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33 32 242 Andreas Sohn Bildung, Wissenschaft und Universität in der Zeit der Gotik. Zu den Beziehungen zwischen Frankreich und Westfalen, Paris und Paderborn 262 Norbert Nußbaum Bauen als Wagnis. Die Sakralarchitektur des 13. Jahrhunderts im Lichte ihrer Produktionsbedingungen 274 Marc C. Schurr Die französische Gotik und die deutschen Hallenkirchen des 13. und 14. Jahrhunderts 290 Peter Kurmann Gotikrezeption, Deutscher Orden und Heiligenkult. Zur Frage nach dem Sinn der Baugestalt von St. Elisabeth zu Marburg 300 Uwe Lobbedey Die ehemalige Klosterkirche in Rumbeck bei Arnsberg, eine frühe Hallenkirche in Westfalen 304 Nott Caviezel Hallenkirchen und Stufenhallen. Überlegungen zur Schweiz als Grenzmilieu 312 Stefan Bürger Problem Typus Hallenkirche 326 Klaus Niehr Rom – Pienza – Paderborn: Die Physiognomie der Hallenkirche. Wahrnehmung und Interpretation 344 Uwe Albrecht Mikroarchitektur im Wandel am Beispiel norddeutscher und dänischer Werke des 13. bis 15. Jahrhunderts. Ein gattungsübergreifendes Phänomen? KATALOG 357 KAPITEL I Die Voraussetzungen: Der Dombau Bischof Imads (1058–1068) und die Domweihe des Jahres 1068 Kat.-Nr. 1–13 387 KAPITEL II Neues Konzept auf altem Fundament: Die Akteure und der Neubau des Domes im 13. Jahrhundert Kat.-Nr. 14–29 425 KAPITEL III Kathedralbau im 13. Jahrhundert – Formentransfer, Dynamik und Innovation im Baubetrieb Kat.-Nr. 30–48 461 KAPITEL IV Der Paderborner Dombau des 13. Jahrhunderts – Architektur und Skulptur. Die mediale Qualität der Werke Kat.-Nr. 49–84 553 KAPITEL V Ecclesia nostra Paderbornensis Kirchenausstattung und Liturgie Kat.-Nr. 85–130 673 KAPITEL VI Gotik en miniature – Mikroarchitektur in der Kunst der Gotik Kat.-Nr. 131–157 ANHANG 746 Abkürzungen 746 Quellen 750 Sekundärliteratur 794 Verzeichnis der Leihgaben nach Aufbewahrungsorten 796 Bildnachweis 9 Grußwort 11 Zum Geleit 13 Vorwort 18 Wissenschaftlicher Beirat 19 Dank an unsere Leihgeber 21 Dank für Rat und Unterstützung 26 Dank an unsere Autorinnen und Autoren 27 Dank an unsere Förderer und Sponsoren 29 Ausstellungs- und Katalogimpressum ESSAYS 36 Bruno Klein Die gotische Kathedrale und die Kunst des konstruktiven Kompromisses 50 Albert Gerhards Raum für eine reich entfaltete Liturgie. Zum Verhältnis von Liturgie und Architektur in Kathedral- kirchen des 13. Jahrhunderts 60 Arnold Angenendt Der Kirchenbau als Zeitenraum 66 Rudolf Schieffer Der Bauherr: Bischof Imad 74 Clemens Kosch Zum Paderborner Dombau des Bischofs Imad (Neuweihe 1068) als Grundlage und Ausgangspunkt für die gotische Kathedrale. Entwicklungslinien sakraler Binnen - topografie im Hochmittelalter 90 Uwe Lobbedey Der Paderborner Dom – die Geschichte seiner Erbauung im 13. Jahrhundert 122 Hermann-Josef Schmalor Die Rolle der Bischöfe und Domkapitel beim Dombau des 13. Jahrhunderts in Westfalen, insbesondere in Paderborn 132 Leonhard Helten Das Langhaus des Paderborner Domes. Zu den Voraussetzungen des Hallenquerschnitts 144 Stephan Albrecht und Stefan Breitling Das Paradiesportal im Paderborner Dom 160 Thomas Eißing Dendrochronologische Datierung des hölzernen Figuren- schmucks vom Paradiesportal des Hohen Doms in Paderborn 170 Elisabeth Schmidt Die Relieffriese des südlichen Ostquerhauses des Paderborner Doms 184 Harald Wolter-von dem Knesebeck Zur Entwicklung der Wandmalerei des 13. Jahrhunderts in Westfalen und Norddeutschland im Spannungsfeld von Architektur, Glasmalerei und Skulptur 198 Johann Josef Böker Das gotische Altarjoch des Paderborner Doms 204 Ulrich Meier Hochstift Paderborn und Herrschaft Lippe. Dynastische und interterritoriale Dimensionen mittelalterlicher Herrschaftsbildung (1190–1340) 216 Holger Kempkens Der Paderborner Dom im Kontext der Sakralbauten von Mitgliedern der Edelherrenfamilie zur Lippe 232 Agnese Bergholde-Wolf Die westfälischen Einflüsse auf den gotischen Dombau zu Riga Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis · 32 33 242 Andreas Sohn B il du ng,W s echaf tU v rä Z Go k. Zu den Beziehungen zwischen Frankreich und Westfalen, Paris und1 Paderborn 262 Norbert Nußbaum

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Page 1: Inhaltsverzeichnis · 32 33 242 Andreas Sohn B il du ng,W s echaf tU v rä Z Go k. Zu den Beziehungen zwischen Frankreich und Westfalen, Paris und1 Paderborn 262 Norbert Nußbaum

3332

242 Andreas Sohn Bildung, Wissenschaft und Universität in der Zeit der Gotik.

Zu den Beziehungen zwischen Frankreich und Westfalen, Paris und Paderborn

262 Norbert Nußbaum Bauen als Wagnis. Die Sakralarchitektur des 13. Jahrhunderts

im Lichte ihrer Produktionsbedingungen

274 Marc C. Schurr Die französische Gotik und die deutschen Hallenkirchen

des 13. und 14. Jahrhunderts

290 Peter Kurmann Gotikrezeption, Deutscher Orden und Heiligenkult.

Zur Frage nach dem Sinn der Baugestalt von St. Elisabeth zuMarburg

300 Uwe Lobbedey Die ehemalige Klosterkirche in Rumbeck bei Arnsberg,

eine frühe Hallenkirche in Westfalen

304 Nott Caviezel Hallenkirchen und Stufenhallen.

Überlegungen zur Schweiz als Grenzmilieu

312 Stefan Bürger Problem Typus Hallenkirche

326 Klaus Niehr Rom – Pienza – Paderborn: Die Physiognomie der Hallenkirche.

Wahrnehmung und Interpretation

344 Uwe Albrecht Mikroarchitektur im Wandel am Beispiel norddeutscher und

dänischer Werke des 13. bis 15. Jahrhunderts. Ein gattungsübergreifendes Phänomen?

KATALOG

357 KAPITEL I Die Voraussetzungen: Der Dombau Bischof Imads (1058–1068)und die Domweihe des Jahres 1068

Kat.-Nr. 1–13

387 KAPITEL II Neues Konzept auf altem Fundament: Die Akteure und der

Neubau des Domes im 13. Jahrhundert Kat.-Nr. 14–29 425 KAPITEL III Kathedralbau im 13. Jahrhundert – Formentransfer, Dynamik

und Innovation im Baubetrieb Kat.-Nr. 30–48

461 KAPITEL IV Der Paderborner Dombau des 13. Jahrhunderts –

Architektur und Skulptur. Die mediale Qualität der Werke Kat.-Nr. 49–84

553 KAPITEL V Ecclesia nostra Paderbornensis –

Kirchenausstattung und Liturgie Kat.-Nr. 85–130

673 KAPITEL VI Gotik en miniature – Mikroarchitektur in der Kunst der Gotik Kat.-Nr. 131–157

ANHANG

746 Abkürzungen746 Quellen750 Sekundärliteratur794 Verzeichnis der Leihgaben nach Aufbewahrungsorten796 Bildnachweis

9 Grußwort 11 Zum Geleit 13 Vorwort 18 Wissenschaftlicher Beirat 19 Dank an unsere Leihgeber 21 Dank für Rat und Unterstützung 26 Dank an unsere Autorinnen und Autoren 27 Dank an unsere Förderer und Sponsoren 29 Ausstellungs- und Katalogimpressum

ESSAYS

36 Bruno Klein Die gotische Kathedrale und die Kunst des

konstruktiven Kompromisses

50 Albert Gerhards Raum für eine reich entfaltete Liturgie.

Zum Verhältnis von Liturgie und Architektur in Kathedral -kirchen des 13. Jahrhunderts

60 Arnold Angenendt Der Kirchenbau als Zeitenraum

66 Rudolf Schieffer Der Bauherr: Bischof Imad

74 Clemens Kosch Zum Paderborner Dombau des Bischofs Imad

(Neuweihe 1068) als Grundlage und Ausgangspunkt für diegotische Kathedrale. Entwicklungslinien sakraler Binnen -topografie im Hochmittelalter

90 Uwe Lobbedey Der Paderborner Dom – die Geschichte seiner Erbauung

im 13. Jahrhundert

122 Hermann-Josef Schmalor Die Rolle der Bischöfe und Domkapitel beim Dombau des

13. Jahrhunderts in Westfalen, insbesondere in Paderborn

132 Leonhard Helten Das Langhaus des Paderborner Domes.

Zu den Voraussetzungen des Hallenquerschnitts

144 Stephan Albrecht und Stefan Breitling Das Paradiesportal im Paderborner Dom

160 Thomas Eißing Dendrochronologische Datierung des hölzernen Figuren-

schmucks vom Paradiesportal des Hohen Doms in Paderborn

170 Elisabeth Schmidt Die Relieffriese des südlichen Ostquerhauses

des Paderborner Doms

184 Harald Wolter-von dem Knesebeck Zur Entwicklung der Wandmalerei des 13. Jahrhunderts

in Westfalen und Norddeutschland im Spannungsfeld von Architektur, Glasmalerei und Skulptur

198 Johann Josef Böker Das gotische Altarjoch des Paderborner Doms

204 Ulrich Meier Hochstift Paderborn und Herrschaft Lippe.

Dynastische und interterritoriale Dimensionen mittelalterlicherHerrschaftsbildung (1190–1340)

216 Holger Kempkens Der Paderborner Dom im Kontext der Sakralbauten von

Mitgliedern der Edelherrenfamilie zur Lippe

232 Agnese Bergholde-Wolf Die westfälischen Einflüsse auf den gotischen Dombau zu Riga

Inhaltsverzeichnis

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ESSAYS

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sind hierfür der quasi demokratische Hintergrund für die Ent-stehung dieser Bauten, die ihnen eigene technische Innovations-leistung sowie der ihrer Errichtung innewohnende nationale oderethnische Impetus. Gerade der letztgenannte Aspekt hat von derRenaissance bis in die jüngste Vergangenheit oft zu missverständ-lichen, manchmal zu verheerenden und bloß gelegentlich zu pro-duktiven Ansätzen der Gotik-Interpretation geführt.

Was könnten die Gründe für solche überschwänglichen Go-tik-Interpretationen gewesen sein? Außer Frage steht, dass esvom 12. bis zum 15./16. Jahrhundert, also während der Kernzeitvon Spätromanik und Gotik, eine deutliche Vorliebe für monu-mentale, weiträumige Kirchengebäude gab. Weiterhin ist unbe-stritten, dass der bei der Errichtung jener Bauten stilistisch üb-liche Formenapparat relativ frei anpassbar war: Ein Kirchen-raum konnte leicht und filigran wirken, schwer und monumen-tal etc. Welche Formen genau eingesetzt wurden, war variabelund hing zumeist von der lokalen Tradition oder der Gestalt dergewählten Vorbilder ab.

Mit der Renaissance wurde die Formenwahl komplizierter,weil damals eine Dichotomie zwischen guter alter, d. h. antikerArchitektur und vermeintlich schlechterer neuer, also unantiki-scher Architektur aufgemacht wurde. „Gute“ Architektur hatte

seitdem jahrhundertelang nach einem festen Regelwerk gestaltetzu sein, dem die gotischen Bauten nicht entsprachen.

Gotische Gestaltungsideale – und damit die für diese Zeit alsam meisten repräsentativ empfundenen Bauwerke, nämlich die go-tischen Kathedralen – ließen sich erst seit dem Ende des 18. Jahr-hunderts wieder langsam positiv deuten, gerade weil sie der klas-sischen Doktrin widersprachen. Die Romantiker glaubten, erstdie Zeit der Gotik habe die einzige nach der Antike wieder in-novative Architektur hervorgebracht. Und diese galt als erhaben,denn ihr wurde die Qualität zugesprochen, die Seele unmittelbarberühren zu können.

Nicht unabhängig von dieser Vorstellung wurde der Gotikvor allem im 19. Jahrhundert zugeschrieben, dass die Bauwerkedieses Stils trotz ihrer frömmigkeitsfördernden Erhabenheit imideologischen Sinne eigentlich bürgerlich-profan und unter-schwellig sogar antiklerikal gewesen seien, so vor allem Viollet-le-Duc. Die Gotik – und mit ihr vor allem die gotische Architek-tur – erschien als eine Kunst, die zeitlos großartig war, und diesvor allem in ihrer Spitzenleistung, der gotischen Kathedrale, dernur noch ihr religiös-klerikaler Charakter ausgetrieben werdenmusste, um ihren wahren künstlerischen Kern erkennbar wer-den zu lassen.

Davon dürften weder Bauherren noch Künstler im 13. Jahr-hundert auch nur das Geringste geahnt haben. Sie wussten nicht,dass es eine „Gotik“ gab und ihr vermeintlich inhärente Form-vorstellungen. Statt mit modern geprägten Stilvorstellungen aufsMittelalter zu schauen und „Romanik“ und „Gotik“ zu unter-scheiden, ist es daher sinnvoller, den Blickwinkel der damaligenAkteure einzunehmen. Dann lässt sich nämlich erkennen, dasses in einigen Regionen Europas eine Zeit der Kathedralen gab,die mit der Zeit von Romanik und Gotik keineswegs synchronwar: Sie begann in Italien mit Bauten wie dem romanischen

D I E G OT I S CH E KATH EDRA L E UND D I E KUNST D E S KONSTRUKT I V EN KOMPROM I S S E S 37

Die Kathedrale zwischen Metapher und Realität

Kathedralen sind die Kirchen eines Bischofs, in denen sich des-sen Lehrstuhl, die „Cathedra“, befindet. Zugleich sind sie Mut-terkirchen in ihren Bistümern, deren Zuschnitt in der Frühzeitdes Christentums weitgehend den römischen Verwaltungskrei-sen entsprach. Daher ist ihre Dichte im römischen Kernland Ita-lien sehr hoch. Rund um Rom erheben sich die Kathedralen ge-legentlich fast in Sichtweite, in der Regel sind es relativ kleineKirchen. Je weiter man sich von Rom entfernt, desto größer wer-den die Bistümer – und damit auch ihre Kathedralen. Erst in-nerhalb eines weiträumigen Territoriums vermochten sie zu ech-ten, auch baulich markanten Zentren zu werden. Dies war eineder Voraussetzungen dafür, dass die gotische Kathedrale zumFlagg schiff der mittelalterlichen Architektur wurde. Kein ande-rer Gebäudetyp ist je derart komplex zum Inbegriff einer ganzenEpoche geworden. Und umgekehrt konnten schließlich auchjegliche irgendwie exemplarische Bauten zu „Kathedralen“ wer-den, wofür sie nicht einmal Kirchen sein mussten. Es gibt dieKathedralen des Verkehrs, des Sports, des Wissens, des Kapita-lismus und viele weitere.

Erstmalig rein metaphorisch wurde der Begriff „Kathedrale“ohne direkten Verweis auf Gotik oder Kirche von Émile Zola inseinem 1883 publizierten Roman Au Bonheur des Dames („DasParadies der Damen“) benutzt. Die Geschichte handelt von ei-nem immer weiter expandierenden Kaufhaus, das als „die Ka-thedrale des modernen Geschäfts, fest und leicht zugleich, ge-macht für ein Volk von Kunden“ (Zola 1964, S. 612) beschriebenwird. Gleich mehrere Metaphern werden hier angesprochen, dieschon damals mit der gotischen Kathedrale verbunden warenund es bis heute geblieben sind: So spielt „fest und leicht“ daraufan, dass gotische Architektur wegen der Strebesysteme tatsäch-lich zwar höchst stabil sei, wegen der weitgehenden Auflösungder Wände in schlanke Stützen und große Fenster auf der ande-ren Seite aber auch filigran wirke.

