderem – auch daraufverweist, wie wenig die nachstalinistischen Gesellschaften desbürokratischen Sozialismus ihr Erbteil wirklich abzustreifenvermochten.

50 SAPMO-BArch, DY 30,IV 2/9.04/426; zit. nachArnim Mitter/Stefan Wolle:Untergang auf Raten.Unbekannte Kapitel derDDR-Geschichte, München1993, S. 112f.

51 Hans Mayer: EinDeutscher auf Widerruf, Bd.2, (Taschenbuchausg.)Frankfurt am Main 1988,S. 50.

52 Alfred Kantorowicz:Deutsches Tagebuch, Bd. 2,Berlin (West) 1980, S. 365.

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Die Parteien in Deutschland bereiten sich auf die 98er Bundestags-wahl vor. Wollten wir diese Vorbereitungen danach beurteilen, wasüber sie bisher in den Zeitungen stand, könnten wir glatt zu demSchluß kommen: Parteien gleichen sich auf eine manchmal fataleArt. Insbesondere wenn um Listenplätze oder Direktkandidaturengerangelt wird. Und wenn ich jetzt noch berücksichtige, wievielvon den Innereien der Parteien gar nicht erst in die Presse gerät,dann hilft nur noch ein kräftiger Schluck aus der Pulle mit derallerdings heutzutage weithin antiquiert geltenden Aufschrift»Bürgersinn« – um nicht dem ganzen Laden Valet zu sagen undschleunigst wieder mal in der nächsten Nische zu verschwinden.

CDU: Aus Thüringen vermeldeten die Zeitungen, man sei dortauf der Suche nach einem sicheren Listenplatz für Vera Lengsfeld.Obwohl sie sich unlängst auf dem Leipziger CDU-Parteitag Kanz-ler Kohl & Hofprediger Hintze durch eine verschiedentlich sogarin CDU-Kreisen unter der Hand als Afterkriecherei beurteilte Redeempfohlen hatte, mochte letzten Meldungen zufolge die Basis nichtmitspielen. Es fehlt den Parteifreunden aus Sondershausen undUmgebung offenbar an sozialem Gespür. Denn was sollte VeraLengsfeld, die »einst im Mai« auf dem besten Wege schien, einekompetente Umweltaktivistin zu werden, das aber eines Tagesoffenbar nicht mehr attraktiv fand, tun, wenn sie nicht mehr im Par-lament sitzt? Vermutlich sind auch in Thüringen Seilschaften jenerArt am Wühlen, die der CDU-Neuzugang Angelika Barbe (früherSDP/SPD) vom Berliner »Bürgerbüro« neulich auf einer Presse-konferenz beschwor. Dieser Funktionärin mit dem Timbre einerFrieda Simson zufolge bereiten sich nach wie vor existierende

168UTOPIE kreativ, H. 85/86 (November/Dezember) 1997, S. 168-169

WOLFGANG SABATH

Festplatte. Die Wochen im Rückstau

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SED-Strukturen auf die Machtübernahme vor. Um auf die Konver-titin Lengsfeld zurückzukommen: Vera, haben Sie doch einfachVertrauen, Herr Hintze wird es richten!

SPD: Für die einst räumlich beengten Westberliner bietet das Um-land der Haupstadt – heute gemeinhin als Speckgürtel bezeichnet –nicht nur Gelegenheit zu Auslauf, Häuserkauf und Grundstückser-werb, sondern auch neue politische Möglichkeiten. Zum Beispieldie, sich in einem brandenburgischen Kreis als Kandidat für die Bun-destagswahl aufstellen zu lassen. Zum Beispiel RA Peter Dankert.Der powert nun schon seit Monaten, daß ihn die SPD im KreisTeltow-Fläming wählt und ihn auf Platz 1 der entsprechenden Listesetzt. Nun gibt es aber, lesen wir in den Zeitungen, noch drei andere,authochtone Interessenten. Doch als neulich ein Berliner Blatt aufseiner Brandenburg-Seite alle Kandidaten in einer Art Familienfotoabbildete, war mir eigentlich klar, wer das Rennen machen würde:Dankerts Rivalen kamen mir, wie soll ich sagen, sie kamenmir irgendwie sehr schlicht vor. Was natürlich nicht gegen sie alsMenschen spricht. Aber vielleicht gegen sie als Politprofis. Leider.

PDS: Welche Nachrichten hat uns die Tante PDS über ihre bis-herigen Wahlvorbereitungen zukommen lassen? Von sächsischenDauerquerelen und ihren Hauptprotagonisten Ronald Weckesser& Christine Ostrowski – nur ND-Leser wissen, wovon die Rede ist,den Lesern anderer Organe sei versichert, sie haben (fast) nichtsversäumt – drang in letzter Zeit nichts zu uns. Aber diese Parteihatte auch so allerlei Absurditäten auf Lager. Die erste: WährendWolfgang Thierse bereits in den Sielen des SPD-Wahlkampfeshängt, um es diesmal im Wahlkreis Berlin-Mitte/Prenzlauer Bergzu packen und ein Direktmandat zu gewinnen, hat die PDS dort im-mer noch keinen Direkt-Kandidaten gefunden. Möglicherweisebenötigt sie für den Einzug in den Bundestag das Mandat in diesemWahlbezirk gar nicht, aber ist ihr denn nicht aus kosmetischenGründen daran gelegen, vor des Kanzlers Nase ihr Ding zu machen?Der »Spiegel« hatte zwar, wohl von einem IM aus dem Liebknecht-haus hastig informiert, gemeldet, die PDS wolle die Autorin Danie-la Dahn bitten, für sie anzutreten. Die hat davon erst aus dem »Spie-gel« erfahren haben. Woraufhin sie sich, einem Ondit zufolge,bockig stellte. Kurzum: Offenbar ist die PDS immer noch bei denVorbereitungen der Vorbereitungen. Nach inzwischen in jener Parteischon bewährter Manier – ich sollte besser die Vokabel »Manie« ver-wenden – mußte darum erst einmal öffentlich dem Wahlkampfleitergegen das Schienbein getreten werden. Und damit gar keine Lange-weile aufkommt, wurde damit auch noch eine Debatte über dieQuotierung des Wahlbüros verbunden. Und als sich dann alle Betei-ligten so richtig schön echauffiert hatten, konnte das ND mit demStimmungsbericht von einer Vorstandssitzung aufwarten, in der von»Dirty Tricks« und ähnlich feinen Umgangsformen die Rede war.

Die Grünen: Bei denen stritten in den letzten Wochen Vorstandund Fraktion immer noch um das Wahlprogramm. Sollten sichdabei letzlich Trittin, L. Vollmer und Co. durchsetzen, können wirnicht mehr ganz auschließen, daß sich Joschka Fischer eines Tagesdoch noch von Helmut Kohl adoptieren läßt.

In diesem Sinne: Gesegnete Weihnacht!

SABATH Festplatte169

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Detlef Joseph:Der Rechtsstaat und die ungeliebteDDR, GNN Verlag 1997, 230 S. (24,80 DM)

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte,hier wird er indirekt, doch umfassend geführt:Die Mittel des Straf- wie des Kryptostraf-rechts sind ungeeignet, zu einer Gesellschafts-analyse implodierter Systeme (sogenannteVergangenheitsbewältigung) beizutragen. ImGegenteil, sie verhindern gradezu solch eineAnalyse, und vielleicht ist das der eigentlicheSinn all jener Maßnahmen und Methoden, mitdenen die offizielle Bundesrepublik Deutsch-land die gewesene DDR an deren ehemaligenBürgern exekutiert.

Das vorliegende Buch ist in Zorn und Wutgeschrieben. Mit ihm reagiert der Autor aufseine Weise auch seine Ohnmacht ab, hinterihm (und uns) liegende Vorgänge nicht rück-wirkend ändern zu können. Enttäuscht überdiese Vorgänge ist er übrigens nicht, gehört erdoch zu jenen, die sich 1990 nicht über das,was dann über uns und ihn kam, getäuschthaben. Sachkenner zum historischen Pro-blemkreis von Klassenjustiz und Rechtsstaat,der er ist, und ausgewiesen auch durch kriti-sche Beiträge zum Unsozialistischen an dersich sozialistisch bezeichnenden DDR wie amUndemokratischen der zur Demokratie selbst-verpflichteten BRD,1 ist diesmal sein Erkennt-nisinteresse auf die Unrechtsstaatlichkeit derdem Anschluß der DDR an die BRD folgen-den Vorgänge fokussiert. Insofern ist der Titeldes Bandes mißdeutbar. Nicht die Rechts-staatlichkeit, zu der das nunmehrige Deutsch-land durch sein Grundgesetz (Art. 20 III, 28 I)verpflichtet ist – wie zur Sozialstaatlichkeitdurch Art. 14 II, 20 I, 28 I auch! –, wirddenunziert, sondern der »Deckmantel vorgeb-licher Rechtsstaatlichkeit« (S. 5).

D.J. verzichtet darauf, das Beispielreservoirauszubeuten, aus dem man ersehen kann, wiein Geschichte (etwa Athen 404 v.u.Z.; Eng-land 1660; Frankreich 1814) und Gegenwart(etwa Spanien 1975; Osteuropa 1990) alterna-tive Lösungswege gegangen wurden, um diedurch Krieg oder Bürgerkrieg erzwungeneAblösung von Makrosystemen nicht als Re-vanche oder Rache zu betreiben.2 Er bietet

auch keine eigenen Lösungsvorstellungen an,wie man im heutigen Deutschland hätte vor-gehen sollen. Vielmehr werden in 18 Kapitelnmit ihren nahezu 400 Anmerkungen, in denendie Quellen offengelegt werden, die verschie-denen Bereiche und Methoden vorgeführt, inund mit denen der Zusammenschluß zweierStaaten juristisch als »Einigungsvertrag«,tatsächlich aber als Einverleibung des einendurch den anderen mit Rückwirkungsan-spruch seiner Gesetzgebungs- und Gerichts-tätigkeit erfolgte. Daher ist die (nie gegen Nazisstrafrechtlich vom Bundesverfassungsgerichtbenutzte) sogenannte »Radbruch-Formel« (S.100), mit der da, wo gewünschte Gesetze feh-len, Naturrecht frei erfunden wird, nur dieSpitze des Eisbergs.3

Das Buch ist zwar von einem (abgewickel-ten) Juristen, aber nicht für Juristen geschrie-ben worden. Nichtjuristen werden gradezuaufgefordert, sich mit den Argumenten ver-traut zu machen. Da die behandelten Vorgän-ge essentiell, teilweise sogar existentiell indie Lebensverhältnisse – so oder so – nahezueines jeden Ostdeutschen eingegriffen habenund weiter eingreifen, wird allen, denen esinzwischen klar geworden ist, daß die haupt-sächliche Pflicht eines Demokraten darin be-steht, sich für die Macht/Ohnmacht-Verhält-nisse seines eigenen Landes verantwortlichzu fühlen, nichts anderes übrigbleiben. Inter-ventionsverbote gelten für den Staat im Ver-hältnis zu anderen Staaten; für den Bürgerim Verhältnis zu seinem eigenen Staat geltenInterventionsgebote. Insofern liest derjenigedas Buch falsch, der damit seinen nostalgisch-ostalgischen Affekten glaubt frönen zu kön-nen. Einmischungen sind erforderlich. Klar-heit über Gewesenes, dem angeblich realexi-stierenden Sozialismus einschließlich seiner»Mängel und Untaten« (S. 181), wie über Ge-genwärtiges, dem realexistierenden Kapitalis-mus, sind dafür die unumgängliche Voraus-setzung.

Das Buch beginnt mit Goethes Erfahrung,laut der man niemals mehr von Freiheit redenhört, als wenn eine Partei die andere unterjo-chen will und auf nichts weiter aus ist, als daßGewalt, Einfluß und Vermögen aus einerHand in die andere gehen sollen;4 es endet mitWeizsäckers Voraussage, daß, wenn der alteMißerfolg von Utopien erst einmal vergessen

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und die sorgenvolle Gegenwart allzulange alsungerecht empfunden sein wird, dann wieder-um Träume von gerechten Gesellschaften ent-stehen werden. Träume? Auch Taten!

HERMANN KLENNER

Anmerkungen1 Vgl. D. Joseph (ed.): Rechtsstaat und Klassenjustiz. Texte aus

der sozialdemokratischen »Neuen Zeit« 1883-1914, Freiburg/Berlin 1996, 540 S.; ders.: »Stalinismus und Rechtswissen-schaft«, in: Demokratie und Recht 19(1991) S. 277-302;ders.: »Rechtswissenschaft und SED«, in: U.-J. Heuer (ed.),Die Rechtsordnung der DDR, Baden-Baden 1995, S. 549-609; ders.: »Politische Strafverfolgung als Instrument sozialerRache«, in: Lothar Bisky (u.a.): Unrechtsstaat? Hamburg1994, S. 106-109; ders.: »Politische Prozesse«, in: Weiss-buch, Unfrieden in Deutschland, Bd. 5, GNN-Verlag 1995, S.81-97; ders.: «Vom schwierigen Verhältnis der Marxisten zumRecht« in: Bisky (u.a.): Die PDS, Herkunft und Selbstver-ständnis, Berlin 1996, S. 208-216.

2 Vgl. Helmut Quaritsch: »Theorie der Vergangenheitsbewälti-gung«, in: Der Staat 31(1992) S. 519-552; ders.: »Über Bür-gerkriegs- und Feind-Amnestien«, in: ibidem, S. 389-418 (inbeiden Artikeln rechtfertigt der Autor im übrigen die bundes-deutsche Vorgehensweise).

3 Vgl. Horst Dreier: »Gustav Radbruch und die Mauerschützen«,in: Juristenzeitung 52(1997) S. 421-434, eine ausgezeichnetargumentierende Antrittsvorlesung des Autors an der Juristi-schen Fakultät der Bayrischen Maximilian-Universität inWürzburg vom 15. Januar 1997.

4 Goethe. Berliner Ausgabe. Poetische Werke, Bd. 3, Berlin/Weimar 1965, S. 219.

Elke Reuter/Detlef Hansel: Das kurze Leben der VVN von 1947 bis 1953.Die Geschichte der Vereinigungder Verfolgten des Naziregimes in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR,edition ost Berlin 1997,634 S. (29,80 DM)Bedauerlich an diesem Buch ist, daß es nichtzu DDR-Zeiten publiziert werden konnte.Auseinandersetzungen um Probleme wie hierwären dringend notwendig gewesen, um denWeg zur demokratisch-sozialistischen Ent-wicklung freizumachen statt zu verbauen.