Und auch die Identifikation der gotischen Kathedrale als„Volksbau“ war typisch für das 19. Jahrhundert: Der wortgewal-tige französische Architekt, Denkmalpfleger und Kunsthistori-ker des Second Empire, Eugène Viollet-le-Duc, beschrieb dieKathedrale als Ausdruck bürgerlicher Emanzipation wie auchals Merkmal und Triebfeder von Nationenbildung. Und nochwichtiger war es, die Kathedrale auch als Monument von Mo-dernität zu verstehen. Viollet-le-Duc verglich die Entstehung derKathedrale daher auch mit der technischen Innovation, die seineeigene Zeit am stärksten umwälzte, nämlich der Entwicklungder Eisenbahn (Viollet-le-Duc 1854–1868, Bd. 2, S. 281). Hätteer ein paar Jahrzehnte früher geschrieben, so wäre er vielleichtauf die Idee gekommen, die Dampfmaschinen mit den gotischenKathedralen in Beziehung zu setzen. Hundert Jahre nach ihm er-klärte jedenfalls Roland Barthes 1957 den damals neuen CitroënDS zur modernen Kathedrale (Barthes 1993, S. 655) (Abb. 1),während sich heute wohl Computer und Digitalisierung als de-ren zeitgenössische materielle wie strukturelle Äquivalente be-nennen ließen (Dyson 2012). Welches Smartphone mag wohldie Kathedrale unter den Handys sein?

Zweifellos ist die gotische Kathedrale in den letzten 200 Jah-ren zu einem vermeintlichen Kronzeugen dafür geworden, dasszentrale Leitbegriffe der Moderne bereits im Mittelalter angelegtwaren, oder eigentlich sogar schon immer existierten. Zu nennen

Die gotische Kathedrale und die Kunst des konstruktiven KompromissesBruno Klein

Abb. 1 | Citroën DS 19, klassisches Modell auf der Autoausstellung in Filipstad 1957

Abb. 2 | Pfarrkirche St. Maria in Lübeck

Abb. 3 | Dom zu Florenz, Südansicht mit Campanile

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D I E G OT I S CH E KATH EDRA L E UND D I E KUNST D E S KONSTRUKT I V EN KOMPROM I S S E S 39

Dom von Pisa ab 1063, reichte über die großen französischen,englischen, spanischen und deutschen gotischen Kathedralenaus der Zeit des 12. bis 15. Jahrhunderts und letztlich wieder zu-rück nach Italien, wo der 1436 nach der Vollendung der großenKuppel geweihte Florentiner Dom einen Endpunkt bildet. DieRomanik hatte schon vor dieser „Kathedralzeit“ begonnen unddie Gotik war danach noch lange nicht zu Ende.

Solche zeitlichen Eingrenzungen sind natürlich nie absolut,zumal Kathedralen kontinuierlich von der Spätantike bis heute ge-baut werden. Und auch der „kathedrale Bautyp“ war schon sehrfrüh variabel anwendbar, sodass nicht alles, was wegen seiner Mo-numentalität wie eine Kathedrale aussieht, auch wirklich eine Bi-schofskirche ist. In den Hansestädten rund um die Ostsee wurdenStadtpfarrkirchen groß wie Kathedralen errichtet. (Abb. 2) Auchin Italien gab es ganz unterschiedliche Bauten, die wie Kathedra-len aussahen, es aber keinesfalls alle waren und hinter denen auchnicht immer ein Bischof als Bauherr stand: Echte Bischofskirchenwaren die Dome von Florenz (Abb. 3) oder Siena – die aber vonden Kommunen und nicht den Bischöfen gebaut wurden; in Flo-renz war sogar eine der Zünfte, nämlich diejenige der Wollweber,mit der Bauträgerschaft betraut. Eine „echte“ Kathedrale warauch der Mailänder Dom, der aber eigentlich das Monument derdamals zur Herzogswürde aufgestiegenen Familie der Viscontiwar. Und der Riesenbau von San Petronio in Bologna, bei Wei-tem der größte in der mittelalterlichen Stadt, war ursprünglichnicht einmal mehr als eine städtische Votivkirche (Abb. 4).

Die Zeit der Kathedralen – Zeit der Chancen und Risiken

Am Ende des ersten christlichen Jahrtausends erfolgte nach ei-ner langen, relativ statischen Periode ein Aufbruch: Die Kombi-nation von günstigen Klimabedingungen, stetig steigenden Be-völkerungszahlen, verbesserten landwirtschaftlichen Methodenetc. bildete die Grundlage zu einer seit der Antike ungekanntenkulturellen, insbesondere institutionellen Entwicklung samt al-len ihren Folgen. Zugleich begann die Epoche der Kathedralen,deren eigentliche Hochzeit zwischen dem Ende des 11. Jahrhun-derts und dem 14. Jahrhundert lag. Man kann diese Periodeauch als diejenige der Konjunktur der Städte bezeichnen, in derdiese zu den kulturell führenden Plätzen aufstiegen, in denensich verschiedene Institutionen, Stände und Personen arrangie-ren mussten. Selbstverständlich gab es dabei Ausdifferenzierun-gen und Konflikte, z. B. zwischen Stadt und Land, zwischenAdel, Klerus und Laien, innerhalb der einzelnen Gruppen selbst,zwischen Geschlechtern, Generationen usw.

Für die Kathedrale, die architektonische Inkarnation jenerZeit, gilt das in ganz besonderem Maße: Ihre Rolle war nie sta-tisch gewesen, sondern hatte sich schon im frühen Mittelalter im-mer wieder gewandelt. Dass sie gerade in der Zeit der Städte zurProjektionsfläche besonders vieler und keineswegs einheitlicherErwartungen wurde, war wohl der eigentliche Grund dafür, dasssie sich damals zu einem derart markanten Bautyp entwickelnkonnte. Dies hängt des Weiteren damit zusammen, dass Kathe-dralen immer zugleich Institutionen und Gebäude sind: Als Kir-chen des Bischofs, als Eigentümerin oder Rechtsinhaberin sindsie Institutionen, die seit dem hohen Mittelalter von Domkapitelngetragen und verwaltet werden. Der Versammlung der Gläubi-gen, die dort beten, belehrt werden und die Sakramente empfan-gen, bieten sie den räumlichen Rahmen. Als Gebäude haben sieim Laufe der Zeit noch weitere Funktionen erhalten, indem siez. B. mit Krypten und Kapellen für die Heiligenverehrung ausge-stattet wurden sowie mit Räumen für Stifter, Privatpersonen oderGruppen, die dort selbst beteten und für die dort auch Fürbittegeleistet wurde. Zudem boten sie Platz für zahlreiche zeremoniel-le Akte der Kirchenliturgie.

Dies alles waren Aufgaben, die den Kathedralen erst im Lau-fe der Zeit zugewachsen waren. Ur- und Frühchristentumbrauchten und kannten keine Kathedralen. Erst im Zuge der An-gleichung der institutionellen Strukturen der christlichen Ge-meinschaften an diejenigen des römischen Staates kam es zuAusdifferenzierungen und Hierarchisierungen zwischen und in-nerhalb der christlichen Gemeinden. Der sich besonders im 4.und 5. Jahrhundert entwickelnde Primatsanspruch des Bischofsvon Rom, welcher sich über alle anderen Bischöfe stellte, ist hier-für sicherlich das deutlichste Indiz. Dass im Zuge solcher Pro-

38 BRUNO K L E I N

Abb. 4 | Basilika San Petronio in Bologna, Fassade

Abb. 5 | Kathedrale Saint-Just-et-Saint-Pasteur in Narbonne

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gründen. Damit standen starke Instrumente zur Festigung ul-tramontaner Identität bereit. Schon 1449 hatte der Humanist Lo-renzo Valla im Vorwort zum dritten Buch seines Traktats überdie lateinische Sprache den deutlichen Bruch zwischen römi-scher und jüngerer Schrift betont und für letztere die Barbarenvon jenseits der Alpen verantwortlich gemacht: Codices Gothicescripti belegten für Valla eindeutig den Niedergang der Alten

Welt wie die zerstörerische Kraft der unzivilisierten Völker desNordens (Abb. 3) (Valla, Elegantiarum Latinae lingvae, S. 177;Zintzen 1994, S. 126–142; Ax 2006). Und der Architekt Antoniodi Pietro Averlino, besser bekannt unter seinem angenommenenNamen Filarete, wusste etwa zur gleichen Zeit, dass es die Tode-schi und die Francesi waren, die den guten Kunstgeschmack ver-dorben und den modo moderno, also das, was man später ‚Gotik‘

ROM – P I E N ZA – PAD ERBORN : D I E P H YS I O GNOM I E D ER HA L L ENK I R CH E 327

I

Am 24. September 1499 beschließt die deutsche Bruderschaft inRom den Bau einer neuen Kirche auf dem Grundstück derdurch die Fraternität betreuten Herberge, nur wenige Schritteentfernt von der Piazza Navona. Alemannico more compositum– nach deutscher Art gestaltet – sollte das Gotteshaus S. Mariadell’Anima errichtet werden (Abb. 1). Und damit war höchst-wahrscheinlich ein Hinweis auf den gewünschten Bautypus ge-geben: Als Hallenkirche mit drei Schiffen von gleicher Höhewürde sich das Gebäude absetzen von den zumeist als Basilikenoder Sälen konzipierten Sakralbauten der Ewigen Stadt, nichtzuletzt von den Kirchen, die die anderen nationes in den letztenJahren neu errichtet hatten (vgl. Baumüller 2000; Abdruck desBeschlussprotokolls von 1499 hier auf S. 108f.; Hanke 2010;Günther 2012). Ganz offensichtlich bestand also Konsens da-rüber, dass in und mit der geplanten Form nationale Eigenhei-ten, vielleicht sogar nationaler Charakter transportiert wurden.Bestätigung fand diese Meinung durch höchste Autoritäten.Niemand Geringeres als Enea Silvio Piccolomini, Papst Pius II.(* 1405, † 1464, amt. 1458–1464), hatte ja bereits knapp fünfzigJahre zuvor die Kathedrale in seinem Heimatort Pienza ganz be-wusst als dreischiffige Hallenkirche ausführen lassen, weil er da-mit Erinnerungen an seinen langjährigen Aufenthalt in Öster-reich und seine Begeisterung für die Raumform und die Licht-fülle der dortigen Kirchen zum Ausdruck bringen wollte: Tres (…)naves aedem perficiunt, media latior est, altitudo omnium par; itaPius iusserat qui exemplar apud Germanos in Austria vidisset. Ve-nustius ea res et luminosius templum reddit. Eine entsprechendeWirkung vermittle auch die von Pius gestiftete Kathedrale. Beträteman diese nämlich durch das Hauptportal, böte sich dem betrach-tenden Auge der ganze Raum auf einen Blick und in leuchtenderHelligkeit dar: (…) universum templum (…) in conspectu datur(…) praecipua luminis claritate (…) (Abb. 2) (Pius II., Commen-tarii, 9. Buch, Kap. 24, Bd. 2, S. 55; Böker 1996; Brandis 2002,S. 125–138; Philipp 2010, S. 17–19; Tönnesmann 2013).

Angesichts solch expliziter Verneigung vor den Baugewohn-heiten des Reichs, die noch in weiteren Äußerungen Pius’ zumAusdruck kommt (Fürst 2011), ist es also denkbar, dass man sichim Rom des Jahres 1499 direkt auf Pienza bezog und sich amBeispiel der toskanischen Kirche orientierte (Baumüller 2000,S. 30–33; Günther 2012, S. 97/99). Obwohl der Typus der Halleauch im mittelalterlichen Frankreich oder Italien verbreitet war(Lefèvre-Pontalis 1922; Krautheimer 1928; Krönig 1938; Ku-bach/Köhler-Schommer 1997; Sesmat 2005; Hanke 2010, S. 123–126), galt er im allgemeinen Bewusstsein doch als eine Variantedes Bauens, die zunächst und vor allem mit den Deutschen – wieimmer man sie nannte – in Verbindung gebracht wurde. Dassgerade diese fest etablierte Ansicht im 15. Jahrhundert starkdurchschlägt, belegt indirekt die Ausführung der Bauten. Denndie Hallen in Pienza und Rom treten ja keineswegs bruchlos auf.Vielmehr zeigen sie eine Kombination aus mittelalterlichemRaumgefüge und (bei der Anima erst sehr viel später vollende-tem) neuzeitlichem Formenapparat. Um ihre nationale Veror-tung zu demonstrieren, genügte den Bauherren also allein derangeblich charakteristische Typus. Moderne, ultramontane Äs-thetik und vermeintlich nordalpin-nationale Gestalt gehen so ei-ne enge Symbiose ein.

II

Ältere Ansätze konkretisierend, waren die entscheidendenSchritte hin auf neuzeitliche Vorstellungen von national parti-kularer Kunst im Laufe des 15. Jahrhunderts unternommen wor-den. In diesem Zusammenhang legte man Fundamente eineshistorischen wie ästhetischen Weltbilds, die sich bis an dieSchwelle zur Moderne als überaus tragfest erweisen sollten. Spe-ziell in Italien verband sich dies mit einer Absetzung der eigenenKultur nicht allein von der des Mittelalters, sondern gleichzeitigauch von der der Nachbarn (Brandis 2002). Hinzu kam der Ver-such, diese Kultur direkt aus der Antike abzuleiten und zu be-

Rom – Pienza – Paderborn: Die Physiognomie der Hallenkirche Wahrnehmung und InterpretationKlaus Niehr

Abb. 1 | Santa Maria dell’Anima in Rom, Innenansicht mit Blick nach Westen

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nannte, eingeführt hätten (Filarete, Tractat, S. 429; Brandis 2002,S. 97–124). Diese Ansicht von den kulturfeindlichen Barbarenist im frühen 16. Jahrhundert Konsens und schien mit dem Sac-co di Roma 1527 eine Bestätigung zu finden.

Wie reif die Zeit für eine solch wertende Beurteilung alterund neuer Kultur war, zeigt sich darin, dass die durch die Hu-manisten initiierte Beschäftigung mit der Geschichte zum Motoreiner ganz Europa ansteckenden Bewegung wurde, die die eige-ne Vergangenheit, die eigene Herkunft und die eigene Mentalitätin den Blick nahm und sie in Konkurrenz zu denen der anderenbrachte (Hutter 2000; Hirschi 2005). Unter diesen Voraussetzun-gen blühte vor allem eine Geschichtsschreibung auf, die das inGang setzte, was man als „Nationalisierung Europas im Mediumder Historiographie“ bezeichnet hat (Münkler/Grünberger 1994;Helmrath/Muhlack/Walther 2002; Mertens 2011). Wobei unternationes sehr unterschiedliche Gemeinschaften zu verstehen wa-ren, welche die gesamte Spanne von überregionalen bis hin zulokalen Gruppen abdeckten. Insofern sind es auch Städte, dievon der neuen Bewegung profitieren. Im Heiligen Römischen

Reich Deutscher Nation zeigt sich das etwa sehr früh schon inAugsburg. Dort hatte der Ratsherr und spätere Bürgermeister Si-gismund Gossembrot durch den Benediktiner Sigismund Meis-terlin eine Stadtchronik, die Cronographia Augustensium, erar-beiten lassen, die – 1456 vollendet, ein Jahr später von HektorMülich ins Deutsche übersetzt, erweitert und illustriert – die Ur-sprünge der Kommune und ihre besonderen Vorzüge beschrieb.Beginnend in heidnischer Zeit, präsentierte sich die über Jahr-hunderte laufende Entwicklung bis in die Gegenwart als eineWegstrecke, die neben Fortschritt vor allen Dingen Konstantenzu erkennen gab: Bürgerliche Tugenden bestimmten den Cha-rakter der Stadtbevölkerung seit ihrem Eintritt in die Geschichteund durften als Fundamente aktuellen Wohlstands und Anse-hens gelten (Abb. 4) (Joachimsohn 1983; Saurma-Jeltsch/Frese2010).

Eine ähnliche Aufwertung regionaler Besonderheit kamauch einzelnen Landschaften zugute, die jetzt teilweise erstmalshistorisch und dem Charakter nach gewürdigt wurden (Brendle/Mertens/Schindling/Ziegler 2001; Werner 2005). Für Westfalen

ROM – P I E N ZA – PAD ERBORN : D I E P H YS I O GNOM I E D ER HA L L ENK I R CH E 329328 KLAUS N I E HR

Abb. 2 | Kathedrale von Pienza, Innenansicht mit Blick nach Süden

Abb. 3 | Lorenzo Valla: Elegantiarum Latinae linguae libri sex (1538), Titelblatt Abb. 4 | Die Wohnverhältnisse der ersten Schwaben und Bau der Stadt Augsburg,Sigismund Meisterlin: Cronographia Augustensium, 1457 ins Deutsche übersetzt,geschrieben und illustriert von Hektor Mülich, Staats- und Stadtbibliothek Augs-burg 2, Cod. H. 1 (Cim 69), fol. 47r

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Neues Konzept auf altem Fundament:Die Akteure und der Neubau des Domes

im 13. Jahrhundert

KAPITEL II

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Anders als beim Dom Bischof Imads (amt. 1051–1076), für den dasWeihedatum, der 22. Juli 1068, indirekt überliefert ist, liegen für denDomneubau des 13. Jahrhunderts keine gesicherten Baudaten vor.Es gibt kein Grundsteinlegungs- und kein Weihedatum; anhand derBauformen wird eine Errichtung zwischen 1215 und 1280 ange-nommen. Zu den Kräften und Personen hinter der ‚anonymen‘ Pa-derborner Baugeschichte berichten die erhaltenen Quellen wenig.Zwar sind die Bischöfe des 13. Jahrhunderts bekannt, aber ihre Rollebeim Dombau dürfte – anders als noch im 11. Jahrhundert unterden Bischöfen Meinwerk (amt. 1009–1036) oder Imad – immer we-niger im konzeptionellen Bereich gelegen haben. Seit der Wendevom 12. zum 13. Jahrhundert entwickelten sich vielmehr die Dom-kapitel zu eigenständigen Korporationen – so auch in Paderborn,die vielerorts – z. B. in Straßburg oder Köln – dann auch verant-wortlich für die Konzeption und Finanzierung neuer Kirchenbautenund der zugehörigen Bauhütten wurden. Anzunehmen ist diesesauch für den Paderborner Dombau.

Nimmt man einen Baubeginn des Domes um 1215 an, so richtetsich der Blick zuerst auf den damals amtierenden Bischof Bernhard III.von Oesede (amt. 1204–1223). Am Beginn seiner Amtszeit scheintes erhebliche Schwierigkeiten im Bistum gegeben zu haben, die sichin der Urkunde über einen Buchtausch zwischen Le Mans und Pa-derborn aus dem Jahr 1205 widerspiegeln. Durch diesen Austauschwurden aber die Beziehungen nach Frankreich immerhin wiederintensiviert (Tack 1936a, S. 241) (siehe Vertiefungstext Fritz, Pader-born – Le Mans, Kap. V; Kat.-Nr. 110). Im Jahr 1211 nahm der Bi-schof am Kreuzzug zur Mission in Livland teil und blieb auch nachseiner Rückkehr mit Bischof Albert von Riga (amt. 1201–1229) inKontakt, der seinerseits mehrmals ins Bistum Paderborn kam. Diezahlreichen Aufrufe zur – vor allem auch finanziellen – Unterstüt-zung der Kreuzfahrer führten zum Unmut in der auf Selbstständig-keit und Unabhängigkeit vom bischöflichen Stadtherrn drängendenPaderborner Bevölkerung. Die Situation eskalierte 1222, als der Bi-schof aus der Stadt ausgesperrt wurde. Trotz Hilfe durch den KölnerErzbischof unterlag diese letztlich – 500 Bürger mussten dem Pa-derborner Bischof im Büßerhemd vor der Stadt entgegenziehen undeine höhere Geldsumme zahlen. Demnach fiel der Beginn desDomneubaus in eine für das Bistum schwierige Zeit. Nach seinemTod am 28. März 1223 wurde der Bischof im Dom begraben.

Ein Verwandter und Mitstreiter bei der Mission in Livland warBernhard II. zur Lippe (* um 1140, † 1224) – eine der schillerndstenPersönlichkeiten des hohen Mittelalters in Westfalen. Als Gründerder Städte Lippstadt (1184) und Lemgo (1190) (siehe Kat.-Nr. 17,19) ließ er in den 1190er-Jahren die Falkenburg bei Berlebeck er-richten (siehe Kat.-Nr. 15a–e). Schon vorher, um 1185, stiftete Bern-

hard mit weiteren Adeligen der Region, zu denen u. a. auch Widu-kind von Rheda (* 1154, † 1189/91) gehörte, das ZisterzienserklosterMarienfeld. Als Widukind während des Dritten Kreuzzuges 1189/91vor Akkon starb, fiel dessen Herrschaft Rheda an Bernhard und sei-nen Sohn Hermann II. (*1175, † 1229). Bernhard II. trat nach 1194selbst in das von ihm mitbegründete Kloster Marienfeld ein undnahm um 1211 an dem oben erwähnten Kreuzzug ins Baltikum teil,wurde Abt in dem als Tochterkloster von Marienfeld gegründetenZisterzienserkloster Dünamünde und 1218 von seinem eigenenSohn Otto, Bischof von Utrecht († 1227), zum Bischof des Missions-bistums Selonien (südlich von Riga) geweiht. 1224 wurde er imKloster Dünamünde beigesetzt.

Während sein weltlicher Erbe Hermann II. (* um 1175, † 1229),der den repräsentativen Ausbau der Burganlage in Rheda voran-trieb, bereits 1229 im Aufstand der Stedinger gegen die BremischeKirche fiel, konnten acht seiner zwölf aus der Ehe mit der rheini-schen Grafentochter Heilwig von Are-Hochstaden entstammendenKinder binnen weniger Jahre zentrale kirchliche Positionen imNordwesten des Reiches besetzen (Abb. 1):

Von den Söhnen war Otto († 1227) seit 1209 Dompropst, seit1215 Bischof von Utrecht, Dietrich († 1227) seit 1216 Propst in De-venter. Der zunächst zum Propst in Paderborn ernannte Gerhard(† 1259) wurde 1219 zum Erzbischof von Bremen gewählt undweihte dann 1228 seinen weiteren Bruder Bernhard († 1247) zumBischof von Paderborn. Und auch vier der Töchter konnten als Äb-tissinnen diese Familientradition unterstützen: Gertrud († 1233/38)war seit 1217 in Herford (siehe Kat.-Nr. 23), Kunigunde († 1225)seit 1219 in Freckenhorst, Adelheid von 1223 bis 1244 in Elten amNiederrhein und Ethelind seit 1243 in Bassum bei Bremen. Schonder Zeitgenosse Albert von Stade bezeichnete Mitte des 13. Jahr-hunderts diese Verquickungen als mira res, als „erstaunliche Ange-legenheit“ (Albert von Stade: Annales Stadenses zum Jahr 1228,nach Schmidt 1990, S. 214f.).

Die engen familiären Verbindungen werden geradezu pro-grammatisch in einer Urkunde von 1244 zusammengefasst (sieheKat.-Nr. 21), mit der Erzbischof Gerhard II. (amt. 1219–1258) dieBesitzungen des Zisterzienserinnenklosters Lilienthal bestätigt, undzwar pro memoria („zum Gedächtnis“) seiner Bremer Amtsvorgän-ger, aber auch in remissionem nostrorum peccaminum et parentumnostrorum („zur Vergebung unserer und unserer Eltern Sünden“).Er sorgt sich um das Seelenheil seines Vaters Bernhard, nobilis viriet quondam Semegallensis episcopi, dann der Mutter Heilwig, nobilismatronae, dann der geistlichen Brüder Otto, Bernhard, Dietrich,nach ihnen des weltlichen Bruders, domini Hermanni de Lippia, da-rauf der Schwestern im Äbtissinnenamt und zuletzt der weltlich ge-

Zur Einführung

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Abb. 1 | Mitglieder der Familie der Edelherren zur Lippe in geistlichen Ämtern in Nord- und Westdeutschland

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zur Lippe zum Bischof von Paderborn gewählt, der bis zu seinemTod 1247 das Bistum mit Einsatz und Umsicht leitete. Er machtesich um die Kirchenorganisation verdient, indem er die PfarrkircheSt. Johannes Baptist in Warburg stiftete sowie mehrere Klöster grün-dete, u. a. in Paderborn das der Franziskaner (1232), und im glei-chen Jahr das Gaukirchkloster der Zisterzienserinnen bestätigte. DieStadt Paderborn selbst teilte er in vier Pfarreien ein; eine dieserPfarrstellen wurde im Dom sub turri, also im Westturm, eingerichtetund der Altar dem heiligen Liborius geweiht. Auch die Bistumsor-ganisation straffte er durch die Einteilung in sechs Archidiakonats-bezirke, wobei in der Stadt Paderborn zusätzlich ein Archidiakonatbeim Dompropst und eines beim Busdorfstift lag.

Ein besonders enges Verhältnis bestand zum Metropoliten, demErzbischof Siegfried III. von Mainz (amt. 1230–1249). Im Sommer1239 nahm Bernhard an der Weihe des Mainzer Westchores teil,1243 an der Weihe des neu errichteten Kreuzganges. Bei diesen Be-suchen in Mainz konnte er mit dem als Trikonchos gebauten Westchorein herausragendes Beispiel spätromanischer Architektur sehen, abermit dem Westlettner des Naumburger Meisters (siehe Kat.-Nr. 85)auch die ersten Beispiele einer von der französischen Gotik beein-flussten skulpturalen Ausstattung – beides dürfte auch auf den Pa-derborner Dombau eingewirkt haben (siehe Vertiefungstext Wil-helmy, Mainz, Kap. IV).

Der Nachfolger Bernhards IV., sein Neffe Bischof Simon I. (amt.1247–1277), wurde zwiespältig beurteilt, als „reißender Wolf, Mörderund Räuber“, dann als „fromm und friedfertig“ (zit. nach Brandt/Hengst 1984, S. 128). Der Sohn Hermanns II. zur Lippe (s. o.) war vorder Bischofswahl 1247 Propst am Busdorfstift. Ein Besuch in Bremenbei seinem Onkel, Erzbischof Gerhard II. (s. o.), brachte nicht die er-wünschte Weihe – erst zwischen Oktober 1251 und Mai 1252 wurdeSimon zum Bischof geweiht. Seit 1257 war er von seinem Onkel Ger-hard in Bremen zu dessen Sachwalter bestellt. Ob die in Paderbornüberlieferte Wahlkapitulation erst zu seiner Wahl ausgestellt wurdeoder schon zu der seines Onkels Bernhard IV., ist unsicher (siehe Kat.-Nr. 24). Generell zeigt diese jedoch das erstarkte Selbstbewusstseindes Kapitels. Seit 1248 war Wilhelm von Holland (reg. 1248–1256)deutscher König. Simon stand auf seiner Seite, stand auch in gutemVerhältnis zum Kölner Erzbischof und Herzog von Westfalen, Konradvon Hochstaden (amt. 1238–1261), und hielt sich dadurch öfter inKöln auf. In Zeiten des Interregnums (kaiserlose Zeit) musste er denBesitzstand des Bistums gegen die Fürsten verteidigen, verlegte nachAuseinandersetzungen mit den Stadtbürgern die Residenz zeitweilignach Schloss Neuhaus, führte mehrere Kriegszüge, geriet zweimal inGefangenschaft und dadurch in finanzielle Bedrängnis. Daher dürfteseine Rolle beim Dombau eher gering gewesen sein, die treibendeKraft war eher das Domkapitel.

Das Standbild an der Südfassade des Ostquerhauses (Abb. 3 undAbb. 4) soll ihn darstellen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass hiersein Nachfolger, Bischof Otto von Rietberg (amt. 1277–1307), imBild festgehalten wurde, in dessen Amtszeit – um 1280 – das Ost-querhaus des Domes vollendet worden sein dürfte. Otto war ein

Sohn des Grafen Konrad I. von Rietberg (* nach 1203, † 1284/94)und dessen Frau Oda zur Lippe, einer Schwester von Simon I., unddamit dessen Neffe. Vor der Erhebung zum Bischof durchlief er ver-schiedene Ämter in Paderborn: Seit 1260 Domherr, war er 1269 bis1273 Domkämmerer und wurde 1275 Dompropst. 1277 wurde erzwar zum Bischof von Paderborn gewählt und musste damit dieSchulden seines Onkels Simon I. übernehmen. Zum Bischof geweihtwurde er jedoch erst 1287. Darauf spielt das Standbild an, denn eszeigt eine Bischofsfigur, der zwei Engel die Mitra aufsetzen, was da-rauf hindeutet, dass die tatsächliche Weihe noch ausstand. Eine ver-gleichbare Darstellung findet sich z. B. auf der Grabplatte des Pa-derborner Bischofs Ruprecht von Berg (* um 1365, † 1394), der 1390bis 1394 Bischof-Elekt war, aber nie zum Bischof geweiht wurde(Kap. I, Abb. 4). Als Argument für eine Darstellung Simons wurdendie seitlich der Figur zu sehenden Blumen herangezogen, die manals lippische Rosen deutete. Allerdings sind hier naturalistische Ro-sen in Blattwerk in der Art eines Rosenhags dargestellt und somit –angelehnt an die Bedeutung des Rosenhags in der Marienikonogra-fie – eher zu verstehen als Zeichen des reinen Charakters des Bi-schofs – das würde zu Otto von Rietberg gut passen. Dagegen er-scheint eine heraldische Deutung geradezu ausgeschlossen, denndie Rose müsste, wenn sie einen Lipper kennzeichnen soll, direkt an

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bliebenen Damen, Heilwig, Gräfin von Ziegenhain, und Beatrix,Gräfin von Lauterberg. Neben den Eltern wird die ganze stattlicheReihe der zehn Geschwister Gerhards zur Lippe, schon toter wienoch lebender, aufgeführt; allein eine schon 1221 verstorbeneSchwester fehlt (Schmidt 1990, S. 229f.).

Für jedermann sichtbar wurde dieser Familienverbund durchdas Symbol der sog. Lippischen Rose, einer fünfblättrigen Blüte, dieseit vor 1231, möglicherweise schon seit der Zeit der StadtgründungLippstadts um 1185, immer wieder begegnet, z. B. als Schlusssteinin Kirchen, und bis heute den Landesteil ‚Lippe‘ im Nordrhein-West-fälischen Wappen kennzeichnet (Abb. 2; Essay Schmalor, Abb. 5;siehe Kat.-Nr. 14).

Bemerkenswert ist, dass alle Geschwister in ihren jeweiligengeistlichen Ämtern Kirchenneu- oder -umbauten initiierten, die,ausgehend von der Klosterkirche in Marienfeld (siehe Kat.-Nr. 16)und den beiden Marienkirchen in Lippstadt (Kat.-Nr. 37–39) sowieder doppelgeschossigen Schlosskapelle in Rheda (Kat.-Nr. 20), alsSchlüsselbauten zahlreiche gemeinsame architektonische und de-korative Merkmale aufweisen, sodass die Forschung von einer dy-nastisch geprägten, westfälisch-norddeutschen Architektur mit Aus-läufern bis ins Baltikum spricht (siehe Essays Kempkens, Bergholde-Wolf; Kat.-Nr. 64a–b). In diese Reihe gehört auch der PaderbornerDom, während dessen Bauzeit bis in die 1270-er/80er-Jahre jeweilsVerwandte eben jenes Lippers Bernhard II. amtierten.

Nach zwei kurzen Amtszeiten des Bischofs Oliver (amt. 1223–1225), der allerdings nie in Paderborn war, und des Bischofs Wil-brand von Oldenburg (amt. 1225–1227) wurde mit Bernhard IV.(amt. 1228–1247) ein Sohn Bernhards II. und damit ein Edelherr

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Abb. 2 | Warburg, St. Johannes Baptist, Schlussstein mit Lippischer Rose

Abb. 3 | Dom zu Paderborn, Standbild an der Südfassade des Ostquerhauses (Detail)

Abb. 4 | Dom zu Paderborn, Standbild an der Südfassade des Ostquerhauses (Detail)

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14 Gewölbeschlussstein mit ‚Lippischer Rose‘Seitenschiff der ehemaligen Stiftskirche St. Marien in Lippstadt (sog. Kleine Marienkirche)1245–1260Grünsandstein – H. 48 cm; Rippenansätze L. 16–31 cm; Dm. (ohne Rippen) 48 cmLippstadt, Damenstift Lippstadt. Stiftung des öffentlichen Rechts (Lapidariumder ehemaligen Stiftskirche St. Marien), Inv.-Nr. 16

Fünf rote Blütenblätter um eine ‚Butzen‘ genannte Mitte bilden einestilisierte Rosenblüte, die zuweilen ergänzt wird um fünf zwischendie Blütenblätter geschobene lanzettförmige gelbe Kelchblätter, diehier ebenso fehlen wie eine zu vermutende Farbfassung – eine Artfrühes Corporate Design, eine einfache, aber markante Form von ho-hem Wiedererkennungswert, die sich das aufstrebende Geschlechtder Herren zur Lippe wählte. Die Rose ist zugleich das wichtigsteMariensymbol und symbolisiert den der zeitgenössischen Frömmig-keit folgenden Wunsch, alles Handeln des Adelshauses unter denSchutz der Mutter Christi zu stellen. Nach der Schilderung des Chro-nisten Bernhards II. zur Lippe, Magister Justinus (* ca. 1220, † 1280),wandte sich der schwer Erkrankte in den 1190er-Jahren hilfesuchendan die Mutter Gottes, genas und wandte sich dem geistlichen Stand

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der Person (Brust, Buch etc.) angebracht sein (freundl. Auskunftvon Ulrich Meier, Bielefeld).

Neben den Bischöfen entwickelte sich das Paderborner Dom-kapitel seit dem frühen 13. Jahrhundert immer stärker hin zu einereigenständigen Korporation. Die vita communis im Domkloster hat-te sich schon im Verlauf des 12. Jahrhunderts gelockert und wurdeunter Bischof Bernhard IV. endgültig aufgelöst. Die Domherrenstel-len wurden auf 24 begrenzt, wobei jeder eine Kurie und die zuge-hörige Präbende zugewiesen war. Es entstanden eigene Leitungsäm-ter: Propst (ökonomische Leitung), Dekan (geistliche Leitung), Ca-merarius (zuständig für die Versorgung), Custos und Thesaurar (zu-ständig für Kirche, Gottesdienst, Domschatz und Finanzverwal-tung), Cellerar (zuständig für die Präbendenverteilung), Scholasti-cus (zuständig für den Unterricht an der Domschule) sowie derCantor (zuständig für den Chor in Kirche und Schule), deren Inha-ber in den überlieferten Urkunden in Einzelfällen schon seit dem11. Jahrhundert fassbar sind und dann im Verlauf des 13. Jahrhun-derts immer öfter auch selbstständig an Rechtsakten beteiligt waren

und damit über einen längeren Zeitraum fassbar werden (Hanneken1934, S. 81–83). So siegelte ein Dompropst Lambert (amt. 1200–1217 und erneut 1220) schon 1214 (Ilgen 1889, Taf. 130). Dom-propst Volrad ist von 1222 bis 1240 nachweisbar und gehörte noch1260 dem Domkapitel an (Hanneken 1934, S. 86) (siehe Kat.-Nr. 46).Auch er verfügte über ein eigenes Siegel (Abb. 5, Münster, Landes-archiv NRW, Abteilung Westfalen, B401u/ Fstm. Paderborn, Urk.154c, vom 15. April 1238 (WUB 4, Nr. 266) und Ilgen 1889, Taf. 130).Sein Nachfolger von 1240 bis 1275 wurde Heinrich von Schwalen-berg, 1275 bis 1278 gefolgt vom späteren Bischof Otto von Rietberg(Hanneken 1934, S. 86f.).