Autorin und Autor, beide der Historiker-zunft zugehörig, behandeln in den Kapiteln 1und 2 die Lage nach Kriegsende 1945, ersteOrganisationsformen der Opfer des Faschis-mus und die zonalen wie interzonalen Zusam-menschlüsse im Frühjahr 1947. Sie betonen,daß diese Zusammenschlüsse auf streng über-parteilicher Basis zustandekamen. Allerdingswirkten KPD und SED von Anfang an auf ei-ne Organisation hin, die allein ihrer politi-

schen Linie folgen sollte. Die SPD unter KurtSchumacher trat dem mit autoritären Boykott-und Unvereinbarkeitsvoten wider die VVNwegen der kommunistischen Einflüsse entge-gen, wobei sie gleichzeitig de facto die Erfül-lung wichtiger antifaschistischer Programm-punkte in Westdeutschland verhindern half.Hieraus resultierende Auseinandersetzungeneskalierten im Kalten Krieg. Die Rückwirkungauf die eigene Organisation hat der Antifa-schist Fred Löwenberg, ursprünglich Sozial-demokrat, treffend so zusammengefaßt: »DieTragik der VVN ist, daß sie ein Opfer deskalten Krieges in beiden deutschen Staatenwurde, und daß auch der Antifaschismuspartiell auf der Strecke blieb.« (S. 63 f.)

Kapitel 3 gilt den Vorgängen um Berlin, dieStadt, in der die Gegensätze besonders hartaufeinanderprallten und beide Seiten die 1948geglückte Spaltung auch mit politischer Hetzeund Verbalinjurien vertieften. Genau wie inder 1949 gegründten BRD wurden in West-berlin vorwiegend kommunistischen Verfolg-ten die Anerkennung als OdF und die damitverbundenen Bezüge verweigert, gleichzeitigaber Nazis begünstigt. Die mittlerweile aufSED-Kurs befindliche VVN erlitt im Westenhohe Mitgliederverluste und mußte das Aus-einanderdriften ihrer ursprünglich gesamt-deutschen Organisation hinnehmen.

Gegenstand von Kapitel 4 sind gegenseitigeAusgrenzungen prokapitalistisch und pseudo-sozialistisch orientierter Verfolgtengruppenund die Bildung konkurrierender Verbände.Die Ost-VVN unterwarf sich vollends derSED, die ihrerseits auf dem Weg zur stalini-stischen »Partei neuen Typus’« war. Hierzugehörte ab 1949 die »Säuberung« erst der be-waffneten Organe, dann der Partei von ehe-maligen Westemigranten, in westliche oderjugoslawische Gefangenschaft geratenen oderauf alliierter Seite kämpfenden Antifaschi-sten. Es gereicht der VVN zur Ehre, daß siesich – wie im Buch berichtet – bisweilen da-gegen zur Wehr gesetzt, manche Ausschlüsseaus der SED nicht durch solche aus ihren Rei-hen komplettiert und gegen Anbiederungen anoft nur verbal »gewendete« frühere Nazis inder DDR opponiert hat. Ihre Führung abernahm voll an der von J. W. Stalin verordnetenantititoistischen Hetze, an der Verfolgung derZeugen Jehovas, an einer auf Aufbau des dik-

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tatorisch regierten »Realsozialismus« gerich-teten Innen- und einer zunehmend irrealerwerdenden Westpolitik teil, die den Sieg dervom Osten gesteuerten »Nationalen Front«über NATO-Integration und Adenauer-Regie-rung in der Bundesrepublik vorsah.

In Kapitel 5 stellen Verfasserin und Verfas-ser eingangs das vielleicht Wichtigste an derVVN-Arbeit dar: die Forschungs- und Publi-kationstätigkeit über den deutschen Wider-stand und einen Ermittlungsdienst, der so-wohl der Suche nach Kameraden oder derenAngehörigen, als auch dem Aufspüren vonNS-Verbrechern galt. Sie weisen gleichzeitignach, daß sich in der Forschung zunehmenddie »von oben« verordnete, jedoch von vielenWiderstandskämpfern begrüßte Tendenz durch-setzte, allein den Arbeiter- und vor allem denparteikommunistischen Widerstand zu würdi-gen. Infolge überhandnehmender aktuell-poli-tischer Aufträge der SED an die VVN wurdezudem die Forschung bald vernachlässigt. ImAbschnitt über die Lagerkomitees werdenu. a. die erstmals 1946, dann wieder nach demEnde der DDR angeheizten Auseinanderset-zungen um die kommunistische Lagerselbst-verwaltung von Buchenwald erörtert. Darle-gungen über die Entnazifizierung in der So-wjetischen Besatzungszone und den Streit umVersorgung der Opfer des Faschismus sowieWiedergutmachung stehen am Schluß desKapitels. Neben großzügigen Versorgungsre-gelungen setzte sich der von prominentenMitarbeitern der Justizabteilung beim ZK derSED, darunter dem einstigen NSDAP-Mit-glied Ernst Melsheimer, gegen jüdische VVN-Vertreter und das Politbüromitglied PaulMerker verfochtene Standpunkt durch, keinedurch Nazis enteignete jüdische Besitztümerzurückzuerstatten, sofern sie inzwischen dem»Volkseigentum« zugeschlagen worden waren.

Kapitel 6 ist das brisanteste und wichtigste.Behandelt werden das Verhältnis zwischenSED-Spitze und VVN und die Zwangsauflö-sung Letztgenannter. Davon ausgehend, daßdie Verfolgtenorganisation von Anfang an, be-sonders in personeller Hinsicht, von Entschei-dungen des Parteiapparats abhängig war, stel-len Reuter/Hansel die Überprüfung der VVN1949-1951 durch die Parteikontrollkommis-sionen dar. Während die PKK der Kreise undBezirke meist differenziert und moderat be-

richteten, schmiedete die Zentrale PKK unterHermann Matern durch Vergröberung undVerfälschung dieser Berichte eine Abschluß-analyse stalinschen Typs, die offensichtlichauf Vernichtung der Verfolgtenorganisationabzielte. Darin wurde der VVN vorgeworfen,von »Sozialdemokratismus in der Form derAblehnung der führenden Rolle der Partei«befallen und von »Sektierertum« durchsetztzu sein; sie sei, hieß es, »zu einem Sammel-becken und Tummelplatz von aus der Parteiausgeschlossenen Parteischädlingen und de-moralisierten Elementen geworden«. Daherwerde »von unseren Genossen vielfach dieFrage gestellt, ›hat die VVN überhaupt eineExistenzberechtigung?‹« (S. 453 ff.) Verfasse-rin und Verfasser haben völlig Recht: Ausge-rechnet die Organisation der Widerstands-kämpfer und Verfolgten ist von der führendenPartei des antifaschistisch firmierenden deut-schen Staates am härtesten kritisiert (S. 501)und – so muß hinzugefügt werden – verleum-det worden. Das belegt zu haben, ist ein Ver-dienst. Es muß auch dem Interessenverbandehemaliger Teilnehmer am antifaschistischenWiderstand, Verfolgter des Naziregimes undHinterbliebener (IVVdN) und seinem Vorsit-zenden Fred Dellheim angerechnet werden,die das Buch zum 50. Jahrestag der Gründungder VVN vorlegten. Die Frage, welche Grup-pe an der SED-Spitze hinter dem massivenVorstoß stand und welche verhinderte, daßdas Verdammungsurteil sofort exekutiertwurde, konnten Reuter/Hansel nicht beant-worten. Offenbar stand hinter den VVN-Kri- tikern die Gruppe um Ulbricht, währendWilhelm Pieck zu denen zählte, die »dasSchlimmste verhüteten«.

Daran, daß die Organisation knapp zweiJahre später doch aufgelöst wurde, war demBuch zufolge auch ihre Führung schuld. Soübernahm sie in einem vom neuen General-sekretär Fritz Beyling mitverfaßten Berichtvom Juni 1952 an Matern wesentliche An-würfe der ZPKK, darunter den »ausgespro-chen parteifeindlicher Umtriebe« bei derVVN. (S. 458) Andererseits sagte sie weiterzu allem Ja und Amen, das die SED-Spitzesich einfallen oder von Moskau vorschreibenließ. Es reichte von der Wendung zum »Auf-bau der Grundlagen des Sozialismus« wesent-lich auf Kosten der Werktätigen, speziell der

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Arbeiter, über die Zustimmung zum antisemi-tisch getönten Slánsky-Prozeß, zur Verfol-gung maßgeblicher deutscher Kommunistenwie Merker, zur Drangsalierung jüdischerMitstreiter in VVN und SED sowie zu derenAustreibung aus der DDR. Der VVN-Neu-jahrsaufruf für 1953 proklamierte: »Im neuenKampfjahr leitet uns Stalins Wort«. Nebendem Kampf um den Weltfrieden wurdendarin eine »friedliche Lösung der deutschenFrage« durch »Sturz der Adenauer-Regie-rung«, die »aufopferungsvolle Mithilfe beimsozialistischen Aufbau« und eine »Steigerungder Wachsamkeit gegenüber allen Feindenund Agenten« als dringlich bezeichnet. (S. 464)Ohne Zweifel hätte die VVN-Führung auchdas neuerliche Massaker gutgeheißen, dassich mit der Inhaftierung angeblicher jüdi-scher Giftmischer unter den Kreml-Ärzten an-bahnte und nur dank Stalins Tod nicht mehrstattfand.

Indem die Spitze der VVN sich in allenFällen der SED-Führung beugte, verlor dieOrganisation zunehmend ihr antifaschistisch-demokratisches Profil und damit an Gewicht.Während sie noch die mehrfach aufgeschobe-ne 4. Hauptkonferenz vorbereitete, plante dasZK-Sekretariat der SED insgeheim schon dieAuflösung der DDR-VVN. Am 3. 2. 1953wurde sie per Geheimbeschluß vom Politbüroverordnet, dann vom 2O. bis 22. 2. in Zusam-menkünften erst der SED-Aktive, dann derPlenen mehrerer VVN-Gremien gebilligt. DieMitglieder der VVN wurden absichtlich nichtbefragt. Sie hatten, wie im Buch festgehalten,häufig Bedenken. Von der Organisation bliebnur deren Kopf übrig, der nunmehr Komiteeder antifaschistischen Widerstandskämpferhieß und sich erst 1974 wieder einen Unter-bau aus Kreis- und Bezirkskomitees zulegendurfte. Einen Spitzenplatz im Komitee nahmMatern ein, der am meisten auf die Hinrich-tung der VVN gedrängt hatte.

Die offizielle Begründung, mit der die Orga-nisation im zweiten Anlauf totgelobt wurde,war ebenso demagogisch wie falsch. Erstens,hieß es, habe die antifaschistisch-demokrati-sche Ordnung der DDR »zur Ausrottung allerWurzeln des Faschismus« geführt. Die Festi-gung der Staatsmacht, Schaffung der Grund-lagen des Sozialismus sowie bewaffneterDDR-Streitkräfte sicherten »für immer, daß

Faschismus und imperialistische Knecht-schaft nicht wiederkehren können«. Damitseien zweitens alle seit 1945 gestellten Aufga-ben der VVN erfüllt, weshalb »das weitereBestehen eines besonderen Organisations-apparates... hinfällig« wäre. (S. 621 f.) DiesePseudo-Begründung war schon damals kon-traproduktiv. Sie hat sich durch die weitereEntwicklung der DDR, besonders die desostdeutschen Neofaschismus, als völlig illu-sionär erwiesen.

Die Ost-VVN wurde zwangsweise aufge-löst, gleich nachdem am 20. 2. 1953 die Zen-trale Leitung der westdeutschen VVN verbo-ten, ihr Büro in Frankfurt/Main geschlossenund das Aktenmaterial vom Staat sicherge-stellt worden war. Im Osten trug sich faktischdasselbe zu. Allerdings ist die West-VVN infast allen Bundesländern nicht illegalisiertworden. Die Organisationsauflösung im Ostenmußte am 21. 2. 1953 Franz Dahlem begrün-den. Er stand zu diesem Zeitpunkt schonselbst auf Ulbrichts Abschußliste und wurdewenige Wochen später verhaftet.

Der Anhang des wichtigen und bemerkens-werten Buches birgt Angaben über die VVNder SBZ/DDR, ihre Hauptkonferenzen undVorstände sowie das erste Komitee der antifa-schistischen Widerstandskämpfer. Außerdemsind darin 67 Biogramme von Führern undMitstreitern der Organisation enthalten. Hierfindet sich u. a. die Mitteilung, daß einer derstellvertretenden VVN-Vorsitzenden, Profes-sor Hermann Kastner (LDPD), später wegenangeblicher Spionage für den Bundesnach-richtendienst verfolgt wurde und 1956 dieDDR verließ (S. 573), desgleichen, daß dereinstige VVN-Generalsekretär Karl Raddatz1960 verhaftet und 1962 vom Obersten Ge-richt »wegen Spionage und Verletzung desAmtsgeheimnisses« zu sieben Jahren Zucht-haus verurteilt wurde. Dem Anhang sind 16Dokumente beigeben, darunter solche zurGründung und solche zur Auflösung der VVNin der DDR.

MANFRED BEHREND

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Richard Scheerer: BekennendeChristen in den evangelischenKirchen Deutschlands 1966-1991.Geschichte und Gestalt eines konser-vativ-evangelikalen Aufbruchs,Haag und Herchen Frankfurt a.M.1997, 176 S. (28,80 DM)Wolfgang Thumser: Kirche im Sozia-lismus. Geschichte, Bedeutung undFunktion einer ekklesiologischenFormel (Beiträge zur historischenTheologie 95), Verlag J.C.B. Mohr/Siebeck Tübingen 1996, XVIII,523 S. (198,00 DM)

Zwei Bücher stellen Probleme der Kirche inder aktuellen oder just aktuell nachgewiese-nen Geschichte dar. Das erste befaßt sich mitRundbriefen und Verteilschriften aus der Be-wegung »Kein anderes Evangelium«, aus denGruppierungen, die sich 1966 zu der »Kon-ferenz Bekennender Gemeinschaften« zusam-menschlossen. 1991 schied der GnaudauerVerband für Gemeinschaftspflege und Evan-gelisation (Landeskirchliche Gemeinschaft)aus dieser Konferenz aus. Das Jahr 1991 istfür Richard Scheerer eine markante Zäsur,denn die Begründung für diesen Austritt hälteine Einheit nur durch die negative Abgren-zung von der Moderne für zu schwach undnicht tragend. Bei sorgfältigem Vergleichendieser Anwaltschaft des Unveränderlichenund Unvergleichbaren findet Scheerer durchintensives Studium im Laufe der Zeit interes-sante Veränderungen und mit anderen Vergleich-bares heraus. Das vollzieht sich in schönerGeradlinigkeit, die diesen konservativen Moder-nen und modernen Konservativen auszeich-net. Da fallen klare, aber von Verständnis undEinfühlung getragene Worte. Er mußte sehrviel Unsystematisches lesen und entfalten,um die Unterschiedlichkeit der gar nicht soeinheitlichen Positionen systematisieren zukönnen. Daraus hat er ein kleines Nachschla-gewerk entwickelt für ein unübersichtlichesGebiet, vor allem aber ein faires Gesprächs-angebot. Hoffentlich lassen sich Interessiertedazu einladen: ein schmaler Band aus kleinemVerlag mit aufschlußreichen Positionen.