Das Kapitel reklamierte für sich das Recht zur Bischofswahl undzur freien Entscheidung über die eigene Zusammensetzung sowieein eigenes Kapitelsgut, d. h. vom Bischof unabhängige Pfründe. Esgab eigene Statuten, die aus dieser frühen Zeit allerdings nicht über-liefert sind, und bei der Wahl eines neuen Bischofs wurde eine sog.Wahlkapitulation geschlossen, mit der die Domkapitulare dem zu-künftigen Bischof Pflichten auferlegten, z. B. keinen Besitz zu ver-pfänden o. ä. (siehe Kat.-Nr. 24). Die nach dem Tod Simons I. be-schlossene Wahlkapitulation beinhaltete nur die Schuldenübernah-me durch den Nachfolger (WUB 4, Nr. 1448).

Das ältere, schon seit dem 12. Jahrhundert benutzte Siegel mitdem Bild des heiligen Liborius, das in den 1240er-Jahren offenbarnoch einmal leicht verändert wurde (siehe Kat.-Nr. 23, 47), ersetzteman um die Mitte des 13. Jahrhunderts durch eines, das zwischenLiborius und dem Bistumspatron Kilian im Zentrum die Gottes-mutter Maria zeigt (siehe Kat.-Nr. 25) – ähnlich wie auch am Para-diesportal eine steinerne Trumeau-Madonna zwischen den hölzer-nen Bistumspatronen Kilian und Liborius dargestellt ist (siehe Kat.-Nr. 69a–b). Dies zeigt, „daß die einem Monopol gleichkommendeStellung des heiligen Liborius im 13. Jahrhundert zugunsten jenerder Gottesmutter relativiert wurde. Mit der im 13. Jahrhundert aufbreiter Basis zu verzeichnenden Zunahme des Marienkultes sank inDeutschland allgemein die Bedeutung der alten Translationsheiligen.“(Kat. Paderborn 1986, Kat.-Nr. 136, S. 210).

Petra Koch-Lütke Westhues Quellen: WUB 4

Literatur: Ilgen 1889; Hanneken 1934; Tack 1936a; Brandt/Hengst 1984; Kat. Pa-

derborn 1986; Schmidt 1990

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Abb. 5 | Siegel des Dompropstes Volrad, 1238

Abb. 6 | Siegel mit dem Wappen der Stadt Lippstadt mit vereinfachter ,LippischerRose‘, Münster, Landesarchiv NRW, Abteilung Westfalen, Sign. A 141 I Kloster Marienfeld – Urk. 74

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weit wie möglich abgebaut, wodurch zahlreiche für mechanischeBeschädigungen durch Stoß oder Fall empfindliche Werkstücke ausGrünsandstein erhalten geblieben sind. Roland Pieper

Literatur: Jesse 1976; Pieper 1984a; Pieper 1986; Pieper 1992; Ehbrecht 2008; Lin-

de/Meier 2018

15a–e Funde von der Falkenburg

a) Schachfigur (Erzbischof)

Spätes 12. JahrhundertKnochen und Buntmetall – H. 10 cm; Dm. 2,5 cmDetmold, Lippisches Landesmuseum Detmold, Inv.-Nr. U 2093.8

Hierbei handelt es sich um eine aus einem Mittelfußknochen (Rind)geschnitzte Figur eines sitzenden Erzbischofs. Seitlich und im Rü-ckenbereich waren mittels Buntmetalldraht weitere, heute fehlendeDetails angestiftet. Vermutlich sollten diese den Bischofsstuhl dar-stellen. Ebenso fehlen die Unterarme bzw. Hände, die in die Figureingesteckt wurden.

b) Schachfigur (Turm)

14. JahrhundertKnochen – H. 8,5 cm; Dm. 2,5 cmDetmold, Lippisches Landesmuseum Detmold, Inv.-Nr. U 2093.9

Der Turm ist auf einer Seite mit einem bis an den profilierten vier-zackigen Turmkranz gehenden Spitzbogenfenster verziert. Ritzun-gen im Inneren könnten ein Bleirutenfenster oder ähnliche Unter-teilungen andeuten. An den Seiten der Fensteröffnung eingeritzteNuten deuten darauf hin, dass ein Blechplättchen in die Figur ein-geschoben werden konnte.

c) Pilgerzeichen (Die Heiligen Drei Könige)

2. Hälfte 13. bis 1. Hälfte 14. JahrhundertBlei-Zinn-Legierung, Flachguss – H. 3,4 cm; B. 2,8 cm – Pilgerort: Köln Detmold, Lippisches Landesmuseum Detmold, Inv.-Nr. U 2093.4

Köln war einer der bedeutendsten Wallfahrtsorte Zentraleuropas,hervorgerufen unter anderem durch die Translation der Gebeineder Heiligen Drei Könige von Mailand nach Köln im Jahre 1164.

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zu. In dieser Zeit stellte auch der Zisterzienserorden, von dessenKloster Marienfeld Bernhard Mitbegründer war, Maria in den Mit-telpunkt der Ordensverehrung. Nicht zuletzt war diese Wahl aberauch eine Provokation – welcher Gegner schlug im Kampf schonvorbehaltlos auf einen Schild mit dem Sinnbild Mariens ein?

Im geografischen Umfeld des Hauses zur Lippe ist die Rose all-gegenwärtig. Gleich zwei Marienkirchen etablierte es in seinerStadtgründung Lippstadt: die Große Marienkirche als Hauptstadt-pfarrkirche am Marktplatz und die mit Augustinernonnen besetzteMarienstiftskirche, die auf der in den Mauerbering der Stadt einbe-zogenen Stammburg Hermelinghof an der Lippe gleichsam als ‚Hof-kirche‘ die Memorie für den Stadtgründer bedienten sollte. Zugleichwar die Marienstiftskirche eine der seit etwa 1260 vier großen Stadt-pfarrkirchen. Da verwundert es nicht, dass die Lippische Rose seitder Zeit vor 1231, möglicherweise schon seit der Zeit der Stadtgrün-dung um 1185, auch Teil des Lippstädter Stadtwappens ist (Abb. 6),ebenso kommt sie in beiden Lemgoer Wappen vor; übrigens in allenohne Kelchblätter.

Der Schlussstein fixierte durch sein Gewicht das Rippenkreuzeines längsrechteckigen Seitenschiffgewölbes der Kirche, wie derSchnittwinkel der Gewölberippenansätze zeigt – die Seitenschiffge-

wölbe waren längsrechteckig, die des Hauptschiffs annähernd qua-dratisch. Ein sog. Wolfsloch auf der im Einbau unsichtbaren Stein-oberseite schuf die Verbindung zwischen Kranseil und Stein undzeigt, dass er mit modernster, der französischen Kathedralgotik ent-lehnter Technik so versetzt wurde, dass dafür nur wenige Personennötig waren. Er stammt also aus dem Langhaus und damit aus derPfarrkirche, denn die Nonnen saßen auf einer Empore mit separa-tem Altar im turmlosen Westbau. Dieser Westbau stammt aus derZeit vor 1200 und ist etwas älter als die übrige Kirche, die von Ostenher in mehreren Bauabschnitten daran angefügt wurde. Die Lang-hauswölbung und damit der Schlussstein entstammen der letztenBauphase vor Fertigstellung des Gründungsbaus, der Zeit vor 1260.

Wie in vielen Städten Westfalens ging auch in Lippstadt in derersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Bevölkerungszahl zurück, dievier großen Stadtpfarrkirchen Groß-St.-Marien, St. Jakobi, Klein-St.-Marien (Stiftskirche) und St. Nicolai sowie die evangelisch-re-formierte Brüderkirche als einstige Klosterkirche der Augustiner-Eremiten konnten von der evangelischen Kirchengemeinde baulichnicht mehr unterhalten werden. In der 1830er-Jahren wurde aufdem Hintergrund einer frühen Denkmalpflege angeordnet, dass dieKirche als Ruine erhalten werden sollte. So wurden die Gewölbe so

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Der Paderborner Dombau des 13. Jahrhunderts –Architektur und Skulptur.

Die mediale Qualität der Werke

KAPITEL IV

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anschließenden Godehard-Kapelle und eine Galerie konnte der Erz-bischof aus dem danebengelegenen Bischofshof direkt in den West-chor des Domes hinabsteigen, ohne mit der Öffentlichkeit in Berüh-rung zu kommen. Dies war durchaus geboten, schließlich empörtensich die Mainzer gerne und oft gegen ihren erzbischöflichen Stadt-herrn, was 1160 darin gipfelte, dass sie Erzbischof Arnold von Se-lenhofen erschlugen. Die Mainzer Bischöfe waren somit gewarntund stellten sich um 1200 ganz bewusst auf ihrem Weg unter denSchutz eines himmlischen Liturgen (siehe Kat.-Nr. 58a–b), der inseiner vollplastischen Realität auf den damaligen Betrachter einenungeheuren – apotropäischen – Eindruck gemacht haben dürfte.Ähnliches gilt für den grandiosen Hohen Chor, den kleeblattförmi-gen Trikonchos, in dem die spätromanische Baukunst am Rhein ih-ren Höhe- und Endpunkt fand, bevor die gotische Formenspracheauch hier Einzug hielt. Im Dominneren allerdings hatte die Gotikbereits mit der Einrichtung der Chorschranke, die den Bereich derDomherren im Westen vom Langhaus trennte, erste Triumphe ge-feiert: Hier schuf die Werkstatt des sog. Naumburger Meisters ihrerstes Meisterwerk (siehe Kat.-Nr. 85). Winfried Wilhelmy

Literatur: Kat. Mainz 2011, Kat.-Nr. 24 (Dethard von Winterfeld)

58a–b Engel mit Sockel vom Nordwestquerhausdes Mainzer Domes

Mainz, um 1220–1239Sandstein; Witterungs- und Brandschäden – Engel 2009 für museale Präsen-tation konservatorisch bearbeitet (gereinigt, Risse durch mineralische Er -gänzungsmasse verschlossen), ebenso der Sockel 2018 – a) Engel H. 130 cm; B. 38 cm; T. 57 cm; b) Sockel H. 132 cm; B. 48 cm; T. 29 cmMainz, Bischöfliches Dom- und Diözesanmuseum Mainz, Inv.-Nrn. PS 07706und PS 14742

Sowohl die Dimensionen als auch das Formenvokabular des Main-zer Doms, für den Erzbischof Willigis (amt. 975–1011) den Grund-stein legte, lassen keinen Zweifel am imperialen Anspruch der sanctasedes moguntina. So ist der Sakralbau, in Anlehnung an St. Peter inRom, gewestet und war in eine größere Sakraltopografie (siehe Kat.-Nr. 57) eingebunden: im Westen die Johanneskirche, der ‚alte Dom‘,im Osten die (nicht erhaltene) Liebfrauenkirche, im Süden Kreuz-gang und Stiftsgebäude und im Norden, der Schauseite des Domsmit dem Hauptportal zum Markt, die 1137 geweihte erzbischöflicheDoppelkapelle und der erzbischöfliche Palast (nicht erhalten). Allegenannten Gebäude waren durch Paradiesgänge, Atrien oder Annex-bauten miteinander verbunden.

Um 1200 wurden die westlichen Teile des Willigis-Bardo-Domsniedergelegt und durch ein äußerst repräsentatives Ensemble auswestlichem Querhaus mit Vierungsturm und Chorquadrat mit Tri-konchos ersetzt. Diese Baumaßnahme war sicher mit der Weihe am4. Juli 1239 abgeschlossen. Seither wurden der erzbischöfliche Palast

und die zugehörige Kapelle von der reich ausgestalteten Fassade desNordwestquerhauses überragt, dessen Giebel ein weit aufragenderSockel mit einem Engel krönte. Da der Mainzer Dom am Außenbaunur sehr zurückhaltend mit Bauplastik ausgestattet war, kam demEngel eine besondere Bedeutung zu, nicht zuletzt, weil er genauüber dem Weg des Erzbischofs von seinem Palast vorbei an seinerKapelle in die Kathedrale wachte.

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57 Modell des Mainzer DomesZustand um 1239Modellbau: Hanneli Müller, Nieder-Olm, 1975Lindenholz, weiß gefasst – H. 33,5 cm; B. 66 cm; T. 145 cm; Maßstab 1:200 Mainz, Bischöfliches Dom- und Diözesanmuseum Mainz, Inv.-Nr. V 14060

Um das Jahr 1000 errichtete Erzbischof Willigis (amt. 975–1011) anStelle des Alten Domes (der heutigen Johanniskirche) vor dessenOstseite eine neue, nach dem Vorbild von Alt-St.-Peter in Rom ge-westete Bischofskirche. Sie sollte – so die vorherrschende For-schungsmeinung – anstelle des Aachener Münsters als neue, zentra-le Krönungsstätte des Reiches dienen. Dieser Neubau brannte je-doch 1009 am Tag seiner Weihe ab, und auch der 1036 geweihte,aber wohl mangelhaft fundamentierte und durch Brand geschädigteNachfolgebau wurde ab dem späten 11. Jahrhundert durch den nochheute stehenden Bau ersetzt. Die Bauarbeiten begannen um 1100im Osten und umfassten die Errichtung einer Apsis mit Hallenkryp-ta sowie eines achteckigen Vierungsturms. Im 12. Jahrhundert wur-de das Langhaus im gebundenen System erbaut, doch erst im erstenDrittel des 13. Jahrhunderts endeten die Arbeiten mit der Errich-tung des Hohen Chores im Westen, der 1239 geweiht wurde. Hierentstand nach niederrheinischem Vorbild ein gewaltiger kleeblatt-förmiger Chor (Trikonchos), der zusammen mit dem gleichfallsachteckigen Vierungsturm und den schlanken Flankentürmen einein Form und Ausmaß beeindruckende Baugruppe bildete. Die 1137dem heiligen Godehard geweihte bischöfliche Palastkapelle vervoll-

ständigte zusammen mit dem danebengelegenen Bischofshof dasErscheinungsbild an der zum Markt hin orientierten Nordseite. Aufder Südseite schlossen sich der romanische Kreuzgang sowie derKapitelsaal und andere Nutzbauten der Domherren an.

Dieser Dom-Neubau wurde der Mittelpunkt einer ‚Kathedral-familie‘: Im Westen behielt man den Vorgängerbau bei, übertrugaber dessen Martinspatrozinium auf den Neuen Dom und weihtedie alte Kathedrale stattdessen Johannes dem Täufer. Im Osten wardem Dom die 1069 geweihte Marienkirche vorgelagert. In dieser –damals – unmittelbar am Rhein gelegenen Kirche wurden mit demSchiff vorfahrende hohe Gäste in Empfang genommen und, nachdem Vorbild von Alt-St.-Peter in Rom, durch das anschließendeAtrium in die Kathedrale geleitet: die Bischöfe durch das daher sog.Bischofs-Portal rechts, der Kaiser durch das Portal links (gesehenmit Blick auf den Dom). Noch heute sind diese beiden Portale in derRegel geschlossen, denn der ‚gemeine Mann‘ betrat damals wie heu-te, und darin ganz der Situation in Paderborn vergleichbar, denDom von der Marktseite her durch das ‚Marktportal‘. Hier befandsich die eigentliche, öffentlichkeitswirksame und ‚politisch aufgela-dene‘ Schauseite des Domes. An den in dieses Portal eingelassenenBronzetüren dokumentierte Erzbischof Willigis seinen Anspruch,Aachen als Krönungsstadt abzulösen; in die gleiche Tür ließ Erzbi-schof Adalbert I. von Saarbrücken (amt. 1111–1137) um 1120 dasden Mainzer Bürgern gewährte ‚Große Freiheitsprivileg‘ eingravie-ren. Hier, unter dem um 1210 errichteten Tympanon mit dem Wel-tenrichter, war die Stätte des Gerichtes und der wichtigste Ver-sammlungsort der Öffentlichkeit. Über das Obergeschoss der rechts

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äußerst vielschichtige Inszenierung entfaltet. Ganz allgemein konnteder Engel als Verkünder der christlichen Botschaft, als Wächter desGotteshauses, als Himmelswächter, als Künder des Jüngsten Ge-richts, aber eben auch als weithin sichtbares Hoheitszeichen desMainzer Metropoliten gelesen werden.

Am Paradiesportal des Paderborner Doms sind weniger offen-siv-politische, aber sicher paränetische Absichten mit ähnlichen for-malen Tendenzen umgesetzt. Im Tympanon über der Trumeauma-donna eilen zwei Engeldiakone mit Ehrentüchern herbei. Sie zeich-nen sich durch eine für den Standort ungewöhnlich hohe Plastizitätaus und zeigen sich in ihrer Dynamik unbeeindruckt von den archi-tektonischen Grenzen des Bogenfelds. Wie ikonografisch üblich as-sistieren sie der Gottesmutter und ihrem Sohn, jedoch wenden sieihre Köpfe und Oberkörper nicht der himmlischen Szene, sonderneiner irdischen zu: dem durch das Portal schreitenden Kirchgänger.

Anja LempgesLiteratur: Schuchert 1941, S. 83; Lempges 2017, S. 164–173

59a–d Pontifikalien aus einem Bischofsgrab Gefunden 1804 in einer Grabstätte im Ostchor des Mainzer Domes

a) Mitra

Sizilien (?), viertes Viertel 12. Jahrhundert Halbseidengewebe mit Goldborten; ehemals vielfarbige Seide; Goldfäden – H. 27 cm (mit Fanones 63 cm); B. 28,5 cmMainz, Bischöfliches Dom- und Diözesanmuseum Mainz, Inv.-Nr. T 00482

b) Krümme eines Bischofsstabes

Limoges, erstes Drittel 13. JahrhundertKupfer, vergoldet; Emaille, farbiger Glasfluss – L. 51 cm; Krümme Dm. 12 cmMainz, Bischöfliches Dom- und Diözesanmuseum Mainz, Inv.-Nr. S 00050

c) Pontifikalring

Italien (?), erste Hälfte 13. Jahrhundert (?)Gold, Amethyst und weitere Halbedelsteine – Schiene Dm. 2,6 cm; Kopf Dm. 4 cmMainz, Bischöfliches Dom- und Diözesanmuseum Mainz, Inv.-Nr. S 00065

d) Reisekelch mit Patene

Mainz (?), um 1230/40Silber, getrieben, teilvergoldet – Kelch: H. 10,6 cm; Fuß Dm. 10,5 cm; Patene:Dm. 12,5 cmMainz, Bischöfliches Dom- und Diözesanmuseum Mainz, Inv.-Nr. S 00051

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Sockel und Engel waren über Jahrhunderte der Witterung aus-gesetzt und zeigen ein entsprechendes Schadensbild. Sie wurden inden Restaurierungskampagnen der vergangenen 100 Jahre durchunterschiedliche Repliken ersetzt.

Vom ehemals rundplastisch ausgeführten originalen Sockel ha-ben sich eine komplette und zwei halbe Seiten erhalten. Er ist ausvier durch Blattwerk gebildeten Registern aufgebaut: Die beidenmittleren haben an den Kanten jeweils zwei große eingerollte Blatt-oder Blütenknospen, die ein spitzovales Blatt flankieren. Aus demLaubwerk des vierten Registers ragt die glatt behauene, runde So-ckelplatte für den Engel. Ihre Grundfläche und auch die der Plinthe

des Engels sind überraschend klein gehalten, bedenkt man dieWindlast am rund dreißig Meter hohen Standort.

Der frontal ausgerichtete und auf starke Untersicht gearbeiteteEngel steht mit unbeschuhten und weit ausgestellten Füßen auf ei-ner runden und zu den Kanten abgeschrägten Plinthe, wie sie auchan Gewändefiguren üblich ist. Das schmal geschnittene Unterge-wand zeigt an der Brust und an der Beinpartie wenige aus der Linieentwickelte Falten, am Saum einige flache Tütenfalten, der vor denKörper gezogene Mantel flache Muldenfalten. Im linken Arm trägtder Engel ein geschlossenes Buch, das Attribut der rechten Hand istnicht mehr vorhanden, worauf noch zurückzukommen sein wird.

Der Engel ist offensichtlich der spätromanischen Formenspra-che verpflichtet. Dagegen sind die vollplastische Ausarbeitung mitaufgespannten Flügeln und en détail ausgeführten Federn sowie derüber die Architektur herausgehobene Standort ohne Baldachin oderTabernakel überraschende Innovationen. Sie sind sinnvoll nurdurch die Rezeption französischer Kathedralbauplastik, in diesemFall der Reimser Chorkapellen und ihrer Engel (um 1220–1230), zuerklären. Über die Bedeutung der Reimser Engel, die mit diversemliturgischem Gerät ausgestattet eine zentrale Christusfigur an derChorscheitelkapelle begleiten, gibt es unterschiedliche Deutungs-vorschläge. Die offensichtliche ist sicher die feierliche Inszenierungder himmlischen Liturgie – der auferstandene Christus als Eucha-ristie und assistierende Engel als Liturgen – so, wie in Analogie dazuim Kirchenraum die irdische Liturgie gefeiert wird. Das konzeptio-nell und handwerklich erlesene Figurenensemble nobilitiert denChor der französischen Krönungskathedrale. Vor dem Hintergrundder Auseinandersetzungen des Kölner und Mainzer Metropolitenim 13. Jahrhundert um das Krönungsrecht der deutschen Königeerfährt die Mainzer Anleihe an Reims ein erhebliches politisch-iko-nografisches Gewicht: Für den versierten Betrachter war der Engelwie ein elegant-subtiler Fingerzeig auf den Machtanspruch desMainzer Metropoliten.

In diesem Sinne und auch anhand der erhaltenen Steinsubstanzist als zweites Attribut in Händen des Engels höchstwahrscheinlichein Kreuzstab zu ergänzen, ein Würdezeichen, das dem Metropoli-ten vorangetragen wurde und bis zum Vierten Laterankonzil (1213–1215) eigentlich dem Papst vorbehalten war. Mit dem Kreuzstabnahm der Engel darüber hinaus wahrscheinlich ebenfalls Bezug aufdie Darstellung des heiligen Bonifatius, mit dem erstmals ein mitder erzbischöflichen Gewalt ausgestatteter Kleriker den MainzerStuhl bestieg (amt. 745–754). Auf dem prominenten ‚Bonifatiuss-tein‘ (um 854) über dem Mainzer Reliquiengrab des ‚Apostels derDeutschen‘ war er mit Buch und Kreuzstab dargestellt.

Der Entstehungszeitraum des Sockels und des Engels ergebensich aus der bauplastischen Umgebung. Die Ornamentformen amSockel entsprechen dem Dekor am Traufgesims des Nordwestquer-hauses (um 1220–1239). Der spiritus rector des Mainzer Domengels,wohl Siegfried II. von Eppstein (amt. 1200–1230) oder Siegfried III.von Eppstein (amt. 1230–1249), hat mit dieser kleinen Skulpturüber seiner Metropolitankirche, dem Palast und seiner Kapelle eine

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1804 wurden im Ostchor des Mainzer Domes die Fundamente fürdie Aufstellung eines Taufbeckens ausgehoben. Dabei stießen dieArbeiter auf einen Sarkophag, aus dem ein Bischofsstab, ein Ponti-fikalring, ein Kelch mit Patene sowie die Fragmente einer Mitra ge-borgen wurden. Das heutige unscheinbare Aussehen dieser Mitravermittelt kaum mehr einen Eindruck ihrer ehemaligen Schönheit.Lediglich die Goldfäden lassen den ursprünglichen Glanz erahnen.Als Grundstoff ist eine nicht gemusterte, in Samit-Bindung gearbei-tete Halbseide verwendet, wie sie vor allem im 12. und 13. Jahrhun-dert üblich war. Kaum mehr erkennbar sind die Zierformen derbreiten Borten, die sich von einem weißen, weitgehend verlorenenGrundstoff abheben. Sie zeigten einst ein bunt gewebtes Ranken-werk mit Tierdarstellungen. Solche Zierstreifen gehören zur Gruppeder ‚Palermitaner-Borten‘, die nach den Funden aus dem Grab vonKaiser Heinrich VI. (reg. Ks. 1191–1197) in Palermo benannt sind.Dabei handelt es sich um lancierte kettgemusterte Köpergewebe, diehauptsächlich in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts hergestelltwurden. Ob dies nur in Italien oder nicht doch auch in Deutschlandder Fall war, ist umstritten.

Von dem im gleichen Grab gefundenen Bischofsstab haben sichHandhabe, Knauf und Kurvatur erhalten. Deren Oberfläche ist mitreichem Rankendekor in Gold und Blau besetzt. Im unteren Teil lei-ten drei Schlangen mit ihrem geringelten Schwanz zum Knauf über.

Auch die mit Schuppen besetzte Kurvatur mündet in einen Schlan-genkopf, der einen Drachen in den Schwanz beißt. Eine menschli-che Gestalt domestiziert diesen Drachen durch einen Griff an denHals; eine Geste, die als Symbol der Überwindung des Bösen inter-pretiert werden kann. Technik und Gestalt des Stabes weisen ihneindeutig als Produkt einer Werkstatt aus, die im französischen Li-moges ihren Sitz hatte. Krummstäbe aus Limosiner Emaille fandensowohl bei den Bischöfen und Äbten des französischen als auch desdeutschen Sprachraums reißenden Absatz. Es existieren heute nochzahlreiche Vergleichsbeispiele, die eine Datierung der hier gezeig-ten Krümme in das erste Drittel des 13. Jahrhunderts erlauben(Krümme aus dem KlosterNieul-sur-l’Autise, um 1210/20,Paris, Musée du Louvre, Inv.-Nr. OA 8105; Bischofsstab, um1220/35, Paris, Musée du Lou-vre, Inv.-Nr. OA 7286; Bischofs-stab des Abtes Heinrich I. ausKloster Engelberg/CH, amt.1197–1223).

Der Ring aus dem Grab imOstchor besitzt einen kantigenReif, der im oberen Teil mit ei-

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pelle – ihrerseits ein gebauter Reliquienschrein – könnte Impulsefür den preziösen Lettnerbau in Bourges gegeben haben. Nicht zu-letzt verweisen der Figurenstil und die Bauornamentik auf eine Aus-führung durch eine Pariser Bildhauerwerkstatt. Diana Ecker

Literatur: Joubert 1979; Kat. Paris 1994; Ribault 1995; Le Pogam 2011; Kat.

Naumburg 2011, Bd. 2, Kat.-Nr. XIV.3 (Pierre-Yves Le Pogam)

74 Diptychon mit Szenen aus der Passions- undAuferstehungsgeschichte Christi

Paris, um 1250 – Atelier du Diptyque de Soissons (zugeschrieb. Volbach 1923)Elfenbein, farbig gefasst; Metall (Scharniere) – H. 32,5 cm; B. 12,5 cm (je Tafel);D. 1,2 cmBerlin, Staatliche Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz.Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst, Inv.-Nrn. 623 und 624

Das um 1250 in Paris gefertigte Elfenbeindiptychon zeigt Szenenaus der Leidens- und Auferstehungsgeschichte Christi, die sich indrei Registern von links unten nach rechts oben ziehen, wobei dieSzenen im mittleren Register in umgekehrter Leserichtung vonrechts nach links angeordnet sind. Die Erzählung beginnt im unte-ren Register mit Judas, der die dreißig Silberlinge erhält, darauf fol-gen Judaskuss und Gefangennahme Christi, der Selbstmord des Ju-das, das Urteil und die Handwaschung des Pilatus und die Geiße-lung Christi. Im darüberliegenden Bildstreifen wird die Szenenfolgerechts mit der Kreuztragung fortgesetzt, daran schließen sich dieKreuzigung Christi, die Kreuzabnahme, Grablegung, Auferstehungund der Herabstieg Christi in die Vorhölle an. Das obere Registerbeginnt mit der Darstellung der Frauen am leeren Grabe, an die sichdie Noli-me-tangere-Szene anschließt, gefolgt von der ErscheinungChristi vor den Frauen, der Darstellung des zweifelnden Thomasund der Himmelfahrt Christi; den Abschluss bildet das Pfingstbildmit der Herabkunft des Heiligen Geistes.

Eine regelmäßige Folge von spitzbogigen Arkaden mit krabben-besetzten Wimpergen, die auf schlanken, freistehenden Säulchenruhen, rhythmisiert die dichte Folge der Einzelszenen – die Archi-tektur gibt gleichsam das Taktmaß der Erzählung vor und über-nimmt ordnende Funktion. So erhält jede der einzelnen Szenen ge-wissermaßen ihren eigenen Rahmen, der ein isoliertes Szene-für-Szene-Betrachten im Sinne der Andachtsfunktion, für die Elfen-beindiptychen dieser Art gefertigt wurden, möglich macht; gleich-zeitig gibt es immer wieder Elemente, die die auf den ersten Blickstrikte Szenenabtrennung aufheben: Kunstvoll hat der Elfenbein-schnitzer das mitunter reiche Figurenpersonal in den engen Kom-partimenten untergebracht; immer wieder spielt er dabei mit raum -illusionistischen Mitteln, indem einige Figuren zum Beispiel diedünnen, freistehenden Schäfte der Säulen umfassen (Gefangennah-me, Kreuzabnahme) oder die durch die Architektur vorgegebeneAbgrenzung durchbrechen, indem sie mit ihren Bewegungen in die

benachbarte Szene ausgreifen. So ergibt sich ein dynamischer, malschneller, mal verlangsamt verlaufender Erzählrhythmus.

Durch die ursprüngliche Teilfassung des Elfenbeindiptychons,die sich durch erhaltene Partikel gut rekonstruieren lässt, wurdendie Figuren und die Architekturglieder zusätzlich noch betont, dasie sich als ungefasst gebliebene Partien deutlich vor dem überwie-gend blau gehaltenen Hintergrund abhoben. Die Figuren mit ihrenschwungvoll-lebhaften, eleganten Körperbewegungen, ihren feinausmodellierten Gesichtern mit den geschlitzten Augen und denmodisch frisierten, lockigen Haaren weisen eindeutig höfischeMerkmale auf, die auf Einflüsse aus der Pariser Buchmalerei undder Monumentalskulptur hindeuten.

Das Berliner Diptychon zählt zu den frühesten erhaltenen, go-tischen Elfenbeindiptychen, die sich unter Ludwig dem Heiligenvon Paris aus rasch in ganz Europa verbreiten. Die Passion Christi,die nach der Erwerbung der Dornenkrone aus Konstantinopeldurch Ludwig im Jahr 1239 eine gesteigerte Verehrung erfuhr, stelltbesonders auf Elfenbeindiptychen, die der privaten Andacht dien-ten, die bevorzugte Ikonografie dar. Ein typisches Merkmal, dasauch das Berliner Diptychon auszeichnet, ist dabei die in dieserForm neuartige, detailliert ausgeschmückte Narration der Passions-geschichte, die auf eine emotionale Einbindung des Betrachters ab-zielt. Klara Katharina Petzel

Literatur: Westwood 1876, Anhang S. 437, Nr. 873; Kat. Berlin 1898, S. 65; Vöge

1900, Nr. 78/79; Koechlin 1905; Pelka 1920, S. 183; Volbach 1923, S. 35, Taf. 41; Ko-

echlin 1924, Bd. 1, S. 71, S. 83, S. 184, S. 215, S. 453; Bd. 2, Nr. 39; Bd. 3, Taf. XVI;

Gaborit-Chopin 1978, S. 145; Kat. Darmstadt/München 1999, Kat.-Nr. 36 (Hart-

mut Krohm); Guérin 2009, bes. S. 368f., Abb. 22; Kat. Naumburg 2011, Bd. 2,

Kat.-Nr. XIX.9 (Hartmut Krohm); Williamson/Davies 2014, S. 218–221

75 Gottvater von der nördlichen Querhausroseder Kathedrale zu Reims

Um 1240/50Kalkstein – H. 84 cm; B. 65 cm; T. 55 cm Reims, Palais du Tau. Centre des monuments nationaux, classé au titre desMonuments historiques en 1862, Inv.-Nr. D-TAU1972000219

Die Figur stammt von der linken Hälfte der Außenseite des Bogens,der die nördliche Querhausrose der Kathedrale von Reims um-rahmt. Wegen fortschreitender Verwitterung wurde das Bildwerkzusammen mit allen anderen Skulpturen der linken Archivolten-hälfte in den 1970er-Jahren abgenommen und in das Museum derKathedrale verbracht. Am Bauwerk stehen nun Kopien; sämtlicheSkulpturen der rechten Archivoltenhälfte wurden hingegen an ori-ginaler Stelle belassen.

Das Bildthema der Reimser Nordrose ist die Genesis. Ihr ist so-wohl die farbige Verglasung des Maßwerks der Rose als auch dieSkulptur der Rahmung auf der Außenseite gewidmet. Die Ausstat-

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in spät- und nachmittelalterlicher Zeit überliefert und lässt sich vomgriechischen doxologia, dem Lobpreisen der Herrlichkeit Gottes, ab-leiten (siehe Vertiefungstext Kopp, Liturgie, Kap. V).