Das andere Buch zeigt äußerlich nichtsmehr von der Kärrnerarbeit des Autors, sogediegen kommt es in einem rennomiertenVerlag und dessen jahrzehntealter Spezialse-rie daher – aber der Inhalt zeigt die unüber-sehbaren Spuren der Mühen in den Ebenender Forschung und den dazugehörigen Archi-ven. Der Preis bedeutet die Gefahr, daß ausder Veröffentlichung eine praktische Geheim-haltung wird. Dem soll mit den wenigen mög-lichen Hinweisen hier bescheiden entgegen-gewirkt werden. Das Buch von WolfgangThumser beginnt mit einer Erinnerung an diephilosophischen Probleme zwischen Kircheund Marxismus. Bis Thumser zu der genann-ten Formel kommt, beschreibt er die kirchli-che Entwicklung im Osten nach 1945 biszur Gründung des Bundes der EvangelischenKirchen in der DDR, um dann penibel dieungezählten, aber in aller Regel undeutlichenInterpretationen der Formel von »Kirche imSozialismus« vorzustellen. Seine Haupttheseunterstreicht diese inhaltliche Blässe, die javon Synoden auch so gewollt war, um eine»handhabbare« Aussage zur Überwindungvon Konflikten zu haben. Als kirchliche theo-logische Orientierung galten wohl eher Bon-hoeffers »Kirche für andere«, wie HeinrichRathke und Heino Falcke sie vor den Bundes-synoden vortrugen. Aber der Autor sieht daswie angedeutet anders, und er hat die Archive,andere sind nur dabeigewesen. Die Wahrneh-mung ist doch genauer oder – ungenauer, wiees der Standpunkt erlaubt. Der Autor meintz.B., daß die richtige theologische Freiheit zurkirchlichen Argumentation nur an kirchlichenHochschulen und ähnlichen Einrichtungenmöglich war, jedenfalls nicht an den theologi-schen Sektionen. Wenn‘s so gewesen ist, ist‘sso gewesen. Nach meiner Beobachtung hattedie Mutter der Weisheit die Kraft und dieMöglichkeit zu argumentieren nicht ganz soeinseitig verteilt. Sie ist eben im Verhältnis zueinem Doktoranden schrecklich weise. Abersolches Nachfragen hält das qualitätsvolleBuch aus – besonders nach der Entdeckungder Schlußerkenntnis auf der letzten Seite derUntersuchung, die künftige Leser vielleichtan den Anfang der Lektüre stellen werden:Kirche Ost und West haben in zwei verschie-denen Gesellschaften gelebt. Deswegen kanndie eine gar nicht als Erklärungsmuster für

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die andere taugen. Wechselseitige Vorwürfelösen die Probleme nicht, sondern verschärfensie. »Das aber werden wir uns nicht mehrlange leisten können.« So lautet der allerletz-te, prägnante Satz dieser wissenschaftlichenAnalyse. Was Menschen in der verwirrendenVielfalt der modernen Gesellschaft benötigen,sind Maßstäbe für die sach- und personenge-rechte Auswahl in der Fülle des Möglichen.Also genug richtige Arbeit für die Kirche!Fazit eines Lesers: So ungefähr dürfte es sein,wenn es um die Zukunft geht.

JENS LANGER

August Bebel: Ausgewählte Reden und Schriften.Band 10 (2 Teilbände): Die Frau und der Sozialismus. Hrsg. vom Internationalen Institutfür Sozialgeschichte Amsterdam, miteinem Geleitwort von Susanne Miller,Bearb. von Anneliese Beske undEckhard Müller, K.G. Saur Verlag München/NewProvidence/London/Paris 1996, 809 S.

Mit Band 10/1 und 10/2 wird die zu DDR-Zeiten begonnene und 1995 vom Saur VerlagMünchen übernommene zehnbändige Bebel-Aus-gabe fortgeführt. Die letzten Bände 7-9(1899-1913) lagen auf der Frankfurter Buch-messe vor.

Zum ersten Mal wird in der vorliegendenAusgabe Bebels Hauptwerk Die Frau und derSozialismus in seiner über einhundertjährigenVerbreitungsgeschichte mit Anmerkungen undeinem Literatur-und Personenverzeichnis er-schlossen und die Geschichte der Entstehungund Überarbeitungen des Werkes skizziert.Erstmals sind alle existierenden VorworteAugust Bebels zu acht inhaltlich verschiede-nen Ausgaben seines Bestsellers, die Vorstu-die sowie das von der DDR-Forschung igno-rierte Vorwort von Eduard Bernstein zum 50.Jahrestag des Erscheinens der »Frau« 1929(Frau, Anm. 65 bis 65/22, S. 739-745) ineiner wissenschaftlichen Ausgabe vereint.

Das Werk erlebte Angriffe im sächsischen

Land- und im Deutschen Reichstag. »DieFrau und der Sozialismus« gehörte im Mai1933 zu den Schriften, die der faschistischenBücherverbrennung in Berlin zum Opfer fie-len. 1946 war Bebels Buch einer der erstenNeuerscheinungen des Dietz-Verlages nachdem Krieg. Bis auf den heutigen Tag erzielte»Die Frau« insgesamt über 80 deutsche Auf-lagen und wurde in rd. 25 Sprachen übersetzt,die in über 100 Ausgaben erschienen.

Der erste Halbband 10/1 präsentiert AugustBebels (1840-1913) berühmtestes Werk in der180 Seiten starken Erstausgabe. Es erschien1879 mit falschem Impressum, von der 2. bis8. Auflage, um sozialistengesetzliche Verbotezu umgehen, unter Tarntiteln. Der Ausgabe istdas Geleitwort der Nestorin der altbundes-deutschen Geschichtsschreibung der Arbeiter-bewegung Susanne Miller vorangestellt. Siehebt den »herausragenden, ja einzigartigenPlatz von Bebels Buch in der sozialistischenLiteratur aller Zeiten und aller Länder« her-vor. Das Buch habe dazu beigetragen, »daßdie Forderung nach Gleichberechtigung derFrau ein Thema der deutschen Sozialdemo-kratie wurde« (ebda, S. 1). Daran schließtsich die Editorische Vorbemerkung der Bear-beiterin Anneliese Beske, die umfang- undkenntnisreich die Entstehungs- und Wirkungs-geschichte dieses bemerkenswerten Werkesdokumentiert.

Im Mittelpunkt des zweiten Halbbands 10/2steht die 50. Jubiläumsausgabe des inzwi-schen auf 519 Seiten angewachsenen Werkesvon 1910. Der Band enthält darüber hinauseinen von den Bearbeitern Anneliese Beskeund Eckhardt Müller akribisch verfaßten An-merkungsapparat, mit dessen Hilfe die Lese-rInnen sich ein umfassendes Bild der histori-schen Zusammenhänge verschaffen können,in denen das Werk entstand, das bis zu dieser,drei Jahre vor dem Tode des Autors vollende-ten Ausgabe ergänzt und erweitert wurde.Ebenfalls abgedruckt ist der von Bebel derJubiläumsausgabe von 1910 beigefügte An-hang. Darin setzt er sich mit der Kritik derFrauenpolitikerin und Schriftstellerin Marian-ne Weber an seinen Auffassungen über mut-terrechtliche Verhältnisse bei den Griechenauseinander. Die Beilagen umfassen BebelsGlossen zu Yves Guyots und SigismondLacroix’ Schrift Die wahre Gestalt des Chri-

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stentums [Etude sur les doctrines sociales duchristianisme], die von ihm zunächst ins Deut-sche übersetzt wurde und 1876 erschien. 1878gab er mit den Glossen einen Kommentar zudem Werk heraus. Sie enthalten Bebels histo-risch-materialistische Kritik an der Schrift. Ineinem zweiten Abschnitt setzt Bebel sich mitder Lage der Frau in der Gesellschaft ausein-ander. Dieser erschien, wie aus Anm.150-152,S. 764f hervorgeht, als eigenständige Publi-kation unter dem Titel Über die gegenwärtigeund zukünftige Stellung der Frau und hattebis 1913 vier Auflagen, von denen zwei aufGrund des Sozialistengesetzes verboten wur-den. Bebel selbst bezeichnete diesen von ihm1875 im Gefängnis geschriebenen Aufsatzals »die erste parteigenössische Abhandlungüber die Stellung der Frau vom sozialistischenStandpunkt« (ebda., Anm. 151). Darin ver-wies er bereits auf das bevorstehende Erschei-nen seines Buches Die Frau und der Sozialis-mus, zu dem ihn diese Vorarbeit angeregt hat-te. Ebenfalls beigefügt sind das Vorwort zurdritten Auflage von 1884, in dem Bebelschreibt, der Erfolg des Buches sei ganz we-sentlich »den Angriffen ...durch den Vertreterder sächsischen Regierung und ...durch denpreussischen Minister des Innern« geschuldet;die Vorrede zur neunten und damit erstennach dem Fall des Sozialistengesetzes er-schienenen Auflage von 1890, in der er sichausführlich mit den Gegnern der Schrift, spe-ziell dem »bisher so wenig erfolgreichen sozi-aldemokratischen Drachentödter Herr[n] Eu-gen Richter«, dem Verfasser der Irrlehren derSozialdemokratie (ebda, S. 711) auseinander-setzt und sich u.a. auch von den AuffassungenEdward Bellamys abgrenzt; schließlich dieVorrede zur elften Auflage von 1891, die aufdiverse fremdsprachliche Ausgaben des Bu-ches hinweist. Von großem Interesse für heu-tige LeserInnen ist auch der Abdruck der Be-belschen Besprechung von Ludwig Wolt-manns Die Darwinsche Theorie und der So-zialismus in der Neuen Zeit. Darin nimmt Be-bel zu einer damals unter den sozialdemokra-tischen Theoretikern und unter Darwinistengeführten Kontroverse Stellung, die die Be-ziehung der Darwinschen Theorie zum Mar-xismus betraf und auch heute höchst aktuelleBezüge hat. Bebel sieht den Darwinismus mitder Entwicklung der Gesellschaft zum Sozia-

lismus im Einklang (ebda, S. 721), sofern »diedarwinistischen Theorien von der Auslese derBesten im Kampfe ums Dasein ...in einer so-zialistischen Gesellschaft den Ausdruck fin-den, daß die Einheit zwischen Mensch undNatur hergestellt wird«. Dabei schließt er sichden Auffassungen Friedrich Engels’ an, der inder Spezifik des Menschen »als Persönlich-keit und zugleich Gesellschaftswesen« denUnterschied zum Tier sieht, weshalb es un-möglich sei, »ihn in seiner Entwicklungnach gleichen Gesichtspunkten zu beurtheilen«(ebda, S. 724). Den »Darwinschen Kampfums Einzeldasein aus der Natur mit potenzier-ter Wuth ...in die Gesellschaft [zu übertra-gen]« hieße dagegen, »den Naturstandpunktdes Thieres ...als Gipfelpunkt der menschli-chen Gesellschaft« (ebda) zu betrachten. Die-se Haltung erwies sich zwar als geeignet zumKampf gegen die damals auch in Deutschlandaufkommenden sozialdarwinistischen Auffas-sungen, die den neuen Rassismus beförderten.Andererseits spiegeln sie aber die der Auf-klärungsphilosophie geschuldeten binären Vor-stellungen von Mensch und Natur wider, diebis heute die Vereinnahmung letzterer legiti-mieren. Wie Bebels Rezension erhellt, warauch er nicht frei von einer hierarchisierendenBetrachtungsweise, die in der menschlichenGattung den Höhepunkt der Evolution sah,die ihn zu unvereinbar binärem Gegensatz zuden übrigen Lebewesen erhoben habe. Wo dieRealität diesen aufklärerischen Anspruch nichteinlöst, moralisiert Bebel: So sei »der Menschder Urzeit eine Bestie« gewesen, aber auch»der moderne Mensch« stehe »oft unter demThiere (in der Befriedigung geschlechtlicherLeidenschaften)« (ebda, S. 727).

Bebels Werk vor allem in der späterenAusgabe gehört zu den bekanntesten undzugleich kontroversesten marxistischen »Klas-sikern«. Bekanntlich stützt Bebel sich in demTeil seines Werks, die »die Frau in der Ver-gangenheit« betreffen, auf Friedrich Engels’Der Ursprung der Familie, des Privateigen-tums und des Staates und auf seine eigeneLektüre der auch von Engels genutzten Aus-führungen von Bachofen, Morgan und ande-ren, deren Ergebnisse in mancher Hinsicht mitneueren Matriarchatsforschungen übereinstim-men. Der Vergleich der späteren Ausgabe mitder früheren, aber auch mit Engels’ 1884, sie-

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ben Jahre nach der Erstauflage der Bebel-schen Frau, erstmals erschienenen Ursprungder Familie zeigt, daß der vielbeschäftigteBebel seine wenige, meist im Gefängnis ver-brachte »Freizeit« zu umfangreichen Studiennutzte. Er war in der griechischen und römi-schen Geschichte und Literatur ebenso zuHause wie in der christlichen Überlieferung.Bebels marxistische Grundhaltung schloßdabei stets Kritik ein: »Wenn ich an die ande-ren Götter nicht glaube, so glaube ich auchnicht an die unseren« sagte er auf dem Mag-deburger Parteitag von 1910 (ebda, S. 16).

Dem Vorwort von Eduard Bernstein zur 50.Jubiläumsausgabe ist zu entnehmen, wie Be-bel bereits 1872 seine Zeit auf den FestungenHubertusburg und Königstein nutzte, um sichmit Hilfe von Wilhelm Liebknecht die franzö-sische Sprache so kompetent anzueignen, daßer eine Übersetzung des o.g. Werks von YvesGuyot und Sigismond Lacroix über das Chri-stentum anfertigen konnte. Diese Arbeit inspi-rierte Bebel zu den Glossen, in denen er sicherstmals mit der Frauenfrage auseinandersetztund damit den Grundstein für sein Hauptwerklegt. Bernsteins Vorwort berichtet aber nichtnur von dem buchhändlerischen Erfolg desmit jeder neuen Auflage populäreren Werks,von dem trotz Sozialistengesetz bis 1909197.000 Exemplare verkauft worden warenund das bis 1913 in 20 Sprachen übersetztwurde und in mehreren Auflagen – allein dierussische Ausgabe in zehn Ausgaben (ebda,S.729f) – erschienen war. Er weist auch aufseinen politischen Einfluß hin. Noch auf demGothaer Parteitag 1875 sei Bebels Antrag,das Frauenwahlrecht in das Parteiprogrammaufzunehmen, abgelehnt worden. Dagegensei »heute (1929 – H.B.) die Zahl der Gegnerdes Eintretens für die politische Gleichbe-rechtigung der Frau ...verschwindend gering.Des weiteren hat das Eintreten der Sozialde-mokratie für das politische Recht der Frauund die Einwirkung von Bebels Buch aufwachsende Zahlen bürgerlicher Frauen diebürgerlichen Parteien genötigt, ...den Rechts-forderungen der Frauen gleichfalls größereZugeständnisse zu machen« (ebda, S. 742).

Diese nur vier Jahre vor der Gleichschal-tung der politischen Parteien und der Frauen-organisationen durch die Nazis gemachteFeststellung trägt allerdings der Ambivalenz

der politischen Parteien in der Frauenfragenicht Rechnung und blendet die berechtigteKritik der Frauenbewegung aus, die erklärte:»Die Gleichberechtigung der Frauen ...standin der Verfassung, war auf dem Papier vor-handen, das war aber auch alles. Die Wirt-schaft, die Finanzen, Verwaltung, der gesamteStaatsapparat...befanden sich ausschließlichin den Händen der Männer. Nicht einmal beiden Wahlen hatten Frauen die gleiche Mög-lichkeit freier Auswirkung wie die Männer.Denn diese allein beherrschten wiederumden Parteiapparat wie die Parteikassen unddamit die Propaganda«1 (L.G. Heymann/Ani-ta Augspurg, S. 336).

Wenn Bebels großartiges Buch aber ande-rerseits auch nicht die Mehrzahl der SPD-Genossen zu glühenden Kämpfern gegen diepatriarchalen Verhältnisse machte oder gar derGleichstellung der Frau in Deutschland denWeg bahnte, so haben die damaligen wie spä-tere Kämpferinnen für Frauenrechte seinePionierfunktion stets anerkannt. In AnnelieseBeskes Vorbemerkung wird die Vertreterindes radikalen Flügels der FrauenbewegungMinna Cauer (1842-1922) zitiert, die 1910erklärte: »Man mag sich zu Bebels Buch stel-len, wie man will, und ich bin dafür, daß mansich ihm gegenüber recht kritisch verhalte,so ist das Eine doch nicht zu leugnen, daßhier eine geschichtliche, staatswissenschaft-liche und psychologische Bearbeitung desStoffes vorliegt, wie sie überhaupt nochniemals zusammenfassender gegeben wordenist« (Frau, S. 14). Seine Bedeutung wurdeauch von der Frauenrechtlerin Lily Braun(von Gizycki, 1865-1916) in ihrem Werk DieFrauenfrage (1901) und von den sozialisti-schen Frauenrechtlerinnen Luise Zietz (1865-1922) und Clara Zetkin (1857-1933), die es1910 in der Gleichheit rezensierte, gewürdigt.Diese identifizierten sich, anders als diebürgerlichen Frauenrechtlerinnen, mit Bebelsund Engels’ Auffassung, daß die Befreiungder Frau ein Korrelat der Befreiung der Arbei-terklasse von kapitalistischer Ausbeutung undUnterdrückung sei.

Die Frau und der Sozialismus war »diepopulärste und maßgebendste Schrift der so-zialdemokratischen Bewegung« (Gerhard, S.122). In ihrer Editorischen Vorbemerkung,Anm. 25 (Frau, S. 12f*), nennt Anneliese

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Beske über die oben angeführten hinausweitere zeitgenössische deutsche und auslän-dische Autorinnen und eine Auswahl vonspäteren Texten, die sich mit der Bedeutungdes Werks für die Frauenbewegung auseinan-dersetzen. Bereits die erste kurze Fassung desWerks hatte Karl Kautsky zu seiner Artikelse-rie Die Entstehung der Ehe und der Familie(1882-1883), und Engels zu seiner o.g. Schriftangeregt, die Bebel dann wieder zur Erweite-rung der seinen inspirierte. Auch EleanorMarx-Aveling und ihr Lebensgefährte Ed-ward Aveling beziehen sich in ihrem WerkThe Woman Question darauf. In der Editori-schen Vorbemerkung wird auch Simone deBeauvoirs (1908-1986) Auffassung dazu inihrem Hauptwerk Das andere Geschlecht.Sitte und Sexus der Frau (1949) zitiert: »Sosind die Frau und der Sozialismus schicksal-haft eng miteinander verknüpft, wie man auchaus dem umfassenden Werk ersieht, das Bebelder Frau gewidmet hat« (ebda, S. 18). Beau-voirs Kritik an dem Werk richtet sich gegendie von Bebel und Engels unterstellte Solida-rität zwischen der Arbeiter- und der Frauenbe-wegung2 (Beauvoir, S. 147), wobei sie daraufhinweist, daß vielmehr die am meisten unter-drückten Minderheiten gern von den Unter-drückern als Waffe gegen die gesamte Klasse,der sie angehören, benutzt werden.

Bebel hatte aber auch selbst Impulse vonFrauenrechtlerinnen erhalten. Er war mit derGründerin des allgemeinen Deutschen Frau-envereins Louise Otto-Peters bekannt undnahm 1865 an der ersten Frauenkonferenzin Leipzig als einer der drei Männer teil, diesich den 120 Teilnehmerinnen angeschlossenhatten.

Er unterstützte auf dem deutschen Webertag1871 die von der Proletarierin ChristianePeuschel eingebrachte Resolution für gleich-berechtigte Teilnahme der Frauen in denGewerkschaften und für gleichen Lohn fürgleiche Arbeit (Gerhard, 109).

Zu den hervorzuhebenden Leistungen derBearbeiter gehört, last but not least, ein Akthistorischer Gerechtigkeit.

Durch die Auswertung bisher nicht zugäng-licher Briefe konnten sie zum ersten Maldetailliert über die Hilfe des später unterStalin ermordeten russischen Historikers,ausgezeichneten Kenners der internationalen

Arbeiterbewegung und Herausgebers der er-sten MEGA-Ausgabe D.B. Rjazanov bei derÜberarbeitung der 50. Jubiläumsausgabe derBebelschen »Frau« berichten. Bebel dankteRjazanov in der Vorrede zur 50. Auflage desWerks 1909 »für die umfassende Hilfe, die ermir bei Bearbeitung der fünfzigsten Auflagegewährte« (Frau, S. 233). Er habe »denHauptteil der Arbeit geleistet« (ebda, S. 739).Von ihm stammt die Gliederung des Buchs in30 Kapitel, die wesentlich zur Übersichtlich-keit der späteren gegenüber den früherenFassungen des Werkes beitrug. Kautsky hatteBebel bereits 1879 eine Gliederung des Buchsnach Kapiteln empfohlen (ebda, Anm. 164, S.768). Dieser war Bebel ab der zweiten Auf-lage, die 14 Kapitel aufweist, bereits nachge-kommen. Von Rjazanov stammt neben derweitergehenden Unterteilung die Schlußre-daktion, zu der der kranke Bebel selbst nichtmehr imstande war, sowie die Einfügung neu-er statistischer und bibliographischer Daten.Der Verleger J.H.W. Dietz lobt den Redakteur1909 dafür, daß er »der Versuchung löblichwiderstanden [habe], den Bebel zu korrigie-ren« (ebda, Anm. 82, S. 751).

Die Ausgabe ist eine Fundgrube für allediejenigen, die sich für die Geschichte derdeutschen Arbeiterbewegung und der Frauen-rechtsbewegung um die Jahrhundertwendeinteressieren. Darüber hinaus kann sie allenhistorisch interessierten LeserInnen empfoh-len werden. Die hier besprochene Neuausgabeverknüpft die historischen Texte mit vielenrelevanten Ergebnissen späterer Forschungenund Erkenntnissen, die den LeserInnen aufgut lesbare, leicht auffindbare Weise zur Ver-fügung gestellt werden.

HANNA BEHREND

1 L.G. Heymann/A. Augspurg: Erlebtes – Erschautes. DeutscheFrauen kämpfen für Freiheit, Recht und Frieden 1850-1940,hrsg. M. Twellmann, Meisenheim 1977, zitiert nach UteGerhard: Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbe-wegung, Rowohlt Verlag Hamburg 1990.

2 Simone de Beauvoir: The Second Sex, Jonathan Cape, London1953.

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Peter L. Berger (Hrsg.): Die Grenzender Gemeinschaft. Konflikt undVermittlung in pluralistischen Gesell-schaften. Ein Bericht der Bertels-mann Stiftung an den Club of Rome,Aus dem Englischen von KarlheinzDürr und Ursel Schäfer,Verlag Bertelsmann StiftungGütersloh 1997, 656 S. (58,00 DM)

Es gibt Bücher, die legt der Rezensent auchnach 656 Seiten unbefriedigt aus der Hand.Berichte an den Club of Rome versprachenbislang meist unkonventionelle Sichten aufknallharte Probleme unserer Welt. Zwischenden »Grenzen des Wachstums« (1971) undder »Global Revolution« (1991) lagen Um-brüche von Produktivkräften und Gesell-schaftsordnungen, die in der jüngeren Ge-schichte beispiellos waren und die die Denkerdes Clubs zu profunden, oft umstrittenenAnalysen verdichteten.

Nun machen sich Autoren um Peter L. Ber-ger, einem begeisterten Verteidiger des neo-liberalen Kapitalismus1, daran, im Interesseneuer »geistiger Orientierung« Konflikte undVermittlungen in pluralistischen Gesellschaf-ten unter die Lupe zu nehmen. Trotz großzü-gigen Sponsorings der Bertelsmann Stiftung,dieser Versuch scheiterte. Nicht, daß einzelneFallstudien, so zur Transformation der chile-nischen Diktatur (Arturo Fontaine Talavera)oder zur Überwindung der Apartheid in Süd-afrika (Ann Bernstein) nicht tiefe Einblicke indie Probleme dieser Gesellschaften gebenwürden. Auch die Beiträge zu den USA (Ja-mes Davison Hunter), Frankreich (DanieleHervieu-Léger), der Türkei (Serif Mardin),Indien (André Béteille) oder Japan (SeizaburoSato) sind lesenswert. Die Rolle der Stiftun-gen (USA) und privater Akademien (Chile),der Einfluß intra-personeller Netzwerke (Tür-kei), das Funktionieren vereinbarter Macht-wechsel (Chile, Südafrika) oder der Einflußder Umweltprobleme auf die Politik (Taiwan)sind nach der Lektüre besser zu verstehen.

Nur, ist das Problem der heutigen Gesell-schaften der »normative Konflikt« als Aufein-anderprallen unvereinbarer Werte? ExistierenWertkonflikte voraussetzungslos? Berger ge-

steht die ihn eigentlich bewegende Problema-tik selbst ein, er bezieht sich auf den »Konfliktzwischen ›traditionellen‹ und ›progressiven‹moralischen Werten« (S. 593) als Fortsetzungder Auseinandersetzungen seit Aufklärungund Französischer Revolution. Seit 1789»verläuft eine Hauptbruchlinie zwischen der›Rechten‹ und der ›Linken‹ – konservative,traditionelle, typischerweise religiös determi-nierte Kräfte stellen sich gegen Kräfte, dieFortschrittsglauben, radikalen Gesellschafts-umbau und gewöhnlich auch säkuläre Orien-tierung vertreten.« (S. 592) B. muß einge-stehen, daß das auch nach dem Ende desRealsozialismus nicht beendet ist. Wenn eszu Verteilungskonflikten kommt, wenn dieGerechtigkeit vermißt wird, dann wird dieseRechts-Links-Bruchlinie wieder an Bedeu-tung gewinnen. »Teilweise als Folge der öko-nomischen Globalisierung wachsen solcheKonflikte überall an, auch in allen industriali-sierten Demokratien.« (S. 592f)

Für die Autoren, so Werner Weidenfeld vomBertelsmann Stiftungs-Vorstand, geht es um»die hinter der Kulisse ablaufenden Verände-rungen der Einstellungen, Werte und Menta-litäten« (S. 11) Besorgt muß er eingestehen,daß es eben »nicht nur Grenzen des Wachs-tums gibt, sondern auch Grenzen der sozialenKohäsion, von denen unser Überleben alsMenschen unter friedfertigen gesellschaftli-chen Bedingungen abhängt« (S. 13).

Die Schwierigkeit des Buches bleibt, nichtnach den Ursachen für diesen Umbruch zufragen. Nicht danach zu suchen, wie die Aus-wirkungen der Produktivkraftrevolution, desEndes des Fordismus, der Globalisierung indie Geschicke der Länder, Nationen, sozialenStrukturen eingreifen. Es wird eben nicht the-matisiert, warum der Realsozialismus vor die-sen neuen Herausforderungen versagte, war-um nationale Konflikte aufbrechen und auto-ritäre wie diktatorische Lösungen zumindestin der Tendenz durchaus Unterstützung fin-den. Das hat doch wohl mit der praktischenAuflösung sozialer Bindung und der mit ihnenverbundenen Werte zu tun, ihrer Verwandlungin reine Ware-Geld-Beziehungen.

Wenn Hunter fragt, »unter welchen Bedin-gungen ... demokratische Ideale und Institu-tionen aufrechterhalten werden (können)« (S.75), dann ist er sehr dicht an dieser Einsicht.

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Nur, er und die meisten seiner Mitautorenspitzen die Frage nicht auf die neuen sozialenPolarisierungen zwischen Arm und Reich,zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen, zwi-schen Privilegierten und sozial Benachteilig-ten zu. Die klassische Klassenspaltung des19. Jahrhunderts ist in den modernen Indu-striegesellschaften durcheinander gebracht,aber die Klüfte an den genannten Trennliniensind breiter geworden.

Besonders wirklichkeitsfremd fällt die Ana-lyse von Franz-Xaver Kaufmann aus. SeinBild der (bundes)deutschen Gesellschaftkommt weitgehend ohne die kapitalistischeRestauration der Wirtschaftswunderjahre aus,die 68er stehen isoliert im Raum, die Her-ausforderung DDR in den fünfziger/sech-ziger Jahren findet nicht statt, der DDR-Anschluß ist ein marginales Ereignis, deremanzipatorische Impetus der Herbst-Revo-lutionäre 1989 findet ebensowenig seine An-erkennung wie das Fortbestehen von zweideutschen Wirtschafts- und Wertegemeinschaf-ten im vermeintlich vereinten Deutschland.