Ein Prozessionale des Paderborner Doms aus dem 14. Jahr-hundert (nach 1389 verfasst; siehe Kat.-Nr. 116) erwähnt eine ge-wölbte Halle, wo Knaben am Ostertag die Antiphon singen – Indie pasche finita collecta cantent iuvenes in testudine ecclesie anti-phonam (HS BI, 1, fol. 13v) (Abb. 2) Das Wort testudo, welches inseiner antiken Ausgangsbedeutung die Schildkröte bzw. deren Pan-zer bezeichnet, kann, ebenfalls bereits in der Antike, auch einen miteiner gewölbten Decke versehenen Raum meinen (nach Karl ErnstGeorges ausführlichem deutsch-lateinischen Wörterbuch) – ein vonallen Seiten im Bogen sich erhebendes Gewölbe. Vergleichbar derBezeichnung in Paderborn weiht in einer Nachricht zum Jahr 1501der Generalvikar des Bischofs Hugo von Konstanz mehrere Altäreim Breisacher Münster sub testudine in introitu chori („unter demGewölbe am Eingang des Chores“; vgl. Rieder 1902, S. 755, m6 ad a.1501 Jan 24) sowie einen weiteren supra testudine, also oberhalb desGewölbes (Rieder ebd.). Hier ist eindeutig der Lettner gemeint, wirddoch einer der Altäre „auf dem Gewölbe“ geweiht. Wie im Falle desPaderborner Prozessionale ist der Begriff testudo hier jedoch eherunspezifisch gebraucht, d. h. nicht auf die Funktion des Bauwerksbezogen. Schmelzer – die testudo in ihrer Arbeit zu den mittelalter-lichen Lettnern nicht unter den Begriffen erwähnt, die synonym fürsolche Gebilde stehen – weist darauf hin, dass den meisten überlie-ferten konkreten Bezeichnungen für einen Lettner die Betonung ih-rer Funktion als Leseplatz gemeinsam ist (Schmelzer 2004, S. 11f.).Sie vermerkt allerdings die große Varianz der Bezeichnungen, dieihre ‚ungeplante‘, aus mehreren Vorläufern sich ableitende Form wi-derspiegle.

Dasselbe Paderborner Prozessionale enthält noch einen weiterenHinweis auf das Vorhandensein eines Lettners: Fol. 11v vermeldet,dass man zur Markusprozession durch große Türen des Chors in ge-teilter Weise Richtung Westen herunterstieg. Auch hier ist der Lett-

ner nicht ausdrücklich angesprochen, allerdings lässt sich die Be-schreibung per magnas ianuas chori (Abb. 3) nur so sinnvoll deuten.

Die Abschrift einer erstmals für 1223/25 belegten Gottesdienst-ordnung von 1646 enthält einen weiteren indirekten Hinweis aufden Lettner. Dort werden nämlich zum Fest der heiligen Agnes

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die für die Nordschranke schriftlich überlieferten sieben Bischofs-statuen ein, die möglicherweise in den Arkadenzwickeln auf figür-lich gestalteten Konsolen gestanden haben könnten. Mit hoherWahrscheinlichkeit kann die Position der ebenfalls überlieferten la-teinischen Inschrift bestimmt werden, deren Wortlaut sich auf dieBischofsstatuen respektive auf die Tugenden der ehrwürdigen Main-zer Metropoliten bezog. Drei Steinfragmente mit aufgemalten Buch-staben/-resten – eines davon ein Blendbogenscheitel – verweisenauf ein horizontal verlaufendes Inschriftenband oberhalb der Blen-darkaden (am Modell durch zwei Ritzlinien angedeutet).

Die Innenseiten der Chorschranken sind als steinernes Dorsaleausgebildet, d. h. als eine Gliederung, die dem dort aufgestelltenChorgestühl als prachtvolle Rückwand diente. Jedem Sitz im Chor-gestühl war eine zwischen zwei Säulen mit reichverzierten Laubka-pitellen eingespannte Blendarkadennische zugeordnet. Oberhalbder Arkadenreihe bildeten ein frei vor der Wand hängender Fries,der eine textile, mit Fransen besetzte Borte imitierte, sowie eine Rei-he als ‚Miniaturarchitekturen‘ gestalteter Baldachine die überauswürdevolle Bekrönung für die darunter sitzenden Domherren.Westlich des Chores stand in dem als Trikonchos erbauten Sanktua-rium der Hochaltar des Domes. Durch die Westausrichtung desMainzer Doms – eine gewollt unmissverständliche Anlehnung andie päpstliche Basilika in Rom – wandte der nach Osten zelebrie-rende Priester ganz entgegen des damals Üblichen sein Gesicht denim Chor sitzenden Stiftsherren zu. Erst nach dem Abbruch des Lett-ners wurde der Hochaltar weiter östlich an seine heutige Positionunter der Vierungskuppel versetzt und das Chorgestühl nach Wes-ten in den Trikonchos gerückt und somit das außergewöhnliche Ze-lebrieren versus populum aufgehoben. Diana Ecker

Literatur: Noack 1914; Neeb 1916; Peschlow-Kondermann 1972; von Winterfeld

1974; Ecker 2011; Ecker i. V.

86 Fragmente des gotischen Lettners des Paderborner Doms

Paderborn nach 1280, wohl erste Hälfte 14. Jahrhundert Hallenlettner auf rechteckigem GrundrissOsning-Sandstein, z. T. farbig gefasstPaderborn, Erzbischöfliches Diözesanmuseum und Domschatzkammer, Inv.-Nrn.sind nach der Auffindungszeit geordnet: 1924: Inv.-Nr. SK 67 1925: Inv.-Nrn. SK 266.1, SK 266.2, SK 267, SK 356, SK 718; KW 601, KW 648,Schlussstein verschollen ohne Inv.-Nr.Nach dem 2. Weltkrieg (?): Inv.-Nr. SK 7131978/79: Inv.-Nrn. SK 714, SK 716, SK 719; KW 609, KW 621, KW 1050–KW 10922018 konnten alle erhaltenen Teile des Lettners mit Mitteln der Kulturstiftungder Länder restauriert bzw. gereinigt werden.Eine Reihe von Fragmenten konnten nicht mehr aufgefunden werden, da siemöglicherweise nie in das Magazin des Museums kamen. Hier folgen dieNummern, die ihnen durch Börste bzw. Drescher in den jeweiligen Publika -tionen gegeben wurden: Börste-Nrn. 4–6, 16, 34–37a, 50–54, 57–60, 63, 64; Drescher-Nrn. 76–79, 81.

Lettner finden sich im Mittelalter in fast ganz Westeuropa mit Aus-nahme von Spanien und Süditalien. Das älteste dieser Bauwerke imdeutschsprachigen Raum ist der Naumburger Ostlettner aus der Zeitum 1230. Sie trennten seit der Zeit der Gotik in vielen Gotteshäuserndas Langhaus vom Chor und damit die Laien vom Klerus und warenStandort des zum Langhaus hin ausgerichteten Kreuzaltars. Darüberhinaus dienten sie als Ort für Lesungen und Chorgesänge.

Der Paderborner Lettner ist nicht erhalten, und es existiert auchkein schriftlicher zeitgenössischer Beleg für seine Errichtung. Die Da-tierung „nach 1280“ ist aus der Baugeschichte des Doms abgeleitet – indieser Zeit erfolgte die Vollendung des Baus mit der Anlage der Ost-querhausarme. Die Datierung „erste Hälfte 14. Jahrhundert“ wiederumbasiert auf der stilistischen Einordnung einiger erhaltener Fragmente.

SchriftquellenAls das Paderborner Domkapitel 1652 beschloss, eine Umgestaltungdes Doms im Stil des Barock in die Wege zu leiten, da betrafen diezunächst ins Auge zu fassenden Abrissarbeiten auch den gotischenLettner des Gotteshauses, welcher nicht nur den Beschlüssen desKonzils von Trient (1545–1563), sondern auch der neuen liturgi-schen Prachtentfaltung der Katholischen Reform im Wortsinne ent-gegenstand. Im Zuge der durch einen Architekten geplanten Um-bauten erhielt der gräfliche Maurermeister Hans Deger aus Rhadeneinen Vertrag, in welchem er das Toxsall sambt dreyen altaren vordem Chor mit besten Vortheill abbrechen, waß von hawensteinen da-ran für gut sein wieder zu dem: newen Werck gebrauchen sollte (Pa-derborn Kapselarchiv, Cap s. 66 „structura“ Nr. 29a, zit. nach Tack1947). Die Bezeichnung „Toxal“ als Begriff für den Lettner istSchmelzer (Schmelzer 2004, S. 11f.) zufolge besonders im Rheinland

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Abb. 2 | Prozessionale des Paderborner Doms, MK HS. B I,1, fol. 13v

Abb. 3 | Prozessionale des Paderborner Doms, MK HS. B I,1, fol. 11v

Abb. 4 | Konsole am westlichen Vierungspfeiler des Paderborner Doms

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Um zur Gotik-Ausstellung jedoch einen ungefähren Eindruckder Ausmaße bzw. der räumlichen Präsenz eines solchen Bauwerksvermitteln zu können, aber auch, um eine Grundlage für zukünftigeDiskussionen zu schaffen, wurde dennoch ein Rekonstruktionsver-such gewagt, der zum einen auf den Vorüberlegungen Alois Fuchs’und Norbert Börstes beruht und zum anderen neue technische Ent-wicklungen auf dem Gebiet der virtuellen Rekonstruktion (die mitder freundlichen Unterstützung der Firma Architectura Virtualis,Darmstadt angefertigt wurde) nutzte. Die besten Ergebnisse jedochkonnten in direkter Auseinandersetzung mit den Stücken erzieltwerden, und so ist den Restauratoren von ars colendi, Paderborndafür zu danken, dass sie diese Arbeit in der Art eines überdimen-sionalen Puzzles sowohl räumlich als auch logistisch und durch ihrelangjährige Erfahrung mit dem Material Stein und dessen baulicherAusformung ermöglichten.

Eckpunkte für eine RekonstruktionDie Abbildung (Abb. 6) zeigt einen Blick auf den mittleren oberenTeil des Lettners, wie er mit den originalen Fragmenten für die Aus-stellung rekonstruiert wurde. Wie bereits angedeutet, wird hier le-diglich versucht, eine erste Anschauung vom möglichen Aussehendes Bauwerks zu vermitteln. Insgesamt lassen sich nur vier Fixpunk-te für die Rekonstruktion anführen:

1. Der obere Abschluss des Lettners ist an den westlichen Vie-rungspfeilern durch die erwähnten Konsolen angedeutet. Der Resteiner solchen Konsole mit einem Löwenköpfchen fand sich übrigensauch unter den archäologischen Fragmenten im Bestand des Diöze-sanmuseums, die möglicherweise nach den Kriegszerstörungen andas Museum kamen (Kat.-Nr. 86, SK 713; freundlicher Hinweis vonChristoph Stiegemann).

2. Die ungefähre Breite des Lettners ergibt sich aus dem Abstandzwischen den westlichen Vierungspfeilern. Zusätzlich konnte Börste

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lumina ante chorum ut vocat Apostolorum erwähnt (Abb. Kat.-Nr.87). Die dort so genannten Apostellichter spielen auf den Figuren-schmuck des Lettners an: Im nachmittelalterlichen Westfalen wur-den Lettner zuweilen als ‚Apostelgang‘ bezeichnet, weil sie oft Welt-gerichtsdarstellungen des wiederkehrenden Christus, begleitet vonAposteln als Beisitzern, zeigten. Auf den Apostelgängen wurdenKerzen – die Apostellichter – aufgestellt. Einen weiteren Beleg fürPaderborn enthält schließlich eine Urkunde des Domkapitels vom27. Oktober 1484 über eine Kerzenstiftung des Paderborner Dom-vikars Lappe to den apostel lechten vor up der muren an unse kore(AV PB, Sign. 1484.1027). Deren Rückseite präzisiert in lateinischerSprache ad luminaria super murum ante chorum sowie ad apostolo-rum luminaria in doxali ecclesiae (vgl. Stöwer 1994, S. 372f., Nr. 785).

Ein einziges Bauteil des Lettners im Paderborner Dom hat die Zeit-läufte unbeschadet und an seinem ursprünglichen Ort überstanden:Es handelt sich um die jeweils an den Innenseiten der östlichen Vie-rungspfeiler bis heute sichtbaren Zierkonsolen, bis zu deren Höhesich der Lettner einst erstreckte (Abb. 4).

FundgeschichteDass Meister Deger sich im 17. Jahrhundert an die Anweisungen sei-nes Abrissvertrages gehalten hat, wurde offenbar, als man im Ostendes Gotteshauses während der Domrestaurierungen der Jahre1978/79 zahlreiche Fragmente gotischer Architektur in den zu entfer-

nenden barocken Chorwangen antraf. Bereits 1924 beim Abbau desGrabmals Dietrich Adolfs von der Reckes († 1661) war eine erste Sitz-statue ohne Kopf in der Vermauerung der Sargkammer hinter derChormauer gefunden worden (Fuchs 1936b, S. 231). Sodann bargman bei der Anlage der Kryptenorgel 1925 Reste von Skulptur undBauzier, als man in der Vierung den Boden um ca. dreißig Zentimeterabsenkte, um im Langhaus die Sicht auf den Chor zu verbessern.Fuchs hat die Fragmente der Bauuntersuchungen 1924/25 – unterHinweis auf die erwähnten Schriftquellen zu den Apostellichtern –bereits dem Lettner zugewiesen und sie in das 14. Jahrhundert datiert.Die nun 1978/79 aufgefundenen Fragmente – die deutliche Spurender Abbrucharbeiten (Abb. 5) und auch Mörtelreste tragen – sowieAnsätze von Befunden wurden von Norbert Börste dokumentiert. InUmzeichnungen sind alle damals ans Licht gekommenen und vonihm mit dem Lettner in Zusammenhang gebrachten Funde in seinerDissertation vermaßt und publiziert worden (Börste 1986a). Aus denbarocken Chorwangen scheinen allerdings noch weitere Fragmentegeborgen worden zu sein, die aber von Börste nicht dem Toxall zuge-wiesen wurden und daher in der Dissertation nicht auftauchen.

Aus den aufgefundenen Fragmenten den Lettner wieder rekon-struieren zu wollen, ist eigentlich nicht möglich. Zu vereinzelt undvieldeutig sind die überlieferten Reste, unter denen sich ebensoÜberbleibsel der eher dem 13. Jahrhundert angehörenden architek-tonischen Gliederung mit Durchgängen, Anläufen, Kapitellen sowieBasen finden, wie Skulpturen- und Relieffragmente, die möglicher-weise eher dem 14. Jahrhundert zuzuweisen sind.

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Abb. 5 | Rückseite von Inv.-Nr. SK 716 mit Werkzeugspuren

Abb. 6 | Mittlerer oberer Teil des Lettners des Paderborner Doms (Zwischenstand der Rekonstruktion)

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vor dem südwestlichen Vierungsfeiler die Grundmauer der südli-chen Seitenwand des Lettners fotografieren (Abb. 7). Sie schließtwohl mit ihrer östlichen Schmalseite nördlich des mittleren Pfeiler-dienstes an die Westseite des Pfeilers an. Darüber hinaus konnte ereinen Treppenaufgang dokumentieren, der möglicherweise in goti-scher Zeit zur Vierung führte (Abb. 8).

3. Der Lettner besaß wohl im mittleren Bereich der Brüstung einen Blendpass, analog zu Lettnern des 13. Jahrhunderts, wie sieetwa in Naumburg erhalten sind. In Paderborn konnte dieser alszentraler Fünfpass (möglicherweise auch als Sechspass; es existiertnoch ein weiteres Fragment [KW 1072], dessen Einbindung jedochunsicher ist) rekonstruiert werden (Abb. 6). Er gibt seinerseits einIndiz für die Höhe der Brüstung. Oberes und unteres Gesims – vondenen sich zahlreiche Fragmente in Maurermeister Degers Bau-schutt fanden – schaffen, wenn man sie an den Fünfpass so anlegt,dass ihre Ober- bzw. Unterkante jeweils die Ober- und Unterkantedes Fünfpasses aufnehmen, recht optimal Platz für die in den Bau-untersuchungen der 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts überliefertenApostelfiguren (Fuchs 1936b) (Kat.-Nr 86, SK 67 und SK 356). Einweiteres Apostel-Gewandsaum-Fragment kam 1978/79 in den ba-rocken Chorschranken zum Vorschein. Bereits Fuchs datierte ‚seine‘Apostel ins 14. Jahrhundert. Stephan Albrecht ist für eine mündlicheBestätigung zu danken: Er schlägt eine Verortung der farbig gefass-ten Apostel ins westfälisch-niederländisch–burgundische Umfelddes 14. Jahrhunderts vor. Die Skulpturen haben zwar ihre Köpfe ver-loren, jedoch sind, Albrecht zufolge, vor allem die weichen, aufge-rollten Faltentüten und die Diagonalfalten sprechendes Indiz für diezeitliche Einordnung. In der Baugrube von 1925 fanden sich darü-ber hinaus auch zwei Köpfe (Kat.-Nr. 86, SK 266.1 und 2), die von

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Kat.-Nr. 86, SK 713: Rest einer Pfeilerkonsole mit der Darstellung eines Löwenköpfchens

Abb. 7 | Foto der Grundmauer der südlichen Seitenwand des Lettners während derAbbauarbeiten der barocken Chorschranken

Abb. 8 | Oben: Foto der Reste der Treppenanlage zum Chor während der Abbauarbeiten der barocken Chorschranken; unten: Treppenaufgang zum Chornach Abschluss der Renovierungsarbeiten. An der Wand hinter der heutigen Treppe sind die Stufen der ursprünglichen Anlage hervorgehoben

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Dombrand von 1340, vermutlich aber auch bereits zuvor in freierKombination in zwei Registern seitlich des großen Fensters einge-baut. Dort zeigt sie bereits die älteste Domansicht von Süden, einKupferstich in der Huldigungsschrift der Jesuiten auf FürstbischofDietrich Adolf von der Recke (amt. 1651–1661) von 1652. Im Zugedieser Maßnahme dürften auch die alttestamentliche Figur des Kö-nigs David und ihr Pendant in die Nischen der Strebepfeiler vor derQuerhausstirn gelangt sein. Die eher bescheidene Qualität derSkulptur wird unmittelbar deutlich, wenn man sie etwa mit der zeit-gleich entstandenen, körperhaft in den Raum entwickelten Sitzfigurdes Harfe spielenden David an einem der Westpfeiler des FreiburgerMünster vergleicht. Nichtsdestotrotz belegt die Skulptur, dass mansich mit dem geplanten anspruchsvollen Figurenprogramm in Pa-derborn durchaus auf der Höhe der Zeit befand.