K.s Beitrag bietet aber trotzdem Ansätze,um weiter zu fragen. Zunächst konstatiert er,daß für die alte Bundesrepublik Konflikte aufreligiöser, ethnischer oder Klassen-Ebene ei-gentlich keine Rolle gespielt haben. Er siehtdies durchaus im Zusammenhang mit dervierzig Jahre vorherrschenden Systemkon-frontation, in der die Angst vor dem Sozialis-mus und entsprechende Abwehrstrategien –die er natürlich so nicht nennt – als wesentli-ches Kohäsionsmoment bestimmend waren.Insofern gilt also offenkundig auch für dieBundesrepublik jener »Gefrierschrankeffekt«,den Janos Matyas Kovacs für das Weg-drücken der Konflikte im realsozialistischenUngarn bemüht, die nun im Postsozialismuswieder auftauen. Offenkundig hat das ebensodie westlichen Staaten stabilisiert.

Für die Gegenwart arbeitet K. einen Kon-flikt Marktwirtschaft – Sozialstaat heraus,von unterschiedlichen Werte- und politischenLagern verfochten. Nach K. finden sich »imnormativen Argumentationshaushalt beiderSeiten ... kaum neue Argumente, vielmehrwerden nur die alten mit größerer Dringlich-keit vorgetragen. Bemerkenswerterweise be-schränken sich die Auseinandersetzungenbisher im wesentlichen auf die Exponenten

des Arbeitgeber- und des Gewerkschaftsla-gers. Weder die großen Volksparteien nochbreite Bevölkerungskreise haben sich bisherfür diesen Gegensatz mobilisieren lassen.«(S. 173) Das würde an der Schwierigkeit derProbleme und der fehlenden Griffigkeit derBegriffe liegen. Es stimmt natürlich, Patentre-zepte gibt es nicht. Aber es sind offenkundigdrei andere Gründe, die dieses Problem soschwer politikfähig machen. Erstens verhin-dert Individualisierung und Segmentierungder Gesellschaft ein gemeinsames Handelnder Betroffenen und schwächt ihre eigentli-chen Interessenorganisationen. Zweitens istmit dem Fall des Realsozialismus nicht nurein konkretes Alternativmodell – zudem mitFehlern und Konstruktionsmängeln – geschei-tert, auch die anderen eher sozial ausgerich-teten politischen Kräfte sind von diesemNiedergang in Mitleidenschaft gezogen wor-den. Drittens ist es dem konservativ-neolibe-ralen historischen Block in allen westlichenMetropolen gelungen, die neue Produktiv-kraftsituation tatsächlich in eine Vorherrschaftihrer Ideen umzudeuten. Das hat Auswirkun-gen bis hinein in die potentielle Linke.

Insofern ist das begeisterte Beschwören desGrundgesetzes als der großen identitätsstif-tenden Institution Deutschlands eher fragwür-dig. Zunächst existiert »das« Grundgesetz so-wieso nicht, mittlerweile wurde es 43-malgeändert und das BVG hat durch seine Recht-sprechung wiederholt eingegriffen. Wesentli-che Ansprüche an die Bundesrepublik als »de-mokratischem und sozialem Bundesstaat«sind so nicht eingehalten und harren immernoch ihrer Verwirklichung. Selbst der gern zi-tierte Verfassungspatriotismus ist leider bis-lang etwas für den Diskurs der Intellektuellen.Die reale Entwicklung seit 1990 hat dessenBrüchigkeit gezeigt, machtpolitischer Natio-nalismus ist nicht nur latent vorhanden.

Der Hinweis von K. auf die Möglichkeit derSelbstorganisation – plastisch an den neuensozialen Bewegungen exemplifiziert – istnatürlich ebenso wichtig wie die in der Bun-desrepublik ausgefeilte Prozedualisierung vonKonflikten. Letztere wird von ihm als »Ent-dramatisierung (der Konflikte) durch Frag-mentierung und ihre Kleinarbeitung im Rah-men von Verhandlungssystemen, an denendie Konfliktparteien beteiligt sind«, definiert

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(S. 194). Zumindest hinsichtlich von Konflik-ten, bei denen es ums »Ganze« geht, etwahinsichtlich ihrer internationalen Dimension,wird K. skeptisch. Die praktisch-politischeErfahrung weist allerdings vor allem auf dieGefahr der Politikverdrossenheit hin, weilletztlich die Konflikte durch solche Verfahrenso »kleingearbeitet« werden, daß sie nichtgelöst werden. Damit sind wir aber wiederbeim Ausgangspunkt – um was für Konfliktegeht es und um welche Interessenlagen?Stellen wir uns ihnen oder zerreden wir sieum normativer Betrachtungsweisen willen?

STEFAN BOLLINGER

1 Siehe meine Rezension zu Peter L. Berger: Die KapitalistischeRevolution, Wien 1992. In: UTOPIE kreativ, H. 37/38 (1993).S. 178ff.

Hubert Schleichert: Wie man mit Fundamentalisten dis-kutiert, ohne den Verstand zu verlie-ren. Anleitung zum subversiven Den-ken, C.H. Beck Verlag München1997, 196 S. (29,80 DM)Edward W. Said: Götter, die keine sind. Der Ort desIntellektuellen, Aus dem Englischenvon Peter Geble, Berlin Verlag Berlin1997, 150 S. (32,00 DM)Paolo Flores d’Arcais: Die Linke und das Individuum. Einpolitisches Pamphlet, Aus dem Italie-nischen von Roland H. Wiegenstein,Verlag Klaus Wagenbach Berlin1997, 112 S. brosch. (15,80 DM)

Buchpublikationen, die sich der Frage widmen,welche Aufgabe dem Intellektuellen in derheutigen Zeit zukommt, wo sein Ort ist, habeneine berechtigte Konjunktur. Hier fragen alsAutoren schließlich selbst Intellektuelle nachihrem notwendigen – oder eben nicht mehrbenötigten – Beitrag für die Gesellschaft. DieGesellschaft jedenfalls zieht den Intellektuel-len kaum mehr in der Weise zu Rate, wie eseinmal war: als Kommentator und als Kriti-

ker, der theoretische Werkzeuge zur prakti-schen Veränderung der Gesellschaft liefert.Der Philosoph Michel Foucault hatte, inAuseinandersetzung mit Jean-Paul Sartre, dieUnterscheidung zwischen dem universellenIntellektuellen und dem spezifischen bezie-hungsweise speziellen Intellektuellen geprägt:Er setzte gegen einen mit allumfassendenGroßtheorien arbeitenden und für alle sozia-len Bezirke zuständigen Theoretiker, wie etwaden Marxisten, einen Experten, der in vorhan-dene soziale Teilkämpfe eingreift, sie mitFachwissen unterstützt, statt sie zu führen.Foucault sah vor allem die Bevormundungder politischen Bewegungen durch den Intel-lektuellen als Gefahr. Doch Foucaults Beden-ken haben sich merkwürdig zerstreut undverkehrt. Aus dem speziellen Intellektuellenist in Zeiten vermeintlicher Pluralisierung undpostmoderner Toleranz ein Meinungsmachergeworden, der ohne Verbindlichkeiten vonden Medien vorgeführt wird. Er muß die Zu-schauer unterhalten können und stets beteu-ern, daß seine Ansichten nur eine Möglichkeitder Sicht der Dinge darstellen; er agiert inForm des Stars, kann Sportler, Schauspieleroder Universitätsangestellter sein. Die Lageist prekär, denn dieser Pluralismus der Mei-nungen, der sich auf Objektives nicht mehrverpflichten will, trifft auf eine ganz und garnicht plurale Situation der ökonomischenKrise wie auch verschärfter sozialer Wider-sprüche – eine Situation mithin, die den intel-lektuellen Eingriff so nötig macht.

Gramsci hat einmal bemerkt, es sei leicht,vom Intellektuellen zu sprechen, vom Nicht-Intellektuellen dagegen schwer: Intellektua-lität, engagiertes Reflexionsvermögen, opera-tionales Eingreifen in Theorie und Praxisist Fähigkeit eines jeden. Der Konstanzer Phi-losoph Hubert Schleichert müßte eigentlichGramsci, würde er ihn kennen, unterstützen:Er stellt sich in seinem Buch »Wie man mitFundamentalisten diskutiert, ohne den Ver-stand zu verlieren« der Schwierigkeit, daßjeder Mensch zum reflektierenden, vernünfti-gen Denken fähig ist, es aber längst nichtjeder Mensch tut. Schleicherts Empfehlungist pädagogisch: eine »Anleitung zum sub-versiven Denken«. Im Vertrauen auf eine umrhetorische Elemente erweiterte formale Logik– Schleichert führt zum Beispiel das »subver-

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sive Lachen«, die Satire wieder ein – bemühter sich, dem Leser plausibel zu machen, daßgegen den Fundamentalismus die »abendlän-dische, kritische Vernunft« ein gutes Rezeptist. Als analytischer Philosoph, der den Wi-derspruch, geschweige denn Dialektik (unddas Aushalten der Widersprüche) ebensowe-nig kennt wie den sozialen Grund, die histori-schen Bedingungen, die Fundamentalismushervorbrachten, stiften Schleicherts Aus-führungen Verwirrung: Er bringt eine konsi-stente Argumentation, daß gegen den Funda-mentalismus – und da schmeißt er Religionenmit »Marxismus«, der mal Sozialdemokratie,mal Realsozialismus ist, und Faschismusin einen Topf – konsistentes Argumentierenzwecklos ist. Das »subversive Denken« bleibtPlädoyer, ohne es selbst in den Ausführungen,die sich knochentrocken geben, einzulösen.So erweist sich Schleichert selbst als Funda-mentalist, der den Subversionsbegriff alsideologische Plakette führt; Theorie-Praxiswill er nicht kennen, sowenig wie Subjekt-Objekt. (Sein Buch bleibt allerdings ein guter,bündiger Überblick über verschiedene For-men des Argumentierens.)

Schleicherts Ansatz des subversiven Den-kens verhallt, weil ihm die Kategorie desEngagements fehlt, die für jede Form derSubversion unabdingbar ist: Er begeistert sichfür die logisch-rhetorische Möglichkeit desbesseren Arguments, aber nicht für die sach-lich-reale Möglichkeit der besseren Welt. Wiesolches Engagement nachzuzeichnen undaktualisierbar ist, untersucht der in New Yorklebende und lehrende Edward W. Said mitseinem Buch »Götter, die keine sind« undfragt offen nach dem »Ort des Intellektuel-len«. Man darf sogleich sagen, daß diesesBuch nicht an die theoretische Dichte vonSaids »Orientalismus« (1981) heranreicht, indem der Orient, der Osten als westliches Kon-strukt entlarvt wird (und das sich demnachdurchaus gegen Schleicherts fundamental-eurozentrische Fundamentalismuskritik lesenließe!). Said charakterisiert den Intellektuel-len als »Exilierten und Grenzgänger, als Ama-teur und als Urheber einer Sprache, die derMacht gegenüber Wahrheit auszusprechensucht« (S. 140f.). Die Intellektuellen sind undmüssen immer Außenseiter sein, sie »solltenpatriotischem Nationalismus, korporativem

Denken, Klassenbewußtsein, rassischen odergeschlechtsspezifischen Privilegien mit Vor-behalt begegnen« (S. 138). Allerdings verhal-len diese Forderungen im bloß skizzierten,möglichen Sollen. Sie stehen in krasser Span-nung zu dem Ausgangsmotiv, welches SaidGramsci entlehnt: »Alle Menschen sind Intel-lektuelle …: aber nicht alle Menschen habenin der Gesellschaft die Funktion von Intellek-tuellen« (zit. n. S. 9). Said operiert nun ander Funktion des Intellektuellen mehr als amBegriff selbst – damit geht er dem bei Grams-ci schon gemeinten Widerspruch nicht ausdem Weg, hebt ihn aber nicht auf: Der Intel-lektuelle als Sozialkritiker und Skeptiker stehthier der Intelligenz, den Kopfarbeitern und In-genieuren gegenüber, ohne doch von ihnenklassenspezifisch getrennt zu sein. Die Stärkevon Saids essayistisch angelegtem Buch istzudem vergebens in einer stringenten Argu-mentation zu suchen; es bleibt Plädoyer undist zu optimistisch im Glauben, der Intellektu-elle könne letztlich seinen Ort selbst bestim-men. Die Stärke Saids liegt nichtsdestotrotz inseinem intellektuell verwirklichten Internatio-nalismus: Er bringt in seinen Untersuchungenverschiedenste Namen und Theorien ins Ge-spräch: historisch – von Vico über Jane Aus-ten, über Bertrand Russell bis Lyotard; geo-graphisch – von V.S. Naipaul, Malcolm X,James Baldwin bis Adorno. Man darf deshalbSaids Ausführung vielleicht nur als Begriffs-skizze verstehen, die erstmals bemüht ist, denIntellektuellen im Kontext der Weltkulturenzu verorten; jedenfalls zielen seine Aus-führungen keineswegs auf einen Relativis-mus, wenn er schreibt: »Für den Intellektuel-len besteht meines Erachtens die Aufgabedarin, die Krise ausdrücklich als universelleanzusehen, den Horizont zu erweitern, dasLeben einer bestimmten Rasse oder Gruppeoder Nation mit dem Leiden anderer inZusammenhang zu bringen« (S. 50).

Ebenso wie Saids Buch ist auch PaoloFlores d’Arcais’ »Die Linke und das Individu-um« ein Plädoyer – zudem: Es ist als »Einpolitisches Pamphlet« untertitelt. Es sind vierBeiträge, die zuerst in der Zeitschrift »Micro-Media« erschienen, deren Herausgeber Floresd’Arcais ist. Als Sozialist in Italien steht derin Rom lebende Philosoph und Autor unab-dingbar in der Tradition Gramscis – um so

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schwerer wiegt, daß dies Buch nicht hält, wases verspricht: zum Pamphlet fehlt ihm diegewaltige Sprache, die entlarvend, benennendund schutzlos ist. Und politisch sind die ein-zelnen Abhandlungen nur insofern, wie siesich fast anbiedernd auf das einlassen, was anherrschender Politik geboten wird: was Floresd’Arcais der Leserschaft anbietet, ist ein Hil-feruf der Sozialdemokratie, aber keine Kritikder Demokratie zur Rettung des Individuums,keine wirkliche Differenzierung von Massen-demokratie (die ihre Kritik schon bei denAnarchisten, schließlich aber Herbert Marcu-se fand) und demokratischem Sozialismus.Auf den kapitalistischen Markt möchte derAutor nicht verzichten (S. 21); er weiß sichals Fürsprecher einer ohnmächtigen Linken,die Marx längst über Bord geworfen hat.Doch wer auf den Markt nicht verzichtenmöchte, gleichwohl aber die Krise erkennt,kann diese nie als ökonomische Basiskrisebegreifen; für einen Linken, der sich dasLinkssein zudem zum Zentralthema wählt, istes deshalb unverzeihlich, wenn plötzlich die»Einwanderung aus der Dritten Welt in dieeuropäischen Metropolen« eine der Krisen ist,»die die Epoche prägen« (S. 18). Sätze, diedas Pamphlet wohl vermeinen mögen, verhar-ren so im Allgemeinen: alles mündet in derForderung, daß Tyrannei abgewendet werdensoll, daß das Individuum die Demokratiebraucht und vice versa. Das ist gut und recht –nur ist mit einer naiven Abrechnung des Mar-xismus, die man sonst nur von rechts kennt,alle wissenschaftliche, mithin logische Basisaus der Argumentation genommen. Floresd’Arcais kann nicht anders, als die Linke mitmoralischen Appellen retten zu wollen. Da istder, der sein eigenes Linkssein legitimieren zumüssen glaubt, am Ende noch besser mit demBuch von Schleichert bedient, was zwar poli-tisch nicht minder im realdemokratischen Nir-gendwo steht wie Flores d’Arcais, doch bietetSchleichert wenigstens eine gewisse sachlicheGreifbarkeit. Allerdings: nur Said sucht über-haupt den Weg aus diesem Nirgendwo zumkonkreten Ort des Intellektuellen.

ROGER BEHRENS

Gabriele Köhler, Charles Gore, Utz-Peter Reich, Thomas Ziemer (eds.):Questioning Development. Essays onthe theory, policies and practice ofdevelopment interventions,Metropolis-Verlag Marburg 1996,457 S.

Die Entwicklungsbesessenheit ist bekanntlichein durchaus ›modernes‹ Phänomen, das mitder vollen Durchsetzung der kapitalistischenProduktionsweise in der nordwestlichen He-misphäre etwa seit dem Beginn des 20. Jahr-hunderts um sich greift. Einen ersten Kulmi-nationspunkt stellt die Große Russische Revo-lution im Oktober/November 1917 dar, in de-ren Gefolge nachholende Entwicklung um je-den Preis zu einer quasi staatsterroristischenVeranstaltung wurde. Unter dem Druck derGroßen Weltwirtschaftskrise und der Ergeb-nisse des Zweiten Weltkrieges wurde schließ-lich »Entwicklung« zum Schlüsselbegriff, mitdem in den Metropolen die sozialistischenSympathien eingedämmt und die Attraktivitätdes staatssozialistischen Modells nachholen-der Entwicklung an der Peripherie gebrochenwerden sollte.

»Entwicklung« ist irreversibel, wer damiteinmal begonnen hat, der hat alle Brücken zueiner vorkapitalistischen Vergangenheit abge-brochen und muß weiter voran, und selbstwenn der Lauf der Dinge geradewegs zu»Unterentwicklung« führt. Dies ist wohl daspeinlichste Eingeständnis nach 40 Jahren Ent-wicklungseuphorie. Im »verlorenen Jahrzehnt«der achtziger Jahre wurde klar, was linkeTheoretiker längst vermutet hatten, das kapi-talistische System kann das Wohlstandsver-sprechen von Wachstum durch Entwicklungs-hilfe nicht einlösen – Entwicklung als eindi-mensionaler Prozeß nachholender Moderni-sierung hat sich ironischerweise genau in demMoment als Illusion erwiesen, als der ent-schiedenste – realsozialistische – Versuch,die kapitalistische Moderne nachzuvollzie-hen, zusammenbrach. Das Ende des Planungs-staats fiel zeitlich zusammen mit dem Endedes Entwicklungsstaats und der mit »Sozial-klimbim« geschönte kapitalistische Wohl-fahrtsstaat hat beider Ende kaum überdauert.

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Die Frage danach, was es mit Entwicklungin Theorie, Politik und Praxis auf sich hat, istalso drängender denn je. Deshalb hat sich dieFrühjahrstagung des Arbeitskreises für Politi-sche Ökonomie 1995 dieses brisanten Themasangenommen. Die Dokumentation der Beiträ-ge liegt nunmehr vor.

Präsentiert werden sie in einem dreigeteil-ten Buch, in dessen erstem Teil – »Queryingthe foundations« – es vor allem darum geht,sich auf der Basis vertiefter Einsichten denGrundlagen des Entwicklungsdenkens erneutkritisch anzunähern. In sechs Beiträgen vonacht Autorinnen und Autoren wird eine Reihevon brisanten Fragen aufgeworfen, die sichvor allem mit der Zukunft der Entwicklungs-idee am Ende des 20. Jahrhunderts, im Zeital-ter der »Globalisierung«, beschäftigen. Ga-briele Köhler bietet zunächst einen Überblicküber die verschiedenen Paradigmen des inter-ventionistischen Entwicklungsdenkens seitdem Zweiten Weltkrieg. Entwicklungsdenkenerscheint hier als kollektives Sendungsbe-wußtsein, mittels gezielter Politik Gesell-schaften auf den ›Entwicklungsweg‹ zu brin-gen. Allerdings hat die kaum bearbeitbareKomplexität des Phänomens »Entwicklung«schnell dazu geführt, Fortschritt und Entwick-lung mit »Wachstum« und den daraus erhoff-ten Wohlstandseffekten in eins zu setzen. Dieshat sich nicht nur als fatale Illusion erwiesen,auch die Vermutung, daß Entwicklung, wiesie bisher meist verstanden wurde, unbedingtals positiv angesehen werden muß, konntenicht erhärtet werden – wie vor allem in denBeiträgen von Luuk Knippenberg und FransSchuurman sowie von Detlev Haude gezeigtwird. Das neue Entwicklungsdenken derneunziger Jahre wird deshalb als multidimen-sional und variantenreich beschrieben undsollte trotz Globalisierungsdruck – warum ei-gentlich? – auf Umverteilung gründen, meintjedenfalls G. Köhler (vgl. S. 39).

Der zweite Teil – »Revisiting and renewingdevelopment economics« – vereint sechsBeiträge von neun Autorinnen und Autoren,denen es um eine Erneuerung entwicklungsö-konomischer Ansätze zu tun ist. Was dabei al-lerdings zutage tritt, hat mit einer tatsächli-chen Erneuerung wenig gemein. In allen hierversammelten Aufsätzen geht es faktisch nurdarum, wie »Wirtschaftswachstum« – was

wohl dasselbe sein soll wie »Entwicklung« –›erzeugt‹ werden könnte. Waltraud Schelkleentwickelt zu diesem Zweck Elemente einer»allgemeinen Entwicklungstheorie«, die inihrem Kern darauf hinaus laufen, daß es ineiner dualistischen Ökonomie mit familien-wirtschaftlich geprägter Landwirtschaft undeinem kapitalistisch-marktwirtschaftlich orga-nisierten Industriesektor vor allem auf Preis-und Einkommensstabilität ankommt, wennselbsttragendes Wirtschaftswachstum ausge-löst werden soll. Damit wird, wie auch imBeitrag von Franz Haslinger und ThomasZiesemer, der sich mit Wachstum und Vertei-lungskonflikten befaßt, die Verantwortung fürdas Gelingen oder Mißlingen von Entwick-lungsanstrengungen an die (Regierungs)Poli-tik überstellt. Das Ergebnis politischen Han-delns wiederum erweist sich als weitgehendunvorhersehbar (vgl. S. 241) – womit sichviele der hier angestellten theoretischen Über-legungen als reine Gedankenakrobatik qualifi-ziert haben dürften. Wenn es schließlich inaller Einfalt noch eines Beweises dafür be-durft hätte, daß der Westen ohnehin längstweiß, wie »Entwicklung« funktioniert, dannist Helmut Wagner bemüht, ihn mit seinenBetrachtungen über den »Nutzen« wirtschaft-licher und politischer Konditionalität in derEntwicklungspolitik zu liefern.

Wesentlich realitätsnähere und auch kri-tischdistanziertere Sichten werden demge-genüber im dritten Teil – »Examining policiesand politics« – von sechs Autorinnen und Au-toren in ebensovielen Beiträgen geboten. Ne-ben einer Analyse der Strukturanpassungspro-gramme von Weltbank und InternationalemWährungsfonds (IWF) (Henk-Jan Brinkman),die zu dem Schluß kommt, daß diese Pro-gramme für eine gesamtwirtschaftliche Stabi-lisierung zwar notwendig für »Entwicklung«aber keineswegs ausreichend sind, beschäftigtsich vor allem Kunibert Raffer mit der Wir-kung der von den nordwestlichen Industrie-ländern verfolgten Wirtschaftspolitik auf diesüdlichen Entwicklungsländer. Anhand derVereinbarungen der Uruguay-Runde desGATT zeigt Raffer, daß die kleinen Zuge-ständnisse des Nordwestens an den Südendurch die auf umfangreiche Schutzmaßnah-men hinauslaufende handelspolitische Praxisder Industrieländer weit überkompensiert

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werden. »All in all the North were mostlyable to shape the Final Act according to theirviews and against developmental interests«(S. 349) – lautet sein ernüchterndes Fazit.Schließlich könnte die von der Uruguay-Run-de des GATT ebenfalls beschlossene Schaf-fung einer Welthandelsorganisation unter denherrschenden Machtverhältnissen leicht dazuführen, daß die ohnehin bereits faktisch vonWeltbank und IWF regierten Entwicklungs-länder auch noch den Rest internationalerHandlungsfähigkeit einbüßen (vgl. S. 347).Ulrich Busch bleibt es vorbehalten, die Trans-formationsproblematik in Mittel- und Osteu-ropa in die entwicklungspolitische Perspek-tive einzuordnen. Ironischerweise wird – obvom Autor gewollt oder nicht, ist nicht er-sichtlich – am Ende seiner interessanten Erör-terung über verschiedene Transformations-und/oder Entwicklungsstrategien zwischenKapitalimport und Exportorientierung deut-lich, daß sich die politische Realität z.B. inUngarn kaum mit einem theoretisch doch soeinleuchtenden »Entweder – Oder« fassenläßt. Von wohlüberlegten, absichtsvoll insWerk gesetzten Transformationsprogrammenkann offensichtlich mit genausowenig Be-rechtigung gesprochen werden wie von Ent-wicklungsstrategien überhaupt.

In einem erfrischend kritischen Aufsatzüber die Rolle von Nichtregierungsorganisa-tionen im Bereich der Entwicklungspolitikunterbreitet Fons van der Velden bemerkens-werte Einsichten in die vielfältigen Dilemma-ta der vermeintlich so effektiven und staats-fernen Institutionen privaten Entwicklungsen-gagements. Mit der Feststellung, daß vieledieser Organisationen vor allem im Nordwe-sten inzwischen bereits zum Arbeitsplatz si-chernden Selbstzweck für die ›Aktivisten‹(vgl. S. 412) und (über finanzielle Abhängig-keiten) zum Trojanischen Pferd der offiziellenEntwicklungspolitik mutiert sind, dürfte ernicht nur die belgische, sondern auch die bun-desdeutsche Wirklichkeit ziemlich treffendbeschrieben haben.

Beiträge von Susanne Teltscher über dasLieblingskind der Entwicklungspolitik seitden späten siebziger Jahren – den »informel-len Sektor« – sowie zur Kritik des »Eco-Tou-rismus«Konzepts von Anita Pleumaromschließen den Band ab.

Insgesamt ist es den Herausgebern wohl ge-lungen, einen recht guten Querschnitt zusam-menzustellen, der ein einigermaßen realisti-sches Bild vom Glanz und Elend der kriti-schen entwicklungspolitischen Debatte gibt.Und weil sich die sich kritisch oder alternativwähnende Entwicklungstheorie und -politikselbst oft nur in wenigen Nuancen vom main-stream konservativer Ansätze unterscheidet,durften spektakuläre, wirkliche neue Überle-gungen wahrscheinlich auch nicht erwartetwerden.

ARNDT HOPFMANN

Carlo M. Cipolla: Die gezählte Zeit.Wie die mechanische Uhr das Lebenveränderte,Verlag Klaus Wagenbach Berlin1997, 128 S.

Der italienische Wirtschaftshistoriker C.M.Cipolla versteht es, umfangreiche Forschungs-ergebnisse zu verhältnismäßig trockenen undwenig publikumsfreundlichen Themen inter-essant aufzubereiten und in attraktiver Formdarzubieten. Ein Beispiel dafür waren die be-reits 1995 vorgestellten »Geld-Abenteuer«(vgl. UTOPIE kreativ 57). Mit dem vorliegen-den Buch kommt ein weiteres, nicht minderansprechendes, hinzu. Den thematischen Aus-gangspunkt bildet diesmal die Zeit, insbeson-dere das Zeitverständnis und die Zeitmessung.Da das Zeitbewußtsein sozial- und kulturhi-storisch bestimmt ist, unterliegt es einem hi-storischen Wandel, wird unterschiedlich er-lebt und erscheint in verschiedenen Formen.Das Problem der Zeit ist von philosophischerund soziologischer Seite umfassend erörtertworden (vgl. dazu u.a. Kant, Durkheim, Bücher,Elias, Weber, Luhmann). Ebenso das des Zäh-lens und Messens (vgl. insbesondere A. Sohn-Rethel). Cipolla kennt diese Arbeiten undsetzt sie voraus. Sein Bezugspunkt ist aber einanderer: Er geht das Problem von der techni-schen Seite an. Ihn interessieren vor allem dieInstrumente der Zeitmessung und deren Ent-wicklung. Die zentrale Frage in der hier be-trachteten Periode ist die nach dem Einflußder mechanischen Uhr auf das Leben derMenschen.

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Gestützt auf sein Buch aus dem Jahre 1978»Clocks and Culture 1300 - 1700« erzählt derAutor originell und abwechslungsreich Ge-schichten, die einen Einblick geben in dieGeschichte der Uhr. Dabei steht die Uhr alsdas erste Präzisionsinstrument sinnbildlich fürdie technische Entwicklung seit dem ausge-henden Mittelalter. Zugleich ist sie Objektund Ausdruck einer sich verändernden Zeit-auffassung, Lebensweise und Rationalität.Ausgehend von der technologischen Entwick-lung der Instrumente zur Zeitmessung analy-siert Cipolla »die vielfältigen, komplexen undreziproken Beziehungen, die die technologi-sche, wirtschaftliche, gesellschaftliche undkulturelle Entwicklung miteinander verbin-den« (S. 117). Er gelangt dabei zu dem Fazit,daß die Uhr, wie andere Maschinen und In-strumente auch, nicht nur erfunden und ent-wickelt wurde, weil dafür ein Bedarf bestand,sondern vor allem, »weil aus einem bestimm-ten kulturellen Umfeld sowohl die Wahrneh-mung dieses Bedarfs als auch die Art seinerBefriedigung erwuchs«. So fand die Verbrei-tung der Uhren jeweils dort ihre Grenzen, wodie gesellschaftlichen Bedingungen eine sinn-volle Nutzung verhinderten. Das feudale Chi-na, das zwar Uhren importierte, aber nichtselbst produzierte und die eingeführten Instru-mente mehr als Spielzeuge nutzte als für prak-tische Zwecke, ist dafür ein beredtes Beispiel.Sehr überzeugend ist auch die Beschreibungder Rückwirkung der Verwendung der Uhrauf das Leben und das Denken der Menschen.Setzte die Einführung der Uhr ein gewissesZeitbewußtsein und mechanisches Verständ-nis voraus, so beförderte ihre Anwendungnicht minder das mechanistische Denken.Diese Entwicklung erreichte im 17. Jahrhun-dert ihren Höhepunkt. Für Kepler beispiels-weise glich das Universum einer Uhr, Boylesah in der Schöpfung ein »Juwel der Uhrma-cherkunst«, für Descartes funktionierte derMensch nach den Gesetzen der Mechanik,ähnlich einer Uhr und Gott selbst erschienden Gelehrten als »ein besonders geschickterUhrmacher« (S. 65).