Christoph StiegemannLiteratur: BKW Kreis Paderborn 1899, S. 89–104, Taf. 48; Panofsky 1924, S. 161,

Taf. 100; Tack 1959; Brockhoff 1982, S. 153f.; Bauer/Hohmann 1987, S. 174, Abb. 66

90b Gekrönte Heilige (Königin von Saba?)Westfalen, um 1270/80Sandstein – Sitzfigur im Hochrelief mit leichter Wendung des Kopfes nachrechts; die gesamte Frontpartie großflächig überformt; der angewinkelte linke Arm der Figur erneuert; große Ausbrüche in den Wangenpartien desKopfes; die Figur befand sich in der Nische des östlichen Strebepfeilers dessüdöstlichen Querhausarms, wurde wie ihr Gegenüber (Kat.-Nr. 90a) 1982 indie Sammlung des Diözesanmuseums übernommen und am Standort durcheine Kopie ersetzt – Figur H. 92 cm; Block H. 93 cm; Thron B. 32 cm, Kniepar-tie B. 27 cm; T. (Sitztiefe) 19 cmPaderborn, Hoher Dom St. Marien, St. Liborius und St. Kilian (als Dauerleih -gabe Paderborn, Erzbischöfliches Diözesanmuseum und Domschatzkammer,Inv.-Nr. SK 501)Die Skulptur wurde 2018 mit Mitteln der Kulturstiftung der Länder gereinigtund restauriert.

Die gekrönte weibliche Gewandfigur in Frontalansicht sitzt in auf-rechter Haltung auf einem Thron. Die rechte Seite mit dem von ei-nem Knauf verzierten vorderen Pfosten des Thrones gibt noch dieursprüngliche Begrenzung des Reliefs an, während die linke Seitegrob abgespitzt wurde. Hier befand sich offenbar eine weitere Figur,von der noch Reste von Gewandteilen zu erkennen sind. Die weib-liche Heilige trägt über ihrem Untergewand einen weiten, in sche-matisch geschnittenen Schüsselfalten vor dem Leib herabfallendenMantel, der auch um den Kopf herumgezogen ist. Die gesamteFrontpartie der Figur wurde offenbar nachträglich grob überformt.Auf dem Haupt trägt sie eine Lilienkrone; in der rechten Hand hältsie ein Buch mit drei Schließen. Der linke angewinkelte Unterarmist nur noch rumpfartig vorhanden, die Hand völlig entstellt.

Die gekrönte weibliche Sitzfigur wird in der Literatur gewöhn-lich als Königin von Saba gedeutet. In der französischen Kathedral -

skulptur gibt es zahlreiche höchst qualitätvolle Beispiele dieses The-mas, so etwa in den Portalprogrammen von Chartres, Paris oderReims; zumeist wird die Königin von Saba dort allerdings als ste-hende, verführerische Schöne im modischen Gewand dargestellt,mit Szepter und gelöstem Haar. Einen Nimbus zeigt die Königin vonSaba gewöhnlich nicht. Der Deutung als alttestamentliche Gestaltsteht bei der Paderborner Relieffigur der mit Palmetten belegteNimbus entgegen, der sie als Heilige ausweist. Wie ihr Pendant(Kat.-Nr. 90a) dürfte auch diese Skulptur – wie der Stilbefund zeigt– gegen 1270/80 entstanden sein und zum umfangreichen Figuren-programm eines weiteren Figurenportals am Paderborner Dom ge-hört haben, das nie zur Ausführung gelangte und dessen Teile mandeshalb wohl bereits kurz nach ihrer Entstehung als Schmuck derStirnwand des südöstlichen Querhausarmes verwandt hat.

Christoph StiegemannLiteratur: Panofsky 1924, S. 161, Taf. 100; Tack 1959; Bauer/Hohmann 1987, S. 48f.,

S. 174

91a–c Drei Fragmente vom Lettner der Stiftskirche St. Servatius in Maastricht

Rheinisch (?)/französisch (?), um 1300

a) Taufe des Attila

Limburger Mergel – H. 107 cm; B. 40–50 cm; T. 25 cm

b) Schlafender Servatius

Limburger Mergel – H. 96 cm; B. 62 cm; T. 27 cm

c) Zwei Spitzbogenfragmente mit zugehörigemZwickelfeld mit Engel

Limburger Mergel – Gesamtmaße: H. 77 cm; B. 88 cm; T. 15–21 cm; Engel: H. 33 cm, B. 44 cm, T. 20 cm

Maastricht, Stichting Schatkamer Sint Servaas, Inv.-Nr. SSS0259

Unmittelbar nach dem Tod des 384 bei Maastricht gestorbenen Ser-vatius, Bischof von Tongern, errichtete man über dessen Grab eineGedächtniskapelle, die sich schon bald zu einem beliebten Wall-fahrtsort entwickelte. Die zunehmende Verehrung des heiligen Bi-schofs, die seiner Begräbniskirche einen immer größeren Zustroman Pilgern bescherte, machte schon im 6. Jahrhundert und erneutzu Beginn des 11. Jahrhunderts einen Neubau notwendig (Weihe1039). Im 12. Jahrhundert war die Kirche mit dem Bau der Ostapsis

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90b

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91b91a

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den Armen in Münster durchgängig mit Filigranranken, welche hiermit Metallblättchen und Blüten bereichert sind, und mit Glassteinenbesetzt sind. Letztere sind jeweils in Fünfergruppen angeordnet undweisen an den unteren Borten jeweils zwei blaue Alsen-Gemmenauf. Durch die Blattornamentik der Stanzstreifen an der senkrechtenSeitennaht verbinden sich die Armreliquiare zudem mit der Thro-nenden Madonna aus dem Hochaltarschatz des Domes zu Münster.Diese und weitere Werke, etwa ein thronender heiligen Papst in St.Johann in Osnabrück, verbindet die Reliquare über Stanzstreifenmit Rankenornamentik, aber auch figürlichen, mittels Matrizen her-gestellter Darstellungen und vielfältigen technischen und stilisti-schen Details mit einer größeren Gruppe von Goldschmiedearbei-ten, deren unbestrittenes Hauptwerk der Prudentia-Schrein (um1230/1240) in St. Stephanus und Sebastian in Beckum ist. Mit gutenGründen wird diese produktive Werkstatt nach Osnabrück lokali-siert. Ihre Formensprache greift vielfach Gestaltungsideen dermaasländischen Goldschmiedekunst des frühen 13. Jahrhundertsaus dem Umkreis des Hugo d’Oignies auf. Ihre Stilformen sind nochweitgehend spätromanisch, doch finden sich bei der Figurengestal-tung, etwa bei der genannten Thronenden Madonna im münster-schen Domschatz, auch bereits Reflexe frühgotischer Gestaltungs-ideen französischer Prägung. Damit gehört die ‚Osnabrücker Werk-statt‘ zu den frühesten in Westfalen tätigen Goldschmiedewerkstät-ten, die frühgotische Ideen aufgreifen und anwenden.

Holger KempkensLiteratur: Pieper 1981, Nrn. 41–42; Jászai 1991, S. 76f., Nrn. 37, 38; Junghans

2002, S. 152–155, Nr. 25–26; Kat. Münster 2012, Kat.-Nr. 53 (Hildegard Schäfer)

114 Sog. Blasius-ReliquiarWestfalen/Niedersachsen, 3. Viertel 13. Jahrhundert, Inschrift Mitte 14. Jahr-hundert, Krone MZ „IH“ (Johannes Hübner), BZ Augsburg, 1767/69Büste: Silber, in zwei Teilen (Büste und Kalotte) getrieben, teilweise vergol-det, Bodenplatte erneuert – Restaurierung 1976 durch den Paderborner Goldschmied Walther Cohausz – Krone: Silber, getrieben, punziert, teilweisevergoldet – Büste H. 38,8 cm; B. 25,7 cm; T. 17,5 cm – Krone H. 10 cm; Dm. 25 cmPaderborn, Katholische Kirchengemeinde St. Liborius (Busdorf), ohne Inv.-Nr.

Das im Paderborner Volksmund sog. Blasius-Reliquiar zeigt eine vonklaren Volumina geprägte und sparsam mit dekorativem Besatz aus-gestattete weibliche Büste. Frontalität im Aufbau und Ebenmäßigkeitin der Physiognomie bestimmen die Form. Neun nebeneinander an-geordnete und straff fallende Strähnenbündel charakterisieren dasHinterhaupt, während die beiden Strähnen zu den Seiten die Ohrenverdecken, in sich leicht gewellt und an den Spitzen eingedreht. DieHaare rahmen das Gesicht, schmiegen sich an Hals und Schulternund fügen sich ganz der Kontur der schmalen Büste ein. Das engan-liegende Kleid ist am Ausschnitt mit einer Bordüre aus stilisiertem,zu regelmäßigen Mustern zusammengefügtem Rankenwerk verziert.

Die Vergoldung der Büste beschränkt sich auf ausgewählte Par-tien. So sind lediglich die Haarsträhnen, der Saum des Halsaus-schnitts und das umlaufende Sockelband mit Inschrift, das den fes-ten Stand der Büste garantiert, feuervergoldet. Die wohl erst ca. 100Jahre nach der Entstehung montierte Inschrift nennt in gotischenFrakturbuchstaben die im Innern verwahrten Reliquien: das Haupteiner der elftausend Jungfrauen und weitere Partikel der HeiligenAndreas, Christophorus, Sebastian, Blasius, der heiligen JungfrauFelicula, des Königs Wedekind, des heiligen Nikolaus sowie Herren-reliquien von Kreuz und Grab Christi und von Aarons Stab. Denverbleibenden Raum zwischen Anfang und Ende der Inschrift fülltein gravierter zähnefletschender Drache inmitten von Rankenwerk,der in ähnlicher Form auch den Amiktkragen der gotischen Reli-quienstatuette des heiligen Kilian im Paderborner Domschatzschmückt.

Falk bezeichnet die sog. Blasiusbüste als „Büstenreliquiar einerder 11.000 Jungfrauen aus dem Gefolge der H. Ursula“. In der In-schrift am Büstenrand ist ein direkter Bezug gegeben: Hier wirdgleich als erstes ein caput. i. undeci[m] mill[ium]. v[ir]ginum ge-nannt. Es liegt nahe, dass damit auf den ursprünglichen, bedeuten-den Inhalt des Reliquiars Bezug genommen wird. Ob die Büste in

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Abb. 15 | Sog. Blasius-Reliquiar im ehemaligen Zustand ohne Krone

113a 113b

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der ersten Phase des Reliquiars allein die Schädelreliquie einer derGefährtinnen der heiligen Ursula aufbewahrte oder bereits die inder später hinzugefügten Inschrift genannten weiteren Heiltümerum sich versammelt hatte, ist nicht belegt.

In der jüngeren schriftlichen Überlieferung wird das Reliquiar als„Blasiusbüste“ bezeichnet. Zeugnis davon gibt das auf 1654 datierteProtokoll einer Visitation durch Fürstbischof Dietrich Adolf von derRecke. Das Schriftstück dokumentiert die Überprüfung des Reliquien-besitzes der Paderborner Busdorfkirche und nennt dabei ausdrücklichdas silberne Kopfreliquiar des hl. Blasius. Bis zum heutigen Tag wird amNamensfest des Heiligen, am 3. Februar, die Büste in der PaderbornerBusdorfkirche zur Erteilung des Blasiussegens eingesetzt.

In den 1760er-Jahren fertigte der Augsburger Goldschmied Jo-hannes Hübner für die Reliquienbüste eine Krone in aufwendigerTreibarbeit. Sie ist auf der Vorderseite mit Mitra und Stab ge-schmückt, dürfte dementsprechend die fromme Stiftung eines ho-hen geistlichen Würdenträgers gewesen sein und belegt die überJahrhunderte hinweg erfolgte Wertschätzung des Büstenreliquiarsim Kollegiatsstift Busdorf.

Seit der Restaurierung 1976 ist die Krone in der bewegten For-mensprache des Rokoko fest auf der Büste montiert, wodurch dasklare mittelalterliche Erscheinungsbild des Reliquiars beträchtlichverändert wurde. Ein frühes Fotodokument (BKW Kreis Paderborn1899) (Abb. 15) zeigt die Goldschmiedearbeit noch in hochmittel-alterlicher Tradition mit einem schlichten Reif, der technisch undin ästhetischer Hinsicht den Übergang zwischen Kopf und Kalottekaschierte, zugleich aber auch ikonografisch als Attribut der Jung-fräulichkeit der Dargestellten angesehen werden kann. Der Reifwurde im Zuge der Restaurierung als spätere Ergänzung angesehenund entfernt. Ursula Pütz

Literatur: BKW Kreis Paderborn 1899, S. 124, Taf. 94; Kat. Münster 1930, Kat.-

Nr. 41; A. Fuchs 1936d, S. 94 mit Abb.; Kat. Corvey 1966, Kat.-Nr. 302; Heppe

1977, S. 26f., Nr. 275; Kat. Unna/Paderborn 1978, Kat.-Nr. 98, Abb. 43; Brandt/

Hengst 1986b, S. 81f., S. 257, Abb. 76; Falk 1993, S. 106, Kat.-Nr. 42; Kat. Pader-

born 1994, S. 26f., Kat.-Nr. 1.2 mit Abb. (Ursula Pütz)

115 St. Anna-TrägerreliquiarTrier, 1. Hälfte 14. JahrhundertKupfer, vergoldet, Bergkristall, Knochen, Textil, Stein- oder Glasbesatz, Guss,Steinschliff, Montagen – möglicherweise Steinbesatz ergänzt, auf der Unter-seite der Trägerplatte sind zwei Restaurierungsnotizen eingeritzt: renovirtpar C. Felsenhart le 1=er Juni 1842 und restauriert v. Henneberger 1984; keinStifterwappen o. ä. – H. 21 cm; B. 26 cm; T. 21,5 cmTrier, Hohe Domkirche Trier – Domschatz, Inv.-Nr. 0021

Das kleine Reliquiar in Form eines Reliquienschreins wird von vierTrägerfiguren geschultert, die ihrerseits auf einer Sockelplatte überLöwenfiguren stehen. Der Aufbau des eigentlichen Reliquiars ist

durch den schreinförmig geschliffenen und ausgehöhlten Bergkris-tall bestimmt, durch den die darin liegende Reliquie auf Textilgrundsichtbar ist. Dieser Bergkristall wird von einer kastenförmigen Um-randung und seitlichen Giebelelementen umfasst. Zierarkaden mitWimpergen, Maßwerk und Fialen bilden die Außengliederung die-ses Metallkästchens in Anlehnung an die Formen gebauter Archi-tektur. Die unter diese Arkadengliederung eingestellten Relieffigür-chen sind in schlichter, bewegter Ausrichtung szenisch aufgefasstund verweisen in Größe und Modus auf das eigentlich zugrundelie-gende ‚Modell‘ dieser Miniatur: Dargestellt ist nicht ein verkleiner-ter Kirchenbau, sondern ein Reliquienschrein en miniature, der sei-nerseits aber die Formen der gotischen Großbauten aufgreift.

Die Proportionen der Trägerfiguren in langen Gewändern (un-gegürtete Talartuniken) lassen den Schrein wiederum monumentalwirken. Die Trägerfiguren sind einander paarweise gegenständig zu-geordnet, sodass der Schrein nicht eigentlich in einer bewegten Pro-zession, sondern als erhobenes Objekt statisch präsentiert wird. For-mal wird das Reliquiar dadurch szenisch überhöht: Der Moment derZurschaustellung selbst wird skulptural umgesetzt. Dieser Präsen-tationsform entspricht die nochmalige Aufsockelung des Ensemblesdurch eine kräftigere, profilierte Bodenplatte über liegenden Löwen-figuren.

Der hier thematisierte Präsentationsakt zog etwa bei den Heil-tumsschauen in Aachen bereits seit dem 13. Jahrhundert zahlreichePilger an. Vor allem aber gehörte das Mittragen von Reliquiaren undgroßen Reliquienschreinen traditionell zum kultischen Geschehenbedeutender Verehrungszentren. Die Abläufe solcher Prozessionenmit Gesängen und spezifischen Prozessionsresponsorien zu be-stimmten Festtagen sind heute zwar lokal noch in reduzierter Formzu fassen, so auch beim Paderborner Liborifest, vor allem aber sindsie durch Schriftzeugnisse überliefert, wie etwa das PaderbornerProzessionale, belegt (Kat.-Nr. 116). Zahlreiche Schriftquellen be-richten aber auch von tumultartigem Pilgeraufkommen bei Zur-schaustellung oder Prozessionen vor allem im Zusammenhang mitWundergeschehen, die dem jeweiligen Schreinheiligen zugeschrie-ben wurden. Dieses außerliturgische Geschehen konnte also bei derGestaltung und bei der Präsentation dieses Schatzstückes als Kon-notation mitgedacht werden: die kultische Verehrungspraxis, dieGesänge, der Weihrauch sowie der Goldglanz der äußeren Hülle.