Reich ist das Buch an originellen Darstel-lungen, sowohl im Text als auch bildlich. Sofindet der Leser zum Beispiel die Beschrei-bung einer französischen Uhr, bei welcher aufdem Zifferblatt anstelle der Zahlen verschie-

dene Gewürze angebracht waren. Nachts,wenn es die Dunkelheit nicht erlaubte, dieZeit abzulesen, konnte man mit dem Fingerden Stand des Zeigers ertasten und durch Ab-lecken sodann die Uhrzeit erfahren. Später be-half man sich hier mit der Installation einesSchlagwerks und ersetzte so den unsicherenGeschmackssinn durch den leichter quantifi-zierbaren Hörsinn, der das Zählen der Stun-den erlaubte.

Spaßig ist es auch, zu lesen, wer alles ver-suchte, Uhren herzustellen: Anfangs vor allemKanonengießer, Schmiede, Schlosser. Späterdann spezialisierte Handwerker, die im Auf-trage von Fürsten und Städten arbeiteten. Im18. Jahrhundert breitete sich die Produktionenorm aus. Selbst Voltaire versuchte sich1770 in Ferney als Unternehmer in der Uh-renherstellung. Unübertroffen blieb jedochGenf, das sich bereits frühzeitig zum Zentrumder Uhrenproduktion entwickelte. WichtigeProduktionsstätten waren ferner London, Ly-on, Paris und in Deutschland Augsburg undNürnberg. Die Logik des Buches, wonach dietechnische Entwicklung der Uhr im Rahmendes komplexen Beziehungsgefüges gesell-schaftlicher, wirtschaftlicher, politischer undkultureller Veränderungen untersucht wird,erlaubt es dem Autor auch auf Fragen einzu-gehen, die scheinbar nur sehr wenig mit derTechnikgeschichte zu tun haben. Dies betrifftzum Beispiel den Zusammenhang zwischendem Rationalitätsprinzip, das der Uhr und ih-rer Verwendung innewohnt, und dem kalvini-stischen Glaubensbekenntnis. Aussagen überdie soziale und geographische Herkunft derUhrmacher und über die Auswirkungen derZurücknahme des Toleranzediktes von Nantes1685 auf die Berufsgruppe der Uhrmacher inFrankreich sind in diesem Zusammenhangvon Interesse.

Ein Viertel des Buches widmet der Autorder Behandlung des Ost-West-Verhältnisses,insbesondere der Leidenschaft der Söhne desHimmels für die »Glocken, die von selbstschlagen« (S. 97). Uhren waren so ziemlichdas einzige Erzeugnis europäischer Produk-tion, das sich in China und in anderen Län-dern des Ostens absetzen ließ. 1735 schriebein Jesuit über den Kaiserpalast in China:»Der kaiserliche Palast ist mit Wanduhren,Taschenuhren, Glockenspielen, Repetieruh-

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ren, Spieluhren, Weltkugeln und astronomi-schen Uhren jeder nur denkbaren Art vollge-stopft – es gibt mehr als tausend Exemplarevon den besten Uhrmachern aus London oderParis...« (S. 98). Aber die Chinesen machtenkeinen eigentlichen Gebrauch davon. Sie be-trachteten die Uhren lediglich als »wunderli-che Vergnügungen« (S. 101). Das soziokultu-relle Umfeld ließ keine andere Verwendungzu und ein ökonomischer Zwang, die Zeit ge-nau zu messen und mathematisch einzuteilen,bestand nicht. Sehr schön zeigt sich diese so-ziokulturelle Differenz gegenüber Europaauch in der traditionellen StundeneinteilungJapans. Die Japaner unterteilten die Zeit nichtin zweimal zwölf Stunden gleicher Länge wiein Europa üblich, sondern orientierten sich beider Einteilung an der Natur. Das heißt, zwi-schen Sonnenauf- und Sonnenuntergang wur-den jeweils sechs Stunden gemessen, derenLänge jedoch im Laufe des Jahres entspre-chend dem Sonnenstand variierte. Folglichwaren die Stunden des Tages im Sommer langund die der Nacht kurz; im Winter dagegenumgekehrt.

Eine mechanische Uhr kann einem solchenSystem der Zeitmessung natürlich nicht ge-recht werden. Die Folge war, daß dieses derUhr angepaßt wurde. Damit entsprach manden Regeln der Mechanik und den Funktions-prinzipien der modernen Ökonomie, nichtaber denen der Natur.

Vielleicht gibt es eines Tages Uhren, diediesen Mangel wieder beheben und zu einernatürlichen Zeitauffassung zurückführen.

ULRICH BUSCH

Tanja Jaksch, Hans Rudolf Bork,Claus Dalchow, Dieter Dräger(Hrsg.): Landnutzung in Mittel- undOsteuropa – Natürliche Bedingungen,Land- und forstwirtschaftlicheNutzungspotentiale, Transformations-prozeß im ländlichen Raum, Budapest 1996, 309 S.

Eine der schwerwiegendsten staatssozialisti-schen Fehlentwicklungen in den osteuropäi-schen Ländern nahm zweifellos bereits in den

zwanziger und dreißiger Jahren in Sowjetruß-land mit der Entscheidung für eine beschleu-nigte Industrialisierung auf Kosten der Land-wirtschaft ihren Ausgangspunkt. Sie führtein der Folgezeit unter Instrumentalisierungder landwirtschaftlichen Kollektivwirtschaf-ten zur staatlichen Umverteilung der Über-schüsse aus der Landwirtschaft zur Industrie.Dies hatte letztlich die Vernachlässigung derEigenarten landwirtschaftlicher Produktionbzw. den Versuch, die Landwirtschaft imgroßen Stile zu industrialisieren zur Folge.Dieses Entwicklungsmodell, das eine durchdie Staatsbürokratie forcierte ›nachholendeEntwicklung‹ zum Ziel hatte, wurde späterauch in den sozialistischen Ländern Europasund in Teilen der »Dritten Welt« anvisiert undsollte schließlich wesentlich zur Implosiondes Staatssozialismus und zur weltweitenDiskreditierung der ›realsozialistischen‹ Ideenbeitragen.

Es ist zu begrüßen, daß sich die Autoren desvorliegenden, über 300 Seiten umfassendenund durch mehrere Karten ergänzten Bandes –dessen Drucklegung in Ungarn erfolgte unddurch die Ministerien für Ernährung, Land-wirtschaft und Forsten des Landes Branden-burg und der Bundesrepublik gefördert wurde– speziell diesem neuralgischen Wirtschafts-bereich der Länder Mittel- und Osteuropaszuwenden. Bereits im Geleitwort setzen sichdie Autoren mit der These von der Industriali-sierung der Landwirtschaft auseinander.Schon die Ausgangsidee, daß die Produk-tionsfaktoren der Landwirtschaft »genausobetrachtet und behandelt werden können, wiedie der Industrie« (S. 3), wird ad absurdumgeführt. »Sehr gefällig, sehr ansprechendscheint der Gedanke, daß Drechseln und Pflü-gen im Prinzip dieselben Arbeiten seien. Dielebendigen Organismen – Boden, Pflanze, Tier– können aber nicht so betrachtet werden,wie ein Stück Eisen. Der Landwirt muß näm-lich seine Bestrebungen mit der Vektorenrich-tung der Natur parallel laufen lassen, diegünstigen Prozesse unterstützen, die schad-haften möglichst hemmen. Eine Fabrik kannüberall nach derselben Technologie arbeiten,der Umgebung ungeachtet. Das trifft auf dieLandwirtschaft keinesfalls zu – die Technolo-gie muß sich den Umständen anpassen« (S. 3).

Doch geht es in dem Buch nicht vorrangig

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um eine Auseinandersetzung mit der Agrarpo-litik des Staatssozialismus, die Autoren versu-chen vielmehr, ein Bild von der gegenwärti-gen Situation im Agrarbereich beim Übergangvon der Plan- zur Marktwirtschaft, von dendamit verbundenen Umbrüchen und Schwie-rigkeiten in den Reformländern zu vermitteln.

Um es vorweg zu sagen, dieses Buch lieferteine Unmenge von Faktenmaterial zur Land-wirtschaft in den Reformländern, das in seinerVielfalt, Detailliertheit und auch regionalerHeterogenität seinesgleichen sucht.

Gegliedert ist das Buch in sechs Kapitel,wovon vier Überblicks- bzw. Querschnitt-scharakter haben. Kapitel 4, das der Boden-nutzung und Agrarpolitik in den einzelnenStaaten Mittel- und Osteuropas gewidmet ist,stellt zweifellos mit 225 Seiten den Schwer-punkt der Publikation dar. Detailliert werdenin diesem Kapitel dem Leser Informationenüber die Landnutzung und deren Veränderun-gen infolge des gesellschaftlichen Transfor-mationsprozesses aus interdisziplinärem Blick-winkel vermittelt. Untersucht werden die Pro-bleme der Landwirtschaft in Estland, Lettland,Litauen, Weißrußland, Polen, Tschechien, derSlowakei, Ungarns Rumäniens, BulgariensRußlands und der Ukraine. Diese Länder-beiträge umfassen sowohl die jeweils beste-henden Rahmenbedingungen (gesellschaftli-che Transformation, Indikatoren der Wirt-schaft) als auch Angaben über Klima undBöden, Landeigentum, landwirtschaftlicheBodennutzung, Bodenfruchtbarkeit, Produkti-onsstrukturen bis hin zur Agrarpolitik etc.Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiededes agraren Transformationsprozesses werdenverdeutlicht.

Welche Bedeutung den landwirtschaftli-chen Umgestaltungsprozessen in den LändernMittel- und Osteuropas zukommt, zeigt sichallein darin, daß diese Staaten über eineFläche verfügen, die mehr als das Sechsfachedes Gebietes der EU umfaßt, und die land-wirtschaftliche Nutzfläche pro Kopf der Be-völkerung dieser Staaten doppelt so hoch ist,wie die der EU (vgl. S. 10 und 12). Diesesriesige Produktions- und Exportpotential derLandwirtschaft kann allerdings – wie dieAutoren nachweisen – gegenwärtig nichtannähernd genutzt werden.

In den Querschnittskapiteln werden nach

Darstellung des Naturraumes Mittel- und Ost-europa und dessen geopolitischer Bedeutungim ersten, die großräumige klimatische Situa-tion, die agrarklimatischen Verhältnisse sowiedie agraren Nutzungspotentiale und die Bo-denverhältnisse im zweiten und schließlichdie sozio-ökonomischen Strukturen und Pro-zesse im dritten Kapitel präsentiert. Interes-sant sind in diesem Zusammenhang vor allemdie Darlegungen zu den nutzungsbedingtenBodenschädigungen in den verschiedenenNaturräumen des Untersuchungsgebietes,deren Ausmaß dem Leser oftmals den Atemstocken läßt. Daraus wird die Forderung nacheiner ökologisch orientierten, d.h. an denjeweiligen Standorten angepaßten Produk-tionsstruktur mit geschlossenen Biomasse-und Naturstoffkreisläufen sowie standortge-rechten Produktionstechnologien und -techni-ken abgeleitet (vgl. S. 39). Das setzt aller-dings nach Ansicht der Autoren voraus, daßdie Betriebe in die Lage versetzt werden,nachhaltige, angepaßte Bewirtschaftungssy-steme einzuführen und dauerhaft zu praktizie-ren. Ob dieser Forderung allerdings in den imUmbruch befindlichen und unter den Zwän-gen des Binnen- wie des Weltmarktes agie-renden Landwirtschaftsbetrieben entsprochenwerden kann, bleibt höchst fragwürdig.

Als besonders instruktiv erweist sich fürden Gesellschaftswissenschaftler die Analyseder sozio-ökonomischen Situation im ländli-chen Raum (vgl. S. 41ff. und Länderanaly-sen). Hier werden sowohl die dramatischenVeränderungen der demographischen Struktu-ren im ländlichen Raum der einzelnen Staatenreflektiert und zugleich auch die sozialen Fol-gen des Übergangs von der Plan- zur Markt-wirtschaft dokumentiert. Die Umstrukturie-rung und Privatisierung in der Landwirtschafthat Freisetzungseffekte bei den Arbeitskräftenin gewaltiger Dimension nach sich gezogen.Den Autoren kann zugestimmt werden, wennsie feststellen, daß die Arbeitslosigkeit inzwi-schen als »komplexer sozialer Dekultura-tionsprozeß« (S. 43) mit differenzierten quan-titativen und qualitativen Wirkungen in deneinzelnen Länder fungiert. Sie schätzen ein,daß die Arbeitslosigkeit in den meisten unter-suchten Ländern ihren Höhepunkt bisher nochnicht erreicht hat. Gravierende Arbeitslosig-keit und Einkommensverluste – nicht zuletzt

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infolge der inflationären Preisentwicklung –haben nicht nur die volkswirtschaftlichen Dis-proportionen (u.a. krasser Rückgang der In-landnachfrage) verschärft, sondern in vielenLändern selbst eine Tendenz der Rückkehr zurNaturalwirtschaft hervorgebracht (vgl. S. 45).Unter der Landbevölkerung verloren und ver-lieren gewohnte gruppenspezifische Wertnor-men, Wertmaßstäbe und Handlungsmotivatio-nen an Bedeutung. Neue Armutsgruppen bil-den sich heraus, die Polarisierung innerhalbder Gesellschaft nimmt zu. Die Autoren kom-men zu dem Schluß, daß (vermutlich) in dennächsten Jahren mit einer Zunahme der sozia-len Probleme in den ländlichen Räumen zurechnen ist, die weitere Durchsetzung markt-wirtschaftlcher Prinzipien zur fortgesetztenFreisetzung von Arbeitskräften, verbundenmit eine beachtlichen Zunahme der Dauerar-beitslosen führen wird, während andererseitsdie Grenzen der ökonomischen Leistungs-fähigkeit der mittel- und osteuropäischenStaaten eine stärkere soziale Abfederung die-ser Prozesse nicht zulassen (vgl. S. 46). DerLandbevölkerung werden damit ein weiteresMal die Kosten der gesellschaftlichen Um-brüche aufgebürdet.