Die Sichtbarkeit der Reliquie durch einen Bergkristall hindurchist zur Entstehungszeit des Reliquiars kein Novum mehr; in dieserHinsicht steht das Reliquiar formal in der Tradition zahlreicher hohlgeschliffener Bergkristalle mit wertvoller Metallfassung.

Insgesamt sind ‚schreinchenförmige‘ Reliquiare sehr häufig ausdem Mittelalter erhalten (J. Braun 1940, S. 165), gerade in diesemkleinen, transportablen Format. Die aufwendige Inszenierung diesesSchreinchens mit Trägerfiguren dagegen ist seltener überliefert. Ei-ne ähnliche Präsentationsform zeigt das von Engelfiguren getrageneLudwigsreliquiar (um 1300), das wohl über König Philipp IV. (reg.1285–1314) nach S. Domenico in Bologna gelangte oder das sog.Karlsreliquiar aus dem 14. Jahrhundert im Aachener Domschatz.

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116 Das Paderborner ProzessionaleAus dem Paderborner Dom, mit jüngeren Nachträgen, 14. Jahrhundert (nach1389)Pergament; alter Einband mit zwei Schließen – H. 24 cm; B. 18,3 cm; 38 Bll.Paderborn, Erzbistumsarchiv, Handschriften des Metropolitankapitels, HS. B I,1

Das Paderborner Prozessionale beinhaltet ein vollständiges Kalen-darium des Kirchenjahres, das Anweisungen für Prozessionen ent-hält. Für die Prozession am Festtag des heiligen Liborius im Domist vorgesehen, mit den Reliquien des Heiligen durch den Kreuzgangund den Friedhof (per porticum et cimiterium) zu ziehen und „imunteren Chor“ (in inferiori choro) die Antiphon Sancte Libori anzu-stimmen. Abschließend wird im Prozessionale eine Oration über-liefert, die den heiligen Liborius als Vorbild eines christlichen Le-bens und Fürsprecher im Himmel bezeichnet. In diesem Zusam-menhang ist auch eine Figur des heiligen Liborius aus jener Zeit be-merkenswert, in deren Brust hinter einem Kristall eine Reliquie auf-bewahrt wird. Die Figur des jugendlich dargestellten Heiligen be-findet sich heute im Domschatz des Erzbischöflichen Diözesanmu-seums Paderborn und könnte ursprünglich bei der erwähnten Pro-zession mitgeführt worden sein.

Für die Liturgiegeschichte des Paderborner Domes ist das Pro-zessionale von besonderer Bedeutung, da sich hier – neben einzel-

nen liturgischen Abläufen einer mittelalterlichen ‚Liturgie in Bewe-gung‘ – wichtige Hinweise auf den Lettner und den damit in Zusam-menhang stehenden Kreuzaltar finden. Dieser ist auf fol. 9v expliziterwähnt (vgl. die Bezeichnung ante altare S. Crucis in den beidennachfolgenden Zitaten): Item in medio ecclesi(a)e maioris in rever-sione (processionis ab Abdinghoff vel ab Bustorp) finita antiphona: Tur-ba multa sequitur versus per celebrantem ante altare S. Crucis (…) (zit.nach Börste 1986b, S. 296).

Ähnlich heißt es auf fol. 11v: Et itur (a processione) ad mediumecclesi(a)e et celebrans cum ministris et vexillis stent ante altare S. Crucis (…).

Wie an vielen anderen Orten hatte der Kreuzaltar auch im Pa-derborner Dom eine zentrale Stellung in der Mitte des Kirchenrau-mes. Zumeist war dieser Altar durch ein mit ihm korrespondieren-des Triumphkreuz hervorgehoben, das entweder im Triumphbogenhängend oder auf einem Balken stehend angebracht war.

Hinter dieser Anordnung folgte als eigentliche Trennung zwi-schen dem Kirchenraum der Laien und dem Hochchor, der denKlerikern vorbehalten war, der Lettner. In der vorliegenden Hand-schrift werden auf fol. 11v zwei große Pforten des Lettners genannt,die man beim Hinabsteigen der Treppen vom Chor nach Westendurchschritt: Descenditur per magnas ianuas chori versus occiden-tem. Nach der Auskunft der Handschrift teilte sich der Zug beimHinabstieg auf zwei Treppen auf. Ein direkter Hinweis auf den Lett-

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Das Vergleichsstück in New York (Metropolitan Museum, Acc. No.17.190.813) wurde dagegen inzwischen als Fälschung oder Nach-schaffung des frühen 19. Jahrhunderts erkannt (Sutton/Hall-Dun-can/Newman/Martin 2007, Nr. 10, S. 10, S. 54f.).

Das Trierer Schatzstück wurde sicherlich nur zu ausgewähltenZeiten sichtbar präsentiert und war ansonsten in einer Schatzkammerverschlossen. Die liegenden Löwenfiguren, die ebenso wie Drachenoder andere Fabelwesen häufiger als Träger repräsentativer Schatz-stücke zu finden sind, sprechen dafür, dass das Objekt nicht vorrangigselber auf Prozessionen getragen wurde, sondern eher an den entspre-chenden Festtagen auf einem Altar zur Verehrung ausgestellt war.

Reliquien der heiligen Anna, apokryphen Schriften zufolge dieMutter Mariens, wurden auch in Trier verehrt und öffentlich gezeigt(Beissel 1889, S. 128). Sie befanden sich später in einem 1531 durchChristoph von Rheineck († 1535) gestifteten Armreliquiar, das im18. Jahrhundert veräußert wurde (Fuchs 2012, S. 113). Die Herkunftdes Reliquiars aus dem alten Bestand des Trierer Domschatzes istnicht belegt, da es im 1794 angefertigten Verzeichnis nicht identifizier-bar ist (Trier, Bistumsarchiv, Abt. 91, Nr. 265). Möglicherweise wurdees erst im 19. Jahrhundert für die wiedererlangten Reliquien aus dem

Armreliquiar erworben. 1895 wurde in Trier nach dem Vorbild diesesReliquiars ein neues Reliquiar für die Kettenglieder des heiligen Pe-trus geschaffen (Kat. Trier 1984, Kat.-Nr. 279 [Franz J. Ronig]).

Die ausgeprägten gotischen Zierformen der Schreinarchitek-tur finden sich zurückhaltend auch bei den westfälisch-nieder-sächsischen Schreinen des heiligen Patroklus (Soest/Berlin) oderder heiligen Cordula (Osnabrück). Deutlicher zeigen sich dieseTendenzen aber im französischen Bereich wie bei dem etwas älte-ren, nur noch fragmentarisch erhaltenen Gertrudenschrein ausNivelles (siehe Kat.-Nr. 144). Die Zierformen dieses Schreinchensspiegelten also zu seiner Entstehungszeit ein relativ ‚zeitgenössi-sches‘ Formenrepertoire. Ebenso können Kleidung und Haartrachtder Trägerfiguren durchaus auf die übliche Tradition des Personalsbei Schreinprozessionen zurückgehen.

Dorothee Kemper, Kirstin MannhardtQuellen: Trier, Bistumsarchiv: Verzeichnis 1794

Literatur: Beissel 1889; Irsch 1931, S. 354; Braun 1940, S. 177; Hahnloser 1972b;

Lüdke 1983, Bd. 2, Nr. 269; Kat. Trier 1984, Kat.-Nr. 93 (Franz J. Ronig); Hahn-

loser/Brugger-Koch 1985; Kratzke/Albrecht 2008a, S. 148; Sutton/Hall-Duncan/

Newman/Martin 2007; Fuchs 2012, S. 113

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116fol. 13v -14r

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Steinchen, auf dem der Engel Gabriel bei der Verkündigung gestan-den haben soll, ein Perlenkettchen, Reste der Heiligen Crispinusund Crispianus, des heiligen Petrus, des heiligen Ewald (des Schwar-zen), der heiligen Ursula, des heiligen Eustachius und der heiligenWalburgis. Der Reliquieninhalt weicht von dem im 14. Jahrhundertverzeichneten Stücken ab (Hornjak 1990, S. 35).

Die Reliquien wurden von Marcsvidis, der Gründerin des StiftesSchildesche (gegründet 939) von einer Romreise mitgebracht, da-runter auch die des Stiftspatrons Johannes des Täufers. Aus derzweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ist ein Reliquienverzeichnis er-halten (BKW Stadt Minden 1998, S. 1010). Der Schrein galt seit

1825 als verschollen (von Ledebur 1934, S. 136); er wurde wohl nachAufhebung des Stiftes an den Mindener Dom geschenkt (Kat.Münster 1879). Eine Replik des Schreins steht heute in der katholi-schen Pfarrkirche in Schildesche. Dorothee Kemper

Literatur: Kat. Münster 1879, Kat.-Nr. 1260–1261, S. 96f.; BKW Kreis Minden

1902, S. 74 Taf. 34; von Ledebur 1934, S. 136; Leo/Gelderblom 1961, Nr. 17; Dehio

1969, S. 42; Kötzsche 1978, S. 168f., S. 371; Kessemeier/Luckhardt 1982, S. 17,

S. 20, S. 48f., Verz.-Nr. 19; Kaib 1989; Hornjak 1990; Garg 1991, Kat.-Nr. 48;

Schnell 1991, S. 105; BKW Stadt Minden 1998, Kat.-Nr. 77, S. 1007–1010 (Anna

Beatriz Chadour-Sampson); Löer 2004, S. 96f.

V. E C C L E S I A N OSTRA PAD ERBORNENS I S – K I R CH ENAUSSTAT TUNG UND L I T URG I E 641

ner wird auf fol. 13v gegeben, wo es heißt: Cantent iuvenes in testu-dine ecclesiae antiphonam (…). Bei der Angabe in testudine ecclesiaehandelt es sich um eine Bezeichnung für den mit Wölbungen verse-henen Lettner vor dem Chor, wie auch aus anderen Quellen hervor-geht (vgl. Rieder 1902, S. m6). In anderen Quellen wird beispielswei-se der Ort der Lettneraltäre sub testudine erwähnt. Stefan Kopp

Literatur: Rieder 1902; Börste 1986b; de Vry 1997, S. 28f., S. 317, Nr. 95; Schmel-

zer 2004; Börste 2018b

117 Reliquienschrein aus Stift SchildescheWestfalen (Bielefeld?), um 1330/40Eichenholz, geschnitzt, Farbfassung, Eisen – H. 76 cm; B. 94,5 cm; T. 47,5 cmMinden, Katholische Pfarrei St. Gorgonius und Petrus Ap. (Domschatz), ohneInv.-Nr.

Der hausförmige Reliquienschrein aus Eichenholz steht auf vierDoppelstützen und ist umlaufend mit flachen Relieffiguren unterspitzbogigen Arkaturen verziert. Zusätzlich sind die Traufzonen undder Giebel mit à jour geschnitztem Krabbenmaßwerk verziert, dieobere Dachzone trägt aufgelegte Vierpassreihen, die Eckstützen zurBodenplatte sind später ergänzt. Lediglich die applizierten Figuren-gruppen in den beiden Giebelfeldern bleiben ohne separate archi-tektonische Rahmung, sind aber durch die ausgreifenden Kreuzblu-men des Dachkamms bekrönt. Prägend für den Gesamteindruck istdie erneuerte Farbfassung: Alle Hintergründe mit Ausnahme der al-ternierend rot gefüllten Vierpassmotive sind blau, die architektoni-schen Elemente goldbraun, die eingestellten Figuren tragen goldfar-bene Gewänder, Kronen und Attribute, das Inkarnat und attributiveTeilbereiche heben sich farbig bzw. weiß ab.

Mehrere Restaurierungsrechnungen von Goldkuhle 1884–1886beschreiben: „die alten dicken Oel und Lackfarbe“ entfernt, Maß-werk und Ornamente „nachgeschnitten, 3 neue Gallerien 2 Kreuz-blumen, einen Boden, Undersätze und 2 Tragstangen dazu ge-macht“, außerdem „2 ganz fehlende Figuren dazu neu gemacht(Anm. der Autorin: der rechte Engel und die rechte Äbtissin derChristusseite), die schadhaften restaurirt und ein neues Schloß undBeschlag dazu gemacht“. Die vergoldeten Bereiche nachgespachteltund geschliffen, die Oberfläche lackiert „und das Ganze reich poly-chromirt und mit Doppelgold vergoldet“ (zit. nach BKW Stadt Min-den 1998, S. 1007).

Die Figuren stellen auf den Wandungen der Langseiten jeweilssechs Aposteln dar, zum Teil mit ihren Attributen, an den Dachflä-chen auf der einen Langseite die Klugen Jungfrauen mit Kronen undbrennenden Lampen, angeführt von der personifizierten Kirche(‚Ecclesia‘) mit Krone, Kreuzstab und Kelch, und auf der anderendie Törichten Jungfrauen mit erloschenen Lampen und herabfallen-den Kronen; diese Reihe wird angeführt von ‚Synagoga‘, die einengebrochenen Fahnenstab und einen Bockskopf (Teufelssymbol)

trägt. Auf dieser Dachfläche liegt eine Öffnungsklappe, hinter dereine neuzeitliche Beschriftung erläutert: „Kasten, worinn die Reli-quien des Heil. Johannes Täufers vom Pabste Martinus II des Heil.Marsili [!] – ersten Äbtissinn und Stiftsfrau des Stiftes – Schildesche,im J. 960 zu Rom übergeben seyn (so)llen“ (zit. nach BKW StadtMinden 1998, S. 1009). Entsprechend zeigt die eine Schmalseite desSchreins die Figur Johannes des Täufers mit Fellmantel und Lammzwischen einer Äbtissin und einem Engel. Darunter auf der Wan-dung drei Äbtissinnen unter Spitzbögen mit je einem (gleichartigen)Architekturmodell in den Händen. Die andere Schmalseite zeigt denWeltenrichter auf einem Bogen thronend zwischen zwei Engeln mitPassionswerkzeugen, darunter unter Arkaden die Heiligen MariaMagdalena, Maria (Cäcilia?) und Katharina (gekrönt, mit Rad undBuch).

Das Bildprogramm des Schreins folgt mit dem Weltenrichterund den Apostelreihen der für große Reliquienschreine üblichenTradition; die Darstellung des Patrons, also Johannes des Täufers, derweiblichen Heiligen (Nebenpatroninnen des Damenstiftes Schild-esche), der Äbtissinnen und des Gleichnisses von den Klugen undTörichten Jungfrauen dagegen greift die lokalen und institutionellenCharakteristika des Frauenstiftes auf. Gerade das biblische Gleichnisvon den Jungfrauen (Mt 25,1–13) konnte so auf die moralische Stär-kung der Stiftsdamen bezogen werden. Nur wenige ältere Reliquien-schreine zeigen dieses Gleichnis (Xanten, Hildesheim), in dem dereschatologische Gedanke umgesetzt ist, dass nur der durch gute Ta-ten vorbereitete Mensch (das symbolisieren die vorsorglich mit ge-nügend Öl befeuerten Lampen der Klugen Jungfrauen) Eingang indas Himmelreich erfahre, während die sorglosen Sünder (mit erlo-schenen Lampen) der Verdammnis anheimfallen. In Verbindung mitder Majestas Domini war das Thema der Klugen und Törichten Jung-frauen ein Bestandteil der Weltgerichtsikonografie, wie sie seit dem12. Jahrhundert in Frankreich und Deutschland – auch in Paderborn– an Kirchenportalen oder Lettnern anzutreffen ist (vgl. Kat.-Nr. 86).Die Erweiterung dieser Gleichnisdarstellung durch die Figuren dersiegreichen ‚Ecclesia‘ und der ‚gefallenen‘ ‚Synagoga‘, die zudem nochmit einem Teufelssymbol verbunden wird, interpretiert das Schemazusätzlich vor dem Hintergrund einer aufkeimenden Judenfeindlich-keit, die mit Ausbruch der Pest Mitte des 14. Jahrhunderts an vielenOrten zu schweren Pogromen führte.

In Form, Funktion und weitgehend auch dem Bildprogrammfolgt der Schrein den großen Reliquienschreinen, von denen die äl-testen aus dem 12. Jahrhundert erhalten sind. Anders als bei diesenmit Metall und Edelsteinen beschlagenen Prachtschreinen reduzier-te man jedoch hier den Materialaufwand, wie auch etwa beim An-toninaschrein in Köln aus der gleichen Zeit. Obwohl der Schrein si-cherlich einen Vorgänger hatte, wählte man bei der Neuanfertigungmit gotischen Zierarkaden und Kämmen eine ‚moderne‘ Formen-sprache, die das Kultobjekt dem übergeordneten Formcharakter dergebauten gotischen Architektur anglich.

Neben inzwischen nicht mehr identifizierbaren Reliquien fan-den sich im Schrein Steinchen vom Heiligen Grab in Jerusalem, ein

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