Zu Beginn der Umgestaltungen in den ehe-mals staatssozialistischen Ländern wurde oftdie Frage diskutiert, ob graduelle Reformenoder eine ›Schocktheraphie‹ beim Übergangvon der Plan- zur Marktwirtschaft vorzuzie-hen wären und welche Art von Kapitalismusentstehen solle. Während die Frage nach derArt von Marktwirtschaft umstandslos und il-lusionär mit dem Attribut ›sozial‹ zu klärenversucht wurde, dominierte hinsichtlich deseinzuschlagenden Tempos die folgende Auf-fassung. »Um im Zuge eines Ordnungswech-sels die Reformen zügig wirksam werden zulassen und neue Verzerrungen aufgrund wirt-schaftspolitischer Unterlassungen, Fehlein-schätzungen oder gesellschaftlicher Wider-stände durch ›Koalitionen der Verlierer‹ zuvermeiden, spricht vieles für eine Schockthe-rapie. Diese beinhaltet nicht zwangsläufig dieschlagartige Einführung einer ausgereiftenMarktwirtschaft, wohl aber die rasche Reali-sierung aller Kernelemente im Rahmen einerin sich schlüssigen Gesamtkonzeption. Somuß so schnell wie möglich die Funktions-fähigkeit von Preisen und Märkten gewährlei-

stet werden. Das setzt insbesondere die Siche-rung der Grundrechte, die Schaffung einesOrdnungsrahmens, einschließlich der Sicher-stellung eines funktionsfähigen Wettbewerbsund eines leistungsfähigen – zweistufigen –Bankensystems, eine konsequente Inflations-bekämpfung sowie ein zumindest grobma-schiges soziales Netz für die in der Über-gangsperiode am meisten benachteiligtenGruppen voraus.«1

Die Realität zeigt, daß sich die neuen herr-schenden Eliten zwar in der Regel für eine›Schocktheraphie‹ entschieden, allerdings oh-ne ein soziales Netz bieten oder die Stabilitätder Währungen gewährleisten zu können.Richtig stellt Hopfmann hierzu fest: »Aber esliegt nicht allein an der Unangemessenheit derReformstrategien, ... an denen die Hoffnun-gen auf ›nachholende Entwicklung‹, ›anhal-tendes Wachstum‹ und ›Sozialstaatlichkeit‹ zuscheitern drohen. Das Dilemma nachholenderEntwicklung besteht ... insbesondere darin,daß sie nicht voraussetzungslos beginnt. Unddiese Voraussetzungen stellen sich im wesent-lichen als harte Zwänge und Restriktionen fürdie (Re)Integration in einen bereits voll aus-gebildeten Weltmarkt für Kapital, Waren undvor allem Geld dar. Die für die Transforma-tionsländer Mittel- und Osteuropas wichtig-sten Restriktionen bestehen (nicht nur) in denbereits zu staatssozialistischen Zeiten aufge-häuften (Alt)Schulden, die natürlich bedientwerden müssen, ... und in den realsozialisti-schen – oft überdimensionierten und hyper-zentralisierten – Industriestrukturen, die imRahmen der internationalen Arbeitsteilungkaum wettbewerbsfähig sowie dringend mo-dernisierungsbedürftig sind ... (sondern auchdarin), daß die Voraussetzungen für ... ›Er-folg‹ mit Mitteln erbracht werden müssen, diedem Ziel (der sozialen Marktwirtschaft nachMuster der OECD-Länder – H.G. ) dreifachentgegenarbeiten; einmal weil sie die Ver-größerung des Vorsprunges der bereits hoch-entwickelten Länder begünstigen, zweitensweil sie problematische Spezialisierungs-effekte (›Zwang zur Extraktion‹) hervorbrin-gen und drittens weil sie auch an den ökologi-schen Grenzen, die der Globalisierung diesesauf Industrialisierung beruhenden Wirtschafts-modells gesetzt sind, tendenziell scheitern.«2

»Das Entfesseln der ›unsichtbaren Hände‹ des

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Marktes entfesselt auch ihre ökologisch bedroh-lichen und sozial zersetzenden Wirkungen undproduziert Perspektivlosigkeit, statt Neuord-nung droht Entordnung von Gesellschaft unddamit Vernichtung ihrer Zukunftsfähigkeit.«3

Die Strukturentwicklung in den ländlichenGebieten macht diese Prozesse auf vielschich-tige Art und Weise deutlich. Es zählt zu denVorzügen der vorgestellten Publikation, die sichin den agraren Räumen vollziehenden Umbruchs-prozesse detailliert dokumentiert zu haben.

Die im Mittelpunkt des Bandes stehendekomplexe und zugleich detaillierte Informationüber die Landnutzung und deren Veränderun-gen infolge des Transformationsprozesses kanndie Basis weiterführender Untersuchungen bil-den. Die Einordnung der Landwirtschaft in dievolkswirtschaftlichen Gesamtprozesse – z.B. inForm eines weiteren Querschnittskapitels – wä-re wünschenswert gewesen. Deutlicher hätteman sich auch Darlegungen zu den Auswirkun-gen der Umgestaltungsprozesse in der Land-wirtschaft der Länder Mittel- und Osteuropasfür den EU-Raum gewünscht. Offensichtlichist, daß sich viele der einflußreichen EU-Politi-ker der Tragweite dieses Umbruchsprozessesfür ihre Länder noch keineswegs voll bewußtsind. Allein die Folgen der sozialen Degrada-tion großer Bevölkerungsgruppen, der Anhäu-fung ethnischen und sozialen Zündstoffes u.a.werden in ihren Dimensionen noch keineswegsbegriffen. Obgleich die Autoren in den Länder-analysen jenen Staaten besondere Aufmerksam-keit widmen, die auf der Liste der zu assoziie-renden Staaten stehen, hätte man sich Szenariengewünscht über die Auswirkungen einer Asso-ziation bzw. eines Beitritts dieses oder jenenStaates zur EU auf die Beitrittsländer, auf dieStaaten der EU, aber auch auf die verbleiben-den Drittstaaten.

Insgesamt vermittelt die Publikation einenfundierten Überblick über die natürlichen Nut-zungspotentiale der Land- und Forstwirtschaftund gibt einen detaillierten Einblick in die sichin den einzelnen Ländern vollziehenden Trans-formationsprozesse im ländlichen Raum. Daßes den 14 Autoren gelang, eine inhaltlich so ge-schlossene Konzeption durchzusetzen, verdientbesonders hervorgehoben zu werden. Der Bandkann allen über die Länder Mittel- und Osteu-ropas Arbeitenden und an diesen Ländern Inter-essierten zur Lektüre empfohlen werden.

(Vertrieb in Deutschland: ZALF Müncheberg,15374 Müncheberg, Eberswalder Str. 84)

HORST GRIENIG

1 Fasbender, Karl: Überlegungen zur Übertragbarkeit der sozia-len Marktwirtschaft, in: K. Fasbender, M. Holthus, E. Thiel(Hrsg.): Elemente der sozialen Marktwirtschaft, Wirtschaftli-che und rechtliche Rahmenbedingungen – Transformations-möglichkeiten, Veröffentlichungen des HWWA-Instituts fürWirtschaftsforschung Hamburg, Hamburg 1991, S. 315.

2 Arndt Hopfmann: Transformation zu einem »nachhaltigen Ka-pitalismus«? In: Horst Grienig, Siegfried Münch u. a.: Trans-formation und Entwicklung, Analysen über dauerhafte ökolo-gische und sozial verträgliche Entwicklung in Asien, Afrikaund Osteuropa, in: Europäische Integration. Grundfragender Theorie und Politik, hrsg. von K. H. Domdey, Berlin1997, S. 25ff.

3 Ebenda, S. 27.

Jenny Richter/Heike Förster/Ulrich Lakemann: Stalinstadt – Eisenhüttenstadt. Vonder Utopie zur Gegenwart. Wandelindustrieller, regionaler und sozialerStrukturen in Eisenhüttenstadt,Schüren Marburg 1997, 275 S.

Über Stalinstadt bzw. Eisenhüttenstadt ist schonrelativ viel von Historikern geschrieben worden.Zuviel, mögen manche sagen, die die Konzen-tration auf das »Vorzeigewerk« und die histo-riographische Benachteiligung von Großbetrie-ben anderer Branchen und Regionen bedauern,die die Millionen erst erwirtschafteten, die imEisenhüttenkombinat Ost (EKO) verbaut wurden.

Was das neue Buch von anderen Publika-tionen unterscheidet, ist die Darstellung derganzen Geschichte von Werk und Stadt – vonder Vorbereitung der Gründung in den Jahren1949/1950 bis zum sozialen und wirtschaftli-chen Transformationsstand Mitte der neunzi-ger Jahre. Ins Blickfeld rücken damit die ge-samte Periode des ostdeutschen Sozialismus,dessen industrielles Schmuckstück Stalinstadtetliche Jahre war; und sieben Jahre Entwick-lung zur kapitalistischen Marktwirtschaft.

Dank der Langzeitanalyse gelingt der Blickauf einige Momente in der Geschichte derStadt und des Werkes, die sich nicht auf diePerioden des »Sozialismus« oder »Kapitalis-mus« beschränken lassen:

Erstens: Der 1949/50 für das EKO geplanteWeg von Aufbau, Ausdehnung des Werkesbis zur Sättigung des Bedarfs an Stahl- undWalzwerkprodukten durch die Errichtung des

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vollen metallurgischen Zyklus kam nicht zu-stande. Nach der Errichtung des Roheisen-werkes (1950-53) verhinderte der »NeueKurs« den weiteren Ausbau zum Stahl- undWalzwerk. Das Stahlwerk wurde 1984 errich-tet, das Kaltwalzwerk bereits 1969, das Warm-walzwerk erst 1997 fertiggestellt. Die Gestal-tung des »vollen metallurgischen Zyklus« istfür Eisenhüttenstadt also durchaus eine sy-stemübergreifende Geschichte.

Zweitens: Stalinstadt/Eisenhüttenstadt ist alsStandort industrieller Monostruktur errichtetworden – und in seiner fast fünfzigjährigenGeschichte ein solcher geblieben. Das ist ihmnicht besonders gut bekommen. Als die SED-Führung 1953 den »Neuen Kurs« ausrief undInvestitionsmittel von der Schwer- in die Leicht-industrie gelenkt wurden, gab es in der Stadt(kaum) Betriebe der Leichtindustrie, die in derLage gewesen wären, aus dem Schwerindu-strietopf abfließende Mittel aufzufangen. Alsdem EKO im Jahre 1967 von den zentralenwirtschaftsleitenden Organen der DDR dasWarmwalzwerk verweigert wurde, weil dieMetallurgie keine der »Fortschrittsindustrien«war, auf die die SED-Führung Ende der sechzi-ger Jahre mit Blick auf »Überholen ohne Ein-zuholen« orientierte, gab es in Eisenhüttenstadtnicht einmal eine Außenstelle des Ende derfünfziger Jahre in Frankurt/Oder eingerichtetenHalbleiterwerks. Die für die achtziger Jahre ge-plante umfangreiche Investition in Eisenhüt-tenstadt wäre vielleicht zustande gekommen,wenn es sich bei der Ergänzung des vorhande-nen Standortes nicht um das Warmwalzwerk,sondern um einen Betrieb der Mikroelektronikgehandelt hätte, die unter dem Einfluß vonGünter Mittag »bis zuletzt« mit Investitions-mitteln überdurchschnittlich versorgt wurde.

Nach der Wende wurde die monostrukturelleEntwicklung dadurch weiter vorangetrieben,daß der Löwenanteil an Investitionen für die In-dustriestadt erneut in die Metallurgie ging – fürdie Errichtung des zur Vollendung des metallur-gischen Zyklus noch fehlenden Warmwalz-werkes. Dies macht den Standort Eisenhütten-stadt innerhalb der Branche konkurrenzfähiger,bindet ihn aber auch an einen in Europa anÜberproduktion leidenden kränkelnden Zweig.

Drittens: Zum systemübergreifenden Schick-sal von Stalinstadt/Eisenhüttenstadt gehört auchseine Abhängigkeit von zentralen Entschei-

dungen. Entscheidungen aus Berlin machtenin Stalinstadt/Eisenhüttenstadt nicht nur Schick-sal während des ersten Fünfjahrplanes (1951-1955), als das EKO das größte Investitions-objekt der DDR war. Auch in den folgendenJahren hing das Wohl und Wehe der Stadt weitmehr von Politbüroentscheidungen ab, als dasandere Städte gleicher Größe mit diversifizier-ter Industriestruktur zu hoffen oder zu fürch-tenhatten. Nach 1989 hätte die Bindung der Stadtan einem Großbetrieb das wirtschaftlicheAus und den sozialen Ruin bedeuten können.Dem energischen Protest der Eisenhüttenstäd-ter war es zu danken, daß der »Privatisie-rungskrimi« nicht mit einem Fiasko endete undder Kanzler das Überleben des Werkes zur»Chefsache« machte. Auch das zukünftigeSchicksal Eisenhüttenstadts dürfte wenigervon der Konkurrenzfähigkeit seines Werkesals von Entscheidungen über die Stahlsubven-tionen in Brüssel und Bonn bzw. später dann(wieder einmal) Berlin abhängen.

Die Hälfte des stärker sozialgeschichtlichals wirtschaftshistorisch ausgerichteten Ban-des ist dem Zeitraum nach 1989 gewidmet.Mit Akribie wird nachvollzogen, wie sichtrotz mancher Gegenwehr unerbittlich dieWiederherstellung von marktwirtschaftlich-kapitalistischen Strukturen vollzieht – in einerStadt, in der es diese überwiegend (außerhalbder Stadtteile Fürstenberg und Schönfließ) niegegeben hatte. Es ist ein spannender, manch-mal auch absurder Prozeß, wenn z. B. Straßen»traditionelle« Namen erhalten, obwohl es sie– die Straßen – in vorsozialistischen Zeitennicht gegeben hat. Wie gelingt es den Eisen-hüttenstädtern, mit den Veränderungen, die inder Regel keine Wiederbelebungen sind, fertigzu werden, ihre Identität zu bewahren? DieAutoren, die generell viel mit Interviews ar-beiten, haben, sich auf Befragungen stützend,fünf Haltungen herausgefunden: Distanz, Am-bivalenz, Neutralität, Engagiertheit (für dieursprüngliche Identität) und Identifikation.

Das Buch ist mit größter Sorgfalt, Nüch-ternheit und methodisch sauber angefertigtworden. Es bietet neue Sichten, bestätigt aberauch vieles, was die Geschichtsschreibungim Osten Deutschlands für die Region überdas erste Jahrzehnt ihrer Geschichte bereitserschlossen hatte.

JÖRG ROESLER

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